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Rosenduft in Thunder Point

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Mit ihrem Leben in Thunder Point ist Floristin Grace zufrieden, aber ein bisschen aufregender dürfte es schon sein. Vielleicht nicht ganz so wild wie bei Extremsportler Troy. Als er anbietet, ihr neue Horizonte zu eröffnen, überlegt sie nicht lange. Während ihrer Ausflüge entdeckt Grace, dass sie mehr als Freundschaft für Troy empfindet. Allerdings hat sie dem ganzen Küstenstädtchen verschwiegen, wer sie wirklich ist. Und auf Lügen kann man doch keine Zukunft aufbauen, oder?

"Niemand schreibt so anrührend über das Kleinstadtleben wie Robyn Carr"
Romantic Times Book Reviews


  • Erscheinungstag: 09.10.2017
  • Aus der Serie: Thunder Point
  • Bandnummer: 7
  • Seitenanzahl: 384
  • ISBN/Artikelnummer: 9783956497070

Leseprobe

1. Kapitel

Einen Tag nach Weihnachten war in Grace Dillons Blumenladen normalerweise nichts los. Sie hatte weder Aufträge abzuarbeiten, noch musste sie Blumen ausliefern. Telefonanrufe waren auch nicht zu erwarten. Um diese Zeit versuchten die meisten Menschen sich von den Feiertagen zu erholen. Außerdem waren viele Familien über die Weihnachtsferien verreist oder mussten sich um ihren Feiertagsbesuch kümmern.

Also fuhr Grace nach North Bend, um sich eine frühe Stunde auf dem Eis zu gönnen, bevor es auf der Eislaufbahn voll wurde. Wegen der Weihnachtsferien fielen die normalen Eiskunstlaufkurse aus, aber später würde es sicher voll werden, weil viele Kinder ihre neuen Schlittschuhe ausprobieren wollten. Grace liebte diese heimlichen, frühmorgendlichen Stunden auf dem Eis. Sie hatte mit Jake Galbraith, dem Besitzer der Eisbahn, eine Abmachung getroffen. Sie konnte ihn anrufen, und wenn es passte, ließ er sie ein oder zwei Stunden eislaufen, während er alles vorbereitete, um die Bahn zu öffnen. Obwohl er nichts von ihr dafür haben wollte, bezahlte sie fünfzig Dollar die Stunde. Das war für sie Ehrensache.

Als sie eintraf, lächelte er sie an und wünschte ihr viel Spaß.

Grace dehnte sich kurz. Nachdem der Fahrer der Eisbearbeitungsmaschine damit fertig war, die Eisfläche zu glätten, betrat sie das Eis. Sie wärmte sich mit ein paar vorwärts und rückwärts übersetzten Ausfallschritten, Crossrolls, Drehungen, Schwungbögen, Achten, Pirouetten und ein paar gesprungenen Axel auf. Irgendwann bemerkte sie, dass Jake an der Bande lehnte und sie beobachtete. Grace lief eine Spirale und machte dann eine perfekte Sitzpirouette. Sie zog noch weitere Bahnen mit kleineren Sprüngen. Für ihren Spreizsprung, bei dem man die Zehen mit den Fingerspitzen berührte, war sie einmal sehr bekannt gewesen. Sie blickte zur Bande hinüber, aber Jake war verschwunden.

Plötzlich ging Musik los und erfüllte die Eishalle mit „Rhapsody in Blue“. Grace glitt mit ausgestreckten Armen und Fingern und lockeren Handgelenken in eine Arabeske. Jake war inzwischen zurückgekehrt und beobachtete jede ihrer Bewegungen. Sie versuchte einen doppelten Axel, landete jedoch auf dem Hintern, stand wieder auf und lachte. Danach drehte sie noch ein paar Runden in der Halle, versuchte den Sprung noch einmal und brachte ihn diesmal sauber, allerdings nicht sehr elegant zu Ende. Jetzt ertönte eine andere Gershwin-Nummer. Als kleines Mädchen hatte Grace zu dieser Musik trainiert, sie klang vertraut und angenehm in ihren Ohren. Obwohl ihre frühesten Erinnerungen an den Eiskunstlauf sie immer mit einer leisen Wehmut erfüllten, hatten sie auch etwas Tröstliches, weil es eine Zeit gewesen war, bevor das mit den Wettkämpfen wirklich ernst wurde.

