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Nur eine weitere Geschichte

Als Buch hier erhältlich:

Gehört die Geschichte deines Lebens dir oder denen, die sie schreiben?

Die Journalistin und alleinerziehende Mutter Suzy Hamilton erfährt eines Morgens, dass die Wellness-Bloggerin Tracey Doran, die Gegenstand einer ihrer Enthüllungsgeschichten war, Suizid begangen hat. Suzy ist erschüttert und fühlt sich schuldig, doch anstatt sich ihren Gefühlen zu stellen, sucht sie Ablenkung: in ihrer Arbeit, ihrer Mutterrolle und ihren Affären.

Aber die Folgen ihres Artikels holen Suzy ein Jahr später ein. Sie erhält anonyme Drohbriefe, wird von Traceys Mutter kontaktiert und aufgesucht. Diese verlangt von ihr, eine weitere Geschichte zu erzählen – Traceys wahre Geschichte.

Eine zärtliche, fesselnde und intelligente Erkundung von Schuld, Scham, weiblicher Wut und vor allem von Mutterschaft mit all ihren Schwierigkeiten und Schätzen.


»Elektrisierend, zutiefst beunruhigend und so, so zufriedenstellend« Meg Mason


  • Erscheinungstag: 25.04.2023
  • Seitenanzahl: 496
  • ISBN/Artikelnummer: 9783753000787

Leseprobe

FÜR EVELYN

You are my one, and I have not another; Sleep soft, my darling, my trouble and treasure.

Christina Rossetti

»Crying, my little one, footsore and weary«

1. KAPITEL

Im Sommer, nachdem ich die Story geschrieben hatte, die Tracey Doran tötete, hatte ich gerade aufgehört, mit zwei sehr unterschiedlichen Männern zu schlafen, nach einer Verwicklung in etwas, was manche Menschen im Internet als »Sexskandal« bezeichneten, obwohl es mir in dieser Formulierung nicht so vorkam, als könnte mir so etwas passieren. So etwas passierte den Leuten, über die ich schrieb, also einer ganz anderen Art von Leuten. In jenem Sommer wohnte ich in Glebe, einem Vorort von Sydney, in einem baufälligen Haus, zusammen mit meiner kleinen Tochter Maddy, die im Mittelpunkt von allem stand. Das Haus war alt und wurde streng bewacht von einem riesigen Moreton-Bay-Feigenbaum, der noch älter war als das Haus selbst. Der Feigenbaum war gigantisch und zuweilen sogar bedrohlich, wie eine Kreuzung aus einem riesigen Pterodaktylus und einem Stück uralter Fauna, die in den gruseligen Teil eines Märchens gehörte. Der Baum drohte permanent das Haus zu überwältigen, aber ich hatte damals andere Dinge im Kopf. Mit dem Feigenbaum lebte ich, das Haus liebte ich. Gegenüber lag ein Park, der wie mit groben Stichen in die Küstenlandschaft eingenäht war, und selbst der Hafen war zu sehen, wenn man auf dem Rand der Badewanne stand und das Fenster über der Toilette aufschob. Ich stand oft auf dem Rand der Badewanne, nicht wegen des Blicks auf den Hafen, sondern weil es die einzige Möglichkeit war, mein komplettes Outfit zu sehen, denn in unserem Haus gab es keinen Ganzkörperspiegel. Seit dem Einzug hatte ich immer vorgehabt, einen zu kaufen und ihn an der Rückseite der Tür anzubringen, aber das war jetzt schon über zwei Jahre her. Irgendwie schien nie Zeit zu sein für diesen Plan, und ich hatte mich daran gewöhnt, meinen Körper nur in Teilen zu sehen – Gesicht, Dekolleté, zwei schwebende Beine. Wenn ich beruflich in der Stadt war, kam ich ab und zu an einem großen Spiegel vorbei, in einem Büro oder einer Boutique. Hier bin ich, dachte ich mir dann. Bitte sehr. Es war jedes Mal wieder eine Überraschung, mich im Ganzen zu sehen.

Der Mangel an einer größeren reflektierenden Oberfläche war nicht der einzige Makel des Hauses. Das Mauerwerk war feucht, und Putz bröckelte ab. Der Garten hinter dem Haus war übersät mit stacheligen Samen des Seesternbaums, und die bis zum Boden durchgehenden Türen quollen bei Regen auf. Trotzdem hatte es diese einzigartige Sydney-Lage, die Immobilienmakler dazu brachte, mir mehr oder weniger täglich ihre schleimigen Visitenkarten in den Briefkasten zu werfen. Einmal hatte sich ein Makler sogar auf dem Weihnachtskonzert von Maddys Vorschule (sie spielte ein nicht unbedingt überzeugendes Schaf) neben mich gesetzt und mich gefragt, ob ich mir vorstellen könnte, angesichts der momentanen Marktlage zu verkaufen. Ich hätte nie an einen Verkauf gedacht, nicht zuletzt, weil das Haus gar nicht mir gehörte. Es gehörte meinem Onkel Sam, der es 1970 für zwanzigtausend Dollar gekauft hatte, eine Tatsache, die die Leute nach Luft schnappen ließ, wenn er auf Dinnerpartys davon erzählte.

Maddy und ich wohnten dort, seit sie zwei war und ich ihren Vater verlassen hatte, nach Dem Vorfall. Oder Charlie hatte mich verlassen, ich war immer noch nicht sicher, wer eigentlich wen verlassen hatte. Ich wusste nur eines: Das Idyll der frühen Mutterschaft, der Milchflecken und nächtlichen Fütterungen, der Sorgen und ersten Male – das erste Lächeln, das erste Umklammern eines Fingers, der erste Schritt, der erste Wutanfall im Supermarkt, die erste Hämorrhoide (bei mir), der erste herzzerreißende Stich von Schuldgefühl – war jäh zum Ende gekommen. Als ich später merkte, wie schwierig es war, allein für ein Kind zu sorgen, beschloss Charlie, ich hätte ihn verlassen. Er zog sich auf diese Position zurück, und nichts hätte ihn von dort weglocken können. Er stichelte, er beschimpfte mich und behauptete, ich hätte mich entschieden, ihn zu verlassen – was ich denn erwartet hätte? Aber ich war nicht sicher, ob von einer Entscheidung meinerseits wirklich die Rede sein konnte.

Zuerst war die Wohnung in der Ruby Street nur als vorübergehende Lösung gedacht, aber Onkel Sam hatte sich von Maddy derart um den Finger wickeln lassen – ein liebenswertes kleines Mädchen, das mit seinem Lächeln um sich warf wie Konfetti –, dass wir am Ende doch blieben. Irgendwann zog Onkel Sam aus, nachdem er im Badezimmer gestürzt war und sich die Hüfte gebrochen hatte, während Maddy und ich im Urlaub in Queensland gewesen waren. Er kam in eine Senioreneinrichtung in Potts Point, wo ihn eine dralle und effiziente Krankenschwester versorgte und er am Hafen bei Beare Park spazieren gehen oder zumindest am Hafen bei Beare Park herumhumpeln konnte. Es war sein Lieblingsabschnitt von Port Jackson, sagte er, und dort wollte er sterben. Onkel Sam redete ganz offen von seinem Tod, als wäre es eine Reise, die er vorausplante, eine Art ausgedehnte Auszeit von einer langfristigen Arbeitsstelle, die er sich demnächst nehmen wollte.

Ich hatte nicht vorgehabt, Tracey Doran zu töten, und als der Sommer begann, hätte ich mir nicht träumen lassen, dass ihr Tod ihn komplett beherrschen würde. Sie war nur eine Geschichte wie alle anderen.

*

Da wir in Sydney wohnten, begann der Sommer irgendwann im September, als die Zylinderputzer blühten und die Elstern anfingen zu keckern und mit mörderischen Absichten herunterzuschießen – ein Doppel, das den australischen Busch wunderbar abbildete: Seine Schönheit gab es nur, wenn man auch die Gefahr in Kauf nahm. Dieses Jahr hatte eine Elster tatsächlich jemanden getötet, einen Radfahrer, den sie so heftig attackierte, dass er vom Radweg abkam und vor einen beschleunigenden Mack-Lastwagen fuhr. Wie weist man das Tatmotiv im Falle eines Vogels nach? Ich hatte einen halben Abschluss in Rechtswissenschaften, aber ich wusste es nicht. Ob es Mord oder Totschlag war, sei eine Sache zwischen der Elster und ihrem Gott, sagte mein Kollege Victor, als wir am Schreibtisch saßen und beim Durchscrollen der neuesten Nachrichten schockiert diese Geschichte lasen. Oder seinem Gott, sagte ich, denn seit Maddys Geburt hatte ich versucht, alle Formen von sexistischer Sprache aus meinem Sprachgebrauch zu streichen. Dieses Ziel war von vornherein zum Scheitern verurteilt, denn obwohl sie in der Umgebung einer fortschrittlichen Mittelklasse aufwuchs und von einer alleinerziehenden Mutter (mir) erzogen wurde, die buchstäblich alles für sie tat, war Maddy eine starke Anwältin für Gendernormen. Sie weigerte sich zu glauben, dass irgendein Kind mit langen Haaren ein Junge sein könnte – etwas, was durchaus peinlich werden konnte, wenn wir Spielplätze besuchten, auf denen es vor hübsch bezopften Jungen mit Namen wie Leaf und Miro nur so wimmelte. Maddy korrigierte mich auch lachend, als ich ihr erklärte, dass der Premierminister auch ein Mädchen sein konnte. »Nein, kann er nicht, Mama!«, gluckste sie, und ich musste zugeben, dass die Beweislage für meine Behauptung dürftig war. Maddy trug rosa Sachen, als wäre es ihr von einer höheren Macht als mir diktiert worden, und sie hatte irgendwie auch das heilige Trio mädchenhafter Interessen in sich aufgenommen – Elfen, Prinzessinnen und Einhörner – trotz all meiner Bemühungen, ihr Interesse für Bücher über feministische Pionierinnen zu wecken oder andere frühfeministische Propagandawerke wie ein Bilderbuch mit dem Titel Mama geht zur Arbeit.

