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Planlos ins Glück

hier erhältlich:

Kühl, effizient und konservativ gibt sich die Leiterin des Architekturbüros. Aber Jane Morgan hat auch eine andere Seite. Niemand weiß von ihrer wilden Vergangenheit und der Tatsache, dass sie aus einer ziemlich durchgeknallten Familie stammt. Doch als Chase in Janes Leben tritt, bekommt die sorgsam errichtete Fassade Risse. Denn Chase ist ein Mann wie Dynamit, groß, muskulös, tätowiert - ganz nach Janes Geschmack. Nur leider nichts für ihr perfektes Leben, in dem der Platz an ihrer Seite für einen seriösen Anwalt oder Arzt reserviert ist. Aber gegen eine heiße Nacht mit Chase spricht ja nichts, solange es bei einer einzigen bleibt...


  • Erscheinungstag: 10.07.2013
  • Seitenanzahl: 416
  • ISBN/Artikelnummer: 9783862787883
  • E-Book Format: ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

1. KAPITEL

Jane Morgan starrte den Mann an, der ihr am Tisch gegenübersaß. Die Mittagsgäste im angesagtesten Restaurant von Aspen waren ein ziemlich ruhiger Haufen. Hier gab es nichts, was Jane von Greg Nunn hätte ablenken können.

Sie beobachtete, wie sein Kiefer sich beim Kauen bewegte, genauso wie bei jedem anderen Menschen auch. Es war ja nicht so, dass er schlechte Manieren gehabt hätte! Keine Essensreste, die ihm am Kinn klebten, keine Bröckchen, die ihm aus dem Mund fielen. Er aß einfach ganz normal, wie jeder Erwachsene, der ein bisschen Erziehung genossen hatte. Also warum in Gottes Namen empfand sie diesen Anflug von Übelkeit, als Greg schluckte und sich den Mund abwischte?

„Alles in Ordnung mit deinem Steak?“, fragte er. „Wirklich durch sieht es nicht aus.“

„Nein, nein, alles gut“, versicherte Jane und zwang sich, noch ein Stück Fleisch abzuschneiden und sich in den Mund zu schieben.

„Ich hab dir ja gesagt, du solltest lieber die Garnelen nehmen.“

Jane kaute tapfer und verkniff sich ein genervtes Stöhnen. In Wahrheit hatte er angemerkt, dass Garnelen besonders fettarm seien. Als hätte Jane es nötig abzunehmen. Das war eine neue Entwicklung. Vielleicht hatte Greg die Anspannung zwischen ihnen ja auch bemerkt.

Greg wandte seine Aufmerksamkeit wieder seinem Teller zu. Voll Grauen beobachtete Jane, wie ein weiterer Happen Lachs zwischen seinen mahlenden Kiefern verschwand. Sie senkte den Blick und würgte ihren Bissen Steak herunter.

Sie waren jetzt seit vier Monaten zusammen, schliefen aber erst seit ein paar Wochen miteinander. In Aspen war es gar nicht so leicht, einen geeigneten Beziehungskandidaten zu finden. Deswegen ließ Jane es in dieser Hinsicht lieber langsam angehen. Jetzt wünschte sie sich, sie hätte lieber noch ein bisschen länger gewartet.

Ehe sie miteinander geschlafen hatten, war Greg der perfekte Freund gewesen. Klug, aufmerksam und hin und wieder sogar richtig witzig … Er hatte es sogar geschafft, genau die richtige Mischung aus Geduld und Verzweiflung an den Tag zu legen, als er so lange darauf hatte warten müssen, mit ihr ins Bett zu dürfen. Doch jetzt, wo er mit ihr ins Bett durfte, wurde er von Tag zu Tag besitzergreifender. Schlief fast jede Nacht bei ihr. Bestand darauf, dass sie jede einzelne Dinnerparty besuchte, die sein aufmerksamkeitsbedürftiger Chef veranstaltete. Und nun bildete er sich offenbar auch noch ein, dass er Einfluss auf die Wahl ihres Mittagessens hatte. Jane kam es so vor, als würden die Wände sich auf sie zubewegen.

Natürlich war das albern. Sie träumte von einer Zukunft mit einem klugen, ambitionierten, erfolgreichen Mann, und Greg raste gerade auf der Überholspur in Richtung Ernennung zum Bezirksstaatsanwalt. Aber selbst seine vielversprechende Karriere ließ Jane leider nicht die Tatsache vergessen, dass er sich im Bett aufführte wie ein epileptisches Karnickel.

Greg trank einen Schluck Wasser. Jane quittierte das Geräusch, das er dabei machte, mit einem Stirnrunzeln. Wie kam ein Mann mit einem solchen IQ nur darauf, dass Frauen eine Vorliebe für hastigen, oberflächlichen Rammelsex hatten?

Sie hatte ja versucht, sich nicht daran festzubeißen. Wirklich! Schließlich konnte man einen Mann nicht alleine nach der Tiefe seiner Stöße beurteilen. Greg war attraktiv, gebildet und nur ein kleines bisschen eitel. Er liebte seine Arbeit und war gut in dem, was er tat. Und eines Tages würde er ein toller Vater werden. Greg Nunn war genau die Art Mann, die Jane brauchte. Jede andere Frau hätte ihn rund um die Uhr mit Argusaugen bewacht, damit er ihr bloß nicht wieder abhandenkam. Und noch vor ein paar Monaten hätte Jane es genauso gemacht.

Aber seit einer Woche musste sie jedes Mal, wenn sie ihn sah, daran denken, wie er immer geistesabwesend seine Fingernägel gegeneinanderklackern ließ, wenn er nachdachte. Oder an seine Eigenart, beim Autofahren vor sich hin zu summen. Keine richtigen Lieder, sondern einfach nur lange, monotone Seufzer. Und jetzt auch noch diese Kauerei.

Bei der bloßen Vorstellung, dass er sie später, wenn sie bei ihm zu Hause zu Abend aßen, mit diesen Lippen berühren würde … die bloße Vorstellung, dass sie Sex haben könnten …

Jane schauderte und legte ihre Gabel weg. „Greg, ich befürchte, das hier funktioniert einfach nicht“, sagte sie ohne Umschweife.

Er pickte die Paprikastreifen aus seinem gebratenen Gemüse und schob sie mit der Gabel an den Tellerrand. „Hm?“

„Ich trenne mich gerade von dir.“

Ein Paprikastreifen glitt vom Teller auf den Tisch. „Was?“

„Tut mir leid, ich weiß, das kommt ein bisschen plötzlich. Aber ich habe einfach das Gefühl, dass wir keine gemeinsame Zukunft haben.“

„Aber …“ Er zog die Augenbrauen zusammen. „Wir fahren doch am Wochenende nach Fort Collins, damit du meine Eltern kennenlernst!“

Nervös strich sie ihren praktischen grauen Rock glatt. „Ja, ich weiß. Das hier ist ziemlich unfair von mir. Du bist ein wunderbarer Mann …“

„Na toll.“

„… aber ich glaube, dass die Chemie zwischen uns einfach nicht stimmt.“

„Wirklich?“ Er wirkte aufrichtig erstaunt.

Mit einer fahrigen Bewegung schob sie ihre Brille hoch. „Na ja, ein paar Funken sind da natürlich schon“, flunkerte sie hastig. „Aber du bist nicht verliebt in mich.“

„Jane, wir hatten uns doch zu Anfang geeinigt, dass wir es ruhig angehen lassen. Ich konzentriere mich auf meine Karriere, und du wolltest es mit dem körperlichen Teil dieser Beziehung nicht überstürzen.“ Greg beugte sich vor. Seine Augen funkelten, wie sie es sonst nur taten, wenn er der Verteidigung vor Gericht ein besonders gutes Argument entgegenschleuderte. „Ich hatte kein Problem damit, zu warten, aber ich dachte, dass wir uns auch emotional etwas Zeit lassen.“„Natürlich, aber …“

„Da ist eine Menge sexuelle Chemie zwischen uns. Und vom Naturell her passen wir perfekt zusammen. Wir haben dieselben Ziele, dieselben Erwartungen ans Leben. Und ich respektiere dich. Meinst du nicht, dass du gerade eine etwas vorschnelle Entscheidung triffst?“

Ja, genau das tat sie. Aber so pragmatisch sie auch veranlagt sein mochte – oder vielleicht gerade weil sie so pragmatisch veranlagt war: Für Jane stand fest, dass sie keine Zukunft mit einem Mann hatte, mit dem sie schon drei Wochen nach dem ersten Sex auf keinen Fall mehr ins Bett wollte. Nur konnte sie das Greg natürlich nicht ins Gesicht sagen. Zumal er den Sex ja ganz fantastisch zu finden schien.

