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Nur Gutes

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Das Ehepaar Mangold wird eines Sonntagmorgens böse überrascht: Die von der Polizei gesuchte Exfreundin des Sohnes steht vor der Tür und bittet um Hilfe. Mit ihrer Ankunft werden Erinnerungen aufgewühlt, die die beiden Alten tief vergraben hatten. Ein Drama um uneingestandene Schuld und unerlöstes Gewissen, erzählt mit feinem Gespür und literarischer Raffinesse von einem der brillantesten Autoren der Gegenwartsliteratur in der Schweiz.


  • Erscheinungstag: 20.08.2008
  • Seitenanzahl: 176
  • ISBN/Artikelnummer: 9783312004188

Leseprobe

1 Manarola

Es müsste einem, bald zweiundsechzig, egal sein, dass es Winter ist -

 

Dagmar sah hinab auf die Straße, die noch beleuchtet war, halb acht Uhr im Dezember, die Straße war nass und glänzte. Ein Schatten huschte von Haus zu Haus, Dampf vor dem Gesicht, und legte Zeitungen in Kästen. Dagmar schien, als blicke er plötzlich zu ihr, zwei Sekunden lang, drei. Sie überlegte, dem Schatten zu winken. Plötzlich lief er zu seinem Auto und fuhr davon, Richtung Friedhof.

Nach zweiundzwanzig Jahren sollte es einem egal sein, wo man wohnt -

 

Dagmar, seit sie hier wohnte, an der Grundstraße neun in Aberwald, Kreis Geerschach, bedrückte die Nähe des Friedhofs.

An den Friedhof, sagte sie bei Gelegenheit, gewöhne man sich nie.

Immerhin macht der keinen Lärm, sagte Albert. Aber Bewusstsein, sagte Dagmar.

Wofür?

Dass man bald selbst dort liegt.

 

Schlimm?, fragte Albert.

Meine Mutter Dagmar, eine geborene Schorff, war einundsechzig, mein Vater Albert, Pastor der evangelisch-protestantischen Kirchgemeinde Aberwald-Lukas, drei Jahre älter, ein Jahr vor der Rente. Ich war ihr einziges Kind, Glück und Elend: Simon Mangold, Redaktor für Nachrufe beim Holdener Tagblatt, im sechsunddreißigsten Jahr seines Lebens.

 

Dagmar hatte geträumt. Sie stand am Fenster ihrer Küche, das Haar bauschig und fahl, sie fror, wie sie oft fror am Fenster zur Straße. Mein Vater, Albert, nannte Dagmar, wenn er sie fröstelnd in der Küche fand, Frörchen, manchmal Eiszäpfchen oder Kristall. Dann hielt er ihr die Wange hin, immer die linke, Küsse am Morgen mochte er nicht. Auch sonst war Albert kein Küsser. Dagmar schob den Kragen des Morgenrocks unter das Kinn, hielt ihn fest mit der Hand und dachte an nichts. Es war Sonntag, der elfte Zwölfte.

 

Sie drehte sich zum Tisch, überlegte, ein Tuch darüberzubreiten, wie sie es früher oft getan hatte. Dagmar füllte einen Topf mit Wasser, setzte ihn auf den Herd und drehte den Knopf, sie öffnete den Kühlschrank, nahm daraus eine Flasche Milch, Butter, Marmeladen, Kirsche für ihn, Feige für sie. Sie stellte einen kleinen gelben Teller an Alberts Platz, Alberts kleinen gelben Teller, und den roten an ihren. Sie holte Messer und Löffel aus einer Schublade, legte sie neben die Teller, das Messer rechts, die Klinge zum Teller gedreht, den Löffel links. Dagmar setzte sich auf den Stuhl, auf dem sie immer saß, die Hände im Schoß, noch benommen, und dachte an nichts. Weit weg lärmte die Polizei, vielleicht die Feuerwehr.

 

Heute kommt Simon -

 

Wenn Albert nun sagen wird, dass er, nach all den Jahren, Sonntage nicht mag, wird sie antworten wie immer: Du hast den falschen Beruf gewählt. Zu spät.

Sie wartete, sah zur Uhr, die neben dem hohen blauen Kühlschrank hing, sah zum Tisch, schraubte die Deckel von den Marmeladen, legte die Deckel aufeinander.

Kirsche für ihn, Feige für mich -

Dagmar stieß den Löffel in ihre Marmelade, sie leckte den Löffel ab, leckte ihn sauber, damit Albert, wenn er nun in die Küche käme, nicht sah, dass sie genascht hatte.

