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P.I.D. 6 - Zorn des Phoenix

hier erhältlich:

Der letzte und härteste Fall für die Männer der P.I.D!

Für P.I.D.-Leader Derek Collier bricht eine Welt zusammen. Ein Mitglied seines Teams wurde im Einsatz für das FBI grausam gefoltert und getötet. Seine letzte Nachricht: ein Hilfeschrei an seine Kollegen. Sofort beginnt Derek zu ermitteln. Unerwartete Unterstützung erfährt er dabei von Agent Patricia Perkins, die Job und Leben riskiert, um den grausamen Mord zu rächen. Sie können niemandem trauen - nicht einmal einander. Denn Patricia hütet ein Geheimnis, das der aufflammenden Beziehung zwischen Derek und ihr den Garaus machen könnte.
Noch nie war ein Fall für die P.I.D. so persönlich!


  • Erscheinungstag: 15.05.2019
  • Aus der Serie: P.I.D.
  • Bandnummer: 6
  • Seitenanzahl: 470
  • ISBN/Artikelnummer: 9783745750690
  • E-Book Format: ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Kapitel 1

In reinen Metern gemessen war der Weg vor ihr kaum länger als der von ihrem Büro zur Kaffeeküche. Eine Strecke, die sie sicher zehn- bis zwölfmal am Tag zurücklegte, wenn sie nicht gerade im Außeneinsatz war. Und doch fühlte sich dieser hier um ein Zehntausendfaches länger an. Denn während bei Ersterem eine Tasse heißer, köstlich duftender Kaffee auf sie wartete, befanden sich am Ende des zweiten Leid, Wut und zweifellos auch jede Menge Vorwürfe.

Patricia schloss für einen Moment die Augen und versuchte, nicht daran zu denken, dass diese Verwürfe durchaus berechtigt waren. Das Wissen darum, dass sie versagt hatte, machte es ihr ja gerade so schwer, mehr zu tun, als nur von einem Fuß auf den anderen zu treten. Aus demselben Grund war es aber auch nicht infrage gekommen, auch nur einen Tag länger zu warten. Der Bewohner dieses Hauses hatte ein Recht darauf, die Wahrheit zu erfahren.

Patricia hatte diesen Teil ihres Jobs schon oft hinter sich bringen müssen, und sie hatte es immer mit einer heroischen Stärke getan. Das war man den Hinterbliebenen einfach schuldig. In diesem speziellen Fall jedoch wusste sie nicht, ob sie diese Stärke bis zum Schluss bewahren konnte.

Nachdem sie weitere Minuten auf das Haus gestarrt und sich dafür gelobt hatte, dass sie es immerhin schon mal aus dem Wagen geschaffte hatte – vor inzwischen fünfundzwanzig Minuten –, seufzte sie schicksalsergeben und griff nach ihrem Handy. Sie musste sich ein für alle Male die Möglichkeit nehmen, am Ende doch noch zu kneifen und jemand anderen zu schicken. So stand Patricia keine zwei Minuten später vor der Hintertür.

„Was auch immer Sie wollen, machen Sie es kurz. Wir feiern Halloween“, empfing der Hüne sie grimmig.

Als wäre ihr das nicht klar gewesen. Selbst wenn sie all die Deko auf den Straßen und das Datum übersehen hätte, wäre spätestens sein Outfit ein eindeutiges Indiz gewesen. Er trug lange pelzige Handschuhe und eine Wolfsmaske, aus deren Maul die Zunge heraushing, und die im Moment in seinem Nacken baumelte. In Kombination mit dem hellblauen Hemd und der Krawatte erinnerte das Kostüm Patricia an einen Kinderfilm.

„Ich wäre nicht gekommen, wenn es nicht wichtig wäre. Allein dafür, dass ich hier bin, werde ich wahrscheinlich meinen Job verlieren.“

Binnen eines Wimpernschlags wurde aus Verärgerung Misstrauen. Wortlos bedeutete er ihr, ihm zu folgen. Erst in seinem Büro im Obergeschoss brach er sein Schweigen.

„Was ist los? Steckt er in Schwierigkeiten?“

Patricia wusste, dass es nun kein Zurück mehr gab. Sie atmete tief durch und … zögerte es dann doch wieder heraus. „Bei dem Fall, auf den wir ihn angesetzt haben, ging es lediglich um Wirtschaftskriminalität. Veruntreuung, Steuerhinterziehung, eventuell Schwarzgeld …“, plapperte sie drauflos, um dann abrupt zu verstummen.

Ich kann das nicht!

„Weiter! Spucken Sie es schon aus“, drängte er.

Patricia spürte seine wachsende Ungeduld auf ihrer Haut prickeln.

„Glauben Sie mir, wir hatten keine Ahnung, was wirklich hinter all dem steckt. Um ehrlich zu sein, haben wir das auch jetzt noch nicht.“

Er verschränkte die mit Fell überzogenen Arme vor der Brust – der Werwolf aus Hotel Transsilvanien, fiel es Patricia absolut unpassend ein – und taxierte sie. „Dann holen Sie ihn, verdammt noch mal, da raus. Das kann doch nicht so schwer sein.“ Dass sie kurz den Blick senkte, interpretierte er völlig falsch. „Ach, nein, warten Sie. Nachdem Sie es verbockt haben und einer meiner Männer in der Scheiße steckt, dürfen wir losziehen und ihn rauspauken, richtig? Welche Überraschung.“

Patricia schluckte so unauffällig wie möglich gegen die aufsteigenden Tränen und die enger werdende Kehle an. „Dafür ist es zu spät“, brachte sie mit leiser, aber überraschend fester Stimme heraus.

Er schnaufte ungehalten. „Für Sie vielleicht, Agent, nicht für uns. Sagen Sie mir einfach, wo wir ihn finden.“

In der Leichenhalle.

Sie zwang sich, seinem Blick standzuhalten. „Nein, Derek, Sie verstehen nicht! Es ist zu spät. Leo ist …“ Ihre Stimme drohte nun doch zu brechen, aber das würde sie nicht zulassen. Sie würde stark bleiben. „Leo ist tot. Es tut mir so leid.“

Sekundenlang starrte Derek sie einfach nur ungläubig an. „Erzählen Sie keinen Scheiß, Perkins!“, schnauzte er dann.

„Ich wünschte, es wäre so, aber vor vier Tagen wurde seine Leiche gefunden. Wir hatten bis zuletzt gehofft, er wäre es nicht, aber das DNA-Ergebnis ist eindeutig. Es tut mir so leid.“

„Ja, das sagten Sie schon. Wie konnte das … Moment, DNA-Ergebnis? Wieso …?“

Er kannte die Antwort oder ahnte sie zumindest. Da war sich Patricia sicher. Allerdings verstand sie auch das schmerzende Verlangen danach, die ganze Wahrheit zu kennen. Sie selbst war da nicht anders. Auch wenn sie ihm die Details am liebsten erspart hätte, berichtete Patricia von Leos Verletzungen. „Laut unserer Pathologin wurde er über Tage hinweg gefoltert, ehe man ihn schließlich … mit einem Schuss in den Kopf tötete.“

Derek stellte ihr eine Frage nach der anderen. Er wollte die ganze Geschichte hören, also erzählte sie ihm die Kurzfassung. Dabei lief sie regelrecht Furchen in das Parkett. Ganz im Gegensatz zu Derek konnte sie gar nicht anders, als in Bewegung zu bleiben. Er stand einfach nur regungslos da, die Arme wieder vor der Brust verschränkt und den Blick aus dem Fenster gerichtet. Nur ab und an drehte er den Kopf weit genug, um sie aus dem Augenwinkel sehen zu können. Wie angespannt er war und wie sehr er mit seiner Fassung rang, erkannte Patricia an den Zuckungen, die wie Blitze über seine Rückenmuskeln rasten. Wenn sie ehrlich war, machte ihr dieses Verhalten mehr Angst, als es ein Wutausbruch könnte.

Nachdem sie alles erzählt hatte, was sie zu erzählen bereit war, trat minutenlanges Schweigen ein. Als es Patricia immer mehr zu erdrücken drohte, brach sie es und sprach aus, was ihr unter den Nägeln brannte, seit sie von Leos Tod erfahren hatte.

„Ich will bei den Ermittlungen dabei sein!“

Derek drehte sich zu ihr um. „Warum?“

„Aus demselben Grund, aus dem ich persönlich hierhergekommen bin. Weil ich es ihm schulde.“

Sie dankte Gott dafür, dass Derek nicht weiter nachhakte. Stattdessen sagte er einfach: „Gehen Sie jetzt. Ich rufe Sie morgen an.“

Wenn sie seinen angespannten Kiefer und das vermehrte Blinzeln richtig deutete, war er zumindest für den Moment nicht in der Lage, mehr zu sagen oder darüber zu diskutieren. Wer konnte es ihm verdenken?

„Wenn Sie wollen, sage ich es ihnen.“ Bitte sag nein. Bitte sag nein. Sie schämte sich für ihre Feigheit und die Angst, dass Dereks Kollegen weniger beherrscht auf diese Neuigkeit reagieren würden. Nicht zuletzt aufgrund des ohnehin schon angespannten Verhältnisses, das von Anfang an zwischen ihr und dem Team geherrscht hatte.

„Nein. Es ist besser, wenn ich das mache. Wie gesagt, ich melde mich morgen.“

Mit einem letzten „Es tut mir unendlich leid“ kam Patricia seiner Bitte dieses Mal nach, froh darüber, der ganzen Situation endlich entkommen zu können. Auch wenn sie ihr Angebot im Zweifelsfall natürlich nicht zurückgezogen hätte, drohten ihre Gefühle sie mehr und mehr zu übermannen.

Patricia schaffte es bis zu ihrem Auto, wo sie weinend hinter dem Lenkrad zusammenbrach.

Nachdem Agent Perkins gegangen war, hatte Derek noch eine halbe Stunde lang am Fenster gestanden. Den Blick in die von leuchtenden Kürbissen und Gruselgestalten gesprenkelte Dunkelheit gerichtet, hatte er zu begreifen versucht. Doch es war ihm nicht gelungen. Sein Kopf war einfach leer. Nein, mehr noch. Er fühlte sich, als habe er selbst eine Kugel hineinbekommen.

Auch jetzt noch, während er still und leise neben der Garderobe stand und die ausgelassene Halloween-Party beobachtete, wollte die Bedeutung von Perkins’ Worten einfach nicht vollständig zu ihm durchdringen.

Kid tot? Wie konnte das sein?

Jeder andere aus seinem Team sah sich immer wieder einer Waffe, einem brutalen Verbrecher, einem Hochgeschwindigkeitscrash oder auch hin und wieder einer Bombe gegenüber. Doch auch, wenn sie teils schwere Verletzungen davongetragen hatten, sie hatten immer überlebt. Kid ging einmal raus, um fürs FBI einen Computer zu hacken, und wurde getötet?