Ich hoffte immer, dass sie diese Meinungen in der Vorschule für sich behielt, wo sich ein Stamm von freundlichen, aber konsequenten Frauen großartig um sie kümmerte, die in ihrer liebevollen Fürsorge viel mehr Geduld hatten als ich. Jeden Morgen, bevor ich zur Arbeit ging, gab ich Maddy vertrauensvoll in ihre Arme, als wären sie einfach das nächste Glied in der mütterlichen Gänseblümchenkette – die Frauen, die arbeiteten, damit Frauen wie ich arbeiten konnten. Wer kümmerte sich eigentlich um ihre Kinder, wenn sie arbeiteten? Es war ein Matroschka-Trick, auf den der Feminismus keine Antwort wusste. Ich versuchte, mich nicht allzu schuldig zu fühlen, ihretwegen oder weil Maddy in Vollzeitbetreuung war, während die meisten anderen Kinder nur wenige Tage pro Woche dort waren, als praktizierten sie Jobsharing oder würden einfach nur einem Hobby nachgehen. Die Mütter dieser Teilzeitkinder hatten berufliche Karrieren, waren aber auch in der Lage, sich aufgrund einer gewissen finanziellen Freiheit ein paar Tage in der Woche zu nehmen, um die Flüchtigkeit der frühen Kinderjahre genießen zu können. Eine Flüchtigkeit, die mir schmerzlich bewusst war und immer besonders stark, wenn ich Maddy morgens abgab und sie vor einer Schüssel mit Cornflakes zurückließ. Die pummelige Säule ihres Arms hatte ein Grübchen, wo sie auf die Falte ihres Handgelenks traf, und dieser Anblick löste in mir einen Drang aus, sie an mich zu drücken und wieder in mich aufzunehmen wie ein Puzzleteil. Trotz des Chaos’, in das sie hineingeboren war, dankte ich Gott dafür, sie zu haben. Oder ich hätte ihm gedankt, wenn ich an ihn (oder sie) geglaubt hätte.

An solchen Vormittagen eilte ich an die Arbeit und wünschte mich gleichzeitig in mein paralleles Leben zurück, das mich seit Dem Vorfall wie ein hartnäckiger Schatten verfolgte. In diesem Leben waren Charlie und ich immer noch zusammen und glücklich auf die Art, die bedeutete, dass er noch immer meinen Nacken küsste. In diesem parallelen Leben hätte ich einen kleinen, aber feinen Job, der sich ein paar Tage pro Woche nebenbei ausüben ließ, während er mir gleichzeitig gestattete, mein Gehirn zu benutzen und an der richtigen Art von Dinnerparty-Unterhaltungen teilzunehmen – aber andererseits eben auch, ganze Tage mit meinem Kind zu verbringen, tagelang im Park zu sitzen, zum Vorlesen in die Bibliothek zu gehen und Einkaufsausflüge zu K-Mart zu machen, die anfangs noch ironisch gemeint waren, aber bald etwas wurden, worauf man sich freute, weil sie die Langeweile durchbrachen. Wahre Mutterschaft, wie sie von den Frauen gelebt wurde, die ich kannte. Die ganze Tage als Vollzeitmamas verbrachten, auf Indoorspielplätze gingen und sich nach den besten Schwimmkursen erkundigten. Sie packten ihren Kindern ausgewogene Mahlzeiten in Tupperware-Boxen, die so eingeteilt waren, dass sich der Plastikabfall auf ein Minimum reduzieren ließ, und blätterten gutes Geld für Babyccinos hin, die, wie mein Kollege Vic grob überschlagen hatte, eine größere Profitmarge hatten als Blutdiamanten. Diese Tage verschafften mir Zutritt zu einer anderen Art von Dinnerparty-Unterhaltung, der Art, die in der Küche stattfand, zwischen den Frauen, die der Gastgeberin beim Aufräumen halfen. Die Unterhaltung bestand aus Podcast-Empfehlungen und Tipps für gute Erziehungsratgeber, und unterschwellig fällten sie auch immer Urteile über andere Mütter, die gerade nicht im Zimmer waren, Urteile, die sie als Sorge um ihre Kinder maskierten. In Wirklichkeit mied ich solche Dinnerparty-Unterhaltungen und blieb mit den Männern am Tisch sitzen, um mit ihnen über die Themen zu reden, die mich interessierten und die weit genug von mir weg waren, wie Politik oder Klatsch aus der Medienwelt. Ich hatte den Verdacht, dass ich sowieso nicht oft zu solchen Dinnerpartys eingeladen wurde. Nach jenem Sommer war ich wahrscheinlich Gegenstand ihres Klatsches, etwas, wozu meine Abwesenheit erforderlich war.

Eines Tages Anfang November schob ich Maddy aus unserer Wohnung in der Ruby Street hinaus und zog die Tür hinter uns zu. Ich half Maddy, den Wurzeln des Feigenbaums auszuweichen, die sich über den Weg zogen, und öffnete das verrostete Eisentor. Es stieß einen schrillen Schrei aus. Maddy war vier Jahre alt und noch nicht so gut zu Fuß. Unsere Geschwindigkeiten unterschieden sich auf dem Weg zur Vorschule immer wieder, weil Maddy so gerne ihre Finger an Zaunlatten entlanggleiten ließ und Dinge aufhob, die sie auf dem Boden gefunden hatte, zum Beispiel Kronkorken und wichtige Steine. Ich hielt ihre Hand und schaute auf mein Handy, zum einen, ob irgendwelche Mails gekommen waren, zum andern wegen der Zeit. Nachdem ich sie in die Arme einer dieser Halbgöttinnen gegeben hatte, ging ich zum Bus, mit dem ich jeden Tag in die Redaktion der Zeitung fuhr, für die ich arbeitete. Ich nannte es immer noch eine Zeitung, obwohl das Schreiben für die Zeitung immer unwichtiger wurde als das Schreiben für die Website und das Werbetrommelrühren für die sogenannte Leserbindung. Ich hatte fünfzigtausend Follower auf Twitter und fast zehntausend auf Facebook, und ich hatte auch einen offenen Instagram-Account, auf dem ich kleine Fotos postete, die jeweils mit den Geschichten zu tun hatten, zu denen ich gerade recherchierte – die Pressekonferenz eines Premierministers, ein Foto von einem Medienrummel auf dem Bürgersteig oder ein Tablett mit süßem Tee und Mandelkeksen, arrangiert von einer Flüchtlingsfamilie, die dem sicheren Tod entkommen war.

An diesem Tag war ich ungewöhnlich früh dran, und ich beschloss, den Weg ins Büro zu Fuß zurückzulegen, statt den Bus zu nehmen. Die Jacarandasaison war gerade auf ihrem Höhepunkt, und die Straßen waren voller lila Wolken, die Blütenblätter auf die Bürgersteige regnen ließen. Sie waren wie klebrige Ballons unter meinen Füßen. Die Luft war noch kühl, aber es lag schon das Versprechen kommender Wärme darin. Ich hörte gerade News Agenda über Kopfhörer, als mein Handy klingelte. Es war meine Nachrichtenredakteurin Curtis. Curtis war quasi das Klischee einer Nachrichtenredakteurin – leicht erregbar, Raucherin, vor Kurzem geschieden. Ich erklärte, dass ich auf dem Weg ins Büro war.

»Dann hast du es also noch nicht gehört?«, fragte sie.

Die Frage brachte mich aus dem Tritt. Alle Journalisten haben Angst vor Leuten, die vor ihnen von Dingen wissen, denn es ist unser Job, die Dinge vor den anderen Leuten zu wissen. Seitdem ich mit Charlie zu tun hatte, war dieser Instinkt noch geschärft worden. Meine Psychologin hatte mir gesagt, dass man die Gruppe von Menschen, die böse hintergangen worden waren, in zwei Typen aufteilen konnte: die Muss-es-unbedingt-wissen-Leute und die Ich-will’s-gar-nicht-wissen-Leute. Ich gehörte zu den Muss-es-unbedingt-wissen-Leuten, was mir schon genug Schmerzen bereitet hatte. Dieses Es-unbedingt-wissen-müssen bedeutete, dass auf meinem Schläfenlappen zahlreiche unangenehme Bilder unwiderruflich eingeritzt waren, Bilder, die mein Gehirn hartnäckig gegen meinen Willen aufbewahrte. Mein chronischer langfristiger Schlafmangel sorgte dafür, dass ich alles Mögliche vergaß, von meiner PIN-Nummer bis hin zum Namen meiner Mutter (Letzteres allerdings nur einmal). Doch die Bilder blieben, und manchmal waren sie so lebensecht, dass sie für mich präsenter und realer waren als mein eigenes Spiegelbild.