 

Feigen, als Marmelade, aß man zum ersten Mal am Meer vor sechsunddreißig Jahren.

Verliebt und schwerelos waren sie ans Meer gefahren, nach Manarola in Ligurien, Dagmar war zum ersten Mal am Meer, das kleine Hotel, in dem sie wohnten, hieß Flora, vielleicht Florida. Das Brot zum Frühstück war hart wie Zwieback, die Marmelade, aus frischen Feigen, ein Glück.

 

Sie badeten im Meer, er Student der Theologie, sie Lehrerin, Grundstufe eins.

Dagmar konnte nicht schwimmen.

War sie mit Albert im Meer, um zu schwimmen, streckte Dagmar ihr rechtes Bein, ihren rechten Fuß, stützte sich auf den rauhen felsigen Grund und ruderte mit den Armen und dem freien linken Bein, als könne sie schwimmen. Sie hüpfte und schrie und lachte und tat vieles, um Albert zu blenden. Als der große Zeh des rechten Fußes blau war und schmerzte, wechselte sie zum linken. Dagmar lachte laut und spritzte Wasser in Alberts Augen.

Als Knabe, erzählte Albert, als man am Strand saß, habe er seiner Schwester einmal fünfzig Rappen geboten für einen gewissen Handel.

Er schwieg, bis Dagmar fragte: Was für einen Handel? Der war bestimmt von Angebot und Nachfrage, wie alles auf der Welt, selbst Gott und die Frauen unterliegen diesem Gesetz.

Sie saßen im Sand, es war früher Herbst, noch warm in Ligurien, Albert nahm Dagmars Hand und zog sie auf seinen haarigen Schenkel.

Mein Angebot, sagte Albert, war unmoralisch, aber verständlich.

Erzähl, bat Dagmar.

Wir hatten zu Hause fünf Zimmer, ein Wohnzimmer, das Schlafzimmer meines Vaters, das verlassene Zimmer meiner Mutter, das meiner Schwester und meins. Zwischen ihrem und meinem war eine Tür, die ständig geschlossen war, ich glaube, es gab keinen Schlüssel dazu, diese Tür, solange ich dort lebte, stand nie offen.

Und?

Ich war sechzehn, vielleicht etwas jünger, meine Lenden, auf jeden Fall, hellwach.

Deine was?, fragte Dagmar.

Meine Lenden. Hellwach.

Dagmar musste lachen.

Und dann?, fragte sie.

Noch nie hatte ich eine Frau nackt gesehen. Und deshalb, eines Tages, als Vater nicht zu Hause war, versprach ich meiner Schwester fünfzig Rappen, wenn ich zuschauen dürfe, wie sie sich wäscht. Wir hatten kein Badezimmer, man wusch sich in der Küche. Sie sagte, ich sei ein Schwein.

Was nicht stimmt, flüsterte Dagmar und rieb ihre Stirn an Alberts Schulter.

Sie sagte: Ich erzähle es Vater.

Ich bot sechzig.

Jetzt erzähle ich es ihm erst recht, sagte meine Schwester.

Siebzig, sagte ich.

Achtzig, sagte sie, dann denke ich darüber nach.

Tage später gab sie mir Bescheid. Sie sei einverstanden, sagte sie. Aber sie zeige sich mir nicht in der Küche und nicht ganz, sondern durchs Schlüsselloch zwischen ihrem Zimmer und meinem und beschränkt auf die Krausen am Bauch, nicht länger als zwei Minuten.

Achtzig Rappen, die Hälfte als Vorschuss, sagte sie.

Ich bezahlte, sie ging in ihr Zimmer, ich in meins, Cecile klopfte, als sie so weit war, an die Tür, ich bückte mich zum Schlüsselloch und sah. Mir gefiel, was ich sah, ich sparte mein Taschengeld, um es zu sehen, bald dreimal in der Woche.

Du bist doch ein Schwein, flüsterte Dagmar und küsste Albert auf den Hals.

Nur einmal in meinem Leben, sagte Albert, habe er seine Schwester geschlagen, als er entdeckte, dass, was Cecile ihm offenbarte, Teil einer Näharbeit war, billiges schwarzes Katzenfell.

Dagmar musste sehr lachen, sie hauchte: Mein Theologiestudent, seine Lenden hellwach.

In Ligurien am Meer, entzündet von Marmelade aus Feigen, wurde Dagmar Schorff schwanger mit mir, Simon Mangold, Nachrufer von Beruf.

Meine Eltern heirateten heimlich und schnell.

 

Sie hörte eine Tür gehen, ahnte Alberts Schritte.

