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Nur du und der Sommer

Als Buch hier erhältlich:

Kleine Vierbeiner und die große Liebe

Einst als Kinder unzertrennlich und als junge Erwachsene sogar verlobt, sind Caroline und Maximillian nun praktisch Fremde. Nach der bitteren Trennung blieb sie in North Carolina und baute sich ein ruhiges Leben auf, während Max nach New York City ging. In den darauffolgenden Jahren ließ sie niemanden an sich heran, nicht einmal ihre vielen Pflegehunde.

Diesen Sommer kehrt Max auf Wunsch seiner Großmutter in die Kleinstadt zurück, und Caro ist gezwungen, sich ihren Gefühlen zu stellen, denn jedes Mal, wenn sie sich zufällig über den Weg laufen, flammen diese wieder auf.

Als sie einem süßen Dackelwelpen namens Frankie ihr Herz öffnet, beginnt Caro sich zu fragen, ob sie dies auch für Max könnte. Doch alte und neue Geheimnisse lauern noch immer, und Max hat ihr noch nicht ganz verziehen, dass sie ihm vor Jahren das Herz gebrochen hat. Wird dies ein Sommer der zweiten Chancen, oder werden sie die gleichen Fehler erneut begehen?


  • Erscheinungstag: 20.02.2024
  • Seitenanzahl: 384
  • ISBN/Artikelnummer: 9783365005750

Leseprobe

Widmung

Für Nicole Fischer

Als du meine Lektorin wurdest, ging für mich ein Traum in Erfüllung, den ich über zehn Jahre lang gehegt hatte.
Danke, dass du vor all dieser Zeit mein Potenzial erkannt hast.
Danke, dass du dich so sehr dafür eingesetzt hast, mit mir zusammenzuarbeiten.
Danke, dass du so sehr für dieses Buch gekämpft hast.
Danke, dass du bist, wer du bist.

PROLOG

Der letzte Sommer

Es regnete bereits seit Stunden. Ein Sommergewitter war über der kleinen Stadt Cruickshank in North Carolina aufgezogen, hatte sich zwischen den Bergen festgesetzt und schien die ganze Nacht über andauern zu wollen. Es mochte einfach nicht weiterziehen, und das konnte niemand besser nachempfinden als Maximillian Abbott.

Alles war perfekt. Auf der extrabreiten Matratze ruhte er wie auf einer Wolke, die Baumwolllaken lagen weich auf seiner nackten Haut und er hielt die Liebe seines Lebens in den Armen. Er wusste, er konnte die ganze Welt umrunden, aber seine liebste Route war die Strecke zwischen Caroline Buchanans Schlüsselbein und der kleinen Vertiefung hinter ihrem Ohr.

Max drückte einen Kuss auf ihre Haut, bevor er mit der Nase langsam ihrem Hals aufwärts folgte und auf dem ganzen Weg ihren Duft in sich aufsog. Sie legte immer Zitrusaromen auf, und heute trug sie Grapefruit. Er hätte schwören können, dass der süße Duft, der seine Lungen füllte, ihn betrunken machen konnte.

Irgendetwas stellte sie mit ihm an, etwas, das er nicht verstand und das zu machtvoll und vollkommen war, als dass es von Menschen oder Gott hätte erklärt werden können.

Dreizehn Jahre waren vergangen, seit Caro in sein Leben getreten war, und seitdem war nichts mehr so, wie es war. Es war sein erster Sommer in Cruickshank gewesen, und bis auf seine Großeltern war alles neu und unbekannt für ihn.

Mit Veränderungen kam er nicht gut zurecht.

Das massive Haus im viktorianischen Stil, das Martin und Ava gerade erst bezogen hatten, war ihm nicht vertraut. Es war so anders als das Sandsteingebäude in Boston, in dem sie die ersten sechs Jahre seines Lebens gewohnt hatten, das Haus, in dem er bis zu diesem Moment alle Weihnachtsfeste und Sommerferien verbracht hatte. Seine Lieblings-Pizzeria lag ein paar Straßenblocks weiter links und ein paar Blocks weiter rechts gab es einen Park mit Schaukeln.

Das neue Haus seiner Großeltern hatte knarzende Dielenböden, zwei Treppen, über die er nie dorthin gelangte, wohin er wollte, und vor dem Fenster seines Zimmers erhob sich ein riesiger, Furcht einflößender Baum, dessen Zweige bei Sturm an seinem Fenster kratzten.

Nach gerade einmal achtundvierzig Stunden seiner Sommerferien hatte er das Haus bereits gehasst … bis er sie kennenlernte.

»Caro?«, flüsterte Max, bevor er leicht in ihr Ohrläppchen biss.

»Mhmm«, murmelte sie und rieb sich dabei an seinem Körper. Die Laken raschelten, als sie die Beine bewegte, sich wieder an ihn schmiegte, Haut an Haut.

Er ließ die Hand über ihren Bauch wandern, strich mit den Fingern über ihre Rippen und küsste sie auf die nackte Schulter. »Erinnerst du dich an unsere erste Begegnung?«

Sie drehte sich in seinen Armen, sodass ihre Gesichter nur noch Zentimeter voneinander entfernt waren. Nichts außer ein paar Kerzen erhellte das Zimmer in ihrer kleinen Dachwohnung, und er war sich nicht sicher, ob das Leuchten in ihren graubraunen Augen von den flackernden Kerzenflammen stammte oder ob sie von innen heraus leuchtete.

»Als wäre es gestern gewesen.« Ihr warmes, strahlendes Lächeln schien das schwache Licht im Zimmer zu verstärken.

Solange er lebte, würde Max niemals den Augenblick vergessen, in dem er sie zum ersten Mal gesehen hatte. Er hatte sich in sein Gehirn eingebrannt wie ein Bild, das nie ausgelöscht werden sollte.

Aufgetaucht waren Caro und ihre Mutter Rachel an einem besonders regnerischen Montagmorgen. Rachel war als Hilfe für seine Großeltern eingestellt worden, als ihre Assistentin, ihre Köchin, ihre Gärtnerin. Sie war für alles verantwortlich, was getan werden musste.

Heimlich, von seinem sicheren Platz hinter der Tür zum Wohnzimmer aus, hatte Max die beiden Neuankömmlinge in der Küche beobachtet. Schon zu diesem Zeitpunkt war er davon überzeugt gewesen, dass Caro nicht von dieser Welt war. Sie erinnerte ihn an die Märchenfeen und Waldnymphen, über die er in seinen Büchern gelesen hatte.

Sie hatte ihn dabei ertappt, wie er sie beobachtete, und im selben Moment, in dem ihre Blicke sich trafen, verzog sich ihr Mund zu einem breiten Grinsen, das ihr ganzes Gesicht zu erhellen schien … genau wie gerade jetzt.

Irgendwo in seinem Bauch hatte der Sechsjährige ein Zucken verspürt, ein Gefühl, das für ihn auf immer untrennbar mit Achterbahnfahrten und Caro verbunden war … ein Gefühl, das er auch in diesem Moment empfand.

»Du hattest ein grellrosa Tutu und hellgelbe Gummistiefel an, in denen du unglaublich winzig gewirkt hast.« Seine Hand lag jetzt auf ihrem Rücken, mit den Fingerspitzen trommelte er ganz sacht auf ihre Wirbelsäule, als spielte er darauf Klavier. »Obwohl … Winzig bist du immer noch.«

»Hey!«, protestierte sie und kniff ihn spielerisch in die Seite, sodass er sich in ihren Armen wand, bis er ihre Hand zu fassen bekam. »Es ist nicht meine Schuld, dass ich bei einem Meter neunundfünfzig aufgehört habe zu wachsen und du unbedingt eins dreiundachtzig groß werden musstest.«

»Es spielt keine Rolle.« Max zog ihre Hand an seine Lippen und küsste ihre Fingerknöchel. »Wir passen immer noch zusammen.«

»Wir haben schon immer zusammengepasst.«

Und das stimmte. Als Kind war er schrecklich schüchtern gewesen, hatte kaum einen Satz herausgebracht, und sie war ein energiegeladener Flummi gewesen, in der Lage, sogar mit einer Steinmauer eine kurzweilige Unterhaltung zu führen. Und doch hatten sie zusammengepasst.

Max beugte sich dicht über Caro und streifte ihre Lippen mit seinen. »Immer.«

Es war Caro, die mehr wollte und die Lippen öffnete. Ihre Zunge fand seine, während sie ihr Bein an ihm hochschob, über seine Hüfte gleiten ließ und ihm zeigte, wie gut sie zusammenpassten.

Gerade erst hatten sie ihr Liebesspiel beendet, und doch wollte er sie schon wieder. Aber das tat er immer. Er würde sie immer begehren.

