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Radikal selbstbestimmt – Ihrer Zeit weit voraus. Was wir von Alexandra Kollontai lernen können

Als Buch hier erhältlich:

»Die wirklich befreite Frau muß materiell vom Mann unabhängig sein und von den mit der Mutterschaft verbundenen Pflichten entlastet werden.«

Alexandra Kollontai


Warum ist der Name einer Frau, die 1917 das erste weibliche Mitglied des russischen Kabinetts, später die weltweit erste akkreditierte Diplomatin wurde, heute fast vergessen? Die geschiedene und alleinerziehende Alexandra Kollontai sorgte für verbessertes Arbeitsrecht, legalisierte Abtreibungen, liberalisierte das Scheidungsrecht, und wurde zweimal für den Friedensnobelpreis vorgeschlagen.

Sie kämpfte hart und erfolgreich für ihre Überzeugungen. Für die hochgebildete Generalstochter waren Selbstbestimmung und Gleichberechtigung entscheidend. Der Wandel sollte sich laut Kollontai auch auf das Liebesleben der Frauen auswirken. Mit ihrer neuen »Sexualmoral« rüttelte sie an den patriarchalischen Strukturen.

Diese Vordenkerin entreißt Maria Wiesner dem Vergessen. Ihr kompromissloses Leben nach modernen Prinzipien ist eine Inspiration für alle, die soziale Gerechtigkeit und Gleichberechtigung noch lange nicht vollendet sehen.


Von der vornehmen Tochter zur unerbittlichen Revolutionärin – Revival einer vergessenen Ikone


  • Erscheinungstag: 27.12.2022
  • Seitenanzahl: 128
  • ISBN/Artikelnummer: 9783365001325

Leseprobe

»Ein feministisches Buch, das sich nicht mit der Liebe auseinandersetzt, wäre ein politischer Fehlschlag.«

Shulamith Firestone

»Für Kommunisten muss Sex genauso selbstverständlich sein wie ein Glas Wasser zu trinken.«

Alexandra Kollontai

Interview mit Folgen

Zum 30. Jahrestag des Mauerfalls interviewte ich die amerikanische Wissenschaftlerin Kristen R. Ghodsee. Das Gespräch sollte sich um ihr Buch Warum Frauen im Sozialismus besseren Sex haben drehen. Ghodsee ist Professorin für Osteuropastudien an der Universität von Pennsylvania. Als die Sowjetunion zusammenbrach, kaufte sie sich ein Flugticket nach Europa und verbrachte Monate mit Forschungsreisen durch die Staaten des ehemaligen Ostblocks. Ihr Buch fasst zusammen, was sie über Jahre auf diesen Reisen und durch ihre Forschung gelernt hat. Das wollte ich genauer wissen. Aber wir schweiften bald ab. Wir sprachen über Feminismus, unsere Erfahrungen mit strukturellen Ungleichheiten und die Kämpfe für Gleichberechtigung in Europa und den USA. Sie erzählte, wie sie als Frau in Amerika in Schule und Universität um Anerkennung kämpfen musste. Ich erzählte, wie ich mich lange nicht als Feministin gesehen hatte und wie sich das erst durch meine journalistische Arbeit geändert hat. Natürlich drehte sich unser Gespräch auch um Sex, denn davon sprach ja der Titel ihres Buches.

Sexualität ist laut Ghodsee im Kapitalismus zu einem kommerziellen Gut geworden, ein von der Werbung genutztes Reizmittel, als Pornoindustrie auch ein eigener Schattenmarkt. Wirkliche Intimität, so urteilt die Publizistin, finde kaum Platz in einem Leben, das stark von finanziellem Druck geprägt ist. Wer hat schon Lust auf Sex, wenn die Gedanken darum kreisen, woher das Geld für die horrende Miete, für die steigenden Strompreise, Studiengebühren, Tankrechnungen oder Lebensmittel kommen soll? Außerdem, führte Ghodsee aus, sei die Entscheidung über Aussehen und Umgang mit dem eigenen Körper gerade für junge Frauen immer mehr von Werbung und Konsum beeinflusst. Magazine und Marketingkampagnen vermitteln noch immer Schönheitsideale, die gerade in der Pubertät zu einem gestörten Körperbewusstsein führen können. Das ist natürlich Absicht der Werbeplakate, immerhin verkaufen sie das Versprechen, dass man den eigenen Körper nur mit Cremes, Rasierern, Tönungen oder Vitamincocktails bändigen kann – und die Drohung, dass man das auch muss, um begehrenswerter zu werden.