Okay, ein wenig mehr war es schon gewesen, das Resultat wollte Derek dennoch nicht in den Kopf. Gott, nein, das konnte einfach nicht sein.

Er betrachtete sein Team. Sie feierten ausgelassen, nicht ahnend, dass ihnen eine so schreckliche Nachricht bevorstand. Wie gerne er sie noch länger in dieser glücklichen Seifenblase gelassen hätte – und wie gerne auch er wieder an diesen Punkt zurückkehren wollte –, konnte er nicht mal im Ansatz beschreiben. Es war einfach nicht fair. Jeder von ihnen hatte seinen persönlichen Weg durch die Hölle hinter sich und ein glückliches Leben verdient. Und dazu gehörte eben auch diese Familie, zu der sie im Laufe der Jahre geworden waren. Doch nun lag ein dunkler Schatten über ihr, denn mit Leo hatten sie ein wichtiges, ein geliebtes Familienmitglied verloren.

Marla, seine Nachbarin, hatte sich ihm unbemerkt genähert und stupste ihn mit der Schulter an. „Du stehst hier rum und schaust den anderen beim Feiern zu, anstatt wieder mittendrin zu sein. Alles okay?“

„Nein.“ Derek richtete sich auf und strich der jungen Frau über die Schulter. „Bitte entschuldige mich.“

Er lief zur Anlage und schaltete sie kurzerhand aus. Umgehend waren alle Augen auf ihn gerichtet. Er räusperte er sich kurz. Erst, als er seiner Stimme vollkommen traute, ergriff er das Wort: „Es tut mir leid, aber ich muss die Party an dieser Stelle beenden. Den Grund dafür kann ich euch im Moment nicht sagen, dennoch bitte ich um Verständnis, wenn ich nun alle rausschmeiße, die nicht zur P.I.D. gehören. Bastien, du bleibst bitte auch noch.“

Während sich seine Gäste zügig auf den Heimweg machten, herrschte bei dem Rest angespannte Stille. Jeder von ihnen war in Alarmbereitschaft. Doch bevor er ihnen die schreckliche Botschaft verkünden konnte, musste eine Angelegenheit geklärt werden.

„Shawn.“ Derek trat auf den jungen Hacker zu, der in den letzten Monaten zu weit mehr geworden war als nur Leos vorübergehende Vertretung. Der Gedanke daran, dass der Kleine nicht wieder zurückkommen und seinen Platz im Team einnehmen konnte, drang in den Vordergrund, und ließ Derek mit seiner Fassung ringen. „Du musst mir einen wichtigen Gefallen tun. Lass dir von Cooper oder Juliette ihren Schlüssel geben und bring Trisha zu ihnen nach Hause. Bleib mit ihr dort. Das bedeutet nicht, dass ich dich nicht als Teil des Teams ansehe. Du weißt, das tue ich sehr wohl. Aber ich möchte die Kleine nicht hier haben, wenn ich sage, worum es geht. Dich informiere ich später, versprochen.“

Shawn, dessen ernste Miene so gar nicht mit dem bunten Woody-Kostüm in Einklang zu bringen war, nickte. „Kein Ding. Ich bringe sie sicher ins Penthouse und kümmere mich dort gut um sie.“

„Danke.“ Derek hielt dem jungen Mann die Hand hin, damit er einschlagen konnte. „Ich weiß, wir können uns auf dich verlassen.

Während Grace und Anna Trisha abfahrbereit machten, verhielten sich alle anderen vollkommen ruhig. Doch das konnte kaum darüber hinwegtäuschen, dass ihre Nerven zum Zerreißen gespannt waren.

Derek überlegte angestrengt, wie er ihnen beibringen sollte, was Leo zugestoßen war. Besonders in Bezug auf Mic bereitete ihm das große Sorge. Leo war wie ein Sohn für den Teamarzt gewesen, der bereits ein Kind verloren hatte. Schon darüber war er kaum hinweggekommen. Was, wenn er an diesem erneuten Schicksalsschlag endgültig zerbrach? Und dann waren da auch noch Bastien und Grace. Annas bester Freund liebte Leo und freute sich auf eine gemeinsame Zeit, seit dieser ihm unmittelbar vorm Einsatzantritt seine Gefühle gestanden hatte. Grace hatte nicht viel Gelegenheit dazu bekommen, Leo besser kennenzulernen. Nicht ganz ungeachtet dessen, dass der Kleine auch einen maßgeblichen Anteil an Trishas Rettung gehabt hatte, könnte diese tragische Nachricht gerade für sie fatale Folgen haben. Wie von selbst wanderte Dereks Blick zu der Wölbung ihres Bauches, die sich selbst unter dem recht weiten Stitch-Kostüm längst nicht mehr verbergen ließ. Kaum zu glauben, dass sie und Sunny in nicht mal fünf Monaten zum zweiten Mal Eltern werden würden. Fast hätte die Angst um Grace und das Ungeborene ihn dazu verleitet, sie mit Shawn und Trisha wegzuschicken. Doch Grace würde sich nicht mal gewaltsam von hier wegbringen lassen –, und er hätte das Problem nur aufgeschoben. Denn erfahren würde die junge Frau es ohnehin umgehend.

„Na gut, Trisha ist weg. Jetzt rück endlich mit der Sprache raus. Was ist los?“, riss ihn Frogs donnernde Stimme aus seinen Grübeleien.

Es führte kein Weg mehr daran vorbei, so verzweifelt ein Teil von ihm auch danach suchte.

Nein, er wollte das hier sowas von absolut nicht!

„Ich wurde vor einer halben Stunde darüber informiert, dass …“ Seit er damals die Polizeiakademie verlassen hatte, hatte es immer wieder Situationen gegeben, in denen er dazu gezwungen gewesen war, die schlechte Nachricht zu überbringen. Sein erster Partner hatte ihm damals einen wichtigen Rat gegeben, als sie – für Derek zum ersten Mal – vor der Tür einer Mutter gestanden hatten, um sie über den Tod ihres Sohnes zu informieren: „Du bist ein schlauer Junge. Ich muss dir also nicht erst sagen, dass du damit nicht herausplatzen kannst, nur um es schnell hinter dich zu bringen. Genauso wenig solltest du es hinauszögern. Das macht es nur schlimmer. Aber vor allem …“, er hatte Derek im Nacken gepackt, um sicher zu sein, dass er dessen volle Aufmerksamkeit hatte. „Du bist nur der Überbringer. Entschuldige dich nicht unzählige Male. Du hast das Opfer nicht eigenhändig getötet.“

Aber hatte er nicht genau das möglicherweise doch getan, als er den Kleinen einfach so ohne jegliche Rückendeckung ziehen ließ?

Du hast das Opfer nicht eigenhändig getötet.

Du hast Leo nicht getötet!

„Es tut mir leid, euch sagen zu müssen, dass man Leos Leiche gefunden hat.“ So, nun war es raus.

Während Derek in die schockierten Gesichter seiner Freunde blickte, hasste er sich. So sehr, dass er sich kaum traute, einen der Anwesenden länger als einen Wimpernschlag lang anzusehen. Schon gar nicht Mic oder Bastien.

„Was?“

„Wie?“

„Nein!“

„Oh mein Gott! Nein!“

Diese und ähnliche entsetzte Ausrufe und Fragen zerschmetterten die zentnerschwere Stille.

„Was ist passiert?“, fragte Olivia, die ihre Emotionen noch am besten im Griff hatte. Ihre Finger waren fest mit denen von Frog und Grace verwoben.

Derek musste an das denken, was Agent Perkins ihm erzählt hatte. „Er wurde erschossen“, sagte er knapp. Auf keinen Fall würde er hier und jetzt mit mehr Einzelheiten herausrücken.

Mic sprang auf und machte ein paar große Schritte durch Dereks Wohnzimmer, ohne wirklich ein Ziel zu haben. „Wer war das? Ich hoffe doch, dass die Feds den Wichser haben, der das getan hat!“ Er schnaufte wie ein aufgebrachter Stier. „Ich will ihn sehen! Ich will nur fünf Minuten mit ihm haben!“

Die Luft war derart von dem Verlangen nach Rache erfüllt, dass Derek das bittere Aroma förmlich auf der Zunge zu schmecken glaubte.

„Sie haben den Täter bisher noch nicht gefunden.“ Sofort sprachen wieder alle durcheinander. „Ich habe bisher auch nur die nötigsten Informationen.“

„Wie jetzt?“ Cooper sah ihn fassungslos an, während Anna aufstand und zu Bastien hinüberging. Der arme Kerl stand wie ein Häufchen Elend an der Wand und rang mit seinen Gefühlen. „Du erfährst, dass Kid … und lässt dich allen Ernstes mit den nötigsten Informationen abspeisen? Das ist doch wohl ein schlechter Scherz?!“

„Coop…“

„Nein, er hat recht! Du …“ Mic hielt mitten im Satz inne und runzelte die Stirn. „Fuck, Derek, ich habe dich vorhin telefonieren sehen. Hast du da die Nachricht bekommen? Das Gespräch hat maximal zwei Minuten gedauert! Wie viele Informationen kannst du da schon gekommen haben?“

„Der Anruf hatte damit zu tun, ja, aber …“

Wieder wurde er unterbrochen. Diesmal war es ironischerweise Sunny, der sich darüber aufregte, dass Derek einfach nicht mit der Sprache herausrückte. Immer mehr Vorwürfe, dass ihn das offenbar nicht interessiere und ihm die Aufklärung des Mordes an seinem Freund nicht wichtig sei, kamen auf. Derek war klar, dass das allein aus dem Schmerz über den Verlust heraus geschah, es zerrte deshalb jedoch nicht weniger an ihm.

„Jetzt passt mal gut auf! Leo war für mich ebenso wie ein Bruder, wie für euch!“, polterte er schließlich los. „Und wenn ihr mich endlich mal aussprechen lassen würdet, anstatt mich ständig zu unterbrechen … und mir diese Scheiße vorzuwerfen, hättet ihr zumindest schon mal einen Teil der Antworten.“ So aufgebracht und verletzt er war, musste er sich schwer zusammenreißen, nicht wirklich alles zu erzählen. Doch irgendwie gelang es ihm. Es lag nicht daran, dass sein Team ihn als emotionalen Sandsack benutzt hatte, sondern einfach nur an dem Gefühl, dass das Wohnzimmer immer kleiner und die Luft immer stickiger wurde.

„Derek, warte! Bleib hier!“, hörte er Juliette rufen. „Mann, bei allem Verständnis, ihr seid manchmal solche Idioten!“, fügte sie hinzu und folgte ihm hinaus auf die Veranda.

„Ich wäre dir dankbar, wenn du mich einen Moment allein lassen würdest“, bat Derek leise, den Blick zur Straße gerichtet und ohne wirkliche Hoffnung, dass Coops Partnerin dem nachkäme.