‹Du hättest nicht zu warten brauchen›, sagte er.

Dagmar hob die Hände aus dem Schoß, stand auf, Albert hielt die linke Wange hin, sie küsste und trat zur Kaffeemaschine.

‹Es ist dunkel heute›, sagte er.

‹Es wird schneien›, sagte sie.

Sie stellte eine Tasse unter die Düse der Maschine, drückte einen Knopf, sie wartete, bis die Tasse voll war, trug die Tasse zum Tisch.

‹Danke›, sagte er.

Sie zog den Topf vom Herd und rührte Kräuter ins kochende Wasser, getrocknete Pfefferminze.

‹Fang ruhig an›, sagte sie.

‹Heute kommt Simon›, sagte er.

‹Mit Tim und Charlotte›, sagte sie.

Eine Tasse Tee in der Hand, trat sie an den Tisch und setzte sich Albert gegenüber. Dagmar sah zum Fenster, dann zu Albert, der eine schwarze Hose trug, ein weißes Hemd mit blauen Streifen, die graue Strickjacke, die sie ihm gekauft hatte, um ihn zu trennen vom Pullover, den er seit Jahren trug.

 

Pastor Mangold, mein Vater, ein treuer Mensch, trennte sich schwer von den Dingen seines Lebens, les choses de la vie, aus Achtung dafür, dass sie so lange in seiner Nähe blieben, als Füllfederhalter, als Stimmgabel, Pullover, als Brille, Hundeleine oder Schreibmaschine oder Notenständer. Ich fand, in Alberts vielen Kisten wühlend, um Stoff für diesen Abschied zu sammeln, die Zeichnungen, die ich ihm gezeichnet hatte, die Briefe, die ich ihm geschrieben hatte, als ich ihm noch Briefe schrieb. Jede Zeichnung, jeden Brief hatte er mit meinem Namen versehen, Simi oder Simon, und mit dem Tag, da er sie in seine Kisten legte. Hunderte von Visitenkarten fand ich in einer kleinen hölzernen Kiste unter Vaters Pult, und einen Zettel darin, nicht größer als eine Hand. Drei Herzen hatte ich darauf gezeichnet, jedes mit Augen und einem lachenden Mund, die Herzen hatten lange dünne Arme, sie reichten sich die Hand, eins war überschrieben mit Papa, eins mit Mama, das mittlere mit Simon: Lieber Papa, Ich wünsche Dir ein langes Leben, Simon.

Ich wunderte mich, wie viele Briefe ich ihm geschrieben hatte, wie viele Zeichnungen zugedacht.

 

Dagmar nahm das Messer und zog es über die Butter, strich die Butter auf ein schmales Stück Brot, legte das Brot in seinen gelben Teller und schob ihn zu Albert, der bald sagen würde, dass er, im Grunde, Sonntage nicht mochte.

Albert stieß sich vom Stuhl, bucklig stand er am Tisch und bettete das Luftkissen um, auf dem er saß, ließ sich darauf fallen.

‹Danke›, sagte er.

Sie zog das Messer über die Butter und strich die Butter aufs Brot und legte das Brot in ihren Teller.

‹Es riecht nach Schnee›, sagte sie leise.

Albert sah zum Fenster und nickte.

‹Man muss›, sagte er, ‹am Wagen die Reifen wechseln.›

‹Ja›, sagte sie.

Sie schwiegen.

 

Mutter und Vater saßen in der Küche unter einer schwachen Lampe, zehn vor acht Uhr im Dezember. An der Wand hing eine Uhr, ein langer schmaler Kalender, auf den sie ihre Termine schrieben, ein Aquarell aus Italien, schlanke Bäume in froher Landschaft. Wenn schon Kunst, fand Albert, dann eine, die man nicht auf dem Wochenmarkt in Luino kauft.

Albert tupfte mit dem Finger die Krümel vom Tisch.

Er ist alt geworden und schön -

Und umständlich -

Gestern ging er in den Keller, um eine Flasche Wein zu holen, seinen Valpolicella, und statt mit Wein kam er mit dem Vogelfutter zurück, das er jeden Winter vors Fenster streut. Vor drei Tagen blies Albert, kaum hatte er am Adventskranz die erste Kerze entflammt, das Streichholz aus, legte es zur Seite und hielt ein altes, zur Hälfte verkohltes Hölzchen in die Flamme, wartete, bis es brannte und zündete damit die zweite Kerze an.

‹Was lächelst du?›, fragte er.

‹Lächle ich?›, fragte sie.