Grace war schon mindestens eine Stunde auf dem Eis, als die Musik zu Alicia Keys’ „Girl on Fire“ wechselte und sie noch einmal antrieb. Ihre Musik. Sie war on Fire! Plötzlich lief sie, als ob sie bei einem Wettkampf wäre – wie mit fünfzehn, als sie etwas kräftiger, aber leichter und beweglicher gewesen war. Und erfolgreich. Ihr fiel auf, dass sich zu Jake nun ein paar weitere Leute gesellt hatten – ein Mann stützte sich auf seinen Besen und schaute ihr zu. Ein paar Mädchen im Teeniealter, die am Schlittschuhverleihstand arbeiteten, hatten aufgehört zu arbeiten, um ihr ebenfalls zuzusehen. Der Fahrer der Zamboni lehnte, die Hände in den Hosentaschen, mit dem Rücken am Fenster der Eishalle.

Ihre zwei Stunden auf dem Eis vergingen für Grace wie im Flug. Sowie sie an den Geräuschen erkannte, dass die ersten Gäste zum Eislaufen kamen, verlangsamte sie ihr Tempo und verließ die Eisfläche.

Anerkennend nickte er ihr zu. „Es ist schon eine Weile her, seit ich dich habe laufen sehen. Das war wunderbar“, sagte er.

„Vor den Feiertagen war im Blumenladen so viel los“, erklärte Grace. Sie versuchte normalerweise immer, sonntagmorgens es zur Eishalle zu schaffen, aber im Dezember hatte sie einfach keine Zeit gehabt – Kränze, Gestecke, Tischdekorationen, zwei Hochzeiten und mehr Laufkundschaft als sonst.

„Du solltest öfter eislaufen. Ich habe übrigens eine lange Liste von Menschen, die nach einer guten Trainerin suchen.“

Sie schüttelte den Kopf. „Ich glaube nicht, dass ich eine gute Trainerin wäre. Ich habe kaum Zeit für irgendwas. Und ich würde nie wieder in den Wettkampfzirkus zurückkommen, nicht einmal mit Schülern. Ich habe diese Welt hinter mir gelassen.“

„Ich dachte, der Tag, an dem du vielleicht doch zurückkehren möchtest, würde irgendwann einmal kommen. Vielleicht nicht unbedingt als Eiskunstläuferin in Wettkämpfen, sondern mit dir als Trainerin. Ich glaube, du könntest allein mit deinem Namen ein Vermögen verdienen.“

„Meinen Namen habe ich ebenfalls hinter mir gelassen“, erinnerte sie ihn lächelnd. „Wir haben eine Abmachung.“

„Ich habe keinen Ton gesagt. Die Leute fragen mich, wer du bist, aber ich erzähle ihnen nur, dass du hier trainierst und anonym bleiben möchtest. Manche von ihnen versuchen, deinen Namen zu erraten. Sie würden, wenn sie eine Ahnung hätten, wann genau du immer zum Eislaufen hier bist, vorbeischauen, um dir zuzusehen. Das Eis vermisst dich. Dich beim Eislauf zu beobachten, ist wie Musik sehen.“

„Netter Versuch. Ich trainiere aber nicht mehr. Inzwischen verbringe ich genauso viel Zeit auf meinem Hintern wie auf Kufen. Ich laufe echt mies.“

„Das stimmt doch nicht. Dein schlechtester Lauf ist immer noch besser als die besten Läufe von anderen. Du hast mir gefehlt, hoffentlich hast du im neuen Jahr mehr Zeit.“

„Schau’n wir mal.“

Grace zog sich die Schlittschuhe aus und schlüpfte in ihre Ugg-Boots. Sie war immer so glücklich auf dem Eis, dass sie ihre Entscheidung, das alles hinter sich zu lassen, durchaus hin und wieder infrage stellte. Doch sie musste nur daran denken, dass der Alltag einer professionellen Eiskunstläuferin weit schrecklicher und ermüdender war als einfach nur ein paar Stunden Eislaufen. Als Trainerin wäre sie niemals in der Lage, so einen Druck auf die jungen Mädchen auszuüben, wie sie selbst unter Druck gesetzt worden war.

Sie holte hundert Dollar in bar aus der Tasche, um die beiden Stunden auf dem Eis zu bezahlen. Jake hatte ihr erklärt, dass er dieses Geld einem speziellen Fördertopf für junge, künftige Olympioniken, die sich anderenfalls keine Trainingsstunden leisten konnten, zukommen lassen würde. Grace hatte erwidert, dass es ihr egal sei, was er mit dem Geld tue. Solange er nicht preisgab, wer sie war.