Wie erwartet schüttelte sie den Kopf. Anstatt aber etwas zu sagen, schmiegte sie sich einfach nur von hinten an ihn. Tränen stiegen ihm in die Augen, und Traurigkeit drohte ihn zu übermannen, so sehr er auch dagegen ankämpfte. Juliettes Versuch, ihm trostspendend zur Seite zu stehen, torpedierte seine Bemühungen gehörig.

„Bitte, Jules, ich kann …“ Seine ohnehin schon zittrige Stimme versagte ganz unter dem Druck, der plötzlich auf seiner Kehle lag.

Jules wäre natürlich nicht Jules, wenn sie sich so leicht abschütteln ließe. „Ich werde dich jetzt nicht allein lassen.“

„Bitte, Jules.“ Wieder brachte er nicht mehr heraus. Ein Schaudern durchlief ihn und ermöglichte es so einem Schluchzer, sich Bahn zu brechen.

„Ist schon gut. Lass es einfach raus, ich verrate dich nicht.“ Manipulierend streichelte sie ihm über die Brust.

Das war zu viel. Seiner Trauer war kein Einhalt mehr zu gebieten.

Es dauerte mehrere Minuten, doch dann ging es ihm etwas besser. Na ja, vielleicht sollte er wohl eher sagen, dass er nicht mehr heulen musste. Dafür stiegen erneute Selbstvorwürfe und eine damit verbunden Wut nie gekannten Ausmaßes in ihm auf. Er löste sanft aber bestimmt Juliette Hand von seinem Bauch und stützte seine Hände auf das Geländer der Veranda.

„Es ist meine Schuld. Ich hätte ihn nicht ohne Rückendeckung gehen lassen dürfen. Ich hätte darauf bestehen sollen, dass wir dabei sind, egal, ob John oder sonst jemand dagegen war.“ Er schlug frustriert auf das Holz vor sich.

„Wenn John geahnt hätte, dass … Ich weiß nicht, was genau passiert ist, aber er hätte Kid nie leichtfertig einem solchen Risiko ausgesetzt.“ Deutlich war zu hören, wie sehr auch Juliette zu kämpfen hatte. Nur zu gerne hätte er es ihr in Sachen Trostspenden gleichgetan. Nicht nur, um sich bei seiner Freundin zu revanchieren, sondern weil sie schlicht und einfach litt. Nichtsdestotrotz blieb Derek stehen, wie und wo er war. Er wollte ihr nicht aus Versehen wehtun. Der Schlag auf die Brüstung war nur ein Bruchteil dessen, wonach ihm gerade zumute war.

„Schwachsinn. Jules, du kennst uns und unsere Arbeit inzwischen gut genug, um zu wissen, wie oft aus vermeintlich harmlos brandgefährlich wird.“

„Ja, stimmt schon. Dennoch … keiner von euch hätte das vorhersehen können. Und mal abgesehen davon. Haben sich damals nicht gerade die Fälle von Grace und Olivia überschnitten?“

„Ja.“ Mehr wusste er dazu nicht zu sagen. Sein Hirn war wie leergefegt.

„Ihr werdet Leos Mörder finden, da bin ich sicher. Aber nicht mehr heute Nacht.“ Sanft legte sie die Hand auf seinen Bizeps und bewegte ihn dazu, sich zu Juliette umzudrehen. Mit Tränen in den Augen sah sie zu ihm auf. „Heute Nacht trauern wir.“

Diesmal schloss er sie fest in die Arme, ehe sie sich gemeinsam auf den Weg ins Haus machten. Gleich im Flur trafen sie auf Cooper, Sunny und Grace, der es ganz offensichtlich gar nicht gut ging.

Derek strich ihr sanft über die Wange. „Ruh dich aus, Kleines. Und wenn was ist, ruf an.“ Er umarmte sie und sah über ihre Schulter zu den anderen. „Das gilt für euch alle.“

Als er Grace losgelassen hatte, drückten seine Freunde ihn einer nach dem anderen.

„Dasselbe gilt für dich“, sagte Cooper. „Es tut mir – uns allen – leid, wie wir vorhin reagiert haben. Auch du hast einen Freund verloren.“

Fünfzehn Minuten später wünschte sich Derek zu dem Moment zurück, an dem man ihn mit Vorwürfen überhäuft hatte. Denn gegen diese hatte er rückblickend wesentlich besser angekonnt als gegen die nicht enden wollenden Entschuldigungen. Umso erleichterter war Derek, als er die Tür schließlich hinter seinen Freunden schloss. Es mochte unfair sein, denn sie wollten ihr Verhalten von zuvor nur wiedergutmachen, doch so war es einfach. Endlich allein zu sein, hatte jedoch auch erheblich Nachteile. Wenn es niemanden gab, der seine Gedanken mit einem teilte, hatten die eigenen frei Bahn. Erfahrungen und Fantasie verbanden sich und zeigten Derek in beeindruckender Detailtreue, wie Leo Perkins Bericht nach erst gefoltert worden war und schließlich sein Leben verloren hatte. Schnell wurde es Derek zu viel. Er konnte und wollte das im Moment nicht ertragen.

Mit einem Mal war er unendlich froh darüber, nicht mehr als zwei Bier getrunken zu haben. Denn ihm fiel nur ein Weg ein, um diesen Bildern zu entfliehen und den Kopf wenigstens für kurze Zeit freizubekommen. Derek lächelte fast schon bei der Aussicht, als er die befellten Armstulpen, die Maske und die Stoffhose gegen die abgewetzte Lederkluft und den Helm tauschte und sich seine Schlüssel schnappte.

Nur zwei Minuten später hüllte ihn das wilde Röhren seines Bikes ein. Einen letzten Blick in den schwarzblauen Himmel gerichtet, rollte Derek auf die Straße und gab Gas.

Kapitel 2

Derek stürmte auf das Büro seines ehemaligen Lehrers zu. „Ist er da?“

„Derek. Ja, ist er, aber er tel…“

Noch ehe Ruth, Johns Sekretärin, zu Ende gesprochen hatte, hatte Derek schon die Klinke heruntergedrückt und die Tür aufgestoßen. Es bedurfte keiner weiteren Aufforderung, damit der Besitzer des Büros sein Telefonat umgehend unterbrach.

„Entschuldigen Sie bitte, Assistant Director, er ist einfach durchgelaufen.“ Ruth fuchtelte geradezu verzweifelt mit den Armen. Als wolle sie sichergehen, dass die vermeintlich drakonische Strafe, die mit seiner Störung einherging, nicht sie treffen würde. Derek warf sie einen tadelnden Blick zu.

„Schon gut, Ruth. Bitte stellen Sie vorerst keine Anrufe durch.“ John wartete, bis sie die Tür hinter sich geschlossen hatte und erhob sich dann. „Derek.“ Mehr sagte er nicht, doch seine Miene sprach Bände.

„Wann hattest du vor, es uns zu sagen?“

„Hör zu, das ist nicht so einfach.“ Er sah sich unruhig um. „Setz dich doch.“

„Ich will mich nicht setzen! Ich will eine Erklärung! Und nur zu deiner Information: Es ist einfach! ‚Derek, es tut mir leid, dir das sagen zu müssen, aber Leo ist tot.‘ Siehst du, ganz einfach!“ Er war immer lauter geworden, dabei hatte er wirklich vorgehabt, seine Gefühle unter Kontrolle zu behalten, wenn er seinen alten Mentor und guten Freund zur Rede stellte. Die Wucht, mit der Trauer, Wut und auch Enttäuschung auf ihn einstürzten, machte diesen Plan jedoch mit jeder verstreichenden Sekunde mehr zunichte.

„Glaubst du das wirklich?“ John kam um den Tisch herum und auf ihn zu. „Allen Ernstes?!“

Derek wusste, dass dem nicht so war, dennoch trieb ihn der Trotz dazu, die Fragen mit einem deutlichen Ja zu beantworten.

„Junge, ich weiß, dass Leos Tod dich hart getroffen hat.“

Sein sanfter Ton brachte Derek nur noch mehr auf die Palme. „Nenn mich nicht Junge! Ich bin nicht mehr dein Schüler! Du hättest es mir sagen müssen! Du hättest auf ihn aufpassen und ihn gegebenenfalls da rausholen müssen! Er war noch ein halbes Kind, und du wusstest, dass er als unser Analyst kaum mit den aktiven Ermittlungen Erfahrungen hatte, ganz zu schweigen davon, undercover zu gehen!“ Derek war ganz sicher bis auf die andere Straßenseite zu hören, doch das war ihm egal. Er musste es einfach loswerden.

John maßregelte ihn nicht wegen seiner Lautstärke – oder seiner Vorwürfe. Er sah ihn nur an und versuchte, eine ausdruckslose Miene zur Schau zu stellen. Er versagte auf ganzer Linie. „Du hast recht. Mit allem. Außer in einem Punkt – genaugenommen in zwei Punkten. Ich konnte Leo nicht einfach von dem Fall abziehen, denn das lag nicht in meiner Zuständigkeit. Und bevor du jetzt wieder loslegst, dass ich der Assistant Director sei und was zu sagen hätte … Die Order kam von ganz oben. Washington wollte ihn für diesen Fall. Du wusstest, dass es früher oder später dazu kommen würde. Das war der Deal. Allerdings war nicht klar, wohin die Ermittlungen Leo führen würden. Glaub mir, dann hätten sie jemand anderen geschickt. So aber war Leo bereits fest eingeschleust und ein Wechsel unmöglich. Wie sich herausgestellt hat, ermitteln nicht nur wir gegen diese Firma. ATF und DEA haben in Zusammenarbeit ebenfalls jemanden eingeschleust. Ich darf dir das eigentlich nicht sagen, aber ich will, dass du verstehst, warum die Sache eben nicht so einfach ist. Der andere Grund, warum ich euch nicht einfach anrufen konnte …“ Er rieb sich über das Gesicht. „Ach, Junge … entschuldige … Derek, wie um Himmels Willen sollte ich dir das denn nur sagen? Bis zum Schluss habe ich so gebetet, dass es sich bei dem Toten nicht um Kid handelt. Glaub mir, selbst wenn ich nicht zum Stillschweigen verdonnert worden wäre, hätte ich keine Ahnung gehabt, wie ich es euch hätte beibringen sollen.“

Natürlich nahm Leos Tod seinen ehemaligen Mentor fast ebenso mit wie Derek und sein Team – und das nicht nur, weil er sich in gewissem Maße für den jungen Mann verantwortlich fühlte. Während Derek John zuhörte, konnte sich deshalb zumindest seine Wut auf ihn nicht länger halten. Es war nicht so, dass er ihm bereits vergeben hatte. Vielmehr erkannte er an, dass ihm die Hände gebunden waren.

„Ich muss wohl nicht erst fragen, wer es dir gesagt hat.“ John sah ihn eindringlich an.