„Tut mir leid. Es ist nicht deine Schuld, es liegt an …“ Oh Gott. Sagte sie das gerade wirklich? Ja, so musste es wohl sein. „… mir. Es liegt an mir“, beendete sie den Satz mit schwacher Stimme.

Greg sah sie genauso angewidert an, wie sie sich gerade fühlte. „Ich fasse das einfach nicht.“ Seine Gabel klapperte gegen seinen Teller. „Unglaublich. Und was soll ich jetzt meinen Eltern erzählen? ‚Ich bin ein wunderbarer Mann, aber Jane hat trotzdem beschlossen, mich genau vor dem Wochenende zu verlassen, an dem sie euch kennenlernen sollte‘?“

„Vielleicht könntest du ja sagen, dass ich krank geworden bin.“

„Ich werde auf keinen Fall versuchen zu vertuschen, dass du mich sitzen gelassen hast, Jane. So tief trifft es mich dann auch wieder nicht.“

Seine Stimme wurde immer lauter. Sie hatte seinen Stolz verletzt. Greg hasste es, vor Gericht zu verlieren. Und offenbar hasste er es auch, sein Mädchen zu verlieren. Sie konnte den Zorn in seinem Blick erkennen, denselben, mit dem er aus dem Gericht zurückkam, wenn es schlecht gelaufen war. Einmal hatte er diesen Blick sogar aufgesetzt, nur weil Jane sich geweigert hatte, seinem Chef bei einem Projekt zu helfen. Vielleicht hätte sie weniger auf Gregs Qualitäten als Liebhaber und mehr auf seinen Charakter achten sollen.

Jane sah sich nervös um. Immerhin: Bislang wurden sie nur von wenigen Gästen angestarrt. „Tut mir leid, ich wollte nur nett sein. Vielleicht ist es besser, wenn ich jetzt gehe.“

„Allerdings“, blaffte er. „Und ruf mich bloß nicht an, wenn du dich in ein paar Wochen einsam fühlst. Diese neue Anwaltsgehilfin hatte von Anfang an ein Auge auf mich geworfen. Du kannst dich darauf verlassen, dass ich mich gleich morgen ausgiebig mit ihr unterhalte.“

Offenbar wollte er Jane damit verletzen, aber alles, was sie empfand, war Erleichterung. Und die flüchtige Hoffnung, dass die neue Anwaltsgehilfin ein Herz für epileptische Karnickel hatte. „Tut mir leid“, wiederholte sie, während sie aufstand und sich den Riemen der Handtasche über die Schulter streifte. „Ich dachte, es wäre besser, wenn ich Schluss mache, bevor ich deine Eltern kennenlerne. Soll ich meine Hälfte der Rechnung bezahlen?“

„Verdammt, jetzt verschwinde einfach!“ Greg stürzte ein Glas Wasser hinunter und wich ihrem Blick aus.

War er tatsächlich in sie verliebt gewesen? Nein, das konnte sie sich nicht vorstellen. Er wirkte eher wütend als verletzt. Aber das spielte sowieso keine Rolle mehr. Sie konnte einfach nicht mit einem Mann zusammenbleiben, zu dem sie sich körperlich nicht hingezogen fühlte. „Leb wohl!“

Sie wartete auf eine Antwort, doch es kam keine. Also machte sie auf dem Absatz kehrt und ging auf die Tür zu. Ihre Füße wollten rennen, doch das kam nicht infrage. Hinter sich glaubte sie einen leisen Fluch zu hören – irgendetwas wie „frigides Miststück“ -, aber sie reagierte nicht darauf. Im Laufe ihres Lebens hatte sie sich schon viel schlimmere Beschimpfungen anhören müssen. Und wenn Greg gerade wirklich gesagt hatte, was sie vermutete, dann konnte sie sowieso froh sein, ihn los zu sein.

Jane trat auf die Straße hinaus und atmete tief durch.

Frei.

Die Anspannung fiel von ihr ab, als hätte sie gerade eine Fessel durchtrennt. Allmählich zeichnete sich in dieser Hinsicht ein Muster in ihrem Leben ab. Der Gedanke ließ sie kurz innehalten, doch dann machte sie sich auf den Weg zurück zur Arbeit. Es war nur eine halbe Meile, und Jane fühlte sich total energiegeladen.

Noch ein paar Stunden im Büro, dann erwartete sie ein ganzer Abend, den sie nur für sich hatte. Kein Sex mit Greg. Keine intellektuellen Gespräche über Opern, ausländisches Experimentalkino und Verfassungsrecht oder Gregs anderweitige Versuche, Janes Bildung oberschichtengerecht aufzupolieren. Nach der Arbeit würde sie nach Hause gehen, ein Bad nehmen und später einen Schundfilm im Pay-TV anschauen. Einen Horrorstreifen vielleicht. So viele schöne Sachen, und danach konnte sie trotzdem noch früh ins Bett gehen, um morgen ausgeschlafen und gut gelaunt auf der Arbeit zu erscheinen.

Wow, Sie war tatsächlich frei.

Sie versuchte, das Gefühl der Erleichterung zu unterdrücken, das in ihr aufstieg. Am Sonntag wurde sie neunundzwanzig. Das letzte Jahr mit einer Zwei vorne dran. In dreihundertacht- undsechzig Tagen war ihr dreißigster Geburtstag. Irgendwann wollte sie heiraten, vielleicht auch Kinder bekommen. Und wenn sie die richtige Art von Mann heiraten wollte, dann musste sie langsam aufhören, ihre Beziehungen aus oberflächlichen Gründen zu beenden.

Man brauchte ja nicht zwangsläufig guten Sex, um glücklich zu sein. Genauso wenig wie man unbedingt einen muskulösen Mann haben musste. Einen harten Kerl in Jeans und Stiefeln. Einen Mann, der seine schwielige Hand in ihrem Haar vergrub und ihr ganz genau sagte, was er gleich mit ihr …

„Mist!“ Jane schüttelte den Kopf. Solche Gedanken wollte sie gar nicht erst zulassen. So ein Mädchen war sie nicht mehr. Und würde es auch nie wieder sein. Eins von diesen Mädchen ohne Selbstachtung, die kaum mehr etwas vom Leben erwarteten.

Nein, jetzt war Jane Morgan eine anständige Frau, und sie würde einen ebenso anständigen Mann heiraten. Natürlich hatte sie noch ein paar Jahre Zeit, ihn zu finden. Aber dauerte es nicht auch eine Weile, jemanden wirklich kennenzulernen? Sie musste so schnell wie möglich die Langeweile in den Griff bekommen, die sie jedes Mal befiel, wenn sie mit gesetzten Männern zusammen war.

Trotz des strengen Vortrags, den sie sich selbst in Gedanken hielt, hatte Jane ein breites Grinsen im Gesicht, als sie vor dem Büro ankam. Doch sobald sie die Türschwelle überschritten hatte, setzte sie wieder ihre seriöse Sekretärinnenmiene auf und machte sich an die Arbeit. Eine halbe Stunde später nahm alles seinen gewohnten Gang: ein superruhiger Job in einem superruhigen Büro – jedenfalls bis ihr Handy klingelte und sie die Nummer ihrer Mutter auf dem Display erkannte.

„Oh nein“, stöhnte Jane. Sie atmete einmal tief durch, ehe sie sich traute dranzugehen.

„Liebes“, flötete ihre Mutter umgehend. „Bitte sag, dass du was von deinem Bruder gehört hast.“

„Jessie? Nein, wieso? Was ist mit ihm?“, fragte sie beunruhigt.

„Er ist gestern Nacht nicht nach Hause gekommen.“

Janes Herz machte einen Satz – allerdings nicht aus Panik, sondern aus Ungläubigkeit. „Und deswegen rufst du mich an?“

„Er ist gestern um sechs gegangen, und seitdem war er nicht mehr hier und hat auch nicht angerufen. Und ich habe keine Ahnung, was ich machen soll!“

„Mom …“ Jane zwang sich, tief durchzuatmen, und zählte in Gedanken bis zehn. „Mom, das ist albern.“

„Aber ich … oh, Liebes, ich bin mir sicher, dass dein kleiner Bruder in Schwierigkeiten steckt!“

„Ganz bestimmt sogar“, erwiderte Jane. „Nur dass ich keinen blassen Schimmer habe, was das mit mir zu tun hat. Jessie ist ein- undzwanzig Jahre alt, Mom. Er ist erwachsen, genau wie ich.“

„Ach Jane …“ Ihre Mutter seufzte. „Du weißt doch, dass er nicht dieselben guten Startvoraussetzungen hatte wie du, Schätzchen.“

Jane umklammerte das Handy etwas fester und starrte wütend auf einen Sonnenfleck, der direkt auf Mr Jennings Bürotür fiel. Gute Startvoraussetzungen. Diese Frau lebte in einer Traumwelt.