Beim Ergründen der Ursprünge dieser Thesen zur Sexualität kamen wir unweigerlich auf die Feministin Alexandra Kollontai zu sprechen, der Ghodsee in ihrem Buch eine längere Passage widmet. Ich hatte Kollontais Namen dort zum ersten Mal gelesen, und nun fiel mir bei unserem Gespräch, das wir während der Pandemie per Videotelefonie führten, das Porträt Kollontais im Arbeitszimmer der Amerikanerin auf. Wir unterhielten uns über diese Frau, die vor rund 150 Jahren geboren wurde und deren Gedanken über Sexualität, Eherechte und die Gleichstellung der Frau heute noch immer revolutionäre Kraft ausstrahlen – sogar dort, wo sie gelebt und gearbeitet hat: Im heutigen, sehr patriarchalischen, zunehmend religiösen und nationalistischen Russland hätte sie kaum weniger Schwierigkeiten als im damaligen, und militaristisches Denken, das in Russland heute ebenfalls wütet, war ihr fremd – seine Überwindung betrieb sie nicht nur als Sache der Gesinnung, die etwa für den Frieden schreibt, hofft und betet, sondern auch als praktische Politikerin (einige ihrer größten Erfolge waren diplomatische, so stiftete sie einen wichtigen Frieden zwischen der Sowjetunion und einem Land, das sich seit Februar 2022 gegen Russland gestellt sieht und in die NATO strebt, nämlich Finnland). Sie war das Gegenteil einer naiven, unpolitischen Seele, die Politik für das Geschäft eines starken Mannes und muskulösen Anführers hält, das Gegenteil einer orthodox-christlich demütigen Hausfrau und erst recht das Gegenteil einer Person, der die nationale Macht wichtiger ist als das private und öffentliche Wohlergehen der Einzelnen in der Gesellschaft. Kein orthodoxer Pope oder sonstiger Geistlicher, kein Nationalist, kein Chef, kein General hätte ihr je den Mund verbieten können.

Wer war Alexandra Kollontai?

Die Frau ließ mich nicht mehr los. Wie war es möglich, dass zu Beginn des 20. Jahrhunderts eine Frau in solcher Radikalität all die Dinge vorbrachte, mit denen sich Feministinnen von Westeuropa bis Amerika und im globalen Süden noch heute beschäftigen? Die Forderungen sind die gleichen, wir haben nur einige neue Wörter dafür gefunden: Anerkennung von Care-Arbeit, Schließung der Gender Pay Gap und sexuelle Selbstbestimmung.

Nach dem Interview mit Kristen Ghodsee begann ich, mich weiter mit Alexandra Kollontai zu beschäftigen. Die Frau hatte ihre Spuren in der Geschichte hinterlassen, nicht nur als Protestheldin, sondern als Person, die etwas erreicht hat und an einer wirklichen Regierung beteiligt war. Doch gab es über sie weniger Literatur, als ich erwartet hätte. Dabei hat sie ein Leben voller Kämpfe und Reisen und Konflikte gelebt, das Stoff für mindestens einen Film hergeben würde.1

Stellen Sie sich vor, es gäbe eine Frau, die verlangt, dass Abtreibungen straf- und kostenfrei angeboten werden müssen, dass Frauen ausnahmslos den gleichen Lohn wie Männer erhalten, dass Vorsorgeuntersuchungen für Frauen kostenlos sind und Krippenplätze ebenso. Würden Sie annehmen, dass eine Regierung diese Frau zur Ministerin macht? Genau das ist geschehen – und zwar schon vor mehr als hundert Jahren.