Derek wusste, leugnen war zwecklos. Man brauchte nur eins und eins zusammenzuzählen. Es gab schließlich kein halbes Dutzend Personen, die sowohl in den Fall involviert waren als auch mit dem P.I.D. in Verbindung standen, sondern nur eine. Okay, zwei, wenn man John mitzählte.

„Was willst du jetzt von mir hören?“

John griff nach dem Telefonhörer. „Wenn du nicht dabei sein möchtest, wenn ich sie zur Rede stelle, können wir das Gespräch gern später fortsetzen.“

Derek schnaufte und ließ sich auf das Sofa der kleinen Sitzgruppe fallen. „Ich werde ganz sicher nicht seelenruhig irgendwo einen Kaffee trinken gehen, während sie hier auf sich selbst gestellt ist. Ich weiß, du machst nur deinen Job, aber das hat sie dennoch nicht verdient.“

John nickte, als habe er nichts anderes erwartet, hielt sich jedoch mit einer Erwiderung zurück und bestellte stattdessen die betreffende Agentin in sein Büro.

Patricia hängte den Hörer ein und nahm sich noch eine Minute, um einige letzte Handgriffe zu erledigen. Sie schob die abgearbeiteten Akten zusammen und platzierte sie in dem dafür vorgesehenen Plastikschuber, sodass sie eingesammelt wurden. In einem zweiten Schuber befanden sich die laufenden Fälle und die, bei denen noch das ein oder andere Dokument fehlte, um sie schließen zu können. Den ganzen Morgen hatte sie damit verbracht, die Akten für den jeweiligen Stapel fertigzustellen. Beim zweiten schloss das unzählige Bemerkungen bezüglich der Ermittlungen und Hinweise zu neuen Ansätzen mit ein. Sie hatte extra zwei Stunden früher angefangen, um alles zu erledigen. Mehrfach schon hatte sie selbst vor einem Berg aus Chaos und Ratlosigkeit gestanden, wenn sie mittendrin einen Fall übernommen hatte. So etwas wollte sie ihren Kollegen – und auch den Opfern – nicht antun. Dass sie ihre Fälle nicht selbst abschließen können würde, war ihr nur zu bewusst. Blieb abzuwarten, ob das nur vorübergehend oder dauerhaft sein würde. Wie sehr hatte sie es sich mit ihren Vorgesetzten verscherzt, als sie zu Derek Collier gegangen war? Reichte es schon aus, um sie zu feuern?

Patricia stellte den Kugelschreiber zu den anderen in den Becher und erhob sich. Zeit, es herauszufinden.

Man sollte meinen, dass die Unruhe in ihr wüchse, je näher sie Assistant Director Fellens Büro käme, doch dem war nicht so. Eher im Gegenteil wurde ein Teil von ihr immer gelöster. Anstatt sich zu fürchten, bereitete sie sich auf das vor, was mit der Suspendierung oder der Kündigung einherging. Die Aussicht darauf, selbst auf die Jagd nach Leo Matthews’ Mörder gehen zu können. Blieb zu hoffen, dass Derek ihrem Wunsch nachkam und sie sich an den Ermittlungen beteiligen ließ. Patricias Hand schob sich an ihrem Blazer entlang und kam auf der Tasche zu liegen. Der kleine Gegenstand, der sich durch den Stoff drückte, würde sie bei Entdeckung definitiv den Job kosten. Und ihr vermutlich eine längerfristige Unterbringung in einem staatlich betriebenen Hotel mit Gittern vor den Fenstern einbringen.

Während sie den Aufzug bestieg, kam ihr kurz der recht verspätete Gedanke, dass jemand aus dem IT-Bereich sicher binnen Minuten herausfinden würde, was sie getan hatte. Das steigerte ihr Unbehagen allerdings nicht. Auch wenn es ihr etwas aufs Gewissen drückte, dass sie damit ihre Kollegen hinterging. Und sie vermutlich auch in Schwierigkeiten bringen könnte. Die anderen Agencies würden deswegen sicher keine Party schmeißen.

Egal, dann hätten sie besser auf den Jungen aufpassen sollen.

Natürlich gingen Patricia auch immer wieder die negativen Aspekte einer möglichen Kündigung durch den Kopf, allem voran das Problem mit der dann fehlenden Krankenversicherung. Die würde möglicherweise in nicht allzu ferner Zukunft erheblich an Wichtigkeit gewinnen. Doch darum musste sie sich dann eben kümmern, wenn es soweit war.

Zwei Minuten später straffte sie sich, zupfte noch einmal ihre Kleidung zurecht und betrat das Vorzimmer des Assistant Directors.

Ruth nickte ihr grüßend zu. „Agent Perkins, gehen Sie nur durch. Er erwartet Sie bereits.“

„Danke“, brachte sie mit Mühe heraus. Okay, nun war sie doch etwas nervös.

Nach einem kurzen Klopfen trat sie ein. Oft war sie noch nicht hier gewesen, doch soweit sie sich erinnern konnte, sah alles noch wie früher aus. Einschließlich des Assistant Directors selbst, der sie knapp begrüßte und bat, die Tür zu schließen. Als Patricia im Augenwinkel eine Bewegung ausmachte und sich ihr zuwandte, um den Ursprung zu erkunden, musste sie zähneknirschend feststellen, dass nicht alles wie sonst war. Es war nämlich noch jemand anwesend: Derek Collier. Der Teamleader saß auf dem Sofa links von ihr und blickte sie fast schon mitleidig an. Offenbar hatte er keine Zeit vergeudet, um Fellen mit dem neu erlangten Wissen um das Schicksal seines Freundes zu konfrontieren. Man musste ihn nur ansehen, um zu wissen, dass er genau wusste, welche Konsequenzen das für sie haben würde. Aber das hatte sie schließlich auch selbst schon gestern Abend gewusst. So begrüßte sie auch ihn ganz normal und wandte sich dann wieder ihrem Vorgesetzten zu.

„Ich kann mir denken, warum Sie mich sprechen wollen, Sir.“ Es war ihr unmöglich, während dieser Worte den Blick nicht in Dereks Richtung huschen zu lassen. Fellen entging das nicht.

„Er hat Sie nicht verraten, Patricia“, begann er. „Es war mir in dem Moment klar, in dem er hier reinrauschte. Nicht nur, weil wir beide die einzigen sind, die sowohl mit dem Fall als auch mit ihm und der P.I.D. in Verbindung stehen.“ Er erhob sich und bat sie, sich zu setzen. Um sich nicht wie auch dem Schafott zu fühlen, wählte sie einen der Sessel. Fellen selbst kam ebenfalls zu ihnen und setzte sich ihr gegenüber. „Es ist kein Geheimnis, dass ich dem gesamten Team sehr nahestehe, und glauben Sie mir, ich verstehe nur zu gut, was Sie zu diesem Schritt bewogen hat. Ich selbst war mehr als einmal drauf und dran, zu tun, was Sie getan haben.“ Ihm war anzusehen, dass ihm das Folgende nicht leichtfiel. „Nichtsdestotrotz … es gab ganz klare Anweisungen von ganz oben, an die Sie sich nicht gehalten haben. In meiner Position als Assistant Director bleibt mir da nichts anderes übrig, als disziplinarisch tätig zu werden.“

„Das verstehe ich, Sir, und ich war mir dessen durchaus bewusst.“

Neben ihr nickte Derek zustimmend. „Es war mit das Erste, was sie sagte, kaum, dass ich die Tür geöffnet hatte. Das war eines der stärksten Argumente dafür, sie überhaupt anzuhören. Und ich bin ihr absolut dankbar dafür, dass sie so viel riskiert hat.“

„Ich auch. Aber das habe ich nie gesagt. Deshalb fällt es mir ja so schwer, Sie jetzt für unbestimmte Zeit suspendieren zu müssen. Vielleicht können Sie das aber auch als Chance sehen …“, Fellen sah erst Derek und dann sie eindringlich an, „… und die Zeit produktiv nutzen.“

Dafür brauchte Patricia keinen Übersetzer. Genau das war ihr Plan. „Ja, Sir, sofern ich die Gelegenheit bekomme, werde ich das tun.“

Dieses Mal hielt sich Derek bedeckt. Nichts deutete darauf hin, in welche Richtung seine Tendenz bezüglich einer Zusammenarbeit ging. Mann, das machte sie ganz kribbelig. Doch egal, wie er – nein, wie sich das Team entscheiden würde, sie würde alles tun, um sie tatkräftig zu unterstützen. Im letzten Moment konnte sie ihre Hand daran hindern, automatisch zur Blazertasche zu rutschen.

Sekundenlang herrschte angespanntes Schweigen. Jeder schien darauf zu warten, dass der andere etwas sagte. Sei es nun, um ein inoffizielles Go für die Ermittlungen zu bekommen – als wenn das noch nötig gewesen wäre – oder das Ende dieses Treffens zu verkünden. Diese Aufgabe übernahm dann jedoch das Klingeln des Telefons. Mit einem Grunzen erhob sich Fellen.

„Ich habe doch gesagt, ich will unter keinen Umständen gestört werden!“, bellte er gleich darauf in den Hörer, nur um einen Augenblick später frustriert aufzuseufzen. Den Hörer gegen die Brust haltend, wandte er sich an seine Gäste. „Entschuldigt, da muss ich rangehen. Wir sprechen uns später?“

Patricia und Derek verabschiedeten sich mit einem knappen Winken und verließen eilig das Büro. Kurz vor den Aufzügen stoppte Derek und manövrierte sie in eine kleine Nische.

„Agent Perkins …“

„Nennen Sie mich Patricia“, bot die spontan an. Woher das kam, wusste sie nicht. Immerhin waren sie nie die besten Freunde gewesen. Wenn sie mal hatten zusammenarbeiten müssen, war das immer eher in einer Art abgelaufen, die im allerbesten Fall als erzwungene Akzeptanz zu bezeichnen wäre. Das ging keineswegs von einer Partei allein aus. Es war vermutlich nur diese Art Konkurrenzkampf, die zwischen offiziellen und privaten Ermittlern fast schon allgegenwärtig war – unabhängig davon, dass man auf derselben Seite stand und dieselben Ziele verfolgte. Sofort flüsterte ihr eine leise Stimme in ihrem Inneren zu, dass sie sehr wohl wisse, woher der Wunsch käme, von Derek Collier bei ihrem Vornamen genannt zu werden. Diese nervige, vorlaute Stimme jedoch zu ignorieren und bei dieser sachlichen Theorie zu bleiben, war wesentlich einfacher. Was Derek darüber dachte, wusste sie nicht, sehr wohl erkannte sie den Hauch von Überraschung, der kurz in seinen Augen aufflackerte.