‹Eindeutig›, sagte er, ‹du lächelst.›

‹Vielleicht wegen der Kinder, wegen Tim und Charlotte.›

Albert schwieg.

Jetzt schweigt er -

Sie sagte: ‹Albert, wenn Simon wieder anfängt damit – bitte geh ins Wohnzimmer und spiel mit den Kindern. Oder schließ dich ein im Büro. Sag ihm, du hättest zu tun.›

 

Dagmar versteht nicht, Dagmar kann nicht verstehen, Dagmar hat kein Talent dafür -

 

‹Dass er nach zwanzig Jahren noch.›

‹Sechzehn›, sagte Dagmar, ‹nicht zwanzig, es sind sechzehn. Wir hatten vor sechzehn Jahren. Und deshalb weiß ich es so genau.›

‹Mach bitte einen ganzen Satz, meine Liebe›, sagte Albert leise.

‹Wir hatten vor sechzehn Jahren die Katze neu.›

‹Wir hatten vor sechzehn Jahren die Katze neu›, sagte Albert, ‹gut zu wissen.›

Er schob die Tasse über den Tisch, legte das Messer, das er selten brauchte, weil Dagmar, ohne zu fragen, ihm das Brot strich, in seinen gelben Teller.

‹Die Katze ist sechzehn. Das steht so in ihrem Impfausweis›, sagte Dagmar.

‹Dagmar, die Katze ist längst tot.›

Dagmar fragte, ob er noch Kaffee wolle.

 

Vor sechzehn Jahren, ich war neunzehn, sperrte man mich ins Gefängnis, Paragraph dreiundvierzig, Absatz zwei des Strafgesetzbuchs, Beihilfe zum vollendeten Versuch einer Entführung.

Zwei Jahre lang sollte ich ins Gefängnis von Anderau. Nach sechzehn Monaten kam ich auf Bewährung frei.

 

Wenn Albert, dachte Dagmar, doch nur einmal laut und grob würde, wenn er doch, statt leise zu giften, sein kleines gelbes Tellerchen zertrümmerte, wenn Albert doch, statt den Kilometerzähler seines Opels vor jeder Fahrt auf null zu stellen, um danach aufzuschreiben, wohin und wie weit die Reise führte, wenn er doch nur einmal kühn ins Irgendwo aufbräche.

 

Sie habe geträumt vergangene Nacht, sagte Dagmar, von einem sterbenden Mann, der Baumer hieß, genau wie Paul. Und sie, Dagmar, sei, wenn sie sich jetzt richtig erinnere, eine von Baumers Töchtern gewesen. Ein seltsamer wirrer Traum. Auch deshalb, weil Paul nur eine Tochter habe. Einen Satz könne sie nicht vergessen, sagte Dagmar: Sterben strengt an.

 

Albert, mein Vater, sah zur Uhr, dann zum Fenster. Auf einer Antenne saßen Vögel, schwarz, starr, vielleicht Amseln, bei Vögeln kannte er sich nicht aus.

Dagmar trug das Geschirr vom Tisch, steckte es in die Spülmaschine. Sie summte.

 

Wenn sie summt, könnte sie weinen -

 

Wenn Mutter summte, begann Vater zu schwitzen.

 

‹Soll ich ihn vom Bahnhof abholen oder du?›, fragte er.

‹Um elf Uhr fünfzig.›

‹Also ich.›

‹Gern›, sagte sie.

‹Und der Braten?›

‹Den übernehme ich.›

Sie schwiegen.

‹Wie alt, sagtest du, wurde die Katze?›

Sie schwiegen.

Er suchte Krümel, leckte sie vom Finger.

‹Im Tank ist kaum noch Benzin›, sagte Dagmar.

‹Zum Bahnhof wird es reichen›, sagte Albert.

 

Auch er habe geträumt. Er, Albert, sei Simon gewesen, Simon als Gymnasiast. Er habe vor Experten gestanden in einem weiten Saal, in einem Chemiezimmer vielleicht, Prüfungsexperten saßen in einer Reihe, und einer, in der Mitte, habe gefragt, fast geschrien: Mangold, wie setzen sich die Tränen einheimischer Libellen chemisch zusammen?