Max zwang sich, den Kuss zu unterbrechen, und lehnte die Stirn gegen ihre. Ihr stockender Atem vermischte sich zwischen ihren Mündern. »Weißt du noch, was du als Erstes zu mir gesagt hast?«

Caro löste sich ein Stück von ihm und ließ den Kopf auf seinen Arm sinken, sodass sie ihm ins Gesicht schauen konnte. Erneut lächelte sie. »Ich habe dich gefragt, ob du Schokoladenstückchen in deinen Pfannkuchen magst und Schlagsahne obendrauf. Das ist immer noch das beste Frühstück, das ich kenne.«

»Oh, ganz ohne Zweifel«, stimmte Max zu und strich ihr eine dunkelbraune Haarsträhne aus dem Gesicht. »Weißt du auch noch, was du mir danach gesagt hast?«

Ihr Lächeln wurde breiter. »Dass Max ein guter Name für einen Piraten ist und dass wir zu einem Abenteuer aufbrechen sollten, sobald der Regen aufgehört hätte.«

»Und seitdem sind wir zu so vielen Abenteuern aufgebrochen«, erwiderte Max und begann, sich eine Strähne ihres Haars um den Finger zu wickeln.

»So viele.«

»Caro, ich weiß, dass wir noch sehr jung sind und bisher überwiegend eine Fernbeziehung geführt haben …«

Max hatte sein ganzes Leben in New York gewohnt, bis er vor einem Jahr nach North Carolina gezogen war, um die UNC, die Universität in Chapel Hill, zu besuchen. So waren sie nur noch vier Stunden Fahrzeit voneinander entfernt, eine viel leichter zu bewältigende Strecke, und doch hatten sie noch nie länger als drei Monate gemeinsam am selben Ort verbracht.

»Und ich weiß, dass es jetzt noch ein Jahr länger dauern wird, bis wir immer zusammen sein können …«

Caros Miene verfinsterte sich bei seinen Worten, sie sah traurig aus. Sie hatten immer geplant, dass sie ihm nach der Highschool an die UNC folgen würde, aber diese Pläne waren über den Haufen geworfen worden, als bei ihrer Mutter Krebs diagnostiziert worden war. Da hatte sie beschlossen, das Jahr noch zu Hause zu bleiben und sich um Rachel und den Rest ihrer Familie zu kümmern.

»Aber dieser Sommer hat uns andere Dinge geschenkt.«

Caro war in die kleine Dachwohnung über der Garage ihrer Eltern gezogen, wodurch sie etwas Privatsphäre hatten, wenn Max den Sommer über in der Stadt weilte. Sie mussten nicht herumschleichen, keinen Wecker stellen, um früh genug aufzuwachen und in ihre eigenen Betten zu kriechen, nur um den Eindruck zu erwecken, die ganze Zeit dort geschlafen zu haben.

»Ich konnte jeden Abend mit dir in meinen Armen einschlafen und am nächsten Morgen neben dir aufwachen. Das war … vollkommen.«

»Ja, das war es wirklich.« Caro blinzelte heftig, in ihren Augen sammelten sich Tränen. »Ich liebe es, dich bei mir zu haben, Max. Ganz und gar mein.«

»Ganz und gar dein.« Max hob die Hand und wischte ihr sanft die Tränen weg, die ihr inzwischen über die Wangen liefen. »Caro, ich wusste schon bei unserer ersten Begegnung, dass ich dir überallhin folgen würde. Dass ich mich auf jedes Abenteuer einlassen würde, das du willst. Und daran hat sich nichts geändert und wird sich auch nichts ändern, nicht in einem Jahr, nicht in fünf Jahren, nicht in fünfzehn Jahren.«

»Das … das wird es nicht«, bestätigte Caro stockend. Jetzt rannen ihr die Tränen ungehindert über das Gesicht, während sie ihm tief in die Augen blickte.

»Heirate mich.«

»Ja«, antwortete sie ohne jedes Zögern.

Sie hatte das Wort kaum über die Lippen gebracht, da presste Max den Mund auf ihren. Sie rollte sich herum, sodass sie unter ihm zu liegen kam, und schlang ihm die Arme um den Rücken. Dabei drückte sie ihn so fest an sich, dass er hätte schwören können, dass sie am liebsten genauso sehr in ihn hineingekrochen wäre wie er in sie.

Aber vorher musste er noch etwas erledigen.

Zum zweiten Mal in dieser Nacht zwang Max sich dazu, den Kuss zu unterbrechen. Das kostete ihn mehr Willenskraft, als zu besitzen er selbst für möglich gehalten hätte.

»Max.« Das war eine flehende Bitte. »Ich brauche dich.«

»Ich weiß. Ich weiß. Ich muss nur … vorher etwas tun.« Er setzte sich auf, kniete sich auf das Bett und griff nach der Schublade des Nachtschränkchens neben ihm, zog sie auf und nahm ein kleines, mit blauem Samt bezogenes Kästchen heraus.

Jetzt setzte auch Caro sich auf und ließ den Blick von seinen Händen zu seinem Gesicht wandern. Sie strahlte, biss sich dabei auf die Unterlippe – wie immer, wenn sie so glücklich war, dass sie sich kaum beherrschen konnte.

Auch er konnte sein Glück kaum fassen. Weil er keine Sekunde länger warten wollte, um es offiziell zu machen, öffnete Max das Kästchen und holte den Ring heraus. Er hielt Caro die Hand hin und sie hob ihre und legte sie ihm in die Handfläche.

Rasch streifte er den Ring auf den Ringfinger ihrer linken Hand. Das antike Stück hatte er von seiner Großmutter Ava bekommen. Fein gearbeitet aus Weißgold, geziert von einem Kreis aus winzigen Diamanten mit einem großen runden Stein in der Mitte. Auf der Innenseite war eine Inschrift eingraviert.

Auf lebenslange Abenteuer.

1. KAPITEL

Aus den Augen, aus dem Sinn

Fünfzehn Jahre später …

In der exquisiten Rooftop-Bar in Manhattan drängten sich über zweihundert Menschen. Darunter waren viele Prominente – Politiker, ein paar Nobelpreisträger und sogar ein Paar aus der entfernteren Verwandtschaft des britischen Königshauses. Die Frauen trugen sündhaft teure Abendkleider in allen nur erdenklichen Farben, die Männer Smokings in Schwarz oder Weiß.

Nun ja, die meisten Männer hatten diese klassischen Farben gewählt, aber es gab auch eine Handvoll modebewusstere unter ihnen, die dem Trend zu mehr Farbe folgten, und zu diesen gehörte Maximillian Abbott. An diesem Abend hatte er sich für eine smaragdgrüne Brokatjacke entschieden. Erst war er versucht gewesen, seine rote Samtjacke anzuziehen, aber der Wetterbericht hatte Regen vorausgesagt, und da sein verstorbener Großvater ihm die Jacke vererbt hatte, wollte er nicht riskieren, sie zu ruinieren.

Max nahm einen Schluck von seinem Scotch und sah sich in der vollen Bar um. Auf sämtlichen Tischen standen weiße Blumenarrangements und goldene Kerzenleuchter. Funkelnde Kristalllüster hingen an der kunstvoll bemalten Decke und verströmten ein angenehmes Licht. Freddie Mercury in Retrograde – eine gute Queen-Coverband – spielte auf der Bühne und hatte gerade »A Kind of Magic« angestimmt.

Sämtliche Gäste waren erschienen, um den siebzigsten Geburtstag von Hugh Hennings zu feiern. Er war die eine Hälfte von Bergen und Hennings, einer Multimilliarden Dollar schweren alternativen Vermögensverwaltung, für die Max in den letzten sechs Jahren gearbeitet hatte. Oder vielleicht sollte er lieber sagen, dass er in den letzten sechs Jahren dafür gelebt hatte, denn normalerweise arbeitete er achtzig Stunden pro Woche und verbrachte mehr Zeit in seinem Büro als in seiner eigenen Wohnung.

Teufel noch mal, in den letzten Monaten war er kaum einmal in New York gewesen. Stattdessen hatte er sich Objekte überall in Europa angesehen – von Schottland über Frankreich und Italien bis hin zu Deutschland.

Max bereiste die ganze Welt, um aufgegebene oder in Vergessenheit geratene Gebäude wieder zum Leben zu erwecken. Manchmal tat er das für einen bestimmten Kunden, sonst für Bergen und Hennings. Sein Einsatz war der erste Schritt zur Umwandlung von Kirchen, alten Schulgebäuden, großen Villen und Schlössern, Lagerhallen, ja einmal sogar von einem alten Ozeandampfer.

Oft wünschte er sich, er könnte selbst an der Restaurierung und Umgestaltung teilhaben, zum Beispiel den Marmor auswählen, der in der Eingangshalle verlegt werden würde, oder den perfekten Künstler finden, der die Buntglasfenster in der Lobby gestaltete. Häufig wäre er gern bis zum Ende dabei, denn wann immer er sich die fertig umgestalteten Immobilien anschaute, konnte er nicht umhin, im Geiste eine Liste all der Dinge aufzustellen, die er selbst anders gemacht hätte.