Während sie die Eisbahn verließ, dachte sie daran, wie viel friedlicher ihr Leben in Thunder Point war als früher zu Wettkampfzeiten und wie hoch der Preis für ihre Freiheit gewesen war. Heute hatte sie Freunde, obwohl diese nicht wussten, wer sie vorher gewesen war. Niemand fand sie kompliziert oder brachte sie mit einer der erfolgreichsten, aber auch traurigsten Geschichten aus dem professionellen Eiskunstlauf-Zirkel in Verbindung. Niemand fühlte sich von ihr bedroht. Niemand hasste oder fürchtete sie. Niemand lehnte sie ab. Niemand nannte sie eine reiche Zicke oder eine dreckige Lügnerin.

Natürlich belastete Grace manchmal ihr Geheimnis. Jake Galbraith hatte sie sofort erkannt. Sie hatte ihn gefragt, was es kosten würde, die Eisbahn mehrere Stunden für sich zu buchen, und er hatte sofort gewusst, wer sie war. Aber in Thunder Point hatte sie es bisher noch niemandem erzählt.

Als sie in ihren Van stieg, entdeckte sie eine Nachricht auf ihrer Mailbox und hörte sie ab, bevor sie losfuhr. Sie war von Mikhail, ihrem ehemaligen Trainer. Er war überall auf der Welt unterwegs, dennoch waren sie in Kontakt geblieben und schickten sich hin und wieder Mails oder SMS. „Ich wünsche dir schöne Weihnachten“, sagte der Russe. „Ich glaube, ich bin einen Tag zu spät. Falls dem so sein sollte, hast du sicher Verständnis dafür.“

Grace rief ihn erst zurück, nachdem sie wieder zu Hause in ihrem winzigen Apartment über dem Blumenladen war. „Ich dachte, du hättest mich total vergessen“, sprach sie ihm auf die Mailbox. „Ich hatte schöne Weihnachten. Ich war gestern Trauzeugin bei meiner Freundin Iris – so habe ich den Weihnachtstag verbracht. Ich war vorher noch nie bei einer Hochzeit. Es war eine kleine und sehr private Feier und ein wunderbares Erlebnis. Und heute Morgen war ich eislaufen. Ich bin dreimal hingefallen.“ Dann ahmte sie seinen Akzent nach. „Was soll ich dazu sagen? Ich bin ein untrainierter Tollpatsch.“ Sie lachte, wünschte ihm das schönste neue Jahr, das er je erleben würde, und verabschiedete sich.

Als Grace erst vierzehn Jahre alt gewesen war, war ihr geliebter Vater und Trainer plötzlich und unerwartet mit sechzig gestorben. Ihre Mutter, die ebenfalls einmal eine professionelle Eiskunstläuferin gewesen und Meisterschaften gelaufen war, reagierte auf den Tod des Vaters, indem sie einen noch besseren Trainer einstellte. Einen sehr kleinen Russen mit einem großartigen Ruf, der Grace den ganzen weiteren Weg begleiten konnte. Es blieb keine Zeit zu trauern, sie hatten zu arbeiten. Mikhail Petrov war ein harter, exzellenter Trainer, und sie waren neun Jahre lang ein Team. Er war sehr unglücklich gewesen über Grace’ Entscheidung, dem Wettkampfsport ein für alle Mal den Rücken zu kehren. Ein paar Jahre lang hatte er Grace gedrängt, doch wieder in die Sportwelt zurückzukehren. „Bevor du alles vergisst, was ich dir beigebracht habe!“

Ihre Mutter, Winnie Dillon Banks, die ihrerseits ein Teenie-Eiskunstlaufwunder gewesen war, hatte mehr als erschüttert auf Grace’ Entschluss reagiert. Sie hatte getobt. „Wenn du jetzt, nach allem, was ich in dich investiert habe, aufhörst, bist du für mich gestorben!“, hatte sie geschrien. Trotzdem hatte Grace nach den Winterspielen von 2010 in Vancouver alles und alle hinter sich gelassen. Sie wollte einfach nur ganz normal sein und nicht andauernd beurteilt werden, sobald sie auch nur Luft holte. Sie wollte sein wie alle. Ein normales Leben führen.

Am Nachmittag saß Grace am Laptop, sah sich Blumenarrangements im Internet an und knabberte Popcorn, als es leise an der Tür klopfte. Sie schob den Vorhang beiseite. Es war Iris, und sie öffnete ihr erschrocken die Tür.