 

In einer der Kisten fand ich sein Pilzmesser, mein Vater liebte Pilze, er kannte sie alle, wusste um ihre Güte, um ihre Giftigkeit und ihre Klassen und Sorten und Arten, Ellerlinge, Röhrlinge, Rötelritterlinge, Becherlinge, Goldblatt, Gelbfuß, Drüslinge, Ackerlinge, Fältlinge, Färblinge, Champignons, Reizker, Flämmlinge. Manchmal, im August nach Regen, lud er mich in den Opel, und wir fuhren vor die Stadt und gingen durch die Wälder, suchten Pilze, stundenlang, oft schweigend. Er lehrte mich, wo Pilze zu vermuten sind, wie man sie erntet, das Pilzmesser sauber durch das Pilzfleisch führt, das Wurzelwerk schont und im Waldboden belässt, wie man die Ernte in einen Weidenkorb legt, auf keinen Fall in Tüten aus Plastik.

Mein Vater, sagte mein Vater, dein Großvater, Simon, hat mir vor Jahren erzählt, er sei einmal, als Knabe von vielleicht acht Jahren, vom Wald, in dessen Nähe man wohnte, nach Hause gerannt, einen großen schönen Schirmling in der Hand, singend vor Stolz, weil er wusste, seine Mutter liebte Schirmlinge sehr, gedreht in Eigelb und Paniermehl, in Butter gebraten. Ein Mann sei ihm begegnet, vielleicht ein Nachbar, und habe ihm für den Schirmling fünf Rappen geboten.

Den bringe ich meiner Mutter, sagte dein Großvater. Der gehört Mama.

Er hüpfte weiter und trat ins Haus, schenkte den Pilz seiner Mutter.

Ein Mann, sagte dein Großvater, hat mir dafür fünf Rappen geboten.

Und warum, fragte seine Mutter, hast du ihn nicht verkauft?

Weil du Schirmlinge so gern hast.

Aus dir wird nichts, sagte die Mutter.

Wir, Albert Mangold und sein Sohn Simon, waren glückliche Sammler. Wo wir die Pilze fanden, war unser Geheimnis. Nichts verband mich mehr mit meinem Vater als das Wissen um die Gründe, wo Pfifferlinge wuchsen, Totentrompeten, Steinpilze, Morcheln. Nach der Ernte gingen wir zurück zum Opel, ich an Alberts Hand, mein Vater war groß, in einem der Ausweise, die ich fand, las ich die Zahl 191 cm.

Seine Schritte passte er meinen an.

 

Gestern Nachmittag, beim Metzger, sagte Dagmar, habe die Steiner gemeint, das eine oder andere Wort über Pauls Tochter hätte man schon verlieren müssen.

Wer das gesagt habe, fragte Albert.

Diese Frau Steiner.

Welche Frau Steiner.

Sie kenne nur eine, sagte Dagmar, die Steiner, deren Mann den Bus zum Stadion fahre.

Und die, bitte, habe was gesagt.

Das eine oder andere Wort, gestern, über Pauls Tochter hätte man durchaus verlieren müssen, der Wahrheit zuliebe.

Diese Frau Steiner, deren Mann den Bus zum Stadion fahre, kenne er nicht, sagte Albert und sah zur Uhr neben Kühlschrank und Kalender, kurz vor acht.

 

Paul Baumer, Inhaber eines Kleidergeschäfts, Sekretär der Kirchgemeinde Aberwald-Lukas, Vater von Anna Baumer, starb sechs Tage, bevor meine Eltern starben, an einem Montag.

 

‹Drei Kinder hat die Steiner, alle aus Indien oder Indonesien›, sagte Dagmar.

‹Und die meint, ich hätte an Pauls Grab über Anna reden müssen, der Vollständigkeit halber›, sagte Albert.

‹Der Wahrheit zuliebe, hat sie gesagt.›

‹Der Wahrheit zuliebe, so.›

‹Ich habe ihr dann gesagt, dass Paul sich das nicht gewünscht hätte, dass man an seinem Grab über Anna spricht.›

‹Kannte sie Paul?›

‹Ich habe dieser Frau Steiner, wenn dich das beruhigt, gesagt, dass Paul sich nie und nimmer gewünscht hätte, dass über Anna gesprochen wird. Schließlich sei Paul Baumer dein bester Freund gewesen, außerdem Sekretär der Kirchgemeinde.›

Albert legte die linke Hand auf den Tisch und stieß sich vom Stuhl, bucklig stand er am Tisch und bettete das Luftkissen um, auf dem er saß, ließ sich darauf fallen. Dagmar, einen grünen Lappen in der Hand, trat an den Tisch, führte das Tuch übers helle Holz, sammelte die Krümel, die geblieben waren, und schob sie über die Kante in die freie Hand. Sie schüttelte die Krümel ins Waschbecken, wusch den Lappen und drückte ihn aus, hängte ihn zum Trocknen über den Wasserhahn, in der Mitte gefaltet.

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