„Er ist nun mal nicht so klug wie du.“

Nach einem tiefen Atemzug hatte ihr Blutdruck sich halbwegs normalisiert. „Ich hatte dir doch gesagt, dass du mich nur in absoluten Notfällen bei der Arbeit anrufen sollst.“

„Aber das ist doch ein Notfall!“

„Nein, ist es nicht. Ein erwachsenerMann gilt nicht als vermisst, nur weil er sich mal achtzehn Stunden lang nicht bei seiner Mutter meldet. Vor allem nicht, wenn dieser erwachsene Mann gerne trinkt und dann willige Tresenbekanntschaften abschleppt.“

„Das ist jetzt aber wirklich gemein von dir!“

„Mom, tut mir leid, aber ich muss auflegen. War sonst noch was?“

„Hm, ich glaube nicht … Doch, warte! Kommst du an deinem Geburtstag bei uns vorbei?“

Jane krümmte sich vor Widerwillen. Ehe sie sich von Greg getrennt hatte, hatte sie die perfekte Ausrede gehabt, um nicht mit ihrer Familie feiern zu müssen. Aber jetzt … Insgeheim hatte sie sich gewünscht, dass ihre Mutter ihren Geburtstag einfach vergessen würde. Doch so viel Glück hatte sie leider nicht. Ihre Mutter war in Erziehungsfragen zwar eine absolute Niete gewesen, aber nicht, weil es ihr an Freundlichkeit oder Großzügigkeit gemangelt hätte. Tatsächlich war genau das Gegenteil der Fall gewesen. Nur dass Jane in ihrer Kindheit keine beste Freundin, sondern eine Mutter gebraucht hätte.

„Tut mir leid, Mom, aber ich habe schon was vor.“

„Oh, etwa mit deinem neuen Freund?“

„M-hm, ja.“

„Du könntest ihn doch einfach mitbringen.“

Jane versuchte, sich Greg im Haus ihrer Mutter vorzustellen. Das Bild, das vor ihrem inneren Auge entstand, schien sämtlichen Naturgesetzen zu widersprechen. Er hätte es nicht weiter als bis zu dem ausgebrannten Wagen im Vorgarten geschafft.

„Dein Dad hat endlich den Corvair zum Schrottplatz gebracht“, fügte ihre Mutter hoffnungsvoll hinzu.

Ach, dann. Kein ausgebranntes Auto mehr im Vorgarten. Damit blieb nur noch … der ganze Rest. Ihre Familie, der Laden, das Haus und die etlichen anderen ausrangierten Fahrzeuge, die überall vor sich hin rosteten. Vielleicht hatte ihre Mom mittlerweile ja auch den Hühnerstall gebaut, den sie seit Jahren haben wollte.

„Nein danke, Mom. Ich meld mich bald bei dir.“

„Oh, okay.“

Jane ignorierte die offensichtliche Enttäuschung in der Stimme ihrer Mutter, legte auf und sah zu, wie das Display schwarz wurde. Was sagte es nur über sie aus, dass sie an ihrem Geburtstag lieber alleine sein wollte, als Zeit mit ihrer Familie zu verbringen? Was für ein Mensch war sie eigentlich?

Das altbekannte Schuldgefühl grub seine Klauen in ihr Herz und drückte zu.

Seit sie erwachsen war, konnte Jane die Fehler, die ihre Mutter gemacht hatte, viel klarer erkennen. Keine ihrer Entscheidungen hatte auf böser Absicht beruht. Sie waren einfach nur durch Unreife und Verzweiflung entstanden. Das Leben, das sie Jane zugemutet hatte – die Armut, die Gefängnisbesuche, die ständigen Umzüge -, war das einzige Leben, das ihre Mutter jemals kennengelernt hatte. Und wenn ihr Stiefvater nicht so früh eingegriffen hätte, wäre Jane wohl schnurstracks in ihre Fußstapfen getreten.

Deswegen war sie nicht mehr wirklich wütend auf ihre Mom. Sie fühlte sich in ihrer Gegenwart einfach nur … unwohl.

Ihre Familie, also ihre Mom, ihr Stiefvater und ihr Bruder, wusste, wer Jane wirklich war. Was für eine Art Mädchen sie früher gewesen war. Und sie durchschauten ihre vorgebliche Verwandlung in eine konservative Geschäftsfrau.

Ihre Familie war nicht das Problem. Das Problem war, dass Jane Morgan eine Schwindlerin war. Und sie mochte es nicht, an diese Tatsache erinnert zu werden.

Es war besser, dafür zu sorgen, dass die beiden Seiten ihres Lebens möglichst keine Berührungspunkte hatten. So würde niemand verletzt werden. Vor allem nicht Jane.

William Chase drehte die Anlage auf und drückte aufs Gaspedal. Frische Frühlingsluft drang durch die weit geöffneten Fenster, zusammen mit einem Hauch von Straßenstaub. Chase war das egal. Nach so einer Sprengung konnte ihm nichts und niemand die Laune verderben.

Eintausendfünfhundert Pfund Dynamit, die sich durch den Granit fraßen, als wäre er Pappmaschee. Heilige Muttergottes … Kein Zweifel: Er hatte den besten Job der Welt.

Grinsend trommelte er auf dem Lenkrad herum. Er liebte die Tage, an denen es ans Sprengen ging. Nur schade, dass sie so selten waren. Die Planungen dauerten ewig, und dann war da noch der ganze Papierkram. Außerdem brauchte man für die meisten Abtragungen nicht eine einzige Stange Dynamit, sondern nur einen Bulldozer und einen Bagger. Aber wenn sie auf dem Aspen Mountain ein neues Hotel bauten, musste das Fundament schließlich irgendwo hin. Und dieses Irgendwo war der Felsboden.

Obwohl Chase seine Firma Extreme Excavations erst vor sechs Jahren gegründet hatte, galt er schon jetzt als der Mann, an den man sich in Härtefällen wenden musste. Nicht nur für die groben Jobs, sondern auch, wenn es um Feinarbeit ging. Chase konnte ein Fünfzehn-Meter-Loch in eine Felswand sprengen, ohne dass im hundert Jahre alten Schuppen nebenan auch nur die Glasscheiben klirrten.

Er war gut, und das wusste er. Was seine Arbeit nur noch besser machte.

Lächelnd bog er in die Main Street ab, fuhr aber an seinem Lieblingscafé vorbei. Heute brauchte er kein Koffein. Heute machte ihn das Leben im Allgemeinen high. Und Explosionen im Besonderen.

Nachdem er auf den Parkplatz von Jennings Architecture gefahren war, blieb er noch eine Weile im Auto sitzen. Mit geschlossenen Augen wartete er ab, bis sein Lieblingslied zu Ende war. Als das Wummern des tiefen Basses verstummte, wurde das Platschen der Wassertropfen hörbar, die von Hunderten von Dächern fielen. Der Winter war offiziell vorbei, und vor Chase lagen viele Monate voll anstrengender Arbeit.

Ein Auftrag von Quinn Jennings war der ganz große Coup. Quinn war einer der gefragtesten Architekten der Stadt, weswegen Chase sofort zugesagt hatte, obwohl es nur um ein paar Einfamilienhäuser ging und er normalerweise eher an gewerblichen Projekten arbeitete.

Chase stellte den Motor ab, stieg aus und betrat das kleine Bürogebäude. Gleich hinter der verglasten Eingangstür versperrte ihm ein riesiger Schreibtisch den Weg. Dahinter wachte eine junge Frau mit eisiger Ausstrahlung.

Durch eine schwarz gerahmte Brille musterte sie ihn aus großen braunen Augen. „Guten Abend“, sagte sie. Ihr Blick glitt kurz zu seiner Brust, dann sah sie ihm wieder ins Gesicht. Chase empfand einen Anflug von Interesse, aber so missbilligend, wie sie ihn musterte, fragte er sich doch, warum er überhaupt das Bedürfnis hatte zu lächeln.

„Hi, ich bin Chase“, sagte er und lächelte trotz aller Vorbehalte.

Ihre einzige Reaktion bestand im Heben einer Augenbraue. Selbst ihre Finger ruhten noch auf der Tastatur, so als warte sie nur, dass er verschwand, damit sie weiterarbeiten konnte.

„Ich bin von Extreme Excavations“, erklärte er.