»Was hab ich noch nicht gehört?«, fragte ich.

Tausend verschiedene Möglichkeiten schossen mir durch den Kopf – Neuigkeiten, die so aufregend waren, dass meine Redakteurin mich um sieben Uhr fünfzig am Morgen anrief. Ein Terroranschlag? Ein politisches Attentat? Vielleicht hatte man mich ja auch für eine Auszeichnung vorgeschlagen.

»O Gott, Suze«, sagte Curtis. »Es gibt keine einfache Art, es zu sagen.« Sie legte eine Pause ein.

»Keine einfache Art, was zu sagen?«

»Tracey Doran ist tot. Sie ist letzte Nacht gestorben. Sie … ähm. Schau, Suze …« Curtis murmelte irgendetwas in sich hinein, dann legte sie wieder eine Pause ein. »Sie hat sich umgebracht.«

Ich blieb stehen. Der Speichel verließ meine Kehle, als würde man Meerwasser mit einem Blasebalg absaugen. Meine Beine drohten unter mir nachzugeben. Ich setzte mich auf die Steinmauer eines Gartens, an dem ich gerade vorbeiging. Darin stand ein gelber Rosenstrauch, der gerade voll aufgeblüht war.

»Ich hab gestern Abend noch mit ihr gesprochen«, sagte ich. »Deswegen kann das gar nicht sein. Gestern Abend war sie noch am Leben.«

»Wir haben es heute früh im Polizeibericht gesehen«, sagte Curtis. »Und dann hat einer von Kates Jungs ihre Identität bestätigt.«

Kate war Polizeireporterin. Sie neigte zu Atemlosigkeit am Funkgerät, aber nie zu Fehlern.

»Fuck.«

»Ich weiß«, sagte Curtis. »Aber jetzt hör mir gut zu. Sie hat in Schwierigkeiten gesteckt, richtig? Also glaube ich nicht, dass wir uns hier die Schuld geben sollten. Es ist nicht deine Schuld. Deine Story war hundertprozentig sauber.«

Im Grunde traf das zu.

»Wie hat sie es getan?«

Wieder eine Pause. Ich hörte, wie Curtis laut in den Hörer atmete, wie ein Sexanrufer oder ein kleines Kind.

»Curtis.«

»Willst du das wirklich wissen?«

Mein Herz schlug, als wäre es wütend. »Ja«, sagte ich.

»Tabletten. Sie hat eine Überdosis genommen. Alkohol und Tabletten.«

Das stand eine geraume Weile in der Luft, mischte sich mit dem Duft der Jacarandabäume und der Milde dieses Morgens und dem gelben Jubel der Rosen. Ich überlegte, wo Tracey gewesen war, als sie starb. Lag sie in ihrem Bett, so wie Marilyn? Oder in ihrer Badewanne mit den Klauenfüßen, in einem duftenden Meer aus Blütenblättern und Ölessenzen treibend, wie eine Instagram-Ophelia? Vielleicht hatte sie sich auf ihre weiße Leinencouch gelegt, wie eine Opfergabe. All diese möglichen Orte für einen Selbstmord kannte ich von ihren Social-Media-Accounts. Erst letzte Woche hatte sie eine Story auf Instagram gepostet und die Hersteller des Sofas genannt. Es waren Franzosen. Tracey nannte sie »Baumwoll-Lieferanten«.

Curtis atmete wieder in den Hörer aus. Mir wurde klar, dass sie rauchte, während sie mit mir telefonierte. Wenn ich rauchte, tat ich es lieber alleine, in kontemplativen Momenten, wie eine Art krebserregende Meditation. Bei Curtis war das Rauchen eher wie Atmen – sie tat es begleitend zu allen anderen Aktivitäten.

»Weißt du, was? Nimm dir doch einfach den Tag frei heute«, schlug sie vor. »Verbring ihn mit deiner Tochter. Geh mit ihr an den Strand oder so was. Es ist ja fast schon Strandwetter.« Sie machte eine Pause. »Das Wasser könnte vielleicht noch ein bisschen kalt sein.«

»Wie werden wir davon berichten?«, fragte ich. »Werden wir davon berichten?« Die Vorschriften bezüglich der Berichte über Selbstmorde waren streng, um Nachahmungstaten zu verhindern. Mir kam der entsetzliche Gedanke, dass Tracey eine Social-Media-Influencerin war.

»Wir überlegen uns, wie wir darüber berichten«, sagte Curtis. »Du brauchst dich nicht darum zu kümmern. Bleib heute einfach zu Hause. Nimm ein Bad. Geh spazieren. Mach … solche Sachen eben.«

Unter anderen Umständen hätte ich darüber gelacht, wie Curtis sich vorstellte, was andere Leute in ihrer Freizeit machten. Sie selbst hatte gar keine Freizeit – sie hatte nur die Zeit, in der sie arbeitete oder schlief, und die Zeit, in der sie vom einen zum anderen überging. Ich konnte mir nichts Schlimmeres vorstellen, als spazieren zu gehen oder ein Vollbad zu nehmen oder den Tag mit Maddy zu verbringen – ihre Unschuld, ihre Niedlichkeit, ihr Blühen würden nach dieser Nachricht wie ein Affront wirken. Also sagte ich Curtis, dass ich gleich da sein würde. Ich ging die Sandsteinstufen hinunter an den Hafen und folgte einem Weg, der sich an Klippen und Werften vorbei in Richtung Büro schlängelte. Ich beobachtete, wie sich das Sonnenlicht funkelnd auf dem Wasser spiegelte. Eine Joggerin lief an mir vorbei, ihr Pferdeschwanz wippte wie eine Handpuppe. Möwen saßen in einer Reihe auf der Werft wie Rentner auf einer Matinee. Solche Frühsommertage waren mir die liebsten. Sie waren wie ein Aufwärmen, die Hitze war noch erträglich, der Sonnenschein noch halb von Schatten durchzogen, die Feuchtigkeit nicht der Rede wert. Sie waren wie ein Kitzeln, bevor einem der Sommer einen Fausthieb versetzte. Ich ging weiter, an die Arbeit, und im Gehen versuchte ich, das Gewicht der Geschichte zu erfassen, das gerade auf mich niedergegangen war.

*

Curtis saß an ihrem Schreibtisch, kaute Nikotinkaugummi und scrollte mit hektischer Energie auf Twitter hin und her. Sie kaute den Kaugummi, um die Zeit bis zur nächsten Zigarette zu überbrücken, nicht weil sie versuchte aufzuhören. Manchmal fragte ich mich, wie ihre Blutwerte aussehen mochten. Hastig schloss sie die Twitter-Seite, als sie mich kommen sah.

»Ben wollte wirklich, dass du heute zu Hause bleibst«, sagte sie, als sie zu mir aufblickte.

Ben war der Geschäftsführer der Zeitung. Er kümmerte sich um Public Relations, Budgetfragen und Personal und hielt sich aus inhaltlichen Fragen meist heraus. Er hatte Ähnlichkeit mit einem Bären, aber nicht auf die knuddelige Art. Er gehörte zu den Menschen, die durch ihr Schweigen Respekt geboten und ihr Schweigen nur brachen, um etwas zu sagen, was man nicht hören wollte.

»Ich mach ganz easy«, sagte ich. »Keine Sorge, ich halt den Ball flach.«

Ich trug die Zeitungen und meinen Kaffee zu meinem Schreibtisch, wie jeden Morgen. Auf meinem Schreibtisch stand ein Babyfoto von Maddy, auf dem sie ein breites zahnloses Lächeln zeigte, die Haare auf eine Art hoch stehend, die mein Herz jedes Mal wieder von einer Liebesaufwallung durchzuckte. Das Foto war mein einziger persönlicher Gegenstand. Er stand auf einem Stapel mit Notizblöcken und Papierstapeln – Berichte, Informationszugangsanfragen und andere Dokumente. Post-its blühten aus dem Papierstapel wie Algen. Ich hatte auch ein paar Statuetten von den Auszeichnungen, die ich gewonnen hatte und die nur auf meinem Schreibtisch standen, weil es mir zu prätentiös vorgekommen wäre, sie mit nach Hause zu nehmen und dort aufzustellen – wofür? Für wen? Kaffeetassen zierten das Chaos, in ihnen schwammen Pfützen aus geronnener Milch. Die Redaktion war still, als wollten alle für einen Moment so tun, als wäre es ein erhabener Ort wie eine Bibliothek oder ein Gerichtssaal. Ich liebte es, hier zu sein, wenn es so still war, bevor der alltägliche Kreislauf der Nachrichten einsetzte. Das war, wie in einem Theater zu sitzen, bevor die Menge hereinströmte und die Vorhänge hochgezogen wurden. Ich ging zu gerne an den leeren Schreibtischen meiner Reporterkollegen vorbei, die aussahen, als wären sie in der Nacht durchsucht worden – die wenigsten Journalisten waren ordentlich. Ich mochte die Zeitungsstapel mit der neuesten Ausgabe obendrauf, wie frische Laken auf einem Bett. Ich trank gerne meinen ersten Kaffee, während ich die Morgenzeitungen im Original durchblätterte, wobei ich die kurze Pause zwischen dem Vergnügen an den Neuigkeiten von gestern und dem Schreiben der Nachrichten von heute genoss. Ich sah nicht ein, wieso es heute Morgen anders sein sollte. Vor allem wollte ich nicht allein sein an diesem gaffenden, für diese Uhrzeit schon viel zu hellen Tag, der draußen auf mich wartete, leer, ohne Arbeit, mit der ich ihn hätte füllen können.