Aber das war nicht sein Job. Wie ihm oft gesagt worden war, hatte er den richtigen Blick. Er konnte Potenzial erkennen, wo andere keins sahen. Wenn er sich mit den Restaurierungsmaßnahmen beschäftigen würde, stünde er nicht zur Verfügung, um neue Projekte aufzustöbern, weitere Investitionsobjekte, weitere Möglichkeiten für Bergen und Hennings, noch mehr Geld zu verdienen.

Sein letzter Abschluss war bahnbrechend für ihn und die Firma gewesen. Er hatte ihm mehr Freude bereitet, als er seit Langem verspürt hatte. Mehr Freude, als er in Manhattan je gefunden hatte. Mehr Freude, als er in dieser Bar finden konnte.

Bei Veranstaltungen wie dieser fühlte er sich immer fehl am Platz, aber da es sich um den Geburtstag seines Chefs handelte, hatte er wohl oder übel erscheinen müssen. Außerdem zog ihn sowieso nichts in seine leere Wohnung … oder gar in sein noch leereres Bett.

Sein Liebesleben war in den letzten paar Monaten in den Hintergrund getreten. Genau genommen spielte es seit über einem Jahr kaum noch eine Rolle. Er konnte sich nicht einmal mehr entsinnen, wann er das letzte Mal ein Date gehabt hatte. Vielleicht würde es ihm guttun, sich ein wenig unter die Leute zu mischen. Die Cocktailstunde war erst zur Hälfte vorüber, sodass ihm noch viel Zeit blieb, mit anderen Gästen zu plaudern – was er sowieso tun sollte.

Es hatte sich eine freie Stelle als Seniorpartner ergeben und Max bewarb sich darum. Außerdem war noch offen, wer die Immobilienabteilung in London übernehmen sollte. Infolgedessen waren jede Menge Arschkriecher am Werk, und die meisten Angestellten waren bemüht, Eindruck bei den hohen Tieren zu schinden.

Der ganze Abend war reine Show. Alle Veranstaltungen dieser Art waren es. Niemand wusste das besser als Hughs Frau, Adrienne Bergen, die zweite Hälfte von Bergen und Hennings.

Hughs Hochzeit mit der englischen Erbin war eher eine Geschäftsfusion gewesen. Adrienne war ebenso sehr wie er darum bemüht gewesen, aus dem Bergen-und-Hennings-Imperium das zu machen, was es heute war. Ihr scharfer Verstand und ihre Geschäftstüchtigkeit trugen ebenso viel zu dem Erfolg ihres Unternehmens bei wie Hughs Sachkenntnis und Tatendrang.

Die beiden energiegeladenen Partner standen Seite an Seite. Hugh lachte so laut, dass er die Musik übertönte, während Adrienne charismatisch wie immer wirkte. Sie trug ein eng anliegendes, mit Kristallen besetztes schwarzes Kleid. An ihrem Hals, ihren Handgelenken und ihren Fingern funkelten so viele Diamanten, dass man hätte meinen können, sie sei gerade einem Bad im Schnee entstiegen und über und über mit glitzernden Schneekristallen bedeckt. Sie war neunundfünfzig, konnte aber ohne Weiteres als zwanzig Jahre jünger durchgehen.

»Maximillian«, sprach ihn da jemand von links an.

Diese rauchige Stimme hätte Max immer und überall erkannt, denn er hatte viele Abende damit verbracht, den Ferkeleien zu lauschen, die ihre Besitzerin ihm ins Ohr flüsterte. Er drehte sich um und sah sich Kendall Margaret Ashley Campbell gegenüber, einer der besten Scheidungsanwältinnen von Manhattan und seiner On-off-Beziehung der letzten vier Jahre.

Im Moment waren sie wieder einmal getrennt. Immerhin hatte ihre letzte Beziehung bislang am längsten gehalten, nämlich ganze neun Monate. Sie waren sogar bis zu dem Punkt gelangt, an dem jeder eine Zahnbürste in der Wohnung des anderen deponiert hatte. Wenn das kein Fortschritt war, dann wusste Max nicht, was Fortschritt sein konnte.

Kendall trug ein rotes Kleid, das wirkte, als hätte man es ihr auf den gertenschlanken Körper gemalt. Ihre dunkelblonden Haare fielen ihr über die nackten Schultern.

»Kendall.« Unwillkürlich musste Max lächeln. Seine Chancen, heute nicht allein nach Hause gehen zu müssen, waren soeben beträchtlich gestiegen. »Ich wusste nicht, dass du hier sein würdest. Wie schön, dass du mich in der Menge gefunden hast.« Er beugte sich vor und küsste sie auf die Wange.

»Ich habe dich sofort entdeckt. Du und deine Jacken«, meinte sie zärtlich und strich ihm über den Arm. »Du musst dich einfach von den anderen abheben, nicht wahr?«

»Du weißt ja, wie modebewusst ich bin. Außerdem – schau dich selbst an.« Mit der Hand, in der er das Whiskyglas hielt, deutete er auf ihr Kleid und musterte sie dabei betont langsam von Kopf bis Fuß.

»Oh nein. Mach nicht so ein aufreizendes Gesicht.« Sie runzelte die Stirn. »Ich lasse mich nicht zum Narren halten.«

»Wovon redest du? Das ist einfach nur mein Gesicht.«

»Mmmhmm.« Sie wandte sich ab, um einen Kellner mit einem Tablett voller Champagnerflöten auf sich aufmerksam zu machen, griff sich ein Glas, hob es an ihre leuchtend roten Lippen und nahm einen großen Schluck von der golden perlenden Flüssigkeit.

»Wie ist es dir ergangen?«, fragte Max und dachte daran, wie ihre Lippen sich auf seinen anfühlen würden.

»Viel zu tun, wie immer. Ich war mir nicht sicher, ob ich es heute Abend schaffen würde zu kommen. In letzter Minute gab es noch eine Besprechung.«

Genau wie Max war auch Kendall ein Workaholic. Der Tatendrang und die Zielstrebigkeit, die ihnen gemein waren, brachten sie immer wieder zusammen … Letztlich waren diese Eigenschaften aber auch genau das, was sie wieder trennte. Es war schwer, eine Beziehung am Laufen zu halten, wenn sie für beide Beteiligten nie höchste Priorität hatte.

Und dennoch funktionierte die Ehe zwischen Bergen und Hennings …

Erneut hallte Hughs lautes Lachen durch die Bar, und Max drehte sich um, um zu dem Paar hinüberzuschauen. Adrienne sah ihren Mann mit einstudiertem Lächeln an. In ihrem Blick lag kein Hauch von Wärme. Sie standen nur etwa dreißig Zentimeter auseinander, hätten aber ebenso gut durch einen ganzen Ozean getrennt sein können – was tatsächlich meistens der Fall war, da Adrienne die Niederlassung in London leitete.

»Schaust du dir gerade an, wie dein Leben in dreißig Jahren aussehen wird?«

Max zuckte übertrieben zusammen und wich ein paar Schritte zurück. »Du verletzt mich.«

Kendall verdrehte die Augen und schüttelte leicht den Kopf. »Ach, komm. Nichts dringt bis hierhin durch.« Sie hob die Hand und berührte die Stelle über seinem Herzen.

»Manche Dinge schon.« Er legte die Hand auf ihre und drückte sie leicht auf seine Brust.

»Ach, Max«, flüsterte sie und schüttelte erneut den Kopf.

»Du hast mir gefehlt, Kendall.« Er schenkte ihr ein herzliches Lächeln, wohl wissend, dass er sie damit blitzschnell heiß machen konnte, wenn sie bereit war, sich auf ihn einzulassen.

Aber das war sie nicht.

»Das liegt nur daran, dass ich direkt vor dir stehe, Max.« Die Traurigkeit in Kendalls goldbraunen Augen war nicht zu übersehen. Und doch war da noch mehr. Ihre Miene drückte etwas aus, das beinahe … wie Mitleid wirkte.

»Was?« Sein Grinsen erlosch.

»Für dich gilt: Aus den Augen, aus dem Sinn.«

Max hielt ihren Blick fest, als er ihre Hand von seiner Brust nahm und begann, mit dem Daumen über ihre Fingerknöchel zu streichen. »Das ist nicht wahr, Kendall. Ich denke jedes Mal an dich, wenn ich an dem kleinen Jazzclub in der Vierzigsten vorbeigehe oder wenn ich im Lucy Cho’s die Wan Tan mit Krabbenfleisch bestelle oder wenn …«

In diesem Moment stieß er mit dem Daumen auf etwas Hartes und Scharfkantiges. Er schaute hinab und entdeckte den gewaltigen Stein am Ringfinger ihrer linken Hand. Der Diamant funkelte im Kerzenlicht, das aus sämtlichen Winkeln auf ihn zu treffen schien.

Eine Erinnerung durchzuckte Max. Die Erinnerung an ein nur von Kerzenlicht erhelltes Zimmer und einen Verlobungsring, den er auf den Ringfinger einer Hand streifte, von der er geglaubt hatte, sie niemals loslassen zu müssen. Aber sofort schob er diese Erinnerung beiseite, konzentrierte sich auf den Augenblick … konzentrierte sich auf Kendall … die vor ihm stand … verlobt. Er wusste nicht recht, welche Empfindungen diese Offenbarung in ihm auslösen oder was sein erster Gedanke sein sollte, aber er war sich ziemlich sicher, dass etwas Tiefsinnigeres als »Oh« angebracht gewesen wäre.