Alexandra Kollontai war eine Revolutionärin – im wahrsten Sinne des Wortes, denn sie kämpfte in der Februarrevolution 1905 und der Oktoberrevolution 1917 –, sie wurde zur ersten Ministerin der Moderne, setzte in dieser Position die oben erwähnten Punkte der Frauenrechte sofort um und begann, die traditionellen Vorstellungen von Partnerschaft und Sexualität umfassend zu kritisieren und durch andere zu ersetzen. Schließlich war sie auch noch Mutter, obendrein geschieden, alleinerziehend, Schriftstellerin, Rednerin und später dann Diplomatin, besuchte während ihres Lebens drei Kontinente, führte 1940 und 1944 maßgeblich die Friedensverhandlungen zwischen Finnland und der Sowjetunion und wurde dafür und für ihre diplomatische Arbeit in den schwierigen Kriegsjahren kurz nach dem Zweiten Weltkrieg von Schweden und Finnen zwei Mal für den Friedensnobelpreis vorgeschlagen.

Ihre radikalen Ideen hat sie gelebt, sie sind aufs Engste mit ihrem Lebensweg verwoben. In den nachfolgenden Kapiteln werden sie vorgestellt, aber auch das Leben dieser Revolutionärin, Ministerin, Diplomatin, Schriftstellerin und Mutter, in der Hoffnung, damit Rückschlüsse auf jene Aspekte ihres Denkens und Handelns zu ermöglichen, die noch heute den Kampf um Gleichberechtigung bestimmen.

Alexandra Kollontai wollte nicht einfach nur den Status der Frau in der Gesellschaft ändern. Sie sah, dass der Kapitalismus, in den ihr Land mit der voranschreitenden Industrialisierung und der Ausbeutung von Arbeitern und Umwelt steuerte, keine umfassende Lösung für die Probleme der Frauen bereithielt. Solange sich eine Gesellschaft auf die Ausbeutung Schwächerer und Ärmerer stützte, konnte es für sie auch keine Verbesserung der Position aller Frauen in dieser Gesellschaft geben. Alle Fragen nach der Gleichberechtigung der Frau und der Ausrichtung der Gesellschaft waren für sie untrennbar miteinander verbunden. Die eine Sorte Fragen konnte nicht ohne die andere gelöst werden.

Mit diesem Ansatz unterscheidet sich Alexandra Kollontai stark von anderen Feministinnen, die sich mit und nach ihr der Sache der Gleichberechtigung angenommen haben. Diese feministischen Kämpferinnen lassen sich in Gruppen unterteilen, zu denen Kollontai aber nicht gehört: Zum einen gab und gibt es Pragmatikerinnen, die keine Aussicht auf eine gesamtgesellschaftliche Lösung sahen oder sehen und daher innerhalb der engen Begrenzung des Möglichen das Maximale forderten, ohne Eigentums- oder andere Rahmenrechtsverhältnisse anzugreifen. Alice Schwarzer, die in den 1970er-Jahren die Abtreibungsdebatte in Deutschland anführte, ist hierzulande wohl das bekannteste Beispiel. Ebenso dachte die Französin Simone de Beauvoir, die nicht nur mit ihrer tiefgreifenden Analyse des Zusammenhangs zwischen wirtschaftlicher Abhängigkeit und gesellschaftlicher Position der Frau den Grundstein für den Feminismus des 20. Jahrhunderts legte, sondern sich in Frankreich vor allem aktiv für die Legalisierung der Abtreibung einsetzte.

Zum anderen gab und gibt es aber jene Feministinnen, die zwar Visionen einer gleichberechtigten Zukunft entwickelten, die jedoch bei aller Schönheit ihrer utopischen Theorie keine praktische Handlungsanleitung gaben oder geben und auch selbst selten viel erreicht haben beziehungsweise erreichen. Die Kanadierin Shulamith Firestone war eine solche Visionärin, die ebenfalls in den 1970er-Jahren als Second-Wave-Feministin äußerst liberale Ideen zur Kindererziehung formulierte. Ebenso die Amerikanerin bell hooks, die den Gedanken der Intersektionalität in die Feminismusdebatten brachte und für eine Politik der Liebe plädierte.