Es war nicht meine Schuld.

Nachdem ich mit den Zeitungen fertig war, fuhr ich meinen PC hoch und machte meinen Twitter-Account auf, warf einen Blick darauf und loggte mich sofort wieder aus. Stattdessen öffnete ich mein Mailpostfach. Diverse Medienbenachrichtigungen von irgendwelchen Ministerien über ihre heutigen Aktivitäten. Newsletter von Zeitungen aus Übersee, die ich abonniert hatte. Eine Mail von einem ehemaligen evangelikalen Pfarrer, mit dem ich an einer Story über die Vertuschung von sexuellem Missbrauch in seiner Kirche arbeitete. Meine Augen leuchteten auf, als ich eine Mail von Tom entdeckte, dem Typen, mit dem ich was am Laufen hatte (sexuell, nicht romantisch, nie romantisch). Die Mail enthielt keinen Text, nur einen Link zu einer obskuren Kunstausstellung. Ich klickte darauf. Die Ausstellung schien aus zerlegten Fernsehern zu bestehen. Sie hatte den Titel Unterbrechung. Die Betreffzeile über Toms Mail lautete schlicht: »Wollen wir hin?«

Ganz sicher nicht. In den Jahren seit Dem Vorfall war ich mit vielen Männern ins Bett gegangen, aber war mit keinem von ihnen wieder aufgewacht. Ich suchte keine Liebe oder Gemeinschaft oder sonst etwas in dieser Richtung. Ich machte mir nicht mal die Mühe, mir Ausreden auszudenken, obwohl ich mir manchmal welche für andere Leute ausdenken musste – alleinstehende Mütter (vielleicht auch alleinstehende Väter, keine Ahnung) hatten sich an das ernste Mitleid ihrer Bekanntschaften gewöhnt, die Leute, die sagten: Ich weiß nicht, wie du das schaffst. Ich erkannte Angst in den Augen dieser Leute. Sie hatten Angst, dass das, was mir passiert war, irgendwie ansteckend sein könnte.

Doch die Kehrseite dieses Mitleids war noch schlimmer. Dieser schwesterliche Quasienthusiasmus, wenn man gefragt wurde, wie es ums Liebesleben bestellt war und ob man in letzter Zeit irgendwelche Dates gehabt hätte, die nassforschen Fragen, ob man auf Apps oder Websites war, Fragen, die einem ohne Neugier gestellt wurden. So nackt, dass sie gar keinen anderen Schluss zuließen als die Vermutung, dass – hoffentlich – irgendeine tiefe Grube von Unzufriedenheit in der Ehe der Fragenden lauerte. Für diese Leute erfand ich Ausreden, warum ich keine »Dates« hatte (seit wann hatten wir diesen Amerikanismus so freudig in unseren Sprachgebrauch aufgenommen?). Ich hätte einfach so wenig Zeit! Ich müsse mich auf Maddy konzentrieren. Ich müsse mich auf meine Karriere konzentrieren. Babysitter seien so teuer. Ich machte gerade eine Datingpause.

Tom war anders, weil er einfach irgendwie in mein Leben getrieben war wie eine freundliche Wolke. Er war Barista in einem Café, in das ich oft mit Maddy ging. Babyccinos gab es dort kostenlos zu jedem Erwachsenen-Kaffee dazu. Unsere Affäre hatte begonnen, nachdem Tom rosa Marshmallows für Maddy auf unseren Tisch gelegt hatte, eine Art umgekehrte Version des Marshmallow-Tests, den Maddy auf bewundernswerte Weise bestand, indem sie sie alle aufaß und dann ihr Milchpuddinggesicht Tom zuwandte, um ihn um Nachschub zu bitten. Es fing mit den Marshmallows an und kulminierte in meinen Ad-hoc-Besuchen in seiner WG, die in einem Haus gleich den Hügel hinter uns in der Glebe Point Road lag. Tom hatte schwarze Haare, einen Bart, und er war groß, aber auf eine verstohlene, lässige Art, als wäre seine Körpergröße etwas, was er vergaß, bis er sich durch die Welt bewegen musste. Er war ein effizienter Experte im Bett. Er war, wie ich glaubte, erstens dabei, sich an einer künstlerischen Laufbahn zu versuchen, und zweitens viel zu jung für mich. Ich war nicht ganz sicher, wie viel jünger, weil ich Angst hatte nachzufragen.

Ich stand kurz vor meinem Vierzigsten, und obwohl ich mich ideologisch verpflichtet fühlte, mein Alter nie zu verschweigen oder mich dafür zu schämen, geriet diese Verpflichtung ins Straucheln, als mein Geburtstag näher rückte. Manchmal hatte ich das schwindelerregende Gefühl, dass ich mich der Unsichtbarkeitszone näherte, von der die Frauen mittleren Alters sprachen, und für mich fühlte es sich eher an wie eine Fallgrube. Schöne Frauen hatten eine unnatürliche Angst vor dieser Fallgrube, hatte ich bemerkt, als hätten sie auf Kredit gelebt und man würde jetzt die Rückzahlung ihrer Schulden verlangen. Schätzungsweise gehörte ich auch dazu. Ich war groß und hatte lange Beine. Männer hatten meine Augen bewundert. Mein Haar, das ich lang trug, hatte ein schönes Kastanienbraun, aber die Farbe war nur geliehen – sie gehörte mit jeder Woche mehr dem Friseur, während meine natürlichen Haare grau wurden wie Regenwolken. Ich hatte angefangen zu argwöhnen, dass meine Augenbrauen auf dem Weg in die völlige Unsichtbarkeit waren, sich langsam davonstahlen, ohne großes Aufsehen zu erregen. Eines Tages würde ich herumfahren, und sie würden ganz verschwunden sein. Ein paar von meinen Schamhaaren hatten ihre Pigmentierung verloren, während auf anderen Teilen meines Körpers ungehörige Behaarung sprießte.

Tom gab mir etwas zurück. Eines Nachmittags, kurz nachdem wir unsere Affäre begonnen hatten, rauchte ich eine Zigarette, während ich ausgestreckt und nackt auf seinem provisorischen Bett lag. Er hatte sich diese Matratze von der Straße geholt, und ich wünschte wirklich, er hätte mir das nicht erzählt. Er lag mir umgekehrt gegenüber, mit seinen Füßen neben meinem Kopf. Sein Kopf war eingerahmt von einem Viereck aus Sonnenlicht, das durch das Fenster über ihm hereinfiel. Er hob den Kopf, um mich anzusehen, und sagte zu mir: »Weißt du, was du bist? Du bist geschmeidig.« Ich küsste ihn auf den Fußknöchel und sagte nichts, aber ich nahm das Kompliment schweigend an und steckte es ein, um es mir später noch mal genauer anzusehen. Das war etwas, was ich in meiner Hand hin und her drehen und auf seinen Wahrheitsgehalt überprüfen konnte. Vorerst zumindest, mit meinem vom Friseur unterstützten Haaren und unter Toms Blick blieb ich sichtbar, und dafür war ich dankbar. Aber das ließ sich nicht in gemeinsame Auftritte in der Öffentlichkeit übersetzen. Es gab keine Kunstausstellungen oder Freunde, die mir vorgestellt wurden. Ich beschloss, Toms Mail höflich zu ignorieren, obwohl mir kurz durch den Sinn ging, dass es Tom unmöglich sein würde, den höflichen Teil meines Schweigens zu erfassen. Vielleicht würde ich ihm später eine SMS schicken oder sogar bei ihm vorbeischauen. Ich wusste aus langjähriger Erfahrung, dass Sex meine beste Chance war, Fragen auszuweichen.

Als ich meinen Posteingang überprüfte, blieb mein Blick an einer Mail hängen, deren Absender mir nichts sagte – Patrick Allen. Ich öffnete sie. Ich erfuhr, dass Patrick Allen Kollegen hatte. Ich erfuhr, dass Patrick Allen ein Anwalt war. Ich erfuhr, dass Patrick Allen ein Anwalt war, der einen inzwischen im Ruhestand befindlichen Mogul vertrat, auf den ich in einer Story, die ich vor ein paar Wochen geschrieben hatte, nebenbei Bezug genommen hatte. Ich erfuhr, dass man mich verklagen würde.

*

Sie war auf Seite zwei erschienen, eine unwichtige Seite, wo Storys starben oder zumindest ein, zwei Minuten Pause machten, bevor sie endgültig in der Versenkung verschwanden. Sie hatten sie online vergraben, und ausnahmsweise hatte es mir nichts ausgemacht. Sie war kurz, harmlose vierhundert Wörter lang, und berichtete vom Staatsbegräbnis eines ehemaligen stellvertretenden Premierministers. An jenem Morgen hatte ich Maddy im Kindergarten abgesetzt, die immer röter werdende Haut um ihren Mund ignoriert und mir eingeredet, dass es einfach nur ein Speichelekzem war – eine medizinische Diagnose, von der ich noch nie gehört und die ich mir einfach schnell ausgedacht hatte, während ich schon weiterrannte, um noch rechtzeitig zur Beerdigung zu kommen, die im Rathaus um neun Uhr morgens stattfand. Ich schaffte es in letzter Minute. Es waren Unmengen von Blumen und schwarz gekleideten Trauergästen da. Ein Streichquartett spielte, und man sagte ein paar diffuse Worte über den großartigen Mann. Es gab auch eine Witwe, gebeugt und geduckt.