„Bleiben Frischverheiratete nach der Hochzeit nicht noch tagelang im Bett? Und treiben es miteinander bis zum Gehtnichtmehr?“, fragte Grace scherzhaft.

„Vielleicht, wenn keiner der beiden Frischvermählten ein Deputy ist“, antwortete Iris. „Wir haben im Bett gefrühstückt. Seth musste erst um eins ins Büro. Dann habe ich das Haus aufgeräumt, etwas zum Abendessen vorbereitet und …“ Sie machte eine Pause. „Ich habe Troy angerufen, um es ihm zu erzählen.“

„Du hast ihm vorher nichts gesagt?“, fragte Grace.

Iris schüttelte den Kopf.

Troy Headly, Highschool-Geschichtslehrer und Traum aller Mädchen, war sehr in Iris verliebt. Sie waren im letzten Frühjahr ein paar Monate lang zusammen gewesen, bis Iris ihm erklärt hatte, dass ihre Beziehung nicht über Freundschaft hinausgehen konnte. Sie arbeitete als Beratungslehrerin an der Highschool, und bevor sie sich auf einen Lehrer derselben Schule einließ, musste sie sich ihrer Gefühle für ihn wirklich sicher sein. Doch das war nicht der Fall gewesen. Dennoch hatte Troy es immer wieder bei Iris versucht, bis plötzlich Seth auftauchte. Auch danach war immer noch recht offensichtlich gewesen, dass er ziemlich viel für Iris empfand und es ihm nichts ausgemacht hätte, wenn Seth einfach wieder verschwunden wäre.

„Wie hat er es aufgenommen?“, wollte Grace wissen.

„Wie ein Mann“, entgegnete Iris. „Ist es noch zu früh für einen Wein?“

„Bestimmt nicht!“ Grace holte eine Flasche Napa Cellars Sauvignon Blanc aus ihrem kleinen Kühlschrank und entkorkte sie. „War es sehr schlimm?“

„Nee, war okay. Richtig gut. Troy war überrascht, dass wir so schnell geheiratet haben, doch so ging es allen. Wir waren ja selbst überrascht, wenn man es ganz genau nimmt. Er hat mir gratuliert und mir Glück gewünscht – alles was man in so einem Fall sagt. Ich habe ihn gefragt, ob er damit leben könne, und er hat gelacht, aber es klang nicht besonders fröhlich. Natürlich war er enttäuscht, dass seine Exfreundin geheiratet hat. Seine Worte, nicht meine – mir fällt es schwer, mich als seine Exfreundin zu betrachten. So ernst war es nie zwischen uns. Troy gibt sogar zu, dass er gar nicht nach einer Frau zum Heiraten sucht! Jedenfalls noch nicht. Ihm gefällt das Single-Leben ganz gut.“

Grace schenkte den Wein aus und stellte die Schüssel mit dem Popcorn auf den Tisch. „Feinschmecker-Service“, sagte sie. „Vielleicht ist das sogar das Abendessen. Und? Wie ist es, verheiratet zu sein? Ist es irgendwie anders als sonst?“

„Noch nicht“, erwiderte Iris. „Frag mich noch mal, wenn wir unsere Bankkonten zusammenlegen. Wir leben jetzt beide schon seit Langem als unabhängige, selbstständige Singles. Bis jetzt kümmern wir uns immer noch jeder für sich um unsere eigenen Belange, bis Seth sein Haus entweder vermietet oder verkauft hat. In meinem Haus gibt es noch jede Menge Platz in den Schränken, allerdings könnten wir Probleme kriegen, wenn seine männlichen Möbel nach einem Platz zwischen meinen ausgesprochen femininen Stücken suchen.“

„Ihr bleibt in deinem Haus?“, fragte Grace erleichtert.

„Es ist perfekt für uns. Dann kann ich weiter bei schönem Wetter mit dem Fahrrad in die Schule fahren.“

„Ich liebe dein Haus“, verkündete Grace. „Was ist denn mit euren Flitterwochen?“

„Mal schauen. Wir gucken uns gerade im Internet ein paar Angebote an. In ein paar Monaten, sobald Seth Urlaub kriegt und ich Ferien habe, werden wir hoffentlich mal an einen warmen und sonnigen Ort ausbüxen. Wie sieht es mit dir aus, Grace? Warum bist du mit niemandem zusammen?“

Grace bekam einen Lachanfall. Es war nicht das erste Mal, dass Iris sie das fragte. „Erstens, mit wem? Zweitens, wann?“

„Triffst du denn bei den Hochzeiten, die du belieferst, nicht mal auf den einen oder anderen Trauzeugen?“

„Nie. Die Trauzeugen tauchen immer erst sehr viel später auf, nachdem ich schon wieder weg bin. Zu den Hochzeitsfeiern bin ich nicht eingeladen. Außerdem, ist so etwas nicht der Todeskuss? Sich mit jemandem auf einer Hochzeitsfeier zusammenzutun? Nein danke.“

„Wir müssen dafür sorgen, dass du häufiger rauskommst“, sagte Iris.