Alexandra Kollontai ist unter allen diesen Frauen eine Ausnahmeerscheinung, denn sie gehört weder zur einen noch zur anderen Gruppe ganz, sie ist sowohl Visionärin umfassender neuer Ideen zur Gleichberechtigung der Geschlechter, gleichzeitig aber auch Pragmatikerin, denn sie kämpfte konkret und mit greifbaren Ergebnissen für eine neue Gesellschaft ohne Ausbeutung, in der diese neuen Ideen (wie Abtreibungsrecht, Mutterschutz oder neue Formen der Ehe und Liebe) umgesetzt werden konnten.

Mittlerweile merken wir, dass die Auswirkungen der Ausbeutung von Mensch und Natur vor allem im globalen Süden sich durch den Klimawandel auch aus den wohlhabendsten Ländern nicht mehr fernhalten lassen. Wir stellen fest, dass wir nach 100 Jahren Frauenwahlrecht und mehr als 150 Jahren Frauenbewegung noch immer von Gender Pay Gap, dem Fehlen von Frauen in Führungspositionen und seit den neuesten Entwicklungen – etwa in den Vereinigten Staaten oder Polen – wieder vom Recht auf Abtreibung reden müssen, von den erschreckenden Statistiken über häusliche Gewalt und Femizide ganz zu schweigen. Es lohnt sich, die Ideen und Grundsätze einer Frau in den Blick zu nehmen, die, lange vor uns, Revolutionäres bewirkte und den Mut hatte, ihr Leben nach ihren eigenen freiheitlichen Grundsätzen der gleichberechtigten Liebe und Partnerschaft zu gestalten.

Neues Eherecht und freie Partnerwahl

Überverwöhnt und überliebkost

1872 wird Alexandra Kollontai in Sankt Petersburg als Tochter eines ukrainisch-russischen Generals der zaristischen Armee und einer Finnin geboren, deren Vater im Holzhandel reich geworden war. Sie lebte in einer Zeit voller Umbrüche, wie schon ein Blick auf ihr Geburtsdatum zeigt: Je nach Quelle wird man den 19. März2 oder 1. April 18723 finden, denn Russland stellte erst 1918, nach der Russischen Revolution, den Kalender vom julianischen auf das gregorianische System um, was eine Zeitdifferenz von 13 Tagen zur Folge hat.

Die Ehe der Eltern ist im Gegensatz zu den in jener Zeit üblichen gesellschaftlichen Normen keine von deren Eltern geplante und vereinbarte. Im Gegenteil, die Mutter Alexandra Masalina war schon verheiratet, als sie den aus der Ukraine stammenden Vater, Michael Domontowitsch, kennenlernte. Ihre erste Ehe war eine arrangierte Vernunftehe, die Mutter nicht glücklich. Eine Scheidung war seinerzeit aber keine übliche Maßnahme, um diese Situation zu ändern. Vielmehr wäre es nun an Masalina gewesen, auszuharren, die Ehe irgendwie zu ertragen, die Kinder großzuziehen und mit dem Befremden gegenüber dem Ehemann zurechtzukommen. Doch Masalina bestand darauf, ihr Schicksal selbst in die Hand zu nehmen und sich von ihrem Mann offiziell zu trennen. Sie heiratete den General und Großgrundbesitzer Michael Domontowitsch, und diesmal war es eine Ehe aus Liebe.

Der Kampf ihrer Eltern um die Selbstbestimmung ihrer Liebe sollte das Leben der Tochter und deren Vorstellungen von Beziehungen prägen.

Kollontai wuchs behütet auf. Als jüngste Tochter und einziges Kind, das aus dieser zweiten Ehe hervorging, verwöhnten die Eltern sie. In ihrer Autobiografie beschreibt sie sich als »Überverwöhnte und Überliebkoste«4. Luxus gab es im Haushalt der Eltern kaum, Verzicht jedoch ebenso wenig. Und damit erging es der jungen Alexandra weitaus besser als dem Großteil der Mädchen und jungen Frauen im Land.