Der stellvertretende Premier war bekannt für seine Rolle in der Steuerreform, dafür, dass er sich für unpopuläre Kürzungen von Universitätsbudgets eingesetzt hatte, und dafür, dass er einer der schamlosesten Widerlinge gewesen war, die Canberra jemals erlebt hatte. Er war nicht nur ein alter Grapscher, wenn man den Erzählungen über ihn Glauben schenken durfte. Er grapschte auch mit den Augen (»Ich glaube, so was nennt man eye-rape«, hatte eine meiner älteren Kolleginnen trocken zu mir gemeint), und er benutzte seine Arme, um Umarmungen in Geiselnahmen zu verwandeln. Seine Mitarbeiterinnen wussten Bescheid, und die älteren beschützten die jüngeren, ließen sie nie mit ihm allein. Allerdings reichte manchmal nicht mal das, denn es gab Geschichten, in denen er bei einem Meeting den Schuh auszog und seinen bestrumpften Zeh am Bein seiner jungen Tischnachbarin hochwandern ließ.

Alles tolle Details, aber nichts davon für die Veröffentlichung geeignet, zumindest nicht am Tag, an dem dieser großartige Mann begraben wurde. Manchmal liegt die Wahrheit auch im Schweigen, in den Auslassungen, aber über Auslassungen kann man nur schwer berichten. Also hatte ich einen ziemlich öden Artikel über das Begräbnis verfasst und die Namen der Besucher genannt. Unter ihnen war auch Bruce Rydell, der in den Achtzigerjahren Besitzer eines Werbekanals gewesen war. Es hieß, er habe immer eine Pistole in der Schreibtischschublade gehabt. Er wurde oft als »schillernde Persönlichkeit« beschrieben, was übersetzt hieß, dass er ein Arschloch war. Rydell hatte nicht nur einen Fernsehkanal, sondern auch eine Zeitung besitzen wollen, doch die Mediengesetze verhinderten das. Deswegen legte er sich vor Gericht mit der Regierung an. Der stellvertretende Premierminister, der auch das Medien- und Kommunikationsportfolio unter sich hatte, war seine Hauptanlauf- und seine Hauptkonfliktstelle. Es gab eine alte Geschichte, die vorher schon einmal gedruckt worden war, nach der die zwei Männer bei einer Konferenz im Büro des stellvertretenden Premiers aneinandergerieten. Ihre Ausdrücke waren angeblich … schillernd gewesen. Es waren angeblich Drohungen ausgesprochen worden. Ich hatte von allen Schimpfwörtern nur den Anfangsbuchstaben und dann nur noch kleine Sternchen geschrieben und diese Anekdote unter meinem Artikel wiedergegeben, als eine Art historische Fußnote, um meinen Artikel ein bisschen lebendiger zu machen. Als ich ihn abheftete, streifte mich der Gedanke: Sollte ich wahrscheinlich noch mal von der Rechtsabteilung absegnen lassen.

Doch dann war ein Anruf von Maddys Kindergarten gekommen. Die roten Flecken hatten sich als Maul- und Klauenseuche herausgestellt, ein frischer Bakterienalbtraum mit einem ebenso landwirtschaftlichen wie mittelalterlichen Klang. Die Kindergartenleiterin, eine Frau, die viel Ahnung hatte von Seuchenkontrolle, erklärte mir, Maddy habe eine Temperatur von 39,5, und ich müsse sie sofort abholen. Mich befiel ein derartig heftiger Strudel von Schuldgefühlen, dass ich einen Moment lang auf dem falschen Fuß erwischt wurde, und vor meinen Augen blitzte kurz mein paralleles Leben auf. In jenem Leben würde Maddy nicht das letzte Kind sein, das noch in der Krippe steht, wenn ihre Mutter mit schlitternden High Heels hereingerannt kommt, zwei Minuten vor sechs, Maddy, eine kleine Soldatin mit schief zugeknöpfter Strickjacke. In jenem Leben würde sich kein Sternbild aus Wunden um den Mund abzeichnen, und Maddy müsste keine verwirrenden Stunden im Isolationszimmer des Kindergartens verbringen. Wir würden tagelang zu Hause sitzen, Malbücher ausmalen und Kekse essen. Wir hätten einen ruhigen, richtigen Kinderarzt, nicht dieses Chaos von Notärzten, von denen Maddy sich untersuchen lassen musste, weil ich nie rechtzeitig von der Arbeit kam. Es wäre ordentlich, und es gäbe weniger Mahlzeiten aus Instantnudelsuppen und weniger Sorgen, was Transfette einer Vierjährigen antun. In jenem parallelen Leben wäre jemand zu Hause, der mir ein Glas Wein in die Hand drückt, nachdem ich bei Maddy das Licht ausgemacht habe, jemand, der mir die Schultern massiert und liebevolle Fürsorglichkeiten angedeihen ließ, zum Beispiel ein Wie war dein Tag? und Abendessen ist fertig! und (die größte Liebestat) Bleib sitzen, ich geh schon. Aber jenes Leben war ein Geist, und dieses, hier und jetzt, war Fleisch, obwohl es diesmal von offenen Stellen durchzogen war. Das wirkliche Leben.

Also: Ich hatte hastig den Artikel abgelegt und war losgerast, um meine Tochter abzuholen, die sogar zu krank zum Weinen war. Sie war ganz schlaff, als ich sie mit nach Hause nahm, und ich verbrachte in dieser Nacht viel Zeit damit, das regelmäßige Heben und Senken ihres Burstkorbs zu überwachen: nur für den Fall, nur für den Fall. Das war die erste Pflicht aller Mütter, das, worauf am Ende alles hinauslief: die Atmung am Laufen zu halten. Alle Gedanken, diesen Artikel von der Rechtsabteilung absegnen zu lassen, waren vergessen. Kein Anwalt hatte die Story überflogen. Sie erschien in der Samstagsausgabe, anscheinend ohne Einwände, obwohl es mir gar nicht auffiel, weil mich an jenem Tag die Frage quälte, ob ich Maddy ins Krankenhaus bringen sollte. Es schien eine schwere Entscheidung zu sein: Entweder konnte ich die Mutter sein, die wegen einer schlichten Infektion überreagierte, oder ich konnte die Mutter sein, die ihr Kind nicht ins Krankenhaus bringt, obwohl das Fieber mittlerweile fast bei vierzig Grad lag, Maddys Stirn brannte und sie zu müde oder zu traurig war, um zu sprechen, und was zum Teufel hat sich diese Frau eigentlich dabei gedacht. Schließlich packte ich Maddy mit ihren Decken in ein Taxi und fuhr mit ihr zur Notaufnahme, wo die Schwestern so nett waren, dass ich sie alle hätte umarmen können oder auch weinen, und am Ende tat ich beides. Maddys Symptome verschwanden, nachdem sie Ibuprofen bekommen hatte und mit Eis gekühlt worden war. Als wir sicher aus dem Krankenhaus zurückkamen, legte sich Maddy zum Schlafen aufs Sofa in einem Lager aus Kissen, wobei sie ihre Kuscheldecke und den ringlosen Ringfinger meiner linken Hand umklammerte. Ich verbrachte die nächsten vier Tage mit ihr zu Hause. Ich wartete darauf, dass die offenen Stellen sich von Vulkanen zu Krusten zurückbildeten, damit ich meine Tochter wieder in den Kindergarten geben und selbst wieder an die Arbeit gehen konnte.

*

»Ich hoffe, du bist nicht online. Auf Twitter ist die Hölle los. Ich meine, sogar noch mehr als sowieso schon.«

So begrüßte mich Victor, als er sich hinter seinen Schreibtisch schob. Vic war ein investigativer Journalist, der sich auf die Unterwelt spezialisiert hatte. Ich blieb bei der Arbeit mehr oder weniger isoliert, und viele von den Journalisten, die ich gekannt hatte, waren mit einer Abfindung gegangen, sodass Vic jetzt mein einziger richtiger Freund im Büro war. Womit er seine Tage verbrachte, blieb ziemlich rätselhaft, manchmal tauchte er kurz vor Deadline mit schmutzigen Hosenknien auf oder einmal sogar mit einer zerkratzten Hand. »Oh, ich musste unter etwas kriechen«, sagte er dann. Oder: »Ach, das ist mir beim Biken passiert.« Er hatte nur ein trockenes Büschel Haare, die er sich lavendelfarben färbte. Er war auf eine weiche Art pummelig, und von hinten hätte man ihn gut und gern mit der Art von Dame verwechseln können, die Biskuittorten auf der Osterausstellung beurteilte. Vic stammte aus einer Kleinstadt im Norden von New South Wales. Die Stadt hatte ein Jacarandafestival und, wie ich den Anekdoten entnehmen konnte, die Vic mir von seiner Kindheit erzählt hatte, eine weit verbreitete Verachtung für verweiblichte Jungen. Seine frühen Vermutungen über sich selbst waren von seinem eigenen Vater bestätigt worden, der ihn beiseitegenommen hatte, als er als Sechsjähriger mit den Puppen seiner Schwestern spielte, und ihm klargemacht hatte, dass angeblich nur Schwuchteln mit Mädchenspielsachen spielen.