„Stimmt“, erwiderte Grace mit einem zweifelnden Unterton in der Stimme. „Vielleicht könnte ich dir helfen, den Abschlussball zu beaufsichtigen und dabei einen vielversprechenden Achtzehnjährigen kennenlernen? Nee, eher nicht.“

„Wir sollten öfter in Clubs gehen oder so.“

„In Clubs?“, platzte Grace heraus. „In Thunder Point?“

„Okay, wir fahren hoch nach North Bend. Und grasen dort alles ab.“

„Ich bin mir sicher, dass Seth das sicher sehr schätzen würde!“

„Ach was, ich würde mit niemandem Telefonnummern austauschen oder jemanden mit nach Hause bringen …“

„Iris“, meinte Grace und hob das Weinglas. „Lass es gut sein. Ich kümmere mich um mein eigenes Leben. Auf meine Art und in meinem Tempo.“

„Da wäre immer noch Troy“, entgegnete Iris und nippte am Wein.

„Nee, wir sind bloß Kumpel. Unsere Chemie stimmt nicht.“ Von seiner Seite aus. „Wir waren mal ein Bier trinken, danach haben wir noch ein paar Käsesandwiches und eine Tomatensuppe gegessen. Das war schön. Außerdem bin ich nicht an deinen abgelegten Männern interessiert. Ich habe mich schlau gemacht, weißt du. Trostbeziehungen sind keine gute Idee.“

„Du kannst aber doch nicht einfach nur die ganze Zeit arbeiten“, beharrte Iris.

„Nicht?“, fragte Grace. „Ich dachte, dass ich es könnte.“

Als Grace jung war, hatten viele sie für verwöhnt gehalten. In Wirklichkeit hatte man sie dazu erzogen, hart, zuverlässig und unermüdlich zu trainieren. Sie hatte sofort ein schlechtes Gewissen, wenn sie sich einmal einen Tag freinahm, weil ihr Programm darunter hätte leiden können. Doch das gehörte zu den Dingen, die die meisten Menschen nicht nachvollziehen konnten.

Grace’ vollständiger Name lautete Isabella Grace Dillon Banks. Nachdem sie nach Thunder Point gezogen war, hatte sie auf den Großteil ihres Namens verzichtet und sich in Grace Dillon verwandelt. Denn der Name Izzy Banks war jedem, der Eiskunstlaufwettkämpfe und Weltmeisterschaften verfolgte, schon allein wegen ihrer Karriere als auch ihrer Verwicklung in Dramen und Skandale ein Begriff.

Grace’ Mutter, Winnie Dillon Banks, war eine wohlhabende Erbin, deren Großvater sein Vermögen mit Tabak gemacht hatte. Zu ihrer Zeit war auch Winnie Dillon Banks eine bekannte Eiskunstläuferin gewesen, obwohl sie bei Wettkämpfen nie so erfolgreich abgeschnitten hatte wie ihre Tochter. Winnies bestes Wettkampfergebnis als Eiskunstläuferin war der zweite Platz in der Nationalliga gewesen. In ihrer Tochter hatte sie die Chance gesehen zu gewinnen und sich zur ultimativen Eislauf-Mutter entwickelt.

Grace hatte eine privilegierte, allerdings auch isolierte Kindheit gehabt, in der Eislaufen über alles ging. Sie war die Tochter einer Eislaufikone und ihres Trainers. Winnie Dillon hatte, als sie einundzwanzig war, eine Liebesaffäre mit ihrem Trainer Leon Banks angefangen. Als alle Zeichen darauf hindeuteten, dass ihre besten Wettkampfzeiten vorbei waren, hatten einige zynische Gegner und professionelle Beobachter ihr vorgeschlagen, zu heiraten und Mutter zu werden.