„Ich verstehe. Schön, Sie kennenzulernen, Mr Chase.“

„Ach, einfach nur Chase reicht.“ Wieder eine gehobene Braue. Chase räusperte sich und versuchte, unter ihrem gestrengen Blick nicht zusammenzuzucken. „Quinn Jennings hat mich gebeten, vorbeizukommen und ein paar Planzeichnungen abzuholen.“

Endlich hob die Frau ihre Hände von der Tastatur und legte sie sittsam gefaltet vor sich auf den Tisch. „Mr Jennings telefo niert gerade. Wenn Sie sich vielleicht setzen möchten? Er wird gleich hier sein.“

„Danke.“

„Ich bin Jane. In Zukunft wenden Sie sich besser an mich, wenn Sie irgendwelche Unterlagen benötigen. Mr Jennings neigt dazu, solche Details zu vergessen, wenn er sich in seine Arbeit vertieft.“

„Ähm … okay. Schön, Sie kennenzulernen, Jane.“

„Kann ich Ihnen etwas bringen? Kaffee? Ein Wasser?“

„Nein danke, ich …“

Sie neigte den Kopf in Richtung der Sitzecke zu seiner Rechten, so als wäre Chase ein Kind, das man geduldig, aber bestimmt in seine Schranken weisen muss. Chase nickte und setzte sich wortlos. Zum Glück war diese Frau nicht seine Sekretärin. Er hätte in ständiger Panik gelebt, zu spät zur Arbeit zu kommen.

Andererseits war sie aber auch irgendwie hübsch.

Chase runzelte die Stirn. Er verstand selbst nicht, warum diese Frau ihn überhaupt interessierte. Er sah auf, um sie beim Tippen zu beobachten. Ihre elegante kleine Brille rutschte ihr die Nase herunter, und sie stupste sie wieder nach oben.

War sie jetzt hübsch oder nicht?

Hm, also für einen Eisklotz sahen ihre Lippen ziemlich weich aus. Und ihre braunen Augen waren einfach der Wahnsinn, auch wenn sie so reserviert guckte. Die übrige Jane war ziemlich schwer einzuschätzen. Ihr schwarzer Blazer war so geschnitten, dass er ihre Figur verbarg, und ihr glänzendes braunes Haar hatte sie zu einem festen Knoten hochgesteckt. Der einzige Schmuck, den sie trug, war ein Paar kleine Perlenohrringe.

Sie vermittelte rundum den Eindruck der superkorrekten Sekretärin, die nicht viel davon hielt, sich einfach mal gehen zu lassen.

Ohne mit dem Tippen aufzuhören, warf sie Chase einen kurzen Blick zu. Er schaute schnell weg und studierte das Namensschild auf ihrem Schreibtisch. Jane Morgan.

Irgendetwas an ihrem steifen Erscheinungsbild machte ihn ganz hibbelig.

Er wagte einen weiteren Blick nach oben und ertappte Jane dabei, wie sie sich mit der Zunge über die Lippen leckte. Ihre Zungenspitze hob sich rosafarben von ihren blassen Lippen ab. Falls sie Lippenstift trug, war er mehr als dezent. An dieser glänzenden kleinen Zunge war allerdings rein gar nichts dezent.

Chase verlagerte sein Gewicht und zog damit erneut Janes Aufmerksamkeit auf sich. Diesmal sah sie aber ganz schnell wieder weg. Ihre Wangen liefen ein kleines bisschen rot an, und Chases Puls beschleunigte sich. Normalerweise wäre ihm so ein Hauch von Farbe nicht einmal aufgefallen, aber in Janes Fall schien ihm diese Reaktion ziemlich aussagekräftig. Sie verriet, dass sie sich seiner Anwesenheit bewusst war. Er musterte sie genauer und ließ seinen Blick ihren eleganten Hals hinabgleiten.

Ihre Haut sah verdammt weich aus, was ihn vor die Frage stellte, wie so eine Lady wie Jane wohl darauf reagieren würde, wenn man ein bisschen an ihr herumknabberte. Aber warum zum Teufel dachte er überhaupt darüber nach, an einer wildfremden Frau herumzuknabbern?

Er hatte gerade erst nachdenklich die Stirn gerunzelt, da fiel ihm auch schon ein, was mit ihm los war: die Explosion! Nach einem richtig guten Knall war er immer ziemlich aufgedreht. Aufgedreht und spitz wie Lumpi. Allerdings bezweifelte er, dass die brave Jane diese Enthüllung sonderlich positiv aufgenommen hätte.

Das Klingeln seines Handys verhinderte, dass das Lachen, das in seiner Kehle aufstieg, sich den Weg nach draußen bahnte.

Jane wirkte überrascht, als er ein leises „Entschuldigen Sie bitte“ murmelte und vor die Tür trat. Ob es sie wohl aus dem Konzept brachte, dass er Manieren hatte, obwohl er tätowiert war? Chase lächelte, als er den Anruf annahm. Doch als ihm sein Versicherungsmakler mitteilte, um wie viel der Beitrag für die Berufshaftpflicht gestiegen war, versiegte sein Lächeln jedoch ziemlich schnell.

Ein paar Minuten lang tigerte Chase vor der Bürotür auf und ab und brachte seine Gegenargumente vor, aber es war zwecklos. Der Makler schwor, dass Chase kein Einzelfall sei; alle Beiträge seien angehoben worden, und die Erhöhung habe nichts mit der Erfolgsquote von Extreme Excavations zu tun. „Aber unsere Sicherheitsbilanz ist makellos“, protestierte Chase ein letztes Mal. Währenddessen warf er einen Blick durch die Glasscheibe der Tür, um sicherzugehen, dass ihn die Sekretärin nicht belauschte.

Ihr Blick ruhte auf ihm. Sie beobachtete ihn, aber in ihren Augen lag keinerlei Missbilligung. Nein, Jane, die Eisblocksekretärin, starrte auf seine Brust!

Chase hielt wie gebannt inne und starrte zurück. Plötzlich drang das Geplapper seines Maklers nur noch wie durch Watte an seine Ohren. Dann hob Jane den Blick, sah ihm ganz kurz in die Augen, blinzelte und guckte hastig wieder auf ihren Bildschirm.

Okay …

Er drehte ihr den Rücken zu, beendete das Telefonat und prüfte danach mit einem raschen Schulterblick, ob sie ihn wieder ansah. Pech gehabt! Sie hatte sich erneut in ihre Arbeit vertieft.

Als er das Handy zurück in die Hosentasche schob, fiel ihm ein grauer Schmutzstreifen auf, der sich quer über die Vorderseite seines dunkelblauen T-Shirts zog. Vielleicht war es ja das, was ihre Aufmerksamkeit gerade so gefesselt hatte. „Scheiße“, murmelte er. Er fand es erstaunlich enttäuschend, dass diese Jane gerade wahrscheinlich eher nicht von schmutzigem Sex mit einem Handwerker geträumt hatte.

Achselzuckend ging er wieder nach drinnen, wo Quinn Jennings gerade aus seinem Büro kam.

„Hey, Chase“, sagte der Architekt und streckte ihm die Hand hin.

Chase schlug ein und nahm die Akte, die Quinn ihm entgegenhielt. „Danke, Mann.“

„Tut mir leid, dass ich den Papierkram nicht hier vorne bei Jane gelassen habe. Nächstes Mal rufst du am besten gleich sie an.“

„Genau das hat sie mir auch vorgeschlagen.“ Chase warf ihr einen vorsichtigen Blick zu, aber sie ignorierte die Unterhaltung völlig.

„Tja, sieht ganz so aus, als ob ich doch lernfähig bin“, sagte Quinn lachend. „Du kannst das Zeug so lange behalten, wie du willst.“

„Ein paar Tage müssten reichen.“

Eine Hand tauchte in seinem Sichtfeld auf und pflückte ihm die Akte aus den Fingern. „Geben Sie das mal kurz her“, sagte Jane. „Ich muss die Unterlagen kopieren, ehe sie dieses Büro verlassen.“

„Ähm … alles klar“, teilte Chase ihrem Hinterkopf mit, denn sie stand schon längst am Kopierer.

Während Quinn sich entschuldigte, weil er zu einem Begehungstermin musste, versuchte Chase, Janes Hintern zu betrachten. Leider erschwerte der gerade geschnittene graue Rock die Bestandsaufnahme. Jane war groß und entweder ziemlich kurvenreich oder sogar ein bisschen mollig. Aber Chase war ein gestandener Mann. Schöne weiche Rundungen schreckten ihn an Frauen nicht im Mindesten ab.

„Bitte schön, Mr Chase.“

Er blinzelte und nahm die Akte entgegen. „Einfach nur Chase“, wiederholte er, obwohl er den Verdacht hatte, dass sie ihn schon beim ersten Mal genau verstanden hatte und sich einfach nur weigerte, sein Angebot auch nur in Erwägung zu ziehen.