Ah, dachte Vic in dem Moment. Das bin ich also.

Ich drehte meinen Stuhl herum, um ihn direkt anzuschauen. Er trug ein Hemd, das über und über mit Zebras bedruckt war. Es war eines seiner Lieblingshemden. Er bezeichnete es als gewitzte Interpretation von »Zebra-Print«.

»Du hast es also schon gehört?«

»Du kommst im Internet nicht drum herum«, sagte Vic. »Geht’s dir gut? Du weißt schon, dass es nicht …«

»Was sagen die Leute?«, fragte ich. »Ich will wissen, was sie sagen. Ich hab zu viel Angst, um selbst nachzuschauen.«

Vic hatte seinen Computer hochgefahren, und ich blickte auf den Bildschirm. Er hatte unsere Website aufgemacht. Das Gesicht von Tracey Doran mit den gesunden Wangen schaute mich direkt an. Ihr Tod war der große Aufmacher. Sie hatte einen smaragdgrünen Smoothie in der Hand und lächelte. Ihre Zähne glänzten nur so vor Gesundheit.

»Okay. Gut«, sagte Vic. »Ich geb dir jetzt eine Zusammenfassung von dem, was ich hier gelesen habe: Nachdem deine Story gestern rauskam, haben Traceys Fans online gegen sie gehetzt, ziemlich viele. Falsche Schlange, ich hoffe, du stirbst, bring dich doch einfach um, diese Art von Posts.«

Ich schloss kurz die Augen.

»Alles okay?«, fragte Vic.

»Mir geht’s gut«, erwiderte ich. »Weiter.«

»Und dann waren die Reaktionen auf ihren Tod größtenteils Antimobbingzeug«, fuhr er fort. »Du weißt schon – wenn die Leute sich über die hinterfotzige Natur des Internettrollings auslassen. Geistige Gesundheit. Diese Richtung.«

»Was sagen die Leute über mich?«

»Vermeid es einfach in nächster Zeit, online zu gehen.«

»Klar«, sagte ich. »Das Internet lässt sich ja auch ganz leicht vermeiden.«

Wir wurden von Curtis unterbrochen, die mir ausrichtete, dass der Geschäftsführer mich sehen wollte. Sie führte mich in einen dieser Konferenzräume mit voll verglasten Wänden, der direkt an die Redaktion grenzte. Die Reporter nannten diese Glaskästen »Heulzimmer«. Aber wenn man in so einem Raum wirklich unbemerkt heulen wollte, musste man sich in eine Ecke ducken wie ein Ninja oder das Gesicht mit einem Handy abschirmen. Ich wusste das – in den dunklen Tagen nach Dem Vorfall, hatte ich auf der Arbeit viel geweint.

Ben und Curtis saßen mir gegenüber. Bens fassförmiger Oberkörper ragte weit über die Tischplatte, sodass ich mich instinktiv auf meinem Stuhl zurücklehnte. Ich konnte die dunkle Matte seiner Brusthaare unter dem weißen Hemd sehen. Ben war ein Mann, der meistens schwieg. Doch sein Schweigen half ihm irgendwie, noch mehr Raum einzunehmen, nicht weniger. Er erklärte, dass die Geschäftsführung sich vor mich stellen würde und mich vorerst aus dem Rampenlicht entfernen wollte. Er sagte, er würde mich von meinen Nachrichtenpflichten entbinden und ich könnte an Artikeln mit längerer Vorbereitungszeit arbeiten. Er meinte, das sei in meinem eigenen Interesse. Während er sprach, zappelte Curtis scheinbar unkontrollierbar herum. Als Ben aufhörte zu reden, war das einzige Geräusch im Raum das Geräusch von Curtis’ Stift, mit dem sie nervös auf den Tisch trommelte, im Rhythmus eines zu schnell eingestellten Metronoms. Er schaute auf Curtis’ Finger, und das Trommeln verstummte.

»Okay«, sagte ich. »Dann bin ich also in Schwierigkeiten. Ich bin quasi neuerdings in Ungnade gefallen in dieser Redaktion.«

»Nicht im Geringsten«, protestierte Curtis, die immer noch mit ihrem Stift herumfuchtelte. »Das heißt es überhaupt nicht. Wir machen das alles nur, um dich zu schützen.« Sie fuhr sich mit der Hand durchs Haar.

Während Curtis gesprochen hatte, hatte ich an die Worte eines Kriminalpsychologen gedacht, den ich einmal interviewt hatte: Wenn Sie wissen wollen, wann Ihr Gegenüber lügt, müssen Sie immer seine Hände im Auge behalten. Er hatte mir erklärt, dass lügende Menschen fast immer das Bedürfnis haben, ihre Hände zu bewegen, um ihre Nervosität durch irgendeine Art von Bewegung zu exorzieren. Nach langen Beobachtungen an Maddys Vater war ich zu dem Schluss gekommen, dass das stimmte.

»Mich wovor schützen?«, fragte ich. Ich schaute Ben an, der keine Probleme damit hatte, mir in die Augen zu schauen.

»Vor allem vor dem, was die Leute gerade so sagen«, antwortete Ben.

»Aber was, wenn das, was sie sagen, gar nicht stimmt?«, fragte ich.

»Das ist egal.«

Ben drehte seine Armbanduhr am Handgelenk und warf einen Blick darauf. Es war ein teures goldenes Stück, das irgendwie nautisch aussah, als könnte er jeden Moment angerufen werden, damit er seine Koordinaten überprüfte. Diese Geste war ebenso winzig wie wichtig. Sie besagte: Wir sind hier fertig.

*

Tracey Doran war eine Wellnessexpertin, Social-Media-Influencerin und stand auf Biolebensmittel. Sie hatte vorgegeben, an Knochenkrebs erkrankt zu sein, und dann so getan, als hätte sie ihren Krebs durch eine vegane Diät aus organischen Lebensmitteln geheilt. Sie hatte ihre »Reise« (niemand sprach heute noch von »Storys«, es waren immer nur »Reisen«) auf ihrem tausendfach abonnierten Instagram-Account dokumentiert, und sich dabei eine riesige Gemeinde aus Followern aufgebaut. Sie postete Bilder von sich selbst, mit leuchtenden Wangen und glänzendem Haar, wie sie grünen Saft in einer pastellfarbenen Küche trank. Sie stellte Salate aus Grünkohl und Rucola zusammen, auf denen sie attraktives Gemüse und Urgetreide arrangierte, als wären es Juwelen. Ihre Haustiere wurden auch mit einbezogen – eine rote Katze und ein schlammfarbener Mischling mit einem untröstlichen Gesichtsausdruck, als wäre er der Einzige, der diesem Unternehmen skeptisch gegenüberstand. Die Katze und der Hund wurden auch fotografiert und gepostet, mit Tracey in der Mitte, die Sonne und ihre Sonnenblumen. Nach einer Weile bekam Tracey einen Buchvertrag. Einen sechsstelligen Betrag für Rezepte und Wellnesstipps, durchsetzt von biografischen Anekdoten. Der Vertrag wurde in Handelszeitschriften und Geschäftsseiten besprochen als eines der frühen Beispiele für Cross-over, wie die traditionellen Medien geführt wurden von revolutionären Medien, von sozialen Medien. Doch für Tracey war das Buch nur ein Flirt mit den alten Medien, der nötig war, um ihrem Profil den letzten Schliff zu verleihen und ihr großes Ziel zu erreichen: das Zentrum des Internets, wo man Ruhm in Echtzeit nachvollziehen konnte und haufenweise Geld machen konnte mit Klicks und Wischen, mit der zerstreuten Halbaufmerksamkeit ihrer Mitmillennials. Es gab auch einen Podcast, in dem sie viele Gäste aus der Wellnessindustrie interviewte. Fast die gesamten Einnahmen daraus, behauptete sie, abzüglich der laufenden Kosten und eines kleinen Gehalts für sie, gingen an wohltätige Einrichtungen. Sie zählte sie auf, versah sie auf den sozialen Medien mit Hashtags und bekam im Gegenzug überschwängliche Dankesbezeigungen. Das war ihre Marke – gesund, selbstlos, auf eine harmlose Art spirituell. Ein paar Wochen zuvor hatte die Sonntagsbeilage von The Tribune eine Story über Tracey gebracht, und am nächsten Tag bekam ich eine Mail. Ich las sie, während ich gerade eine Packung Käselocken an meinem Schreibtisch verzehrte.

Hallo, stand da,

ich hoffe, Sie lesen diese Mail. Ich bin eine Hausfrau aus Queensland und ein Fan Ihrer Arbeit. Ich habe Ihre Story über das Pflegekinder-System sehr gerne gelesen. Warum sind Politiker so unglaublich bequem? Gestern habe ich in Ihrer Zeitung eine Story gelesen, die folgenden Titel trug: ›Die Wellnesskriegerin: Wie eine Frau den Krebs besiegte durch Ernährung und Achtsamkeit.‹ Gegenstand dieses Artikels war Tracey Doran. Ich kenne Tracey schon ihr ganzes Leben lang. Sie ist mit meiner Tochter auf die Newgate Highschool gegangen, auf der sie 2008 ihren Abschluss gemacht hat. Sie ist 28, nicht 23, wie im Artikel behauptet. Das weiß ich so genau, weil ich auf der Feier zu ihrem 18. Geburtstag dabei war. Ich mache mir Sorgen, dass sie eine krankhafte Lügnerin sein könnte. Sie hat nie Krebs gehabt. Ihre eigene Mutter glaubt ihr ihre Lügen nicht. Es ist eine Sache, wenn Tracey ihre Familie anlügt, aber es ist etwas anderes, wenn sie ganz Australien belügt. Was, wenn andere Leute, die wirklich Krebs haben, auf ihre Lügen reinfallen? Sie MÜSSEN der Sache auf den Grund gehen.