Zum zweiten Mal an diesem Abend nahm Max sich einen Augenblick Zeit, bevor er den Blick hob und Kendall in die Augen sah. Er brauchte eine Sekunde, um seine charmante Maske wieder aufzusetzen und seine Lippen zu einem lässigen Lächeln zu zwingen.

»Wer ist der Glückliche?«, fragte er, als er ihre Hand losließ.

Kendall zögerte, nickte dann über Max’ Schulter hinweg. »Silas Bloomfield.«

Er wandte sich in die angezeigte Richtung und sah zwei Männer, die sich angeregt unterhielten. Der kleinere der beiden war der Bürgermeister von New York. Demnach musste Kendalls Verlobter der Hochgewachsene mit den braunen Haaren sein. Er war ein wenig dürr und schlaksig, hatte aber eine gewisse Ähnlichkeit mit Clark Kent.

»Was macht er beruflich?«

»Er ist Professor an der New Yorker Universität. Sein Lehrfach ist Quantenphysik.«

»Beeindruckend.«

»Finde ich auch.« Sie nickte.

»Herzlichen Glückwunsch, Kendall.« Überraschenderweise meinte er das ehrlich. Er freute sich aufrichtig für sie.

Kendall packte seinen Arm und drückte ihn fest, bevor sie ihn wieder losließ. »Danke, Max.« Sie holte tief Luft und ließ sie in einem Stoß wieder entweichen, während ihre Schultern sich entspannten.

»Du wirkst erleichtert. Hast du geglaubt, ich würde dir eine Szene machen?«

»Nein, das nicht.« Sie schüttelte den Kopf. »Ich … ich weiß einfach nicht. Es fühlt sich eigenartig an. Ich hatte immer geglaubt, dass wir es irgendwann zusammen packen würden. Dass wir den Weg zueinander finden würden und dass dann endlich alles passen würde.«

Manchmal hatte Max etwas Ähnliches gedacht. Zwar hatte er nicht geglaubt, sie würden irgendwann zusammenpassen, sondern eher die Hoffnung gehegt, sie würden schließlich einen Weg finden, um miteinander leben zu können.

»Was glaubst du, warum wir es nicht gepackt haben?«

»Weil wir genauso wie sie geendet hätten.« Kendall deutete hinüber zu Hugh und Adrienne, die immer noch die Runde machten.

»Meinst du?«

»Wir haben einander nie geliebt. Teufel noch mal, wir haben nicht einmal an die Liebe geglaubt.«

»Und jetzt glaubst du daran?«

»Das tue ich. Jedenfalls wollte ich, dass du von mir erfährst, dass ich verlobt bin. Jetzt muss ich zurück zu Silas.« Kendall griff erneut nach seinem Arm, reckte sich und küsste ihn auf die Wange. »Ich hoffe, du findest jemanden, der auch in dir den Glauben an die Liebe weckt.«

»Leb wohl, Kendall.«

»Leb wohl, Max.«

Er sah ihr nach, als sie davonging. Ihre letzten Worte hatten ihn verunsichert. Die Sache war nämlich die: Er glaubte durchaus an die Liebe. Schließlich hatte er sie selbst erlebt. Hatte sein Herz verschenkt … und es dann einfach wieder zurückbekommen. Nur deshalb vermied er es jetzt um jeden Preis, sich zu verlieben.

Erinnerungen versuchten sich ihm aufzudrängen. Erinnerungen an graubraune Augen und ein Lächeln, das ihm die Knie weich werden ließ. Erinnerungen an heimliche Küsse und ein leises Lachen, das ihm in den Ohren klang. Erinnerungen daran, wie es gewesen war, jung und dumm zu sein. Erinnerungen an einen naiven Jungen, der nicht mehr existierte.

Erinnerungen, von denen er ganz genau wusste, wie er damit fertigwerden konnte. Er hob sein Glas Scotch und kippte den Rest hinunter, bevor er zur Bar ging, um sich noch einen zu holen.

»Noch einen Balvenie, bitte.«

Alfred Tennyson hatte sich geirrt, als er sagte: »Es ist besser, Liebe empfunden und Verlust erlitten zu haben, als niemals geliebt zu haben.« Das war einfach nur der größte Bullshit, den Max jemals in seinem Leben gehört hatte. Der Verlust einer Liebe brachte einem nichts als Leere.

Eine verlorene Liebe war schuld daran, dass er so beschissen wenig von der Liebe hielt.

Zumindest zum Teil. Es gab auch noch andere Menschen, die dazu beigetragen hatten, dass sein Herz erkaltet war. Und als Max nach seinem neuen Drink griff und sich umdrehte, entdeckte er sie ganz in der Nähe.

Vanessa Winthrop und Kenneth Bergstrom – seine Mutter und seinen Stiefvater.

Seine Mutter trug ein beeindruckendes blaues Ballkleid, ein gelber Diamant zierte ihren Hals, und ihr platinblondes Haar war kompliziert hochgesteckt, sodass jede Strähne perfekt saß. Wie immer. Seine Mutter war ein Musterbeispiel an Perfektion.

Sein Stiefvater trug einen maßgeschneiderten schwarzen Anzug von Armani – Kenneth trug nur Armani –, und seine bereits schütter werdenden braunen Haare waren so gekämmt, dass es etwas weniger auffiel.

Zwar lebten sie in derselben Stadt, aber Max sah sie nicht oft. Früher hatte er versucht, engeren Kontakt zu halten, war aber zu oft versetzt worden, weil sie »so viel zu tun« hatten. Schon als er noch ein Kind war, hatten sie keine Zeit für ihn gehabt, und jetzt, da er erwachsen war, erst recht nicht.

Sie waren beide Ärzte, die sich für Götter hielten, was weder neu noch besonders originell war.

Nur wenige Schritte entfernt von ihm unterhielten sie sich angeregt mit einem älteren Paar, das Max nicht kannte. Da er keine Ahnung gehabt hatte, dass sie zu der Party eingeladen waren, und sich nicht geistig auf eine Begegnung mit ihnen vorbereitet hatte, überlegte er, schnell zu verschwinden …

Doch es war zu spät. Er hatte zu lange gezögert. Seine Mutter drehte sich um und richtete den Blick ihrer eisigen blauen Augen direkt auf ihn.

Max sah auf die bernsteinfarbene Flüssigkeit in seinem Glas und wünschte, er hätte einen Doppelten bestellt. Einen tiefen Schluck von seinem Scotch nehmend, ging er zu den beiden hinüber, gerade als Freddie Mercury in Retrograde »I Want to Break Free« anstimmten.

»Maxie«, begrüßte Vanessa ihn und drückte ihren knochigen Kiefer an seinen. Sie nannte ihn immer so, und er hasste das, denn der Kosename verriet keinerlei Zuneigung. Dass sie ihn verwendete, lag nur daran, dass sie das ständige Bedürfnis hatte, ihn wie ein Kind zu behandeln.

Kenneth sagte nichts, als er Max mit seiner üblichen Sachlichkeit die Hand schüttelte, als würde er einen Fremden begrüßen, den er zum ersten Mal traf.

Vanessa trat einen Schritt zurück und deutete auf das Paar neben sich. »Maxie …«

Max biss die Zähne zusammen.

»Ich möchte dir Raphael und Esther Vandenberg vorstellen. Sie sind großzügige Spender für Precipice.«

Ah, deshalb waren sie also heute Abend hier. Es ging um Geld für das Krankenhaus.

»Das ist mein Sohn Maxie.«

Max räusperte sich und streckte Raphael und Esther nacheinander die Hand entgegen. »Max Abbott«, korrigierte er, bevor er seine Mutter ansah. »Ich hatte keine Ahnung, dass ihr beide hier sein würdet.«

Vanessas Miene verhärtete sich, ihre blauen Augen wirkten noch kälter. »Wir sind genauso überrascht, dich hier zu sehen. Obwohl mir nicht klar ist, wie es sein kann, dass ich dich nicht gleich beim Betreten des Saals entdeckt habe.« Sie musterte die smaragdgrüne Brokatjacke, die Lippen missbilligend verzogen, als hätte sie gerade in eine Zitrone gebissen. »Ich begreife nicht, was du an diesen lächerlichen Dingern findest.«

Es war sinnlos, auf diese spitze Bemerkung zu seiner Kleidung einzugehen, also ignorierte Max sie. »Hugh Hennings ist mein Boss. Wie kann es dich da überraschen, dass ich hier bin?«

Vanessa tat seine Frage mit einer wegwerfenden Handbewegung ab und lachte lässig, als wäre es ein Versehen gewesen, das jedem hätte passieren können. »Bergen und Hennings beschäftigen allein in New York Hunderte von Angestellten. Woher sollten wir wissen, dass du auch eingeladen wirst?«

»Oh, Sie arbeiten für Bergen und Hennings?«, fragte Esther aufrichtig interessiert.