„Einen schönen Tag noch“, antwortete sie.

Leicht angefressen, weil diese Jane ihn einfach so abblitzen ließ, öffnete Chase die Akte und blätterte die Seiten durch. „Ihr Chef ist ein verdammt guter Architekt.“

„Allerdings.“

Er überflog Quinns Zeichnungen von den geplanten Chalets, dann sah er rasch zu Jane hinüber. Sie bemerkte seinen Blick nicht mal, weil sie so damit beschäftigt war, seinen Körper anzustarren. Diesmal war es sein Arm, der ihre Aufmerksamkeit fesselte. Ob sie sich auf seinen Bizeps oder das Tattoo konzentrierte, konnte er nicht mit Sicherheit sagen, aber er tippte eher auf die Tätowierung.

Sein Herz klopfte heftig vor Aufregung. Vielleicht hatte Miss Eisblock ja doch Lust auf einen kleinen Ausflug ins Land der Hemmungslosigkeit? Zum Glück war Chase genau in der richtigen Stimmung, um ihre Neugierde zu befriedigen.

„Jane?“, sagte er ganz leise, erschreckte sie damit aber trotzdem so sehr, dass sie zusammenzuckte.

Ein satter Rotton breitete sich auf ihren Wangen aus, und sie sah eilig wieder auf den Bildschirm. „Kann ich noch irgendetwas für Sie tun?“ Obwohl sie so viel Farbe bekommen hatte, klang ihre Stimme absolut kühl und reserviert.

„Ja, das können Sie tatsächlich.“ Er klappte die Akte zu und baute sich direkt vor ihrem Tisch auf. „Wie sieht’s aus mit einem Dinner heute Abend?“

Sie erstarrte zwar mitten in der Bewegung, blickte aber nicht auf und reagierte auch sonst nicht.

Klar, dieser Frau musste man ein bisschen formaler kommen. Kein Problem, dieses Spielchen beherrschte er ebenfalls. „Jane Morgan, würden Sie mir die Ehre erweisen, mich heute Abend in ein Restaurant zu begleiten?“ Er machte sogar eine kleine Verbeugung, um noch einen draufzusetzen.

Jane blieb trotzdem unbewegt. Buchstäblich, denn ihre Finger schwebten reglos über der Tastatur. „Bitte?“

„Möchten Sie mit mir essen gehen?“

Ihre Finger senkten sich und klackerten weiter über die Tasten. „Nein, möchte ich nicht.“

Wirklich überrascht war Chase nicht. Aber die Enttäuschung traf ihn trotzdem, und zwar schwerer als erwartet. „Sind Sie sicher?“

Wieder leckte sie sich mit der Zunge über die Lippen. Dann warf sie ihm einen kurzen Blick zu. „Danke, aber ja, ich bin sicher.“

Verdammt, mittlerweile sahen ihre Lippen richtiggehend sinnlich aus, ganz rosa und feucht glänzend. Chase neigte den Kopf zur Seite und betrachtete sie eingehender. Oh ja, ihre Lippen waren verdammt sexy. „Na ja, wenn Sie sich so sicher sind …“, sagte er gedehnt.

„Bin ich.“ Jane holte tief Luft, straffte die Schultern und tippte im Stakkato weiter.

„Klar“, murmelte er. „Dann noch einen schönen Tag.“ Danach blieb ihm nichts weiter übrig, als zu gehen.

Die Bürotür fiel mit einem leisen Klicken ins Schloss. Jane tippte weiter irgendwelches Kauderwelsch, bis sie in Gedanken bis zwanzig gezählt hatte. Dann nahm sie die Hände von der Tastatur und spähte vorsichtig in Richtung Glastür. Der Truck verließ gerade den Parkplatz. Sie war allein.

Jane atmete tief aus und sank in ihrem Stuhl zusammen. „Mist!“

Was war da nur gerade passiert?

Trotz der Szene beim Lunch mit Greg und dem Telefonat mit ihrer Mutter war der Tag in normalen, professionellen Bahnen weiterverlaufen. Eine Menge Anrufe von Handwerkern, die gedämpfte Geräuschkulisse eines gut durchorganisierten Büros an einem Durchschnittstag … die Trennung von Greg war nicht mehr als ein kleiner Stolperstein gewesen.

Aber dann war er ins Büro geplatzt.

Allein der Anblick, wie er dastand und einfach so den ganzen Türrahmen ausfüllte, hatte sie bis ins Mark erschüttert. Er war kein Bodybuildertyp, aber beeindruckend muskulöse eins neunzig groß, wenn nicht sogar mehr. Sein braunes Haar war raspelkurz geschnitten und so dicht, dass es sich bestimmt ganz weich anfühlte.

Bei dem bloßen Gedanken lief es Jane heiß und kalt den Rücken herunter.

Läppische drei Stunden Freiheit, und schon dachte sie an einen Mann, wie er unpassender nicht hätte sein können. Sie hätte sich wirklich nicht von Greg trennen sollen. Greg war gebildet, ambitioniert und wohlerzogen. Und vor allem war er nicht riesengroß und breit und tätowiert. Er fuhr auch keinen verbeulten, staubigen Truck. Er arbeitete nicht gegen Stundenlohn in einer perspektivlosen Branche und trug auch keine Stiefel mit Stahlkappen oder schmuddelige T-Shirts, die sich an seine Muskeln schmiegten, während er den Vorschlaghammer schwang und Berge in die Luft sprengte.

Ihre Haut begann zu prickeln. „Mist“, wiederholte Jane. Dieser Chase war genau der Typ Mann, den sie absolut nicht gebrauchen konnte. Der Typ Mann, der ihre Haut zum Prickeln brachte – ganz zu schweigen von ein paar anderen Körperregionen, an die sie gerade gar nicht denken mochte. Nein, er war absolut nicht das, was sie brauchte. Aber das, was sie wollte. Rau und maskulin und groß.

„Ich will nicht werden wie meine Mutter“, versicherte sie dem Bildschirm. „Ich will nicht werden wie meine Mutter.“ Der Bildschirm erwiderte ihren Blick so streng, dass sie wegsehen musste. „Ach, leck mich doch“, fauchte sie den Monitor an, dann sah sie sich schuldbewusst um. Derart unflätige Ausdrücke gehörten nun wirklich nicht zu ihrem Wortschatz.

Und sie ging auch nicht mit Männern aus, um deren Oberarme sich dicke schwarze Tätowierungen schlängelten wie bei einem grausamen Krieger aus archaischen Zeiten.

Jane ließ ihre Schultern kreisen und dehnte ihren Nacken. „Ich will nicht werden wie meine Mutter“, wiederholte sie ein letztes Mal. „Und das Mädchen von früher werde ich auch nicht wieder.“ Dann löschte sie das Buchstabenchaos, das sie auf ihrem Excel-Sheet hinterlassen hatte, und zwang sich mit Gewalt dazu, sich wieder auf die Arbeit zu konzentrieren.

2. KAPITEL

Als Jane am nächsten Morgen aus ihrem Auto stieg, zitterten ihre Muskeln noch immer vor Erschöpfung. Am Abend zuvor war sie viel zu aufgeregt und abgelenkt gewesen, um ihrem Plan treu zu bleiben. Anstatt nach Hause zu fahren und einen Film anzugucken, hatten sie ihren Trainer angerufen und eine Stunde lang den Sandsack in seinem privaten Fitnessraum bearbeitet. Dann hatte sie eine komplette Pizza verschlungen, bis Mitternacht Fernsehen geguckt und prompt verschlafen.

Jane schloss die Bürotür auf und hastete nach drinnen, wo sie sich auf ihren Stuhl fallen ließ. Fünfzehn Minuten Verspätung. Sie steckte mitten drin in der Spirale. Und zwar abwärts.

Eine Nacht lang Single, und schon bewegte sich Jane Morgan auf ihren persönlichen Tiefpunkt zu. Ihre Fassade bröckelte wie die schmelzenden Schneeberge draußen auf dem Parkplatz.

Es spielte überhaupt keine Rolle, dass sie sich bemühte, stets professionell gekleidet zu sein, oder dass sie sich spröder gab als eine alte Bibliothekarin. Es spielte keine Rolle, dass sie sich weigerte, den schmierigen Handwerkern und grapschenden Bauunternehmern und sexistischen Ingenieuren auch nur einen Funken Freundlichkeit entgegenzubringen. Oder dass sie sehr, sehr akribisch darauf achtete, nur angemessene Männer zu daten. Die Wahrheit lautete: Sie hatte sich überhaupt nicht verändert.

Jane fühlte sich immer noch von genau denselben Typen angezogen, für die sie schon zu Highschoolzeiten geschwärmt hatte: tätowiert, ungehobelt und allzeit bereit.