„Okay, Patricia. Es tut mir leid, dass sich Ihre Befürchtung bewahrheitet hat.“

„Danke, aber das muss es nicht. Natürlich ist es ein wenig ärgerlich, dennoch würde ich nichts anders machen, wäre ich wieder in dieser Situation. Es ist nicht richtig, dass man es Ihnen verheimlichen wollte. Egal, wie kurzzeitig es auch sein mag.“ Sie sah zu dem Emblem ihrer Behörde, das an der Wand prangte. „Ich gebe es ungerne zu, aber ich denke nicht erst seit Kurzem, dass der Fall mit Hilfe der P.I.D. vermutlich längst erfolgreich abgeschlossen wäre.“ Sie blickte Derek wieder direkt an und versuchte erfolglos, sich das kurze Schmunzeln zu verkneifen. „Sollten Sie jemals irgendjemandem gegenüber erwähnen, dass ich das gesagt habe, werde ich alles leugnen.“

Derek betrachtete die Agentin und musste sich mit einem Mal fragen, ob er sie bisher immer falsch eingeschätzt hatte. Nicht, was ihre Qualifikation oder ihr Engagement betraf, sehr wohl aber, wenn es darum ging, dass sie ein kratzbürstiges, karrieregeiles Biest war. Dass sie ihnen hier und da geholfen hatte, hatte er stets als Notwendigkeit ihrerseits gesehen. Weil sie am gleichen Fall arbeiteten oder weil John es von ihr verlangte. Nun aber hatte sie so viel riskiert und vielleicht noch mehr verloren. Sehenden Auges! Sie hatte nicht gezögert und war zu ihnen gekommen.

„Kein Problem. Von mir erfährt keiner was. Das ist nur fair.“ Er zwinkerte ihr zu. „Ich werde gleich bei dem Team ansprechen, dass Sie auf jeden Fall bei den Ermittlungen mit von der Partie sind.“

Das hübsche Lächeln, das aus ihr fast schon eine Fremde machte, verschwand wieder. „Ich würde mich sehr freuen … Nein, ich wäre unglaublich dankbar, wenn ich bei den Ermittlungen dabei sein dürfte. Ich akzeptiere es aber, sollte Ihr Team dagegen sein.“

„Ich bin der Teamleader. Wenn es hart auf hart kommt, liegt die endgültige Entscheidung bei mir.“

Patricia schüttelte energisch den Kopf. „Nein, wir wissen beide, dass das bei der P.I.D. nicht so läuft. Vor allem in diesem besonderen Fall …“

„… werde ich nicht zulassen, dass irgendwas einer schnellen Aufklärung im Weg steht!“ Und das meinte er auch so – nicht, dass er davon ausging, dass sie darüber länger diskutieren müssten.

„Das wird nicht passieren. Ob ich nun behilflich sein darf oder nicht, werde ich doch alles tun, um zur Aufklärung beizutragen.“ Derek war von ihrer Zuversicht beeindruckt, und gleichzeitig irritierte ihn ihre Äußerung. Zumal sie schon irgendwie in genauem Gegensatz zu dem stand, was sie gerade erst gesagt hatte. Bis Patricia in ihre Blazertasche griff und etwas herauszog. Durch seinen Körper vor neugierigen Blicken verborgen, hielt sie ihm einen Datenträger hin. „Hier drauf ist alles an Informationen, was auch das FBI hat.“

„Was ist das?“

„Ein Speicherstick.“

Ja, das war ihm auch schon aufgefallen. Urplötzlich enorm aufgebracht griff er Patricias Arm und drängte sie noch weiter in die Ecke hinein. „Sagen Sie, sind Sie verrückt geworden?“, fauchte er so leise, dass nur sie es hören konnte. „Was Sie letzte Nacht getan haben, war in Anbetracht dessen, was sie damit riskierten, mutig, und ich bin Ihnen dafür unendlich dankbar. Das können Sie mir glauben. Aber das hier“, er schob den Stick ein kleines Stück höher. „ist Wahnsinn! Dafür können Sie im Bau landen! Ist Ihnen das klar?“

Patricia kam nicht zu mehr, als ihm einen entschlossenen Blick zuzuwerfen. Dann jedoch huschte ihr Blick kurz an ihm vorbei. „Stecken Sie ihn weg! Schnell!“

Bevor Derek nachfragen konnte, was mit ihr los war, wurde er nach hinten gerissen. Es war einem reinen Reflex auf ihre Vorwarnung hin zu verdanken, dass er das Speichermedium nicht fallen ließ. Im nächsten Moment blickte er einem extrem angepissten Agent Rubber ins Gesicht.

„Gibt es hier Probleme, Patricia?“ Zweifellos war die Frage an seine Kollegin gerichtet, auch wenn sein stechender Blick auf Derek geheftet war.

„Nein, gibt es nicht.“

„Das sah mir aber ganz anders aus, so, wie er dich hier bedrängt.“ Jetzt zog der Kerl auch noch allen Ernstes die Oberlippe hoch. Als wenn sich Derek davon beeindrucken ließ.

Um das auch zu demonstrieren, richtete er sich zu seiner vollen Größe auf und schob die Fingerspitzen in die Hosentaschen – was ihm auch gleichzeitig die Möglichkeit bot, den Stick zu verstauen, bevor Rubber ihn bemerkte. Es fiel ihm schwer, nicht zu grinsen, als der Agent unvermittelt einen kleinen Schritt zurückmachte, ehe er sich wieder im Griff hatte. Selbst nachdem sich Derek schon das ein oder andere Mal davon hatte überzeugen können, dass der Mann ein guter Agent war, beschäftigte ihn immer wieder die Frage, wie dieser Idiot es nur über Quantico hinausgeschafft und so lange überlebt hatte.

„Er hat mich nicht bedrängt.“ Patricia sah ihn an. „Er hat mich nur daran erinnert, wann etwas ein Risiko wert ist.“ Okay, ganz so war es nicht gewesen, aber es kam der Wahrheit doch recht nahe. „Ich wurde gerade suspendiert, weil ich ihm verraten habe, dass man Leos Leiche gefunden hat.“

„Was?!“

„Es war unser Recht es zu erfahren!“, grollte Derek umgehend.

Rubber gab seine bisherige Haltung auf und blickte zu Patricia. „Leo Matthews ist tot?“ Und dann wieder zu Derek. „Oh Mann, mein aufrichtiges Beileid.“ Voller Mitgefühl legte er ihm die Hand auf die Schulter. „Es ist hart, einen Kollegen oder ein Teammitglied zu verlieren. Gerade in Ihrem Team stehen Sie sich ja besonders nahe.“

Derek war so perplex, dass er eine Sekunde brauchte, um zu antworten. „Danke. Ja, so wirklich begriffen haben wir es wohl noch nicht. Aber so viel ist schon mal sicher: Wir kriegen seinen Mörder!“

Rubber nickte verständnisvoll. „Wenn Sie Unterstützung brauchen, melden Sie sich.“

Es überraschte Derek gewaltig, ausgerechnet von diesem Agent Hilfe angeboten zu bekommen. Wenn es einen gab, mit dem sie schon mehr als einmal so richtig aneinandergeraten waren, dann war das Rubber. Dementsprechend frostig war der Umgang miteinander, wann immer sie aufeinandertrafen. Daran änderte auch die Tatsache nichts, dass er sich damals bei Trishas Entführung beinahe nett verhalten hatte. „Ich weiß Ihr Angebot wirklich zu schätzen, aber danke, nein danke. Es reicht schon, dass Patricia deshalb suspendiert wurde.“

„Ich kann Sie nicht zwingen und werde mich auch nicht aufdrängen. Sollten Sie es sich anders überlegen, wissen Sie, wo Sie mich finden.“ Derek akzeptierte den angebotenen Handschlag, und Rubber verabschiedete sich.

Derek tat es ihm nur einen Moment später Patricia gegenüber gleich – nicht ohne ihr noch mal eine Fortsetzung des Gesprächs bezüglich der gestohlenen Daten anzudrohen und sie zum Teammeeting einzuladen – und machte sich auf den Weg. Nicht zuletzt wegen des Sticks, der ihm ein Loch in die Tasche zu brennen schien, wollte er das FBI-Gebäude endlich verlassen.

Kapitel 3

Derek war froh darüber, pünktlich genug im Büro zu sein, um noch etwas Zeit für sich zu haben. Das Team hatte er erst für in anderthalb Stunden herbestellt. Der einzige, der schon etwas früher kommen würde, war Shawn. Einer kurzen Nachricht nach zu urteilen hatten die anderen ihm bereits gesagt, was zu dem abrupten Abbruch der Party geführt hatte. Seine Frage, ob er irgendwie helfen könnte, hatte Derek umgehend mit einem JA! beantwortet. Shawn sei schließlich ein Teil des Teams und seine Mitarbeit somit mehr als nur erwünscht, hatte er hinzugefügt. Es war ihm wichtig, dem jungen Mann nicht das Gefühl zu geben, dass er nur deshalb seinen Platz behalten sollte – sofern er denn wollte und daran zweifelte Derek nicht –, weil Kid tot war und sie so nun keinen Computerexperten mehr hatten.

Prompt überkam Derek eine Spur schlechten Gewissens. So albern es auch war, denn der Kleine würde es nicht nur verstehen, sondern auch nicht anders wollen, fühlte er sich plötzlich schlecht, weil es bereits Ersatz für ihn gab. Das unangenehme Prickeln, das in seinem Nacken begonnen hatte, wurde zu einem Flächenbrand, der sich in seinem ganzen Körper ausbreitete und ihn von seinem Platz trieb. Es bedurfte keiner übermäßigen Bewegung, um das wieder zu vertreiben, die wenigen Schritte bis zu dem Fenster reichten schon aus.

Auf der anderen Seite des Glases ging alles seinen gewohnten Gang. Bei herrlichstem Sonnenschein und strahlendblauem Himmel flanierten Touristen an der Promenade entlang, und Einheimische eilten ihrem nächsten Ziel entgegen. Das Wort, das diese Szenerie trotz des regen Treibens einer Touristenhochburg am ehesten beschrieb, war Normalität. Kaum zu glauben, aber es war gerademal zwölf Stunden her, dass auch in ihrem Leben Normalität geherrscht hatte. Was würde er dafür geben, wieder an diesen Punkt zurückkehren zu können. Oder besser an einen noch früheren, um Kid zu retten. Doch so funktionierte das leider nicht. Das einzige, was sie tun konnten, war, Leos Mörder zu finden und ihn seiner gerechten Strafe zuzuführen.

Gerade, als er begann, sich diese gerechte Strafe auszumalen, hörte er hinter sich ein Geräusch.

„Hey, Mann“, grüßte Shawn. Er hielt die Hand hoch und zog Derek für einen Moment freundschaftlich an seine Brust, als der einschlug. „Wie geht’s dir?“

„Muss, wa’?“, zitierte er Frogs Lieblingsausdruck. Shawn kannte den Mann lange genug, um den deutschen Satz mindestens tausendmal gehört zu haben. Und seinem Blick nach zu urteilen verstand er auch die Bedeutung.