Noch bevor Max antworten konnte, ergriff Kenneth das Wort. Sein Tonfall war so spöttisch, wie Max es mittlerweile immer erwartete, wenn sein Stiefvater über seine Arbeit sprach. »Ja, mein Stiefsohn darf den ganzen Tag mit Bauklötzen spielen. Es muss Spaß machen, einen so sorgenfreien Beruf zu haben.«

Max’ Vater Landon war bei einem Autounfall gestorben, als Max vier Jahre alt gewesen war. Kenneth war drei Jahre später ins Spiel gekommen. In den sechsundzwanzig Jahren, seit er Max’ Stiefvater war, hatte er Max nie als seinen Sohn bezeichnet. Er hatte sich nie wie ein Vater verhalten, ihn nie als Sohn betrachtet, ihn nie respektiert.

»Tatsächlich baue ich nichts«, stellte Max klar, »auch wenn ich in der Immobilienbranche tätig bin. Meine Aufgabe ist es, alte und ungenutzte Gebäude zu finden, die wir restaurieren können.«

»Oh.« Jetzt zeigte auch Raphael echtes Interesse. »Hatten Sie schon Projekte in New York?«

Max erzählte ihm von der Schule in Queens, die in ein Apartmenthaus umgewandelt worden war, von der dreihundert Jahre alten Kirche in Brooklyn, die jetzt ein Zwei-Sterne-Restaurant beherbergte, dem Lagerhaus, das inzwischen als Theater fern vom Broadway fungierte und in dem zurzeit ein Stück aufgeführt wurde, das ständig ausverkauft war.

»Mein Lieblingsgebäude ist das Chantilly Hotel. Das war ein altes Textil-Lagerhaus in Midtown.«

»Oh«, warf Esther aufgeregt ein. »Meine Enkelin und ihr Mann haben sich dort bei ihrem letzten Besuch einquartiert. Wir haben das Dachrestaurant besucht. Die Aussicht war unglaublich, vor allem bei Sonnenuntergang. Wie hieß es doch gleich …?«

»Eyelet«, antwortete Max, mehr als nur ein bisschen stolz, weil sie so begeistert war. Vor ein paar Jahren hatte er zufällig das »Zu verkaufen«-Schild im Fenster entdeckt. Das Gebäude hatte mehrere Unternehmen beherbergt, die allesamt erfolglos geblieben waren, bis er es gefunden hatte.

»Die Lage ist wirklich perfekt«, meinte Raphael beeindruckt. »Und die Lobby ist umwerfend. Esther hätte den ganzen Tag damit verbringen können, diese gewaltige Glasfontäne in der Mitte zu bewundern.«

Die Fontäne war aus Glas in Hunderten Farbtönen gefertigt und war so aufgebaut, dass es aussah, als würde sie aus der Decke herabfließen. Sie wechselte die Farbe, je nachdem, wo das Sonnenlicht, das durch das Oberlicht fiel, sie traf.

»Das ist wahr, das könnte ich.« Esther wandte sich an Vanessa und Kenneth. Ihre Augen leuchteten. »Haben Sie es gesehen?«

Kenneth schüttelte den Kopf, und seine Miene verriet deutlich, was er dachte: Als hätte ich Zeit für so etwas!

»Nein«, setzte Max’ Mutter gezwungen lächelnd hinzu. »Wir sind noch nicht dazu gekommen. Wann ist es fertiggestellt worden?«, fragte sie, um den Eindruck zu erwecken, es interessiere sie tatsächlich.

»Vor drei Jahren.«

Esther und Raphael waren sichtlich schockiert – und vielleicht sogar ein wenig empört. Max hingegen war nicht überrascht. Seine Mutter und sein Stiefvater hatten sich keins seiner Projekte angeschaut.

Ein leichter Druck auf seinem Unterarm ließ ihn hinunterschauen. Dort lag eine frisch manikürte Hand, die zu niemand anderem gehörte als zu Adrienne Bergen.

»Mrs. Bergen.« Max machte Platz, damit sie sich zu ihnen gesellen konnte. »Meine Mutter und meinen Stiefvater kennen Sie ja bereits.« Er deutete auf die beiden. Da Bergen und Hennings ebenfalls äußerst großzügige Spender für das Precipice-Krankenhaus waren – je ein Flügel war nach ihnen benannt worden –, hatten ihre Wege sich schon früher gekreuzt.

»Dr. Winthrop, Dr. Bergstrom.« Sie schüttelte den beiden die Hände. »Und Mr. und Mrs. Vandenberg«, wandte sie ihre Aufmerksamkeit dem anderen Paar zu und schüttelte auch ihm die Hände. »Ich freue mich sehr, dass Sie alle heute Abend kommen konnten.«

»Nirgendwo anders wäre ich lieber«, entgegnete Kenneth lächelnd.

»Das Ereignis der Saison«, pflichtete Vanessa ihm bei.

»Max hat uns gerade erzählt, was er für Bergen und Hennings tut. Wir hatten keine Ahnung, dass das Chantilly Ihnen gehört«, sagte Esther.

»Ja, Max ist einer unserer aufsteigenden Sterne.« Adrienne schaute ihn so voller Stolz an, wie er das bei Vanessa und Kenneth noch nie gesehen hatte. »In den letzten Monaten hat er sehr viel mit mir in Europa zusammengearbeitet. Gerade erst hat er eine Burg aus dem fünfzehnten Jahrhundert in Deutschland für uns erworben. Das wird ein neues Juwel in unserer Luxushotel-Sammlung.«

»Oh, wo in Deutschland?«, wollte Raphael wissen.

Die nächsten Minuten verbrachte Max damit, Raphael und Esther alles über das Projekt zu erzählen, während Adrienne hier und da eine Bemerkung fallen ließ, um mit ihm und seinem exzellenten Blick für lohnenswerte Objekte zu prahlen. Vanessa und Kenneth sagten kein Wort. Sie waren eindeutig gelangweilt.

»Es tut mir leid«, wandte Adrienne sich an die Gruppe, »aber ich muss Ihnen Max entführen und mit ihm sprechen, bevor es hier noch hektischer wird. Wenn Sie uns bitte entschuldigen wollen.«

»Aber natürlich«, sagte Raphael.

Max schaute die Vandenbergs an. »Es war sehr nett, Sie beide kennenzulernen.«

»Ganz unsererseits«, erwiderte Esther nickend.

»Wir müssen uns unbedingt dieses Restaurant in der ehemaligen Kirche ansehen, von dem Sie uns erzählt haben. Wie heißt es noch gleich?«, wollte Raphael wissen.

»The Pulpit. Und sollten Sie Probleme haben, einen Tisch zu reservieren, rufen Sie einfach mein Büro an«, sagte Max, bevor er sich wieder Vanessa und Kenneth zuwandte. »Wir … sehen uns.«

Kenneth zuckte unverbindlich die Achseln und nahm einen Schluck von seinem Drink.

»Bye, Maxie.« Vanessa wedelte mit den Fingern und wandte sich ab, um wieder mit den Vandenbergs zu reden.

Das hatte ihm gerade noch gefehlt, dass sein Boss seinen dämlichen Kosenamen hörte, aber Adrienne sagte nichts, als sie sich beide entfernten.

»Ich brauche noch einen Drink.« Damit geleitete sie ihn zur Bar.

»Ich auch«, sagte Max und trank den Rest von seinem Scotch.

»Zwei Balvenies«, bestellte sie beim Barkeeper. »Max-a-million.« Jede Silbe betonte sie mit ihrem britischen Akzent. »Diese Woche hast du deinem Namen alle Ehre gemacht.«

»Ich mache meinem Namen jeden Tag alle Ehre, Mrs. Bergen.«

»Das ist wahr.« Ihre blauen Augen wurden schmal, als sie ihn mit einem durchdringenden Blick musterte, unter dem jeder Geringere sich gewunden hätte. »Und wie oft muss ich dir noch sagen, dass du mich Adrienne nennen sollst?«

»Noch mindestens einmal, Mrs. Bergen.«

Sie verdrehte die Augen und ein leichtes Lächeln umspielte ihre strengen roten Lippen. Das geschah ziemlich oft, wenn er mit ihr zusammen war. Solange Max schon für Bergen und Hennings arbeitete, hatte er immer ein besseres Verhältnis zu Adrienne gehabt. Sie konnten miteinander scherzen, ohne jemals die professionelle Grenze zu überschreiten, auch wenn sie sie gelegentlich streiften.

Der Barkeeper schob ihnen zwei Gläser zu. Max griff nach beiden und reichte eines davon Adrienne.

»Auf Burgen in Deutschland.« Adrienne erhob ihr Glas.

»Und viele weitere.« Max stieß mit seinem Glas an ihres an und sie tranken beide einen Schluck.