„Verdammt“, stöhnte sie verzweifelt. In der Nacht hatte sie einen ausgesprochen erotischen Traum gehabt, mit Chase in der Hauptrolle. Dieser Traum hatte sie so dermaßen heißgemacht, wie es Greg in der Realität nicht mal ansatzweise geschafft hatte.

Obwohl Chase, wie sie zugeben musste, nicht ganz die Art Mann war, mit der sie früher abgehangen hatte. Und er war auch nicht ganz die Art Mann, die ihre Mutter jahrelang angeschleppt hatte.

Obwohl seine Jeans alt und zerknittert und fleckig gewesen war, hatte er nach Waschmittel gerochen. Sein Haar war ordentlich und kurz geschnitten, auch wenn die dunklen Linien des Tattoos, das sich über seinen Nacken und seinen Arm schlängelte, hinten in seinem Haaransatz verschwanden. Und vor allem hatte er ganz sicher noch nie im Gefängnis gesessen. Extreme Excavations hatte sich auf Sprengungen spezialisiert. Damit mochte Chase zwar nicht an der Spitze der gesellschaftlichen Hackordnung stehen, aber Firmen, die Kriminelle beschäftigten, drückte die Regierung garantiert keinen Sprengstoff in die Hand.

Also nein: Er war nicht ganz so wie die Männer in ihrer Vergangenheit.

Jane erwachte aus ihrem nachdenklichen Dämmerzustand und warf ihrem Spiegelbild im noch immer schwarzen Monitor einen finsteren Blick zu. „Wahnsinnshohe Ansprüche, Miss Morgan. Saubere Unterwäsche und keine Polizeiakte.“ Ihr Spiegelbild starrte streng und missbilligend zurück. Ihre Züge wirkten hart, ihre Schultern angespannt. Ihre Nasenflügel bebten vor Wut. Bis Jane sich plötzlich geschlagen gab und in sich zusammensank. „Ich bin eine Mogelpackung.“

Aber Mogelpackung hin oder her – wenigstens war sie sehr gut darin, die Illusion aufrechtzuerhalten. Als draußen auf dem Parkplatz eine Autotür zufiel, setzte sich Jane ruckartig auf, hieb auf die Tastatur ein, um den PC aus dem Ruhemodus zu wecken, und rief den Bericht auf, an dem sie am Vortag gearbeitet hatte.

Als sich die Tür öffnete, blickte Jane auf in der Erwartung, Mr Jennings vor sich zu sehen. Doch der Mann, der vor ihr stand, war genau der, der sie in der vergangenen Nacht in ihren Träumen besucht hatte.

Zum Glück war sie jetzt wieder die kühle, unzugängliche Mogelpackungs-Jane. Entsprechend hob sie nicht mal eine Braue. „Guten Morgen, Mr Chase.“

„Hallo, Miss Jane“, konterte er in bestem Südstaatenakzent.

Fast hätte sie über seinen Witz gelacht. Gott, das wäre die reinste Katastrophe gewesen! Wenn er wusste, dass sie ihn charmant fand, würde er sie am Ende noch mal fragen, ob sie mit ihm ausging! Also verbot sie sich, auch nur mit der Wimper zu zucken. „Wie kann ich Ihnen helfen?“

Er hielt ihr die Akte hin, die unter seinem Arm geklemmt hatte. „Sehen Sie? Ich hab sie wohlbehalten zurückgebracht. Ich bin nämlich ausgesprochen verantwortungsbewusst.“

„M-hm“, murmelte sie und versuchte dabei verzweifelt, sich nicht anmerken lassen, wie verheerend sich seine Anwesenheit auf ihre Konzentrationsfähigkeit auswirkte. Das Hauptproblem bestand darin, dass sein Ärmel ein Stückchen weit nach oben gerutscht war, wodurch ein neuer Teil des Tattoos auf seinem linken Arm sichtbar geworden war. „Danke.“

„Also …“, sagte er gedehnt.

Sie riss ihren Blick von seinem Arm los.

„Haben Sie noch mal drüber nachgedacht?“ „Über was?“

„Ob Sie nicht vielleicht doch mit mir essen gehen wollen.“

„Nein“, antwortete sie, als wäre das die Wahrheit und nichts als die Wahrheit. War es ja auch. An Essen hatte sie nämlich wirklich keinen einzigen Gedanken verschwendet.

„Ach, kommen Sie schon.“ Er verzog die Lippen zu einem ausgesprochen attraktiven Grinsen. Seine dunkelblauen Augen funkelten. „Es ist doch nur ein Abendessen.“

„Nein danke.“

„Warum nicht?“

„Sie sind nicht mein Typ“, log sie unverfroren.

„Sind Sie da sicher?“ Sein Blick zuckte zu seinem Arm, und Janes Herz setzte einen Schlag aus.

Oh Gott! Hatte er gerade auf sein Tattoo geguckt, während er das gesagt hatte? Sie spürte, dass ihre Wangen heiß wurden, und versuchte, ihren Puls wieder unter Kontrolle zu bekommen. Er hatte bemerkt, dass sie ihn angestarrt hatte!

Aber es war ja auch möglich, dass sie aus reiner Abscheu gestarrt hatte. Jedenfalls versuchte sie, sich das einzureden. Ihre Blicke hatten nichts zu bedeuten. Nichts.

Ihr Puls ließ sich von dieser Argumentationskette leider nicht beeindrucken. Er legte nämlich noch einen Zahn zu. Chase lächelte, stützte eine Hand auf den Tisch und beugte sich vor. Sein Blick ruhte auf ihren Lippen. Sie merkte selbst, dass sie viel zu schnell atmete.

Gestern Abend beim Boxen hatte sie sich vorgestellt, dass ihr Trainer Chase sei. Sie hatte sich ausgemalt, wie er sie packte. Wie seine Hände über ihre schweißfeuchte Haut glitten, wie er sich mit einem Knurren auf sie …

Oh Gott, ihre Fassade bröckelte immer mehr! Was, wenn sie zuließ, dass Chase …

Das Klingeln ihres Handys unterbrach den Testosteronzauber, dem sie gerade erlegen war. Der Name, der auf dem Display blinkte, hatte in etwa dieselbe Wirkung wie eine eiskalte Dusche. „Mom“, stand da. Der Hintergrund leuchtete rot wie ein Warnschild.

Einen Augenblick lang saß Jane einfach reglos da, starrte das Handy an und ließ ihre glühende Haut von der eiskalten Dusche kühlen. „Ja“, antwortete sie Chase schließlich. „Ich bin mir sicher.“

„Worüber jetzt?“

„Dass Sie nicht mein Typ sind, Mr Chase. Aber vielen Dank für die Einladung.“

Chase zog zwar ein langes Gesicht, wirkte aber nicht im Geringsten verärgert. Tatsächlich holte er sogar eine Visitenkarte aus seiner Hosentasche und reichte sie Jane. „Na gut. Rufen Sie einfach an, falls Sie es sich anders überlegen. Hier steht meine Handynummer drauf.“

„Danke.“ Natürlich würde sie die Karte sofort in den Müll schmeißen. Aber als Chase sich umdrehte und das Büro verließ, ertappte Jane sich dabei, wie sie sie doch in ihrer Handtasche verstaute. Dann schaltete sie ihr Handy aus und ließ es ebenfalls in der Tasche verschwinden.

Sie war hier bei der Arbeit, und all die harten Typen, ausgebrannten Autos und katastrophalen Mütter dieser Welt konnten sie im Augenblick mal kreuzweise.

„Ich freue mich ja so, dass du Zeit hattest“, sagte Lori Love. „Keine Ahnung, wie lange ich hier schon herumsitze und warte.“ Sie schob sich eine braune Locke hinters Ohr und stützte die Ellenbogen auf den Tresen.