Sie war sich dieser Privilegien früh bewusst. Wenn sie auf dem ländlichen Gut des Großvaters mit den Kindern der Bauern spielte, fielen ihr die Unterschiede »schmerzlich auf«, wie sie später schrieb. »Ich kritisierte schon als kleines Kind die Ungerechtigkeit der Erwachsenen und empfand es als deutlichen Widerspruch, dass mir alles geboten und den anderen Kindern so vieles versagt geblieben.«5 Dieser scharfe Blick für Ungerechtigkeiten und der daraus folgende Drang, dagegen zu kämpfen, sollten später zum Antrieb der jungen Frau werden, gegen die gesellschaftlichen Schranken anzugehen, die vorschrieben, dass alles so zu bleiben hatte, wie es war.

Alexandra bekam im Haus der Eltern Privatunterricht, sie sprach schon mit sieben Jahren neben Finnisch, der Sprache ihrer Mutter, Englisch, Deutsch und Französisch sowie Italienisch und Bulgarisch. Die sprachliche Begabung sollte ihr später auf ihren zahlreichen Reisen nützen und ihre Arbeit als Diplomatin erleichtern. Wo genau sie mit den neuen politischen Ideen der Epoche in Berührung kam, darüber gibt es mehrere Thesen.

Eine führt Kristen Ghodsee in ihrem 2022 erschienenen Buch Red Valkyries – Feminist Lessons From Five Revolutionary Women [dt. Rote Walküren – Lektionen in Feminismus von fünf Revolutionärinnen] an: »Als ihr Vater auf den Balkan geschickt wurde, um dem seit 1878 vom Osmanischen Reich befreiten bulgarischen Staat beim Schreiben einer Verfassung zu helfen, nahm er seine frühreife Tochter mit, dort erhielt sie eine erste Kostprobe davon, wie politische Freiheit aus revolutionärem Kampf entstehen kann.«6

Eine andere These besagt, dass ihr eine ihrer Hauslehrerinnen sozialistische Ideen nahebrachte, ja sogar Schriften von Karl Marx und Friedrich Engels zu lesen gab. Man kann davon ausgehen, dass dies nicht Teil der Bildung war, die ihren Eltern vorgeschwebt hatte. Dass ihre Tochter überhaupt unterrichtet wurde, zeigt die Fortschrittlichkeit dieser Familie. Bildung war für Frauen zu jener Zeit keine Selbstverständlichkeit. Vor allem der Vater hatte den Hausunterricht für seine Tochter unterstützt, weiter ging die Liberalität der Familie jedoch nicht. Als Alexandra von einem Studium zu träumen begann, untersagte es ihr die Mutter und erlaubte lediglich, das Examen abzulegen, das die Tochter für eine Lehrerinnentätigkeit qualifizierte. Auch in vielerlei anderen Belangen waren die Eltern noch zutiefst in den konservativen, bürgerlichen Traditionen ihrer Zeit verwurzelt. Und Alexandra sollte mit ihnen ihren ersten erbitterten Kampf führen, ihr Leben selbst bestimmen zu dürfen.

Recht auf Liebe – und Flucht aus der Ehe

Ihre Mutter hatte beabsichtigt, Alexandra früh zu verheiraten. Ein ranghoher Militärbeamter stand dafür ebenso in Aussicht wie ein Mitglied aus dem weiteren Kreis der Zarenfamilie. Solche Vernunftehen, Kollontai nennt sie rückblickend »Verkaufsehen«7, waren durchaus üblich, brauchte es doch einen wohlhabenden Mann, um eine Frau finanziell abzusichern. Ghodsee spricht von einem »Tausch der weiblichen Sexualität gegen Geld, Waren, Dienstleistungen und sozialen Status«.8 Doch Alexandra wollte keine Ware sein, sie hatte ihren eigenen Kopf.