Mit freundlichen Grüßen, eine besorgte Leserin.

Ich leckte mir die Käsekrümel von den Fingern. Skeptisch begann ich – eher nebenher – zu googeln. Dann telefonierte ich ein bisschen herum. Nachdem ich den Namen der Highschool hatte, konnte ich Mitschüler ausfindig machen (sie hatten sogar eine eigene Facebook-Gruppe), und ab da brauchte es nicht viel mehr als zwei Wochen mit Telefoninterviews und Internetrecherche, um Tracey Dorans Bioleben in nichts aufzulösen. Ich fand rasch heraus, dass die meisten Leute, die Tracey nahestanden, ihr ihre Behauptungen nicht abkauften. Erst als sie anfing, sie in den sozialen Medien weiterzuverbreiten, nahmen sie die Solidität einer Wahrheit an. Wenn eine Story erst mal oft genug retweetet worden ist, härtet sie zu einer Tatsache aus. Mein Exposé wurde von der Rechtsabteilung abgesegnet, und ich wartete bis zum letzten möglichen Moment, um sie wegen eines Kommentars zu kontaktieren. Ich wollte nicht riskieren, dass Tracey am Ende die Story beschädigte, indem sie einen Spoiler für ihre »Onlinecommunity« postete, wie sie sie nannte. Ich gab Tracey einen Tag, um mir auf eine lange Liste von Fragen zu antworten. Sie schickte mir eine bizarre Mail voll ausweichenden Gefasels, in der sie noch einmal ihre Menschenliebe unterstrich und anspielte auf »dunkle Kräfte, die die Authentizität von Seele und Herz bedrohen«. Sie fügte eine Exceltabelle an, die ihre angeblichen Spenden an karitative Einrichtungen dokumentierte. Es gab keine Quittungen, und einige der genannten Organisationen schienen gar nicht zu existieren. Selten war mir eine Story derart in den Schoß gefallen – was meine Schuldgefühle im Nachhinein nur verstärkte. Es war fast zu einfach. Die Zeitung brachte die Story ganz groß raus. Und dann verbreitete sie sich wie ein Virus: Hunderttausendmal wurde die Seite allein bis zum Mittag aufgerufen. Am Nachmittag erschienen Kamerateams vor Traceys Haus in Brisbane. Am Abend, als ich gerade die Reste von Maddys Fischstäbchen aufaß, bekam ich einen Anruf von Tracey, die mir mit einer Klage drohte. Sie klang betrunken. Und jetzt war es Morgen, und sie war tot. Das war alles viel zu schnell gegangen. Es kam mir total irreal vor. Es kam mir vor, als könnte das alles gar nicht wahr sein.

*

Ich verbrachte den Rest des Morgens mit halbherzigen Telefonaten zu einer Story, die ich gar nicht schreiben wollte – einem Porträt einer Politikerin –, und mit der Abwehr meiner Gedanken an Tracey. Ich hoffte, es war nicht die Badewanne gewesen. Aus irgendeinem Grund war es mir wichtig, dass sie auf dem Sofa gestorben war, als hätte ihr Tod gemildert werden können durch französisches Bioleinen, und damit auch die Konsequenzen. Gegen drei Uhr klingelte mein Handy, und ich zuckte zusammen. Mein Klingelton waren die ersten paar Takte von »Gimme Shelter« – das hatte Tom irgendwie eingerichtet, als Teil unseres Streits darüber, welcher der beste Song der Rolling Stones war. Ich hatte noch nicht rausgefunden, wie ich ihn wieder entfernen konnte. Der Anruf kam von einer unbekannten Nummer. Ich ging ran. Es gab eine Pause, und dann begann eine Stimme zu sprechen – es war eine weibliche Stimme, agil, aber ernst, und ich brauchte einen Moment, um mir klarzumachen, dass es die von Tracey Doran war. Ich brauchte noch einen weiteren Moment, um mir klarzumachen, dass Tracey nicht mehr lebte. Die Stimme sprach gar nicht mit mir, sondern wurde mir vorgespielt. Es war ein Ausschnitt aus einem ihrer Podcasts.

»Hey, Leute, hier ist Tracey. Heute wollen wir darüber reden, wie ihr mutig teilhaben könnt an eurer eigenen Wahrheit. Und wie das zu euren gesundheitlichen Zielen spricht«, sagte die Stimme. »Und wie Energieblockaden …«

»Hallo?«, sagte ich in mein Handy. »Wer ist da?«

»… euren Weg zum Wachstum unterbrechen können …«

Ich legte auf. Ich schaute mich um, als könnte mich jemand beobachten. Mein Handy machte wieder ein Geräusch, als die nächste Textnachricht einging – auch das ein alberner Ton, den mir Tom eingestellt hatte. Jetzt war es das Geräusch einer gezupften Bassgitarre, was den Effekt hatte, dass jede Textnachricht sich anhörte, als würde ich einen Pornosoundtrack bekommen. Die Nachricht kam nicht von einer Nummer, sondern von einer Mailadresse, die ich nicht kannte. Sie lautete: Ich hoffe, du bist stolz auf dich, du Scheißnutte. Du hast sie umgebracht.

Ich beschloss, heute früh Feierabend zu machen. Ich machte mich auf den Weg, Maddy abzuholen.

*

Maddys Kindergarten war ein frühkindliches Utopia, das die unterschiedlichen Entwicklungsstufen fördern sollte. Es gab eine »Heim-Ecke«, in der Puppen in Schuhkarton-Betten lagen, die wie in einem ungeordneten Waisenhaus eng beieinanderstanden. Es gab eine Wissenschaftsecke, in der Insekten missmutig in Terrarien saßen, um sich von Kleinkindern anstarren zu lassen. Ab und zu wurden sie herausgenommen, damit sie sich auch noch von ihnen anstupsen lassen konnten. Es gab ein freies Spielzentrum, in dem die Kinder mit Messern auf Filzleinwände einhackten wie kleine Expressionisten. Ich konnte nicht behaupten, dass meine Tochter besondere zeichnerische Fähigkeiten gehabt hätte beziehungsweise überhaupt künstlerische Neigungen. Ihre Werke waren auf der impressionistischen Skala am fauleren Ende. Ich gab an der Tür den Sicherheitscode ein, um hineingehen zu können, und ließ meinen Blick suchend über den Garten schweifen. Eine der Kindergärtnerinnen entdeckte und begrüßte mich. Ihr Name war Indira. Sie flocht Maddy oft die Haare, machte ihr richtige Kronen aus geflochtenem Haar, mit denen sie aussah, als wäre sie einem in der Schweiz spielenden Kinderbuch entstiegen. Maddy vergötterte sie.

»Sie ist im Lesezimmer«, erklärte Indira. Als sie mir das sagte, fuhr ihr ein Kind gerade mit einem Strohhalm ins Ohr. Ich fragte mich oft, wie diese Frauen das aushielten. War es, weil sie in Wechselschichten arbeiteten? Vielleicht war alles erträglich, wenn man wusste, wann es endete. Ich ging wieder hinein und ins Lesezimmer, ein Raum wie ein Schoß, mit gedämpftem Licht und Kissen auf dem Boden, ein Raum, der den Chill-out-Räumen der illegalen Kaufhaus-Raves meiner Jugend bestechend ähnlich sah. Es gab sogar eine Lavalampe. Ich schaute durch das kleine Fenster in der Tür und erspähte Maddy. Sie lag mit dem Kopf auf einem Kissen und hörte einer Geschichte zu, die sie gerade vorgelesen bekam. Ihr Gesicht war eingerahmt von ihrem dunklen Haar, die scharfen Linien ihres Haarschnitts in krassem Gegensatz zu den rundlichen Proportionen ihres Gesichts. Ich hätte ein Sonett an die Wangen meiner Tochter schreiben können. Sie war meine einfachste Verbindung zur Freude, der direkteste Zugang zum Vergnügen, den ich jemals gehabt hatte.

Nach Dem Vorfall war der Kummer aus mir herausgesickert wie Kondenswassertröpfchen. Doch noch an meinen tiefsten Tiefpunkten konnte mir nichts das Vergnügen an Maddy verderben. Maddy war der sichere Fels, von dem das Licht schien.