Jane lächelte. Lori und Mr Jennings schienen es richtig ernst miteinander zu meinen, und für sie selbst war dabei eine Freundin rausgesprungen. Nicht, dass Lori und sie bisher die Art von Freundinnen gewesen wären, die zusammen die Stadt unsicher machten. Aber das lag vor allem daran, dass Jane nicht der Typ war, der die Stadt unsicher machte. Sie sah sich in der schummrigen Hotelbar um. „Keine Ahnung, warum du dich darauf eingelassen hast, dich hier mit dem Chef zu treffen.“

„Oh, ich bin einfach nur klüger, als man denken möchte. Quinn ist bei einem Geschäftsessen im Painted Horse. Ich wollte nicht mitgehen, aber ich habe mich breitschlagen lassen, ihn um acht zu dieser Veranstaltung vom Stadtrat zu begleiten. Wir treffen uns sozusagen auf halber Strecke: Ich komme um dieses sterbenslangweilige Dinner herum, kann nachher aber ein paar kostenlose Drinks in mich reinschütten.“

„Glückwunsch!“ Jane hob ihr leeres Martiniglas. „Warum kommst du eigentlich nicht mit?“

„Ich bin nicht eingeladen.“ Erstaunt blickte Jane auf, als der Barkeeper ihr einen neuen Drink servierte. Offenbar hatte er bemerkt, wie sie mit dem leeren Glas herumwedelte. „Oh, danke.“

„Bitte. Komm mit!“, sagte Lori. „Die Veranstaltung ist unten im Ballsaal. Du kannst mir Gesellschaft leisten, während Quinn superwichtige Gespräche über seine Arbeit führt.“

Jane ließ sich das Angebot durch den Kopf gehen. Eine Party. Drinks. Jede Menge Männer vom richtigen Schlag: professionell und gebildet. Der perfekte Ort, um den Mann ihrer Zukunft zu treffen. Doch der Gedanke, heute Abend die konservative, reservierte Jane zu geben … Sie blickte auf ihr Glas hinab, das zu ihrer Überraschung schon wieder fast leer war.

„Tut mir leid, aber du bist auf dich gestellt“, erwiderte sie. „Heute Abend mache ich mal frei.“

„Verdammt“, grummelte Lori. „Hey, hast du das Buch für die Lesegruppe schon durch?“

Jane hatte Lori überredet, sich bei der Frauengruppe im Buchladen anzumelden. „Hab ich. Ich fand es ziemlich tiefgründig.“

„Pffft. Ich fand es eher deprimierend. Weiter als bis Kapitel sechs bin ich nicht gekommen, da, wo sie zu ihrem selbstmordgefährdeten Ehemann zurückkehrt. Ich hab es in die Ecke gepfeffert und stattdessen einen von meinen Schundromanen gelesen. Das nächste Buchclubtreffen ist direkt vor meiner Reise, da werde ich sowieso so viel zu tun haben, dass ich wahrscheinlich nicht kommen kann.“

Jane verspürte einen Anflug von Neid. Auch Lori baute sich gerade ein neues Leben auf. Allerdings eins, das überhaupt nichts damit zu tun hatte, sich einen respektablen Ruf zu verschaffen. Lori breitete ihre Flügel aus, las Erotikromane und ging wieder aufs College. Und sie wollte ganz alleine nach Europa reisen. Aber Lori war ja auch ihr ganzes Leben lang ein braves Mädchen gewesen. Sie hatte schon längst bewiesen, dass sie verantwortungsbewusst und anständig war. Auf diese Art von Vergangenheit konnte Jane sich leider nicht berufen. Also musste sie so tun, als würde sie gerne deprimierende Bücher lesen, wärmstens empfohlen von gebildeten Frauen mit seriösen Ehemännern.

Noch ein Stückchen Fassade, das dazu beitrug, dass Jane sich in ihrer Haut nicht mehr richtig wohlfühlte.

Lori stupste sie an. „Ich hab noch eine ganze Kiste voll mit Schmuddelgeschichten. Und da steht dein Name drauf.“

Dasselbe Angebot hatte Lori ihr vor einigen Wochen schon einmal gemacht, und Jane hatte rundheraus abgelehnt. Jetzt aber dachte sie ernsthaft darüber nach anzunehmen. Vielleicht waren die Sexgeschichten ja gar keine so schlechte Möglichkeit, ein bisschen Dampf abzulassen? Gestern Abend hatte sie sich dabei ertappt, wie sie ihrem Boxlehrer lüsterne Blicke zuwarf – und Tom war durch und durch schwul. Trotzdem hatten seine Schultern sie an Chase erinnert.

„Und? Willst du sie vielleicht doch?“, fragte Lori mit einem unverschämten Grinsen. Aber dann wanderte ihr Blick an Jane vorbei, und aus dem Grinsen wurde ein strahlendes Lächeln. „Hey, Quinn.“

Quinn Jennings ließ sich auf dem Barhocker neben seiner Freundin nieder. „Hey, Lori Love“, antwortete er. Der Klang seiner tiefen Stimme erinnerte an ein zufriedenes Schnurren.

Fast wäre Jane rot geworden. Hier war er: der lebende Beweis, dass auch ein guter, intelligenter Mann sprühende Leidenschaft entwickeln konnte, wenn er nur der richtigen Frau begegnete. Sicherheit musste nicht zwingend ein Leben in immerwährender Langeweile bedeuten. Sicherheit ließ sich auch mit Lust und Leidenschaft verbinden, so wie bei Lori und Mr Jennings. Wobei Männer wie Mr Jennings leider nicht Janes Typ waren. Genauso wenig wie Greg. Oder der Zahnarzt vor Greg. Oder der Tierarzt vor dem Zahnarzt.

„Hi, Jane“, sagte Quinn. „Kommen Sie gleich mit?“

Lori nahm seine Hand. „Nein, sie will hierbleiben und sich hemmungslos betrinken.“

Die beiden brachen in schallendes Gelächter aus, vermutlich, weil sie sich Jane nicht einmal mit einem kleinen Schwips vorstellen konnten. Was deutlich zeigte, dass sie keine Ahnung hatten.

Quinn murmelte irgendetwas von wegen „Mein Beitrag zum guten Zweck“ und warf einen Zehn-Dollar-Schein auf den Tresen. Dann rief er dem Barkeeper zu: „Noch einen Drink für die Lady!“

„Oh nein, Mr Jennings, ich kann doch nicht …“

Aber er zog Lori schon vom Stuhl hoch und Richtung Ausgang. „Wir sehen uns Montag, Jane. Und immer sauber bleiben!“

Da der nächste Drink bereits vor ihr stand, blieb ihr nichts anderes übrig, als ihn auszutrinken. Eine Viertelstunde später hielt sie plötzlich die Visitenkarte von Chase in der Hand. Immerhin hatte er eine Visitenkarte. Vielleicht konnte er also doch mehr, als nur im Dreck herumzuwühlen. Vielleicht war er ja so was wie ein Aufseher für andere Leute, die im Dreck herumwühlten. „W. Chase“, stand da. Sein Vorname war garantiert total schrecklich. Worthington vielleicht oder Wessex.

Einfach nur Chase, sagte er immer. So als fände er es unerträglich, ein Mister zu sein. Und er hatte recht: Der Mister passte überhaupt nicht zu ihm.

Als Jane aufsah, begegnete sie zufällig dem Blick von einem Typen, der zwei Stühle weiter saß. Als er lächelnd aufstand und auf sie zukam, musste sie ein frustriertes Stöhnen unterdrücken. Sie war heute wirklich nicht in der Stimmung. Jedenfalls nicht für solche Typen.

„Hi“, sagte er. „Ich bin Dan.“

„Hi, Dan.“ Ihren eigenen Namen verriet Jane nicht. Eigentlich war dieser Dan ja ganz süß, und er trug Anzug und Krawatte. Aber er war nun mal nicht ihr Typ. Keiner von denen war ihr Typ. Sie war einfach ein hoffnungsloser Fall.

„Wohnen Sie hier in Aspen?“, fragte er.

„M-hm.“

„Ich bin nur beruflich hier. Eine wunderschöne Gegend, wirklich.“

„Ja, es ist sehr hübsch hier.“ Gott, was wollte er überhaupt von ihr? Sie trug ein elfenbeinfarbenes Kostüm und ihre Brille, und ihre Haare waren zu einem strengen Dutt hochgesteckt. Sie musste stockkonservativ wirken. Andererseits: Vielleicht sah sie ja auch so einsam und verzweifelt aus, dass dieser Dan glaubte, er könne sie problemlos flachlegen.

Er lehnte sich an die Bar. „Darf ich Sie auf einen Drink einladen?“

„Nein danke, ich warte auf jemanden.“

Das schreckte ihn ab. Während er von dannen zuckelte, musterte Jane sein Kreuz, das ihr ziemlich … zierlich vorkam. Er war nicht viel größer als sie selbst und hatte dieselbe schmale Silhouette wie Greg.

Jane war eins vierundsiebzig groß und ziemlich kurvenreich. War es da wirklich zu viel verlangt, sich einen großen – und vor allem breit gebauten – Mann zu wünschen?

Wieder sah sie auf die Karte in ihrer Hand. Chase. Groß war er ja. Und er machte sie an. Und aus einem bislang unbekannten Grund hatte er sie gefragt, ob sie mit ihm ausgehen würde. Es war ziemlich offensichtlich, dass er nicht die Art Mann war, die Ehe, Haus und Kinder plante. Aber das hieß noch lange nicht, dass sie ihn nicht für eine Weile benutzen konnte, um ein bisschen Spaß zu haben.