Winnie und Leon brachten ihre Tochter aufs Eis, bevor Grace vier Jahre alt war, und trainierten hart mit ihr. In diesen frühen Tagen, als Eislaufen einfach Spaß bedeutete, weil sie nur die Beste sein wollte, war Grace glücklich. Sie bettelte darum, eislaufen zu dürfen, und hasste es, nicht auf dem Eis zu sein. Damals wäre sie, wenn ihr Vater sie gelassen hätte, acht Stunden am Tag auf dem Eis geblieben. Grace wurde verhätschelt und geliebt und verwöhnt. Ihre Freundinnen waren andere kleine Mädchen, die ebenfalls trainierten und Stunden nahmen oder zum Eislaufclub gehörten. Manche von ihnen waren auch Schülerinnen von Leon.

Grace liebte ihre Eltern sehr und begriff erst nach dem Tod ihres Vaters, wie schwierig deren Ehe gewesen war. Ihr Vater war sehr viel älter als Winnie gewesen, und hatte sich mehr auf seine Schülerinnen konzentriert als auf seine Frau. Grace’ Mutter war eine herrische Diva, die den widerstrebenden Leon auf alle möglichen Wohltätigkeitsveranstaltungen und Partys geschleppt hatte. Ihre Eltern waren in fast allen Punkten uneins gewesen, vor allem, wenn es um Grace’ Training und ihre Ausbildung gegangen war. Grace hatte nie eine traditionelle Schule besucht, weder eine öffentliche noch eine private – sie war von Privatlehrern unterrichtet worden. Leon war nie ganz sicher gewesen, dass das wirklich das Richtige für Grace war.

Als Grace zwölf Jahre alt war, erreichten die Wettkämpfe ein ernstzunehmendes Niveau. Doch Grace gewann jeden Preis, den es in ihrer Altersklasse gab, und galt schnell als unbesiegbar. Inzwischen trainierte sie mehrere Stunden pro Tag auf dem Eis, nahm Gymnastikstunden, Ballett und machte regelmäßig Yoga. Die Familie zog erst von Atlanta nach Chicago, schließlich ließ sie sich in San Francisco nieder. Die Umzüge richteten sich immer nach den besten Trainings- und Ausbildungsmöglichkeiten für Grace, und nach den besten Aussichten als Trainer für Leon.

Doch als Grace vierzehn war, diagnostizierte man Bauchspeicheldrüsenkrebs bei ihrem Vater. Winnie suchte sofort nach einem neuen, härteren, strengeren und berühmteren Trainer für Grace. Es war beinahe so, als ob sie sich Mikhail ausgesucht hatte, ehe er gebraucht wurde.

Leon Banks starb nur wenige Monate nach seiner Diagnose. Winnie und Grace nahmen sich ein paar Tage frei, aber dann ging es wieder zurück aufs Eis. „Dein Erfolg bedeutete deinem Vater alles“, betonte Winnie immer wieder. Es stimmte; Leon hatte immer das Beste für seine Tochter gewollt. Doch es war Winnie, für die das Gewinnen über allem stand. Egal wie hoch der Preis war, den man persönlich dafür zahlen musste. Das Eislaufen machte Grace inzwischen weniger Spaß, wurde aber lebenswichtiger, weil Winnie durchdrehte, wenn Grace einmal nicht auf dem ersten Platz landete.

Mit dreiundzwanzig, gleich nach den Winterspielen von Vancouver, kehrte Grace der Welt der Eiskunstlaufwettkämpfe den Rücken. Sie zog nach Portland, um dort bei einem liebenswerten älteren Paar zu wohnen, das früher für ihre Mutter gearbeitet hatte. Ross und Mamie Jenkins kannten Grace seit ihrer Geburt, Ross war der Fahrer der Familie und Mamie Haushälterin bei ihnen gewesen. Sie hatten sich ein paar Jahre zuvor zur Ruhe gesetzt und hatten einen Blumenladen eröffnet. Sie nahmen Grace bei sich auf.

In Portland war Grace zusammengebrochen. Sie war erschöpft und litt unter Depressionen und Zukunftsangst. Mamie hatte sie wieder aufgepäppelt und ihr Zeit gelassen. Später erschien es Grace, als ob sie mindestens einen Monat am Stück nur geschlafen hätte. Dann sagte Mamie eines Abends zu ihr: „Wenn du noch einen Tag länger herumliegst, kannst du gar nicht mehr laufen. Du musst etwas tun – eine Entscheidung treffen. Such dir einen Job, geh zur Schule, irgendwas.“

Grace wollte auf keinen Fall etwas mit Menschen zu tun haben. Sie glaubte auch nicht, dass sie irgendwelche nützlichen Fähigkeiten besaß. Also fing sie an, im Hinterzimmer des Blumenladens auszuhelfen, wo sie lernte, wundervolle Sträuße zu binden und Gestecke zusammenzustellen. Portland war eine unkonventionelle, interessante und einladende Stadt – nicht zu groß, nicht zu klein. Schritt für Schritt kam Grace aus ihrem Hinterzimmer heraus, um mit Kunden zu sprechen, manchmal auch Blumen auszuliefern, und ab und zu sogar auch, um Mamie und Ross beim Blumenschmuck für Hochzeiten zu helfen. Keiner machte ein großes Aufhebens um sie oder stellte ihr viele Fragen.