Derek dankte dem jungen Hacker im Stillen dafür, dass er nur kurz ansprach, wie entsetzt er über die Nachricht gewesen und wie wichtig es ihm sei, dem Team bei der Suche nach Leos Mörder behilflich zu sein. Die zurückhaltende Art, mit der er betonte, dass er das für Leo tun wolle – einfach, weil er ein Teil dieses Teams sei und er sich ihm irgendwie verbunden fühlte, auch wenn er ihm nie begegnet war –, ließ Derek ihm ohne den geringsten Zweifel glauben. Shawn wollte das nicht, weil er sich etwas davon versprach. Er wollte es einfach und simpel, weil er ein guter Mensch war.

Ja, wenn schon jemand Kid ersetzen soll, dann haben wir mit dir genau den Richtigen. Mit diesem Gedanken, der ihm fast so etwas wie Trost spendete, wo vorhin noch schlechtes Gewissen geherrscht hatte, führte Derek Shawn zum Computerraum. An der Tür stockte er. Shawn tat es ihm gleich. Nicht, weil Derek ihn womöglich einfach nur am Weitergehen gehindert hätte. Dieser stand noch einige Schritte hinter ihm und sah aus, als habe er Zahnschmerzen. Es behagte ihnen beiden gerade nicht, in Leos Reich zu arbeiten. Kurzerhand entschlossen sie sich dazu, zurück in Dereks Büro zu gehen. Fürs Erste würden der Drucker, sein Rechner und Shawns Laptop ausreichen.

Fünfzehn Minuten später hatten sie einen ersten Blick auf die Dateien werfen können, die Patricia ihnen beschafft hatte. Ein Großteil gab nicht viel mehr her als das, was sie ihm gestern Abend schon erzählt hatte. Kid hatte den Auftrag, Beweise dafür zu finden, dass ein gewisser Albert Flintrop, Im- und Exporteur und Händler traditioneller Möbel aus diversen Ländern, mit Geldwäsche und Bestechung zu tun hatte. Dabei ging es allerdings nicht um die Zahlungen, die geleistet wurden, damit man seine Ware durch und seine Mitarbeiter am Leben ließ. Die Möbel, die er verkaufte, wurden in Afrika, Südamerika und anderen Ländern hergestellt, in denen es immer wieder Probleme mit Guerillas, Rebellen und anderen mitunter gefährlichen Gruppierungen gab. Bestechungsgelder zu zahlen, war in diesen Gegenden an der Tagesordnung. Selbst bei den offiziellen Stellen – egal, ob nun als Zahler oder als Kassierer. Nichtsdestotrotz genoss er einen guten Ruf, da er die Möbel von Einheimischen herstellen ließ, die mit den fairen Bezahlungen auf amerikanischem Niveau ihre Familien ernähren und ihre Dörfer unterstützen konnten. Derek knirschte mit den Zähnen. Sollten sie schon wieder auf jemanden gestoßen sein, der sich unter dem Deckmäntelchen, Gutes zu tun, ohne Rücksicht auf Verluste bereicherte? Seit sie Normack zur Strecke gebracht hatten, waren sie noch auf zwei weitere gestoßen. Ein edler Samariter, der die Besucher einer Armenküche nach Kriegsveteranen durchforstete, um diese dann zu töten, und der Leiter einer Klinik für Unterprivilegierte, der seine Patienten für Medikamententests missbrauchte. Vielleicht war Derek gerade etwas zart besaitet, doch er wünschte sich so sehr, dass das alles endlich mal ein Ende haben würde. Ob sich das nur auf die Boshaftigkeit und Gier der Menschen bezog, die die Ärmsten der Armen skrupellos unter ihren Taten leiden ließen, oder darauf, dass er nicht mehr ständig gegen sowas kämpfen wollte, konnte er nicht mit Bestimmtheit sagen. Seltsamerweise erschreckte ihn der Gedanke, dass Letzteres möglich wäre, nicht mal. Er war alldem so unglaublich müde.

Mit einem Seufzer machte sich Derek daran, die nächsten Dateien und Dokumente zu prüfen. Darunter befand sich auch der Mitschnitt eines Gesprächs, das Leo mit seinem Kontaktmann – einem gewissen Agent Choring, wie Derek inzwischen aus den Unterlagen wusste – geführt hatte. Darin ging es darum, dass er möglicherweise etwas entdeckt hatte. Choring hatte ihn gebeten, mehr herauszufinden, und ihm zugesichert, dass sie sich in den nächsten Tagen treffen könnten. Dazu war es wohl nur nie gekommen. Dementsprechend fehlte auch ein Hinweis darauf, worum es sich bei Kids Entdeckung handelte. Obwohl es ihn bis tief in seine Seele schmerzte, die Stimme seines Freundes zu hören, spielte Derek den letzten Teil des Mitschnitts ganze dreimal ab. Irgendetwas daran, wie Leo sich verabschiedet hatte, irritierte ihn. Nein, es ging weniger darum, wie er es tat, als vielmehr darum, was er sagte.

Ich wäre wirklich dafür, dass Sie die aus der Asche holen.

„Was könnte das heißen?“, fragte Shawn.

„Ich weiß es nicht, auch wenn da irgendwas klingeln will“, murmelte Derek geistesabwesend.

„Was? Nein, ich meine das hier.“

Als Derek sich vorbeugte, um einen Blick auf den Monitor zu werfen, deutete Shawn auf eine Stelle in einer E-Mail von Kid an Patricia. Was er schrieb, klang so, als würde er seiner Schwester schreiben. Er fragte nach, was Dad machte, erkundigte sich nach den Vögeln und erzählte von seiner Arbeit. Wobei er natürlich nur die offizielle Version zur Sprache brachte. Auch mutmaßte er, dass er möglicherweise demnächst befördert werden würde. So weit war sein Code leicht zu knacken. Zweifellos wollte er wissen, ob das FBI vorankam und wie es seinem Team ging. Und er berichtete Patricia, dass es wohl in Kürze endlich soweit sein könnte, dass er mehr in die illegalen Geschäfte eingebunden werden sollte. Nur einen Satz verstand Derek ebenso wenig wie Shawn. Kid schrieb, sollte etwas dazwischenkommen und er könne es nicht selbst tun, solle sie seinen Engel abholen. Derek machte sich eine Notiz, Patricia diesbezüglich gleich auszufragen, und während er so schrieb und die Übersetzung der Mail Revue passieren ließ, fiel ihm auch die Lösung zu dem anderen Rätsel ein.

Ich wäre wirklich dafür, dass Sie die aus der Asche holen.

Sie waren die aus der Asche! Sie waren Phoenix – der Vogel, der aus der Asche stieg.

Leo hatte darum gebeten, das Team dazu zu holen!

Derek fluchte ungehalten. Dieser Agent Choring würde ihm schon in Kürze sehr genau erklären müssen, warum er Leos Bitte nicht nachgekommen war.

Wie nicht anders zu erwarten schaute Derek wenig später in müde, bekümmerte Gesichter. Keiner seiner Freunde hatte in der letzten Nacht ein Auge zugetan. Mic betrachtete er ein wenig länger als die anderen. Leider offensichtlich nicht ganz so unauffällig wie gewollt. Der Teamarzt erwiderte seinen Blick entnervt und begab sich zur Kaffeemaschine. Dass er damit nur aus Dereks Fokus gelangen wollte, war klar. Während sich die Glaskanne füllte, standen bereits zwei volle auf dem Tisch. Derek wäre allerdings weder ein guter Teamleader noch ein guter Freund gewesen, wenn er es auf sich hätte beruhen lassen. So ging er ihm hinterher und hielt seine eigene Tasse neben Mics.

„Wie geht’s dir?“

Mic stand zwar zu seinem Alkoholproblem, doch er mochte es absolut nicht, immer mal wieder deswegen ins Zentrum des Interesses zu geraten. Dementsprechend überraschte ihn Mics Reaktion.

Gegen den Hängeschrank gestützt sage er vollkommen ehrlich: „Beschissen. Lange hatte ich nicht mehr so ein Verlangen nach einem Drink. Oder vielmehr einem Dutzend.“ Er drehte den Kopf ein wenig zur Seite. „Wenn ihr nichts dagegen habt und mich nach der Besprechung für zwei Stunden entbehren könnt, gehe ich zu einem Meeting. In der St. Paul’s finden auch tagsüber welche statt.“

Als würde Derek ihm das verwehren. Mic spräche nicht so offen darüber und bäte nicht gerade jetzt um die freie Zeit, wenn er nicht extrem kurz vor einem Rückfall stünde.

„Ja, klar. Wir wissen, dass Leo für dich wesentlich mehr war als nur ein Freund. Wenn du hinmusst, um das zu schaffen, verschwinde einfach.“ Derek packte Mic bei der Schulter und drehte ihn zu sich herum. „Aber Bro, wenn irgendwas ist, dann rufst du an! Ob nun mich oder einen der anderen, ist mir egal. Hauptsache, du machst das nicht mit dir allein aus.“ Vor einiger Zeit schon hatte Mic ihm anvertraut, dass er ungern Anna mit diesem Problem belastete. Die habe nämlich ein schrecklich schlechtes Gewissen, weil er in diese Sucht gerutscht war, nachdem ihr Vater seine Frau und seine ungeborene Tochter ermordet hatte. Dass das total irrational und bescheuert sei, sei ihr durchaus klar, doch sie könne es einfach nicht abstellen. Mic wusste, dass sie nichtsdestotrotz – oder auch gerade deshalb – jederzeit für ihn da wäre. Derek hatte von dem, was diesbezüglich in Anna vorging, zu diesem Zeitpunkt bereits gewusst. Und er hatte immer wieder beobachten können, wie die beiden in gutgemeinter aber überflüssiger gegenseitiger Rücksichtnahme auf ihre Freunde auswichen, wenn irgendwas war. Die beiden waren zwei echte Unikate und passten doch so perfekt zusammen. Derek war froh, dass Mic Anna an seiner Seite hatte.

„Ich gebe dir mein Wort.“

Damit beließen sie es fürs Erste bei dem Thema und kehrten zu den anderen zurück.

Bevor Derek sein Team aufs Laufende brachte, wandte er sich noch an Sunny. Er wollte unbedingt wissen, wie es Grace ging. Glücklicherweise konnte der Ire Entwarnung geben. Grace ginge es wieder relativ gut, nachdem sie den ersten Schock überwunden und sich etwas ausgeruht hatte. Nun war sie zusammen mit Trisha bei Cooper zu Hause und wurde von den anderen Frauen bewacht und bemuttert. Auch Bastien hatte sich dort eingefunden, hielt sich aber die meiste Zeit im Hintergrund. Er war laut Coop nur deshalb ebenfalls zu ihnen gekommen, weil Anna ihn unter Tränen darum gebeten hatte. Sie machte sich große Sorgen um ihren besten Freund und wollte ihn deshalb im Auge behalten. Derek fand gut, dass sie ihn mit einbezogen. Die Nachricht hatte ihn schwer getroffen, was niemanden wunderte. So lange hatte er darum gebetet und darauf gewartet, dass Leo seine Gefühle erwiderte, und als es endlich soweit gewesen war und er einer glücklichen Zukunft mit seiner großen Liebe entgegenfieberte, hatte er sie verloren.