»Weißt du schon, was dein nächster großer Deal wird?«

Max nickte. »Ich habe drei im Auge.«

»Und mehr Einzelheiten willst du mir nicht verraten?«

»Nicht hier.« Er schüttelte den Kopf. »Hier auf der Party gibt es viel zu viele gespitzte Ohren. Ich will nicht, dass mir jemand einen Deal direkt vor der Nase wegschnappt.«

»Ich möchte darauf wetten, dass die gespitzten Ohren exakt denselben Leuten gehören, die meinem Mann schon den ganzen Abend den Arsch küssen.«

Max musste sich enorm zusammenreißen, um nicht den Scotch durch die Gegend zu prusten, den er gerade im Mund hatte.

»Nicht, dass es ihnen viel nützen wird.«

»Sie haben sich für einen neuen Seniorpartner entschieden?«, fragte er, nachdem er endlich wieder schlucken konnte.

»Wir haben drei im Auge.« Sie lächelte ihm listig zu, als sie ihm mit seinen eigenen Worten antwortete. »Mich interessiert jedoch, was du von dieser Auswahl hältst.«

»Tatsächlich?« Max war ganz Ohr, vor allem weil er das Gefühl hatte, dass Adrienne darauf zusteuerte, ihm zu sagen, er gehöre zu den dreien. »Und warum?«

»Weil der Auserwählte dein Kontaktmann in New York sein wird, wenn du die Immobiliensparte in London übernimmst.«

Zum zweiten Mal an diesem Abend hatte Adrienne etwas gesagt, das beinahe dafür gesorgt hätte, dass Max sich an seinem Scotch verschluckte. »Wenn ich das Londoner Büro übernehme?« Heilige Scheiße.

»Aber Max, du wirkst überrascht.« Sie neigte den Kopf zur Seite und ihr listiges Lächeln vertiefte sich.

Das lag daran, dass er verdammt überrascht war. »Ich wusste nicht, dass ich ein Anwärter auf diese Stelle bin.«

»Jeder ist ein Anwärter auf jede Stelle. Kannst du sie ausfüllen?«

»Ohne Frage.« Diese Beförderung brachte ihn ein paar Stufen höher auf der Karriereleiter als die, um die er sich bemüht hatte, aber er konnte sie ausfüllen.

»Gut.« Sie nickte ihm knapp zu. »Das war eins der wenigen Dinge, bei denen Hugh und ich uns einig waren. Ich könnte es auf den Tod nicht ausstehen, wenn wir mit einer Sache falschlägen.«

»Sie werden sehen, dass keiner von Ihnen hiermit falschliegt.«

»Das dachte ich mir. Du hast schon früher einige Zeit in London verbracht.« Das war keine Frage. Sie wusste ganz genau, wann er dort gewesen war und wie lange.

»Einen Sommer als Student.« Gleich nachdem sein Leben nur noch ein Scherbenhaufen gewesen war. »Und ein weiteres Jahr, als ich meinen MBA gemacht habe.«

»Ein Joint Degree an der Columbia University und der London School of Economics, wenn ich mich recht entsinne.«

Natürlich entsann sie sich recht, aber Max nickte trotzdem.

»Na, dann wird das ja wie eine Heimkehr für dich, nicht wahr? Deine Beförderung wird am Montag verkündet. Am dritten Juli fängst du in London an.«

»Juli? Das ist …« Er rechnete im Kopf nach. »… in sieben Wochen.«

»Ja. Wann hast du das letzte Mal Urlaub gehabt?«

»Ich war gerade in Europa.«

»Und du hast beinahe die gesamte Zeit gearbeitet. Ich spreche von Urlaub. Lange ausschlafen, endlos fernsehen, Angeln gehen. Aus-span-nen. Du weißt doch noch, was das ist, oder?«

»Vage.«

»Eben. Wenn du weiter so arbeitest wie bisher, leidest du bald an einem Burn-out. Nimm dir Urlaub.«

»Ich brauche keinen …« Er unterbrach sich, als sie ihm einen strengen Blick zuwarf.

»Nimm dir die Zeit frei, Max. Du hast dir das verdient. Ich schicke dir eine E-Mail mit den Kandidaten für die Stelle als Seniorpartner.«

»Okay.«

»Gut. Ach, und noch was, Max: Herzlichen Glückwunsch.«

»Danke, Mrs. Bergen.«

Adrienne stieß noch einmal mit ihm an, bevor sie sich abwandte, davonging und ihn mit seinen Gedanken allein ließ.

London. Er hatte den Job in London bekommen. In weniger als zwei Monaten wäre sein Leben in Manhattan beendet und er würde auf die andere Seite des Atlantiks ziehen. Aber das war okay, denn an diesem Abend war ihm klar geworden, dass ihn hier nichts mehr hielt.

Als wollte ihm das Universum unbedingt beweisen, wie sehr er sich irrte, vibrierte in diesem Moment sein Handy in der Innentasche seiner Jacke. Er holte es heraus und schaute auf das Display. Dort leuchtete ihm ein Bild seiner Großeltern entgegen, eins von ihrem fünfzigsten Hochzeitstag, ein Foto, das er nicht hatte austauschen können, nachdem Martin vor neun Monaten verstorben war.

Max machte sich auf den Weg durch die Menge, den Blick auf die Türen am anderen Ende der Bar gerichtet. Er strich mit dem Finger übers Display und hielt sich das Handy ans Ohr. »Hallo, Ava, warte bitte mal eine Sekunde.«

Seine Großeltern hatten nie kitschige Kosenamen gehabt. Sie hatten nie Grams oder Pops, Grandma oder Granddad genannt werden wollen. Immer waren sie nur Martin und Ava gewesen … obwohl es jetzt nur noch Ava gab.

Max stieß die Glastür auf und betrat die große Dachterrasse der Bar. Auch hier hielten sich ein Dutzend Leute auf, entweder weil sie rasch eine Zigarette rauchen oder ein privates Gespräch führen wollten. Keiner von ihnen war unter der Überdachung hervorgetreten, denn es hatte angefangen zu nieseln und niemand wollte nass werden.

»So, jetzt kann ich reden«, sagte Max, lehnte sich an die Wand und starrte hinaus in den Regen und die hellen Lichter der Stadt.

»Oh, wenn du beschäftigt bist, kann ich später noch mal anrufen.«

»Für dich bin ich nie zu beschäftigt.« Das war gelogen, was ihm klar wurde, kaum dass er die Worte ausgesprochen hatte. Seit Martins Tod hatte er Ava nur einmal gesehen, als sie zu Thanksgiving nach New York gekommen war. Er hatte versprochen, Weihnachten nach Cruickshank zu fliegen, aber diese Reise hatte er abgesagt, weil er aus beruflichen Gründen in New York bleiben musste. Genau wie seinen Besuch im Februar … und im April.

Er konnte sich auch nicht erinnern, wann er sie das letzte Mal angerufen hatte – vermutlich, als er seinen Besuch im April abgesagt hatte. Und jetzt würde er nach Europa gehen, sodass es künftig nicht mehr allzu viele Gelegenheiten für einen Besuch gäbe.

»Eine gute Unterhaltung und ein bisschen frische Luft kommen mir gerade recht.« Letzteres entsprach nicht direkt den Tatsachen. Die Luft um ihn herum war rauchgeschwängert.

»Ich will dich nur nicht mit dieser Sache belästigen, wenn du beschäftigt bist …« Sie brach ab und zögerte.

»Ava, ich kann jetzt reden. Wirklich. Also raus mit der Sprache.« Dies war ein Abend voller unerwarteter Gespräche. Erst das etwas eigenartige Zusammentreffen mit Kendall, dann die wie immer unerfreuliche Begegnung mit seiner Mutter und seinem Stiefvater und nicht zuletzt sein sagenhafter Sprung auf der Karriereleiter. Jetzt konnte er mit allem fertigwerden, was seine Großmutter ihm zu sagen hatte.

»Ich werde das Haus verkaufen.«

Okay, vielleicht doch nicht.

Max stieß sich von der Wand ab und straffte die Schultern. »Du … willst das Haus verkaufen?«

»Es wird Zeit für mich, mir etwas Kleineres zu suchen. Es ist einfach zu groß für mich, Max. Ich bin es leid, allein in diesem alten Haus herumzugeistern. Ich fühle mich einsam hier ohne Martin.« Sie klang entschlossen, aber die Trauer in ihrer Stimme war geradezu mit Händen greifbar und übertrug sich noch stärker auf ihn, als es heftiger anfing zu regnen.

Plötzlich verspürte er heftige Schuldgefühle. Er hatte versprochen, sie zu besuchen und ihr dabei zu helfen, die Dinge durchzugehen, die Martin hinterlassen hatte.

»Egal«, meinte sie betont fröhlich. »Eigentlich rufe ich an, weil ich dich fragen wollte, ob es hier irgendetwas gibt, das du haben möchtest. Ich will nur ungern etwas weggeben oder verkaufen, an dem du besonders hängst.«

Seine ganze Vergangenheit hing an dem verdammten Haus. Eine Vergangenheit, mit der er sich auf keinen Fall auseinandersetzen wollte.