Mr Jennings war mit einer Menge unbrauchbarer Frauen zusammen gewesen, ehe er Lori gefunden hatte. Und er hatte keine dieser Beziehungen ernst gemeint. Warum sollte Jane sich nicht dasselbe herausnehmen dürfen?

Außerdem hatte sie übermorgen Geburtstag. Natürlich war es keine sonderlich gute Idee, mit jemandem zu schlafen, mit dem sie beruflich zu tun hatte. Alles in allem war es sogar eine extrem schlechte Idee. Aber es wäre auch ein verdammt gutes Geburtstagsgeschenk.

Hatte sie sich nicht wenigstens eine einzige Nacht harten, ursprünglichen Sex mit einem richtigen Mann verdient? Einen winzigen, wunderbaren Umweg auf ihrer Reise in eine respektable Zukunft? Niemand hier wusste etwas über ihre Vergangenheit. Niemand hier konnte mit dem Finger auf Jane zeigen und sagen: „Dieses Mädchen ist noch genauso billig wie früher.“

Jane zog ihr Handy hervor. „Du hast einen im Kahn“, versuchte sie, sich selbst zu warnen. Leider sorgte dieser Umstand aber nur dafür, dass sie ihren Plan immer besser fand. „Das ist eine dumme Idee“, flüsterte sie sich selbst zu. „Extrem dumm sogar. Aber unter Alkohol macht man eben Dummheiten.“

Mit zitternden Fingern schaltete sie das Handy wieder ein. Doch als sie die erste Ziffer von Chases Nummer eintippen wollte, bekam sie Muffensausen, legte das Handy vor sich auf den Tresen und atmete einmal tief durch. Und da klingelte das dumme Ding.

„Gott!“ Erschrocken legte sie sich die Hand auf die Brust. Rettung in letzter Sekunde. Nur dass auf dem Display wieder das Wort „Mom“ blinkte, was nie ein gutes Zeichen war.

Jane nahm ab. „Hallo?“

„Oh Jane, Gott sei Dank! Ich habe schreckliche Neuigkeiten. Einfach schrecklich!“

„Mom, was ist denn passiert?“ Janes Herz begann, heftig zu klopfen.

„Es ist wegen Jessie“, klagte ihre Mutter.

„Was ist denn passiert?“

„Er hat sich immer noch nicht gemeldet! Ich habe den ganzen Tag über versucht, dich zu erreichen. Er ist … Also, ich habe einen Anruf von Bekannten bekommen, und er … Dein Bruder ist im Gefängnis.“

„Oh.“ Janes Herz hörte auf, wie verrückt zu hämmern. „Ich verstehe. Und weswegen?“

„Ich weiß nicht. Bisher habe ich nur Gerüchte gehört, und ich habe keine Ahnung, was eigentlich los ist, weil er sich ja nicht meldet.“

„Beruhig dich, Mom! Er weiß genau, dass Dad ihn umbringen wird, und deswegen will er nicht zu Hause anrufen.“ Sie sah sich nervös um und fuhr ganz leise fort: „Wahrscheinlich haben sie ihn wegen Drogenbesitz eingebuchtet. Du weißt doch, wie er drauf ist, Mom.“

„Kannst du nicht deinen Freund bitten, mehr herauszufinden? Ich weiß ja nicht mal, in welchem Gefängnis er ist.“

„Bist du verrü…“ Jane biss sich auf die Zunge. „Mom, es ist Freitagabend. Gerade gibt es nichts, was wir für ihn tun könnten.“

„Aber dann muss er ja das ganze Wochenende über dortbleiben!“

„Mom!“, unterbrach Jane sie etwas schärfer als beabsichtigt. „Jetzt beruhig dich mal! Wenn er kurz vor dem Nervenzusammenbruch stehen würde, hätte er sich schon bei dir gemeldet. Bestimmt geht es ihm den Umständen entsprechend gut. Und wenn er sich bis morgen nicht gemeldet hat, sehe ich mal, was ich für ihn tun kann, okay?“ Allerdings würde sie einen Teufel tun und Greg anrufen.

„Aber …“, flüsterte ihre Mutter mit schwacher Stimme.

Janes Herz zog sich vor Sorge zusammen. „Mom, ist Dad da?“ Ihr Stiefvater Mac war ein Fels in der Brandung und hatte ihre Mutter bislang noch jedes Mal aufgefangen, wenn sie sich wieder in irgendetwas hineinsteigerte.

„Ja, er ist da.“

„Gut. Und was hat er zu der Sache gesagt?“

Für eine Weile drang nur Stille aus dem Hörer. Dann flüsterte ihre Mom: „Er hat gesagt, dass Jessie mal schön bleiben soll, wo er ist, bis er den Mut findet, anzurufen und uns um Hilfe zu bitten.“

So freundlich hatte Mac das ganz sicher nicht formuliert. Aber Jane nickte nur. „Okay. Alles wird gut, Mom. Jessie ist einundzwanzig Jahre alt, und er muss lernen, dass er seine Probleme alleine ausbaden muss. Ein paar Tage im Gefängnis tun ihm vielleicht sogar gut.“

„Aber … das fühlt sich einfach nicht richtig an!“, jammerte ihre Mutter.

„Und es ist auch nicht richtig“, murmelte Jane, dann verabschiedete sie sich und legte auf. Es war einfach nicht richtig, dass ihre Vergangenheit sie immer wieder einholte, ganz gleich, wie viel Mühe sie sich gab, ihr altes Leben hinter sich zu lassen: die Vorladungen, die Gerichtstermine, die Gefängnisbesuche, die Kautionszahlungen. Es spielte keine Rolle, wie hart sie arbeitete: Ein Telefonanruf reichte, und schon wurde Jane Morgan in die Wohnwagensiedlung zurückkatapultiert, in der sie ihre Jugend verbracht hatte.

Sie warf einen Blick auf die Visitenkarte.

Wenn sie schon immer weiter dem Abgrund entgegentrudelte, konnte sie auf dem Weg nach unten wenigstens noch ein bisschen Spaß haben.

3. KAPITEL

Lieber Himmel! In einem Anflug von Panik klappte Chase die Sonnenblende in seinem Truck nach unten.

„Scheiße!“, brummte er seinem Spiegelbild zu und rieb sich über sein stoppeliges Kinn. Unter neuerlichem Fluchen klappte er den Blendschutz wieder hoch. Er hatte keine Zeit mehr, basta. Jane Morgan hatte angerufen und ihn gebeten, sie zu treffen. Selbst mit den zwei Minuten unter der Dusche war er schon ein Risiko eingegangen. Fast hatte er erwartet, bei seiner Rückkehr aus dem Bad eine Nachricht auf seinem Handy vorzufinden, in der sie ihm mitteilte, dass sie es sich doch anders überlegt hatte. Jetzt, wo er nur noch ein paar Schritte von der Bar entfernt war, gab es kein Zurück mehr.

Er hatte keine Ahnung, was los war – und er würde sich auf keinen Fall davon abhalten lassen, es herauszufinden. Er knallte die Fahrertür hinter sich zu und hastete über die Straße zur Bar.

Er brauchte ein paar Sekunden, um Jane zu entdecken. Irgendwie schien sie … mit dem Hintergrund zu verschmelzen. Obwohl Freitagabend war, hatte sie ihr Haar nach wie vor zu einem festen Knoten hochgesteckt, und sie trug immer noch dieses ziemlich teuer aussehende weiße Kostüm. Während er sie beobachtete, nahm sie die Brille ab und rieb sich die Augen. Jane wurde müde. Wenn er sich nicht beeilte, würde er seine Chance auf ein Date verpassen.

Er bahnte sich einen Weg durch die Menge und blieb direkt neben Janes Tisch stehen. „Hey, Jane.“

„Oh!“, schrie sie leise auf und schob sich die Brille zurück auf die Nase. Dann stand sie etwas ungeschickt auf. „Hallo.“

„Ich freue mich sehr, dass Sie angerufen haben.“

„Ich … also … ich hatte doch Ihre Karte.“ Sie machte eine hilflose Geste, und Chase bedeutete ihr, sich wieder zu setzen.

Dann fiel sein Blick auf ihr Wasserglas. „Kann ich Ihnen etwas zu trinken holen?“

„Ähm … klar, sicher.“

Chase winkte einer Kellnerin, die sofort zu ihm herüberkam. Ihr Lächeln verblasste, als er in Janes Richtung nickte. „Die Dame zuerst.“

Jane bestellte einen Martini. Als er selbst eine Cola bestellte, wirkte sie ein wenig überrascht. „Wollen Sie nichts Richtiges trinken?“

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