Eines Tages, als Maddy drei Jahre alt war – es war ungefähr ein halbes Jahr, nachdem Charlie unser Leben verlassen hatte, und das anscheinend für immer –, ließ ich sie Milch trinkend auf dem Sofa sitzen und machte ihr ihre Cartoons an, wie wir es immer machten, wenn sie vom Kindergarten zurück war. Ich schlüpfte nach draußen in die Wäscherei, um eine Ladung Wäsche in die Maschine zu werfen. Als ich über den Hof zurückging, sprach mich ein Nachbar an. Wir plauderten ein paar Minuten am Zaun, bis ich plötzlich ganz schwach ein angespanntes Heulen von einer panischen Maddy hörte, erstickt, aber unverkennbar. Ich rannte zur Hintertür, riss sie auf und stellte fest, dass Maddy hysterisch durchs ganze Haus galoppiert war wie ein verschrecktes Pony, ihre Panik so tierisch fassbar wie ein Geruch. Sie hatte zu mir gewollt, mich gesucht, und als sie mich nicht fand, hatte sie geglaubt, dass ich sie verlassen hätte. Ich beruhigte sie und leistete stillschweigend einen Schwur: Ich werde dich noch stärker lieben. Ich will dich mehr als doppelt so viel lieben. Mein eins wird besser sein als zwei.

Ich machte die Tür auf und warf ein gleichschenkliges Dreieck aus Licht ins warme Dunkel der Kleinkinderhöhle.

Maddy hob ihren Kopf vom Kissen und blinzelte hoch zur Tür. »Mummy!«, rief sie.

*

Maddy glaubte steif und fest, dass Mäuse – eine Tierart, von der sie geradezu besessen war – auf Bäumen lebten. Dieser Glaube kam nicht von ungefähr. Er war das Ergebnis eines irreführenden Bilderbuchs, das ich ihr oft vorgelesen hatte, in dem die Mäusefamilie in einem Baumhaus wohnte – ein fein ausgearbeitetes, wunderschön möbliertes Häuschen mit Türmen und gewundenen Treppen und kleinen mäusegroßen Läufern auf den Korridoren. Diese Baummäuse gehörten zu den hauptsächlichen Gesprächsthemen zwischen Maddy und mir, obwohl wir auch über Maddys Puppen redeten, über Maddys Kindergartenfreunde, was wir zum Frühstück, zu Mittag und zu Abend essen würden, was wir am Wochenende unternehmen wollten und in letzter Zeit auch, was für eine Augenfarbe die Menschen hatten. Unsere Unterhaltungen unterschieden sich komplett von unseren Streitgesprächen, die sich meistens darum drehten, was Maddy anziehen sollte, oder Dinge, die sie zu einer bestimmten Zeit nicht machen wollte – Abendbrot essen, von dort weggehen, wo wir gerade waren, Zähne putzen oder Haare bürsten. Es gibt viele Dinge, die einem niemand erzählt, bevor man selbst Mutter oder Vater wird. Ganz oben auf dieser Liste steht, wie schwierig es ist, einer anderen Person die Zähne zu putzen. Ich fand diese Streitereien frustrierend, und manchmal musste ich aus dem Zimmer und in mein Schlafzimmer gehen und die Tür hinter mir zumachen, um mich wieder in einen ruhigen Zustand zurückzuatmen. Dann saß ich auf dem blauen Bettüberwurf, schaute durch die französischen Türen, die auf den Balkon führten, und dachte mir: Ich bin wütend geworden, weil ein anderer Mensch sich geweigert hat, Socken anzuziehen. Und es war echte Wut – erhöhter Puls, die Versuchung, etwas zu sagen, was ich nicht mehr zurücknehmen konnte, eine Lockerung der Zunge in Bereitschaft zum Anschreien.

Doch die Wut kam und ging. Unsere Unterhaltungen waren lang und befriedigend – oft mäanderten sie in unerwartete Richtungen, wie die Fragen, woraus eigentlich Knochen bestehen und wo die Sonne plötzlich hingegangen ist und ob wir nur eine Hautschicht haben und einmal ein furchterregendes: Wo werden Menschen gemacht?

»Babys wachsen in den Bäuchen von ihren Müttern«, sagte ich kurz angebunden, und Maddy akzeptierte das, obwohl sie zu spüren schien, dass das nur ein Teil der Wahrheit war.

Wir unterhielten uns gerade über Mäuse, während ich mit Maddy die Straße entlangging, nachdem ich sie vom Kindergarten abgeholt hatte. Ich ging mit ihr in Toms Café, wo sie eine Shakemilch trank – so nannte sie Milchshakes. Sie sagte auch »Cockporn« statt »Popcorn«, womit sie mich auf Kindergeburtstagen regelmäßig blamierte. Das Café gehörte zu der Sorte, die schwarze Tafeln als Wände haben und Schilder, auf denen die Herkunft des heute ausgeschenkten Kaffees stand. Der heutige war von den Galapagosinseln und hatte Noten von braunem Zucker und grünen Äpfeln. Ich bestellte mir eine Tasse und dazu einen Bananenshake für Maddy. Sie wand sich aus ihrem Stuhl, um mit der Miniaturküche zu spielen, die extra für Kinder in einer Ecke aufgebaut war. Das Design war ausreichend skandinavisch, um zur Ästhetik des Cafés zu passen. Sie liebte es, Tee für mich zu machen und mir Kuchenstücke aus hellbraunem Holz zu bringen. Ich schaute mich nach Tom um, aber dann fiel mir ein, dass er erwähnt hatte, er habe heute einen Tag frei. Ich überlegte kurz, was er in seiner Freizeit machte. Eigentlich sprachen wir gar nicht über solche Themen. Manchmal unterhielten wir uns über die Bücher, die in seinem Zimmer herumlagen, von denen ich viele gelesen hatte, bevor ich die Uni hinwarf.

Eine junge, hübsche Bedienung brachte mir meinen Kaffee. Sie hatte ein Tattoo, das sich wie eine Weinrebe von ihrem Hals zu ihren Brüsten rankte. Die Brüste waren wunderschön. Ich dachte kurz daran, wie oft Tom sie jeden Tag anschauen musste, nur ein kurzer Blick aus den Augenwinkeln, ganz kurz nach unten und dann wieder in die Augen. Die meisten Männer schienen in der Lage, diesen Blick rasch zu vollziehen, während andere dazu unfähig waren. Ich überlegte, warum Tom mit mir ins Bett ging, wenn er mit dieser jungen Frau schlafen konnte oder jeder Menge anderer, die interessante Tattoos und ein Selbstbewusstsein hatten, aus dem ich längst herausgewachsen war, wenn ich es überhaupt je besessen hatte. Meine Brüste waren besiegt, als wären sie der einzige Teil von mir, in dem sich der Kummer der letzten paar Jahre wahrhaftig niedergeschlagen hatte. Der Rest von mir hatte sich ganz gut gehalten, dachte ich, zumindest körperlich. Aber meine Brüste – plattenartig und desinteressiert – hatten die Tragödie in sich aufgenommen und waren dabei selbst tragikomisch geworden.

Als ich Maddy beim Spielen zuschaute, kamen die Töne einer Bassgitarre von meinem Handy. Ich schaute aufs Display und sah eine Nachricht von einer Nummer, die ich nicht gespeichert hatte, die ich aber gut kannte. Ich bin morgen da. Du auch?

Die tätowierte Kellnerin kam mit dem Milchshake in der Hand wieder. Ich rief Maddy herüber, und sie setzte sich auf ihren Hocker und trank den Shake mit ernster Miene. Ab und zu setzte sie ab, um sich die Haare aus dem Gesicht zu schieben, eine Geste, die seltsam erwachsen aussah. Ihr Kopf kippte herunter, und ihre Wangen wölbten sich nach außen, perfekt gerundet, wie Eiskugeln. Ich schaute meine Tochter an und empfand dieselbe Mischung aus Verantwortung und Liebe, die mich mit Bangen erfüllt hatte, als ihr Vater uns verließ (oder als ich ihn verließ). Als es zum ersten Mal geschah, war es beängstigend – diese überwältigende Erkenntnis, die mich ganz plötzlich überkam, dass ich komplett verantwortlich dafür sein würde, dieses Baby am Leben zu halten, dass es nur bei mir lag, sie zu füttern und ihr vorzulesen, sicherzustellen, dass ich die richtige Kleidung für sie hatte und dass diese Kleidung auch sauber war, genug Geld zu verdienen, um ein Haus zu kaufen, in dem wir eines Tages wohnen konnten (denn ich wusste, unser Idyll in der Ruby Street konnte nicht ewig andauern), ihr die Fingernägel zu schneiden, ihr Manieren beizubringen, ihr beizubringen, wie man redete, las, Auto fuhr, liebte und zu sein hatte. Ihr zu erklären, wo Menschen gemacht werden. Ich musste ihren Glauben unterstützen, dass Mäuse in turmverzierten Anwesen auf Bäumen lebten, bis es irgendwann nicht mehr zu leugnen war, dass das nicht stimmte. Diese Verantwortung drückte mich nieder. Es wäre sinnlos gewesen, es zu leugnen, aber ich leugnete es, die ganze Zeit. Ich sprach nicht darüber, und ich saß nachts alleine grübelnd da, manchmal mitten in der Nacht, und machte mir absurde Sorgen über irgendein Ziel, das noch in ferner Zukunft lag – wer würde Maddy beibringen, wie sie das Öl in ihrem Auto wechselte? Unter meiner Verantwortlichkeit versuchte ich angestrengt, mir ein bisschen Raum freizuschaufeln. Hauptsächlich für die Arbeit, und so war die Arbeit meine Art, sichtbar zu bleiben. Mit Arbeit hielt ich meinen Kopf über Wasser. Es war der Sauerstoff, den ich gierig einsog.

Wenn man sich plötzlich allein um ein ...

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