Wenn Ava jedoch verkaufen wollte, musste er ihr helfen, und zwar bevor er auf einen anderen Kontinent zog. Also sah es jetzt ganz danach aus, dass er seinen Sommer in Cruickshank, North Carolina, verbringen würde, an einem Ort, den er in den letzten vierzehn Jahren so gut wie irgend möglich gemieden hatte.

Nicht, dass ihm eine andere Wahl geblieben wäre.

2. KAPITEL

Alles ganz wunderbar

Das Schnipp, Schnipp, Schnipp der Gartenschere klang Caro in den Ohren. Sie stand in Avas Hauswirtschaftsraum, in dem man sich seiner schmutzigen Schuhe und Arbeitskleidung entledigen und sich säubern konnte. Stängel und Blätter frisch geschnittener Blumen sammelten sich im Porzellanwaschbecken. Sie und Ava hatten den ganzen Morgen im Garten gearbeitet, Blumen geschnitten, Unkraut gejätet, Dünger verteilt und Samen ausgebracht.

Caro hatte Avas Wunsch, neue Blumen auszusäen, hinterfragt, denn wenn das Haus verkauft würde, hätte Ava sehr wahrscheinlich nichts mehr von der Herbstblüte.

»Na ja, zum einen habe ich das Saatgut bereits gekauft und werde es nicht einfach wegwerfen. Die Samen verdienen eine Chance, zu keimen, zu wachsen und zu blühen wie alles andere auch.« Mit ihren gummibehandschuhten Händen hatte Ava auf ihren weitläufigen Garten gedeutet. »Und zweitens: Ein Teil von mir wird immer noch hier sein, selbst wenn ich fort bin.« Sie hatte gestrahlt. »Und drittens: Die neuen Eigentümer werden den Garten so in seiner ganzen Herbstpracht sehen können.«

Es war immer noch schwer vorstellbar, dass Ava das dreistöckige viktorianische Gebäude verkaufen wollte, das Caro seit ihrem fünften Lebensjahr als eine Art zweites Zuhause betrachtete.

Großer Gott. Allein schon der Gedanke, dass Ava nicht mehr hier sein würde, verursachte ihr Herzschmerz. Sie musste aufhören, sich ständig die Brust zu reiben, wenn sie sich nicht mit einer besonders dornigen Rose oder, schlimmer noch, mit der Gartenschere stechen wollte.

Ihr blieb nichts anderes übrig, als den Sommer und die Zeit, die ihr noch mit Ava blieb, zu genießen. Außerdem war es ja nicht so, dass Ava Cruickshank verlassen wollte. Sie beabsichtigte nur, in ein kleineres Haus umzuziehen. Etwas Pflegeleichtes, das nicht so viel Arbeit machte, keine zwei gewundenen Treppen und mehrere Geschosse hatte. Zwar kam sie immer noch gut zurecht, war aber immerhin schon fast fünfundachtzig.

Caro blickte von ihrer Arbeit auf und nach draußen in den Garten. Vergeblich hielt sie Ausschau nach Avas gelbem Sonnenhut im Meer der bunten Blüten. Also suchte sie stattdessen nach einem der beiden vierbeinigen Freunde, von denen sie wusste, dass sie im Garten herumliefen.

Beauregard, Avas Hund aus dem Tierheim, entfernte sich nie weit von ihr. Normalerweise wedelte er dabei ständig mit seinem langen, buschigen Schwanz. Irgendwo in der Nähe würde sich auch Caros derzeitiger Pflegehund aufhalten: Tibbett, ein Basset mit Schlappohren und traurigen Augen.

Sie brauchte ein paar Minuten, um das Trio zu finden, aber schließlich entdeckte Caro sie auf der anderen Seite des Wintergartens.

»Was zum Teufel …?«

Die alte Dame stand ganz oben auf einer Leiter, beugte sich gefährlich weit vor und versuchte das Rankgerüst am Haus zu erreichen. Caro ließ Gartenschere und Blumen ins Waschbecken fallen, sprintete aus der Hintertür und rannte über den Rasen.

»Ava! Was tust du da oben?«

»Ich schneide meinen Jasmin«, erklärte Ava ruhig, ohne sich auch nur umzudrehen.

Es war zum Verzweifeln. »Das sehe ich! Komm sofort da runter!«

»Alles in Ordnung, Caro.«

Beau winselte neben Caro. Offenbar war auch er der Meinung, dass nicht alles in Ordnung war. Tibbett hingegen steckte ungerührt seinen Kopf in einen Strauch in der Nähe und schnupperte an den Blüten.

»Warum? Glaubst du, du kannst das besser?«

»Nein, ich glaube, wenn du fällst, brichst du dir sämtliche Knochen.«

Ava hielt inne, drehte sich um und schaute zu Caro hinunter. »Und was passiert, wenn du fällst?«

»Dann rolle ich mich ab. Zum letzten Mal: Komm da runter.«

»Na schön.« Vorsichtig stieg Ava die Leiter hinab, bis sie vor Caro stand. »Und wie gedenkst du, die Zweige ganz oben zu erreichen?«, fragte sie, die Augenbrauen weit über den Rand ihrer Sonnenbrille hochgezogen. »Du weißt schon, dass ich gut zwölf Zentimeter größer bin als du, richtig?«

»Mir ist bewusst, dass du größer bist als ich, danke schön. Ich werde schon zurechtkommen.« Damit hielt Caro ihr die Hand hin, um die Gartenschere entgegenzunehmen, bevor sie die Leiter erklomm.

»Na gut. Und wenn du schon da oben bist, kannst du auch gleich das lose Stück des Rankgerüsts reparieren, das wieder festgenagelt werden muss. Da oben, knapp über dem Fenster.«

Caro entdeckte die Stelle, an der ein Nagel herausgefallen war. »Wenn du mir Hammer und Nägel holst, bringe ich das in Ordnung.«

»Wunderbar«, hörte sie Ava sagen, bevor die alte Dame loslief. »Kommt, Jungs«, rief sie und beide Hunde folgten ihr fröhlich bellend.

Caro machte dort weiter, wo Ava aufgehört hatte, kletterte dabei immer höher und schnitt den Jasmin zurück, wo es nötig war. Auch sie kam bestens zurecht und überallhin … bis auf ein kleines Stück in der oberen rechten Ecke. Sie sah sich um, und ihr Blick fiel auf den Sims des Wintergartens, einen Sims, den sie schon sehr oft benutzt hatte, damals, als sie bei ihren Besuchen in Max’ Schlafzimmer durchs Fenster geklettert war.

Einen Moment hielt sie mit ihrer Arbeit inne, starrte zu ebendiesem Zimmer hinauf und dachte an jene langen Sommernächte zurück.

Zum zweiten Mal an diesem Nachmittag verspürte sie einen Stich mitten ins Herz, zwang sich aber, den Schmerz zu verdrängen. Es war schließlich nicht das erste Mal, dass dieses alte Gebäude traurige Erinnerungen in ihr weckte. Zwar war es auch ihr zweites Zuhause, aber zugleich lauerten darin eine Unmenge von Gespenstern aus der Vergangenheit auf sie.

Sie nahm einen Fuß von der Leiter, streckte das Bein und fand gerade eben Halt mit der Spitze ihres roten Sneakers …

»Wer ist denn da oben?«

Die wohlvertraute Stimme hatte auf Caro dieselbe Wirkung, als hätte jemand einen Eimer Eiswasser über ihr ausgeleert. Einen Sekundenbruchteil lang glaubte sie, Gespenster zu hören, aber als sie den Kopf wandte, blieb ihr nur ein Augenblick, um zu begreifen, dass Max zu ihr hochschaute, dann rutschte sie mit dem Fuß ab und fiel …

Genau auf ihn.

Es rumste zweimal: Erst gingen Caro und Max in einem Durcheinander aus Gliedern, Schreien und Stöhnen zu Boden, dann krachte die Metallleiter, die sie im Fallen umgerissen hatte, gegen die Hauswand.

Max hatte das meiste abbekommen, war auf dem Rücken im Gras gelandet, während sie auf seinem langen, harten Körper lag. Ihr Gesicht war an seine Brust gepresst – war die vor vierzehn Jahren auch schon so muskulös gewesen? –, und als sie einatmete, nahm sie Maximillian Abbotts ganz eigenen Duft war – würzig, ein wenig salzig und absolut maskulin.

Es kostete sie ihre ganze Willenskraft, das Gesicht nicht in den Stoff seines Hemdes zu drücken und noch tiefer Luft zu holen. Stattdessen schaute sie auf und ihre Blicke trafen sich. Für den Bruchteil einer Sekunde schien so etwas wie Sehnsucht in seinen blauen Augen aufzuflackern. Aber ebenso schnell war dieser Augenblick auch schon wieder verflogen.