Als Kind hatte sie miterlebt, wie ihre Schwester mit neunzehn Jahren einen wohlhabenden, fast siebzigjährigen Mann heiraten musste. Eine solche Ehe, das verkündete sie ihren Eltern stur, käme für sie nicht infrage. Wenn sie schon heiraten sollte, dann nur aus Liebe. Die fand sie bei ihrem entfernten Vetter Wladimir Kollontai. Die Eltern waren mit ihrer Wahl des mittellosen Ingenieurs keineswegs einverstanden. Sie versuchten die Tochter abzulenken, schickten sie auf eine Bildungsreise durch Westeuropa und legten unbeabsichtigt einen weiteren Grundstein für die radikalen politischen Ansichten ihrer Tochter, denn – so erzählen es einige Biografen9 – in einem Pariser Buchladen sollen ihr Das Kommunistische Manifest von Karl Marx und Friedrich Engels sowie die vom Letzteren verfasste Untersuchung Der Ursprung der Familie, des Privateigenthums und des Staats in die Hände gefallen sein. Beide Bücher prägten ihre politischen Ansichten, brachten ihr die Idee nahe, dass die Ungleichbehandlung der Frau auch mit dem gesellschaftlichen System zu tun hat und eng mit den wirtschaftlichen Verhältnissen im Kapitalismus verbunden ist. Ob die Lektüre der Bücher Kollontai auch in ihrem Entschluss bestärkte, der Vernunftehe, die ihren Eltern für sie vorschwebte, eine Absage zu erteilen, ist nirgends vermerkt. Fest steht: Nach ihrer Rückkehr nach Russland nahm sie mit einundzwanzig Jahren ihren entfernten Vetter Wladimir zum Mann.

Dessen Nachnamen, Kollontai, behielt sie bis an ihr Lebensende. Den Ehering legte sie hingegen schon recht bald wieder ab, obwohl sie ihren Mann noch liebte. Doch nur auf das Dasein als Hausfrau und, nach der Geburt des gemeinsamen Sohnes Michael im Jahr 1893, als Mutter, wollte sie sich nicht festlegen lassen. Es war ihr zu wenig. In ihren Memoiren schreibt sie: »Der Mann geht arbeiten, während die Frau zu Hause bleibt, sich entweder in der Küche zu schaffen macht, sich die Rechnungen vom Kaufmann vornimmt oder sich anzieht, um Besuche zu machen. Alle diese kleinen wirtschaftlichen und häuslichen Sorgen füllten den ganzen Tag aus.«10 Die Ehe hatte sie sich anders vorgestellt, sie hatte gedacht, dies wäre die Zeit, um sich als Schriftstellerin zu verwirklichen. Doch die häusliche Routine begann, sie zu ersticken.

Ein Fabrikbesuch ändert alles

Als ihr Mann Wladimir 1896 einen Auftrag als Ingenieur für die große Textilfabrik in Krengholm bekam, war es für Alexandra zunächst eine Abwechslung vom Alltag, ihn dorthin zu begleiten. Doch der Fabrikbesuch sollte ihr Leben verändern.

Am Ufer des Flusses Narva an der heutigen estnischen Grenze gelegen, war diese vom Bremer Baumwollhändler Ludwig Knoop gegründete Fabrik in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts nicht nur die größte Baumwollspinnerei Russlands, sondern galt als größte Spinnerei der Welt. Ökonomen, die sie besuchten, stellten Vergleiche mit England an. Das bezog sich nicht nur auf die Größe der Fabrik, denn England war (besonders in der Region um Manchester) zu jener Zeit uneinholbar führend in der Textilproduktion, sondern auch auf die Arbeitsbedingungen, die an Sklaverei erinnerten: An sechs Tagen mussten Arbeiterinnen und Arbeiter mindestens zwölf Stunden in der Fabrik arbeiten, in den beengten Unterkünften fehlten einfachste Hygienestandards, ja schon fließendes Wasser, was dazu führte, dass sich Krankheiten ausbreiteten. Einen Arbeitsschutz gab es nicht, die Textilfasern, die in der Fabrik die Luft verschmutzten, führten bei vielen Arbeiterinnen und Arbeitern zu Tuberkuloseerkrankungen. Sie starben jung an den Folgen der Arbeitsbedingungen, die Lebenserwartung war gering, Arbeiter in Manchester wurden Mitte des 19. Jahrhunderts im Durchschnitt keine zwanzig Jahre alt. Die Profitgier der Fabrikbesitzer fraß diejenigen, die ihre Arbeitskraft verkaufen mussten.

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