Jedes Mal, wenn in den Nachrichten oder in einer Sportsendung über eine wichtige Eiskunstlaufmeisterschaft berichtet wurde, klebte Grace am Fernseher und beobachtete jeden Schritt. Unverändert gab es immer eine kleine Randbemerkung über Izzy Banks, „die verwöhnte Göre auf dem Eis, die schärfste Konkurrentin bei allen Eiskunstlaufmeisterschaften, die offensichtlich den Druck nicht mehr länger ausgehalten hat“, wie ein Sportreporter sie beschrieb.

Verwöhnte Göre. Mann, das tat weh.

Grace’ Mutter meldete sich regelmäßig bei ihr, was bewies, dass auch Winnie diese Wettkämpfe nicht ignorieren konnte. Sie drängte Grace, nach Hause zurückzukehren und wieder mit dem Eiskunstlauf anzufangen. Doch die wenigen Unterhaltungen, die Mutter und Tochter miteinander führten, endeten alle im Streit. Danach sprachen sie monatelang nicht mehr miteinander.

Ein Jahr vor den Winterspielen in Russland 2014, als die dramatische Geschichte ihres Lebens erneut öffentlich untersucht wurde, wurde es Zeit für Grace, auf eigenen Füßen zu stehen. Sie hatte ein wenig Geld von ihrem Vater geerbt und beiseitegelegt, und sie hatte in Thunder Point Pretty Petals, den Laden, der Iris’ Mutter gehört hatte, gefunden. Sie lebte schon eine ganze Weile in Thunder Point, als die Winterspiele stattfanden. Wenn Grace keine Zeit hatte, sie sich im Fernsehen anzusehen, nahm sie die Spiele auf. Wieder einmal gab es die üblichen Anspielungen über die erstaunlichen Ereignisse im Leben der Izzy Banks. Doch Thunder Point war eher eine Football- als eine Eiskunstlaufstadt, und niemand erkannte Grace.

Grace hatte sich nichts mehr gewünscht als ein Leben, das sie selbst im Griff hatte. Ein Leben, das kein schweißtreibendes Training, keine grausamen Rivalinnen, keine endlosen Reisen durch zu viele unterschiedliche Zeitzonen, keine verrückten Fans und auch keine schreckliche Einsamkeit beinhaltete. Sie wollte wissen, wie es sich anfühlte, echte Freunde zu haben anstatt einer Mannschaft von Trainern, Therapeuten, Sicherheitsleuten und Konkurrenten.

Sie hatte noch nie einen Freund gehabt.

Aber sie hatte schon mehr als eine Goldmedaille gewonnen. Sie hatte jeden bedeutenden Wettkampf der Welt gewonnen.

An den Tagen nach Weihnachten nieselte es. Typisches Oregon-Küstenwetter um diese Zeit. Grace’ einzige Mitarbeiterin kam in den Laden, um zu kündigen. Sie hatte stundenweise für sie gearbeitet, aber sie war verheiratet, Mutter eines Kindes im Grundschulalter und konnte ihre Familie und den Blumenladen nicht mehr unter einen Hut bringen. Für Grace stellte diese Kündigung ein Problem dar, obwohl die Frau lediglich für den Verkauf von Blumensträußen zuständig gewesen war. Denn jetzt würde Grace wieder alles allein machen müssen, genau wie am Anfang, nachdem sie den Laden neu eröffnet hatte. Sie hatte sich eine Klingel an der Tür installieren lassen, damit sie die Tür abschließen und zwischendurch mal nach oben in ihr winziges Loft gehen konnte, wo sie die Klingel hören konnte. Außerdem musste sie den Laden immer, wenn sie wichtige Besorgungen zu erledigen hatte, abschließen. Sie brauchte eine Auslieferungsaushilfe.