»Hast du die Absicht, den ganzen Tag hier liegen zu bleiben?«

»Ich … Nein … Tut mir leid.« Mit den Händen auf seiner Brust stemmte sie sich hoch, um aufzustehen. Dummerweise war sie erneut so überrascht von den stählernen Muskeln unter ihren Handflächen – ehrlich, war er schon vor vierzehn Jahren so stark gewesen? –, dass sie abrutschte und auf ihn zurückfiel. Da sie nicht noch ein drittes Mal auf ihm landen wollte, ließ sie sich nach links gleiten. Ihre langen Beine rutschten zur Seite, sodass sie jetzt rittlings auf einem seiner Oberschenkel saß, was noch viel schlimmer war, als auf ihm zu liegen. Als sie diesmal versuchte, ihre Position zu verändern, traf sie ihn mit dem Knie im Schritt.

»Ufff«, stöhnte Max, bevor er mit beiden Händen ihre Oberarme packte und sie mit Leichtigkeit von sich hob.

Caro kämpfte sich auf die Beine, wirbelte herum und sah zu, wie er langsam aufstand. Er trug eine dunkelblaue Jeans und ein graues T-Shirt, das eng an seinem Oberkörper anlag – und seine viel zu breite Brust betonte –, ihm aber lose um die Taille hing.

»Es tut mir leid«, wiederholte sie. »Habe ich dir wehgetan?« Unwillkürlich senkte sie den Blick, als sie unbeholfen mit der Hand in Richtung seines Schritts deutete.

Seine Miene verhärtete sich, bevor er wegsah und sich Gras und Erde von der Kleidung klopfte. »Ich habe schon Schlimmeres erlebt.«

Mit dir. Das sprach er zwar nicht aus, aber sie schien es trotzdem laut und deutlich zu hören. Sofort stand ihr vor Augen, was damals geschehen war … wie sie in seiner Wohnung in Chapel Hill gewesen war … und ihm den Verlobungsring zurückgegeben hatte.

»Was tust du hier?« Sein Tonfall war weder unhöflich noch schneidend, aber es war offensichtlich, dass er sich nicht freute, sie zu sehen.

»Du weißt, dass ich immer noch für Ava arbeite, oder?« Sie hatte damit angefangen, als ihre Mutter erkrankt war. »Ich komme immer dienstags und freitags und im Grunde, wann immer sie mich braucht.«

»Ach ja.« Er nickte. »Das hatte ich vergessen.« Allerdings verriet seine Miene, dass er wohl doch nicht gewusst hatte, dass sie immer noch regelmäßig hierherkam. Aber es gab inzwischen eine Menge Dinge, die sie nicht mehr voneinander wussten.

Er hatte ohne Zweifel Geheimnisse. Sie selbst hatte definitiv eins – eins, das sie seit acht Jahren vor ihm verbarg.

»Ich hatte keine Ahnung, dass du zu Besuch kommen würdest. Sonst wäre ich jetzt nicht hier.«

»Schon gut, Caro. Wenn du so oft hier bist, werden wir einen Weg finden müssen, wie wir in den nächsten Wochen miteinander umgehen können.«

Sie brauchte eine Weile, um die Bedeutung seiner Worte zu erfassen. »In den nächsten … paar Wochen?«

»Ich bleibe bis Ende Juni. Hat Ava dir das nicht gesagt?«

Moment, welchen Monat haben wir jetzt? Fieberhaft überlegte sie. Es fiel ihr schwer, über dem Nebel in ihrem Kopf und seinem Duft, der ihr immer noch in der Nase hing, einen klaren Gedanken zu fassen. Jetzt haben wir … wir haben Mitte Mai. Nein, nein, nein, nein, nein. Nein!

»Nein, das hat sie nicht erwähnt. Bis Ende Juni?«, wiederholte sie ein wenig heiser.

»Caro, mit wem redest du?« Avas Stimme ertönte hinter dem Haus, und Sekunden später trat sie um die Ecke – dicht gefolgt von Beau und Tibbett –, blieb aber wie angewurzelt stehen, als sie den Neuankömmling erblickte. »Max! Du bist gekommen!«, rief sie und warf die Arme in die Luft – einen Hammer in der einen und eine Schachtel Nägel in der anderen Hand. Schnell legte sie alles auf dem Gartentisch neben dem Pool ab, bevor sie die letzten Meter bis zu ihrem Enkel überbrückte. »Komm in meine Arme!« Damit drückte sie ihm einen Kuss auf seinen glatt rasierten, markanten Kiefer, bevor sie ihn fest umarmte.

Als sie ihn wieder losließ, trat sie einen Schritt zurück und ließ den Blick von Caro hinüber zu der Leiter, die am Boden lag, und dann wieder zu Max wandern.

»Was ist passiert?«

»Ich habe das Gleichgewicht verloren und bin auf Max gefallen.« Caro musterte Ava immer noch misstrauisch. Warum hatte sie sie nicht gewarnt? Sie redeten nie über Max, aber eine kleine Andeutung wäre wirklich nett gewesen. Dann hätte sie etwas Zeit gehabt, sich darauf einzustellen.

Aber wem wollte sie eigentlich etwas vormachen? Sie konnte sich nicht auf Max einstellen. Nichts konnte verhindern, dass ihre Hände schweißnass wurden. Nichts konnte den schnellen, unregelmäßigen Schlag ihres Herzens beruhigen, das im Moment zu versuchen schien, ihr aus der Brust zu hüpfen.

»Tatsächlich«, sagte Ava und schaute wieder ihren Enkel an. »Und? Ist sie abgerollt?«

Max runzelte verwirrt die Stirn. »Wie bitte?«

»Ist Caro abgerollt? Sie hat mich dazu gebracht, von der Leiter zu steigen, denn sie meinte, wenn ich falle, breche ich mir sämtliche Knochen, während sie einfach abrollen würde, wenn sie fällt. Und? War es so?«

»Ganz und gar nicht.« Lachend schüttelte Max den Kopf.

Es war nur ein kurzes Lachen, aber es versetzte Caro einen Stich.

»Weißt du, deine Sorge um mich ist schier überwältigend, Ava.« Caros Worte fielen ein wenig schärfer aus als beabsichtigt, vielleicht weil sie sich fühlte, als hätte man ihr ein Messer in die Brust gerammt. Sie musste dringend die Reißleine ziehen und eine Möglichkeit finden, dieser Situation so schnell wie möglich zu entfliehen.

Ava biss sich auf die Unterlippe, eindeutig bemüht, ihr Lächeln zu verbergen. »Es tut mir leid. Hast du dir wehgetan?«

»Nein, Max hat das meiste abbekommen.«

»Gut.« Ava tätschelte ihm die Brust. »Er war schon immer ein sicherer Landeplatz«, sagte sie, bevor sie Caro einen bedeutungsschweren Blick zuwarf.

Und damit bin ich raus.

»Ich gehe jetzt. Mit den Blumen im Hauswirtschaftsraum bin ich nicht ganz fertig geworden. Und jetzt, da Max hier ist …« Sie deutete in seine Richtung. »… kann er auch das Rankgitter in Ordnung bringen.«

»Ava, wann hast du dir denn einen zweiten Hund zugelegt?«, fragte Max und bückte sich, um Tibbett und Beau zu streicheln, die beide um ihn herumstrichen und an seinen Schuhen schnupperten.

»Habe ich nicht. Tibbett ist Caros Pflegehund.«

Er blickte auf, immer noch beiden Hunden den Kopf kraulend. »Pflegehund? Ich hätte nicht gedacht, dass Sweet Pea bereit wäre, dich mit einem anderen Hund zu teilen.«

Noch ein schmerzhafter Stich in Caros Brust. Sweet Pea war der gelbbraune Cockerspaniel-Mix ihrer Mutter gewesen. Sie hatte sehr weiche Ohren und ein unglaublich niedliches Gesicht gehabt. Als Caros Mutter gestorben war, hatte Sweet Pea eine sehr enge Bindung zu Caro aufgebaut – und umgekehrt.

»Sweet Pea ist vor drei Jahren gestorben«, erklärte Caro, als würde es ihr nichts ausmachen.

Aber das tat es. Sie hatte diesen Hund so verdammt geliebt. Dass Sweet Pea gestorben war, hatte ein weiteres Loch in ihr Leben gerissen. Noch jemand, ohne den zu leben sie hatte lernen müssen … so wie ohne den Mann, der jetzt vor ihr stand. Nach Sweet Peas Tod hatte Caro sich nicht vorstellen können, je wieder einen eigenen Hund zu haben. Genau deshalb nahm sie jetzt nur noch vorübergehend Pflegehunde auf.

Ein Ausdruck von Traurigkeit huschte über Max’ Gesicht. Er stand auf und öffnete langsam den Mund, aber Caro schnitt ihm das Wort ab. Sie wollte nicht hören, was er zu sagen hatte.

Sie konnte es nicht ertragen.

»Ich gehe jetzt«, wiederholte sie. »Bis demnächst. Komm, Tibbett, wir wollen los.« Sie klopfte sich auf den Oberschenkel, wandte sich ab und eilte zum Haus, in der Hoffnung, dass der Hund ihr folgen würde.

Sie musste so schnell wie möglich fort von Max.

Max sah Caro nach, als sie ging. In ihm herrschte ein wahres Gefühlschaos, und er verspürte...

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