Derek sah auf die Uhr und beschloss dann, das Meeting zu starten. Patricia hatte eigentlich längst hier sein wollen, doch er konnte nicht noch länger auf sie warten. Sein Team brannte darauf, endlich alles zu erfahren und mit den Ermittlungen zu beginnen. Wie es wohl darauf reagieren würde, dass die Agentin daran beteiligt sein sollte?

Er wollte gerade beginnen, als die Tür aufging und Patricia hereinkam. Okay, die Antwort auf seine Frage würde er ganz offensichtlich jeden Moment bekommen.

Wieder einmal stand sie neben ihrem Alfa Romeo und blickte auf das Gebäude, in das sie gehen wollte – und sollte, wie Derek ihr klar zu verstehen gegeben hatte. Nachdem das schon das zweite Mal binnen vierundzwanzig Stunden war, schien es wohl so etwas wie eine Gewohnheit zu werden. Im Gegensatz zu gestern Abend konnte sie jetzt allerdings nicht ewig darauf warten, dass die Nervosität, und ja, auch dieser Funken Angst, verschwanden. Dass Derek auf ihrer Seite war, hatte er bereits bewiesen. Doch sie bezweifelte stark, dass der Rest des Teams auch so positiv auf ihre Mithilfe reagieren würde. Genaugenommen ging sie sogar davon aus, dass selbst Derek seine Meinung zumindest überdenken würde, sobald er alles wusste. Doch dieses Risiko musste Patricia eingehen. Das war sie ihnen schuldig. Mal abgesehen davon; seit wann war sie eigentlich so ein Hasenfuß?

Patricia überquerte den kleinen Parkplatz, holte ein letztes Mal tief Luft und zog die Tür auf. Natürlich hatte sie damit umgehend sämtliche Aufmerksamkeit auf sich gezogen. Die kühle Luft, die sie in dem Büro der P.I.D. umfing, wurde gefühlt gleich noch mal um etliche Grade kälter, als die Männer erkannten, wer da ihr Meeting störte.

„Patricia, Sie kommen gerade rechtzeitig. Wir wollten in diesem Moment anfangen“, empfing Derek sie, noch ehe einer der anderen etwas sagen konnte, und erntete dafür mitunter fassungslose Blicke.

Patricia kam gerade mal dazu, in die Runde zu nicken, als Cooper seinen Unmut auch schon deutlich machte.

„Was will die denn hier? Das FBI hat hier nichts zu suchen!“

Er bekam umgehend Bestätigung von den anderen Männern. „Nichts für Ungut, Lady“, schaltete O’Neill sich ein, „aber Ihr Haufen hat die Sache vermasselt. Wir können also gut auf Ihre Hilfe verzichten!“

„Ja, genau. Derek, mal ehrlich, die will doch nur sehen, was wir haben, um dann alles zu vertuschen, was ihren Laden in Verruf bringen könnte“, ergänzte Karsten Fischer und verschränkte die Arme vor der Brust.

Patricia stand nur da und ließ all das auf sich einprasseln. Sie war in den meisten Fällen dankbar für ihre Schlagfertigkeit. Doch hier kam ihr kein Kommentar über die Lippen.

Derek hatte da weniger Probleme. „Es reicht!“ Er lief um den Tisch herum und stellte sich demonstrativ neben sie. So nah, dass er ihren Arm berührte. „Ohne Patricia wüssten wir noch gar nicht, was mit Leo passiert ist! Sie hat es getan, obwohl sie sich einer Suspendierung sicher sein konnte. Die sie heute Morgen auch prompt kassiert hat. Und sie ist noch wei…“ Er sah zu ihr runter. „Kann ich es ihnen sagen?“, fragte er in einem wesentlich ruhigeren Ton als jenem, den er noch Sekunden zuvor angeschlagen hatte.

Irritiert erwiderte sie seinen Blick. Sie ahnte, dass er nun den Stick ansprechen wollte. Ob er das dürfe, wollte er von ihr wissen? Was war das für eine Frage? „Ja, natürlich.“

„Patricia hat uns alle Informationen besorgt, die das FBI über den Fall besitzt, an dem Leo gearbeitet hat. Und das sind nicht nur die offiziellen, wenn ich das nach der ersten Sichtung richtig beurteilen kann. Ich denke, ich muss euch nicht extra erklären, welches Risiko sie damit eingegangen ist, streng vertrauliche Dokumente über laufende Undercovereinsätze zu kopieren. Ganz zu schweigen davon, diese auch noch aus dem Gebäude zu schaffen.“

Patricia beobachtete die vier Männer genau, die zum ursprünglichen Team gehörten. Sie wollte keine Regung verpassen. Leicht war das nicht. Sie wusste schon aus der Vergangenheit, dass sich jeder einzelne von ihnen hervorragend darauf verstand, sein Gegenüber nur das sehen zu lassen, was er zu offenbaren bereit war. So auch jetzt. Fischer und O’Neill funkelten sie weiterhin mit einem fast identischen Ausdruck an, der irgendwo zwischen wütend und hasserfüllt einzustufen war. Cooper hatte den Blick von ihr abgewandt und starrte auf seine Tasse, als fände er darin Wahrheit und Weisheit. Am auffälligsten war jedoch das Mienenspiel von Mic Thorne. Er schien sich nicht ganz entscheiden zu können, ob er weiterhin wütend oder eher erleichtert und vielleicht sogar dankbar und voller Respekt sein sollte. Zweifellos gab er dem FBI nach wie vor die Schuld an Leos Tod.

„Sie hat dich die Sachen rausbringen lassen?!“ Cooper schnaufte verächtlich. „Sehr clever. Hätte man die Dateien bei dir gefunden, wärst du postwendend im Bau gelandet! Sie hätte bei ihrer tadellosen Akte vermutlich nur ihren Job verloren und vielleicht noch einen Klaps auf die Finger bekommen. Willst du uns verarschen? Sie und ihr feiner Verein sind schuld an Leos Tod. Und dann geht was schief und sie versucht, die Wogen etwas zu glätten, indem sie uns den Kram gibt. Was anderes ist es doch nicht!“ Er sprang von seinem Stuhl auf und trat mit ausladenden Schritten um den Tisch herum. Vor ihnen, jedoch mit einem kleinen Sicherheitsabstand, blieb er stehen. „Hast du uns nicht selbst gesagt, dass Patricia“, er spie ihren Namen aus, als sei er etwas Pelziges auf seiner Zunge, dass er loswerden wollte. „ein Auge auf Kid haben und auf ihn aufpassen wird?! – Da haben Sie ja richtig gute Arbeit geleistet. Dafür verdienen Sie echt einen Orden!“

„Cooper, ich sagte, es reicht.“

„Derek hat recht, lass es gut sein.“ Thorne sah dabei allein Patricia an. „Welchen Grund sie auch immer dafür gehabt haben mochte, uns diese Informationen zukommen zu lassen, sie hat mehr als ihren Job aufs Spiel gesetzt.“

Aus dem Augenwinkel heraus sah sie, wie sich Derek ihr zuwandte. „Was meint er damit?“ Sie senkte den Blick. Verspürte sie gerade ernsthaft so etwas wie schlechtes Gewissen ihm gegenüber, weil sie ihn schon vorhin im Büro nicht korrigiert hatte? Derek zog sie am Arm herum. „Was meint Mic damit, dass mehr als Ihr Job in Gefahr sei?“

„Gar nichts, okay!“, blaffte sie in einem Ton, den sie sich vermutlich gerade nicht unbedingt herausnehmen sollte – und den Derek auch nicht verdient hatte. Mit einem Ruck entzog sie sich ihm und richtete sich an das Team. „Ihr habt das Recht, sauer auf mich zu sein. Ja, ich habe versagt. Nicht nur, als ich mich nicht mehr dafür eingesetzt habe, Leos Bitte an die zuständigen Agents durchzusetzen und euch dazu zu holen. Auch als er in Gefahr geriet, war ich nicht da, um das und Schlimmeres zu verhindern. Ich war es Leo also einfach schuldig, euch zu informieren. Und ich bin es ihm schuldig, alles dafür zu tun, dass sein Mörder gefunden wird. Wenn das bedeutet, dass ich meinen Job verliere, dann ist es eben so!“ Sie senkte die Stimme wieder. Schuld und Erschöpfung machten sich in ihr breit und nahmen ihr von einer Sekunde auf die nächste vorübergehend ihre Kampfbereitschaft in dieser Angelegenheit. „Ich will euch wirklich helfen, aber wenn ihr so dagegen seid, dann verstehe ich das natürlich. Die hier konnte ich noch beschaffen. Ich hoffe, sie helfen euch weiter.“

Patricia schüttelte resigniert den Kopf und lief dann auf die Tür zu. Als sie Derek passierte, lächelte sie ihm ermutigend zu. „Ich bin mir sicher, ihr kriegt das Schwein.“

Sie spürte seinen Blick auf ihrem Rücken, als sie das Gebäude verließ, und war dankbar, dass er sie nicht aufhielt. Beim Auto angekommen fuhr Patricia nicht gleich los. Viel zu aufgewühlt, um sich gleich auf den Verkehr zu konzentrieren, brauchte sie erst einen Moment, um sich wieder zu fangen. Im Stillen dankte sie dem Fahrer des Kleintransporters, der nun neben ihrem Fahrzeug parkte, dafür, dass er genau diesen Platz gewählt hatte. So würde man nicht gleich sehen, wie sie heulend auf ihrem Sitz kauerte. Noch so etwas, was sich zu einem Muster zu entwickeln schien. Patricia vergrub ihr Gesicht in den Händen und ließ ihren Gefühlen freien Lauf.

„Wow, allzu ernst kann es ihr ja mit ihrem Angebot, uns zu unterstützen, nicht gewesen sein“, murrte Frog, nachdem die Tür hinter Patricia zugefallen war.

Sunny schnaufte zustimmend. „Ja. Von wegen, eine Schuld begleichen.“

Derek nahm zunächst zähneknirschend aber schweigend hin, wie sich seine Freunde über Patricias angebliche Ambitionen das Maul zerrissen. Er war viel zu sehr mit dem Verhalten der Agentin beschäftigt. Dass sie so schnell aufgegeben und regelrecht die Flucht ergriffen hatte, nachdem sie so erpicht darauf gewesen war, an den Ermittlungen teilzunehmen, war seltsam. Sicher, sie hatte einstecken müssen, aber das war nicht unbedingt überraschend. Dass es so kommen würde, ehe sie an die Arbeit gehen konnte, war der Agentin zweifellos klar gewesen. Allerdings hatte er Patricia immer als eine Frau kennengelernt, die sich nicht so einfach die Butter vom Brot nehmen ließ. Sie wusste sich durchzusetzen und zu wehren, wenn es drauf ankam. Warum also hier und jetzt diese jähe Kehrtwende?

„Mic, rückst du jetzt vielleicht mal damit heraus, was du da vorhin gemeint hast? Die Sache mit dem Risiko, und dass es weit mehr als das war.“

Der Teamarzt schaute auf. „Das fragst du allen Ernstes? Schon unter normalen Umständen ist das, was sie gemacht hat, alles andere als ein Kavaliersdelikt.“

„So schlimm wird es schon nicht werden. Sie würde kaum mehr als eine Suspendierung riskieren. Und suspendiert wurde sie ja schon“, meldete sich Cooper zu Wort. Derek nickte bestätigend. Ihm ging es allerdings nicht viel anders, als seinem Freund, dessen Gesichtsausdruck nach zu urteilen bei dem Kommentar eher der Wunsch der Vater des Gedankens war.

Schnaufend ließ Mic den Löffel, den er gerade mit Zucker gefüllt hatte, in seine Tasse fallen und stand auf. „Mann, Leute, rafft ihr das nicht?! Dafür bekommt sie nicht nur ein paar auf die Finger oder verliert vielleicht auch ihre Marke. Perkins steht praktisch schon mit anderthalb Füßen im Knast!“

„Du verarschst uns doch?“ Sunny sah den Teamarzt ungläubig an.

„Was glaubst du?“

Sofort sprachen alle wild durcheinander, fluchten und diskutierten über diese Information – auch wenn es da eigentlich nicht viel zu diskutieren gab. Jedem von ihnen war schlagartig klar, wie undankbar der Angriff auf Patricia gewesen war. Derek ballte die Hände immer wieder zu Fäusten, verärgert darüber, dass sie … nein, dass vor allem er so naiv gewesen war? Das war doch sonst nicht der Fall. Natürlich, Patricia hatte, um ihnen zu helfen und so einen Teil ihrer wie auch immer gelagerten Schuld zu begleichen, gegen das Gesetz verstoßen. Darüber war er sich auch vorher schon im Klaren gewesen. Welches Ausmaß das allerdings annehmen könnte, darüber hatte er kaum mehr als zwei Gedanken verschwendet. Verschwenden wollen, wenn er ehrlich zu sich selbst war. Daran, dass sie diese Informationen unbedingt gebraucht hatten, war ja schließlich ebenso wenig zu rütteln, wie an der Meinung, dass es auch völlig gerechtfertigt war, nachdem das FBI so versagt hatte.

Derek stieß einen grollenden Fluch aus und eilte zur Tür.

„Wo willst du hin?“, erkundigte sich Sunny.

„Ich hole sie jetzt zurück!“ Alles Weitere würde er, sofern noch nötig, später mit seinem Team klären.

Das Sonnenlicht blendete ihn im ersten Moment, doch schon im zweiten stellte Derek fest, dass er keine Sekunde später hätte loslaufen dürfen. Patricia setzte gerade aus der Parklücke und lenkte den Wagen in seine Richtung, um zur Straße zu kommen. Derek begann zu winken, als wäre mehr als nur ein Handheben notwendig, um sie auf ihn, einen knapp zwei Meter großen Mann mit Wrestlerstatur, aufmerksam zu machen. Und Patricia sah ihn, daran hatte er keinen Zweifel. Ebenso wenig daran, dass sie ohne ein wenig Überredungskunst nicht anhalten würde. Viel zu starr hielt sie den hinter einer Sonnenbrille verborgenen Blick nach vorne gerichtet. Deshalb trat er vor und stellte sich ihrem Alfa einfach in den Weg. Ausweichen konnte sie nicht, was bedeutete: Wollte sie weiter, müsste sie ihn überfahren.

Derek konnte sich der Frage nicht erwehren, wie sehr es die Frau wohl in den Fingern gejuckt hatte, nicht abzubremsen, während sie das Auto nur Zentimeter vor ihm zum Stehen brachte.

Patricia ließ das Fenster herunter, doch Derek blieb, wo er war, und stützte die Hände auf die Motorhaube.

„Wenn Sie mir Beulen reinmachen, schicke ich Ihnen die Rechnung, darauf können Sie sich verlassen!“

Er ignorierte ihr verdrießliches Gebrumme. „Bitte kommen Sie wieder mit rein.“

„Nein. Ich habe gesagt, ich akzeptiere die Entscheidung des Teams.“

Derek widerstand dem Drang, die Augen zu verdrehen. „Es ist doch noch gar nichts entschieden worden. Dazu haben Sie den Männern gar keine Gelegenheit gelassen.“

Patricia presste die Lippen aufeinander. Er wünschte, sie würde die Sonnenbrille abnehmen. Ein Blick in ihre Augen wäre hilfreich, wenn es darum ging, ihre momentane Verfassung einschätzen zu können. Bereits gestern Abend war ihm nicht entgangen, wie nah ihr die Sache mit Leo ging, dazu die mehrfachen Anführungen, dass es eine Schuld zu begleichen gäbe, und die regelrechte Flucht vorhin … Derek wollte unbedingt wissen, was los war. Dass dem aber nicht nur deshalb so war, weil es für den Fall wichtig sein könnte, sondern auch, weil er sich wünschte, ihr irgendwie helfen zu können, überraschte niemanden mehr als ihn.

„Ach, kommen Sie, Derek. Ich bin da drinnen so wenig willkommen wie Trump in Mexiko. Oder sogar noch weniger. Aber ich kann es ja verstehen, weshalb …“

„Kann ich einsteigen?“, unterbrach er die Frau schnell, sich ein Grinsen wegen des Vergleichs verkneifend. Patricia nickte nach einem kurzen Zögern. „Und Sie fahren auch nicht weg, sobald ich zur Seite trete?“

Tatsächlich entlockte ihr das ein kurzes Schmunzeln. „Nein, werde ich nicht.“ Um zu zeigen, dass sie es ernst meinte, stellte sie den Motor ab.

Minutenlang gab sich Derek redlich Mühe, Patricia zum Bleiben zu bewegen. Zunächst hatte er damit nur mäßigen Erfolg, was er zweifellos auch selbst bemerkte. Doch nach und nach bröckelte ihr Widerstand – was ihm ebenfalls nicht entging. Mit einer Geduld, die sie ihm ehrlich gesagt nicht unbedingt zugetraut hätte, setzte er den metaphorischen Hebel genau an diesen Rissen an. Es hatte sie wirklich überrascht, als Derek plötzlich vor dem Büro erschienen war und ihr zu gewunken hatte. Kurz hatte sie überlegt, ob er die ganze Zeit am Fenster gestanden und nur darauf gewartet hatte, dass sie losfuhr. Da er jedoch im selben Augenblick herausgetreten war, in dem sie aus der Parklücke gesetzt hatte, bezweifelte sie das. Der Winkel zum Büro und der Transporter machten das praktisch unmöglich. Während des kurzen Momentes zwischen Entdecken und nur Zentimeter vor seinen Schienbeinen stoppen waren ihr Kameras in den Sinn gekommen. Dann jedoch hatte sie auch das gleich wieder verworfen. Derek hatte viel zu erleichtert gewirkt, als dass er vorher schon gewusst hätte, dass sie noch da war.

Als Patricia sich schließlich bereiterklärte, wieder mit hineinzugehen, war er sichtlich zufrieden mit ihrer Kapitulation. Überraschenderweise stieg er nicht gleich aus, sondern meinte nach einigen in Schweigen verbrachten Sekunden: „Sie wussten um die Konsequenzen, die das Kopieren der Dokumente und Ermittlungsberichte höchstwahrscheinlich mit sich bringen wird. Warum haben Sie es dennoch getan?“

Patricia war klar, dass Thorne Derek die Frage nach den Folgen inzwischen beantwortet hatte. Und nachdem sie regelrecht schuldbewusst reagiert hatte, wäre jegliches Dummstellen zwecklos. Es blieb also nur die Wahrheit übrig. Aber wie viel könnte sie offenbaren, wenn allein die Erinnerung an die betreffende Zeit einen pochenden und fast schon körperlich spürbaren Schmerz tief in ihrem Inneren verursachte?

„Würde es Ihnen für den Moment reichen, wenn ich sage, dass ich darauf vertraue, dass ich nicht ins Gefängnis komme?“, fragte Patricia so ehrlich, wie es ihr möglich war.

Sie wusste nicht, was Derek in ihren Augen las – nicht zum ersten Mal wünschte sie, sie hätte die Sonnenbrille nicht abgesetzt –, doch die senkrechte Falte, die sich zwischen seinen blauen Augen bildete, ließ sie ihre Frage bereuen.

Derek jedoch überraschte sie. „Ja, für den Moment, aber lange lasse ich Sie damit nicht mehr durchkommen.“

Sie nickte dankbar. „Damit kann ich wohl leben.“

Kapitel 4

Den Männern erneut gegenüberzutreten war sogar fast noch schwieriger als beim ersten Mal. Die Erinnerung an die letzten Momente des Gesprächsversuchs hätte sie beinahe kneifen lassen. Nur ihre Sturheit hatte letztendlich dafür gesorgt, dass sie sich dem, was drinnen auf sie wartete, zu stellen bereit gewesen war. Zu ihrer Erleichterung war es dann gar nicht so schlimm gewesen. Ob Derek ein Machtwort gesprochen oder sich sein Team von sich aus dazu entschlossen hatte, von der vorherigen Feindseligkeit war kaum noch etwas zu spüren gewesen. So saßen sie bald gemeinsam am Tisch und besprachen die Hintergründe zu dem Fall, der zu dem Tod ihres Freundes und Teammitglieds geführt hatte.

Patricia fasste zusammen, was sie wusste. Sie kannte die Akte beinahe auswendig. „Der Mann, der im Zentrum der Ermittlungen steht, heißt Albert Flintrop. Er gründete bereits in recht jungen Jahren ein Einrichtungshaus, mit dem er schnell Erfolg hatte. Die Möbel, die er verkaufte, wurden immer exquisiter. Ende der Neunziger fand er seine Nische im Handel mit traditionellen Möbeln aus Afrika und Südamerika. Handmade, authentic & fairtrade wurden dabei sein Markenzeichen. Das war auch ungefähr der Zeitpunkt, an dem zum Handel auch Im- und Export dazu kam.“

„Lassen Sie raten. Dadurch geriet er in den Fokus der Behörden?“, mutmaßte Shawn und sah sie erwartungsvoll an.

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P.I.D.