Das Geschäft lief in der Woche nach irgendwelchen Feiertagen immer schlecht und im Winter, wenn die Tage kurz waren, besonders. Deshalb schloss Grace den Laden schon um vier Uhr nachmittags und fuhr zu Coopers Strandbar, um dort etwas zu trinken. Es überraschte sie nicht, dass Troy wieder aus Morro Bay zurückgekehrt war, wo er seine Familie besucht hatte. Allerdings war er allein hinter der Bar, was kein Wunder war, weil die Leute bei diesem kalten und nassen Wetter keine Lust auf einen Strandausflug hatten.

Troy hatte einen großen Stapel Bücher und Unterlagen neben seinem Laptop und einer Kaffeetasse vor sich auf dem Tresen. Sie setzte sich auf einen Barhocker. „Willkommen zu Hause. War es schön bei deiner Familie?“, fragte sie.

„Mehr oder weniger. Meine Schwester hat drei ziemlich undisziplinierte Kinder, und ich musste auf dem Sofa schlafen. Das war nicht nur entspannt. Was darf ich dir bringen?“

„Bier.“

„War das eine Bitte oder ein Befehl?“

„Bier, bitte.“ Sie warf einen Blick auf die Bücher. „Hausaufgaben?“

„Stundenpläne“, meinte er und schlug die Bücher zu. Dann verstaute er alles und schob seine Sachen beiseite. „Meine Klassen kommen sich ein bisschen ins Gehege, also werde ich damit noch Spaß haben. Ich werde den Kindern die Möglichkeiten bieten, Extra-Punkte zu sammeln, wenn sie etwas recherchieren, was sie interessiert – zum Beispiel über eine Rockband oder Inlineskating oder vielleicht über eine Sportart wie Kajakfahren. Ich schreibe ihnen ein paar Beispiele auf.“

„Das klingt fast unterhaltsam, allerdings nicht unterhaltsam genug. Warst du in den Ferien zum Skifahren oder so?“

„Nee“, erwiderte er und zapfte ihr ein Bier. „Wir haben ein wenig Golf gespielt, aber das Wetter war nicht besonders. Ich fahre vielleicht noch einmal hoch auf den Mount Hood, bevor ich wieder zur Arbeit gehen muss. Vielleicht nur für einen Tag. Wenn ich mehr Zeit und Geld hätte, würde ich mir mal Tahoe ansehen. Und du warst also Trauzeugin.“

„Stimmt. Ziemlich kurzfristig.“

„Ich hörte, es war nicht gerade langfristig im Voraus geplant …“

„Das habe ich auch gehört. Iris hat gemeint, dass sie das spontan entschieden und dann auch einfach so getan hätten. Sie haben das Aufgebot bestellt, einen Standesbeamten, den Seth kannte, angerufen, Seths Familie informiert und es dann durchgezogen. Ich hatte nicht einmal Zeit, besondere Blumen zu bestellen.“ Sie nippte ein wenig an ihrem Bier. „Wie kommst du damit klar?“

„Gut“, erwiderte er.

„Gut. Das ist gut.“

Er stützte sich mit beiden Händen auf die Theke. „Ich bin mit meinem kleinen Bruder ausgegangen und habe mich grandios volllaufen lassen. Dann habe ich mir einen Jeep zugelegt, den ich mir eigentlich nicht leisten kann.“

„Oh“, sagte sie. „Gott, ich hoffe, dass dir dein Herz nicht so oft gebrochen wird, sonst bist du bald pleite.“

„Ich wollte mir diesen Jeep ohnehin kaufen. Und ich hatte es mir verdient, mich mal so richtig volllaufen zu lassen.“

„Ist das die Ursache für …“ Sie streckte die Hand nach der abheilenden Schürfwunde auf seiner Stirn aus.

Er duckte sich vor ihren Händen weg. „Ich bin auf dem Sofa eingeschlafen, runtergefallen und habe mich am Couchtisch gestoßen.“

Unwillkürlich musste sie lachen.

„Und mein Herz ist nicht gebrochen“, erklärte er. „Nur eine kleine Wunde an den Herzkranzgefäßen. Gib mir ein oder zwei Wochen, und es wird mir vorkommen, als sei nie was passiert.“

Blödsinn, dachte sie. Er sah total elend aus. „Du bist sehr belastbar“, sagte sie und nippte an ihrem Bier.

„Ich vermute, da waren wir alle schon mal“, meinte er.

„Wo?“

„Im Hotel der gebrochenen Herzen.“

„Hmm. Ich glaube, ich war da noch nicht. Mein Herz wurde noch nie gebrochen. Jedenfalls nicht von einem Mann.“

Troy schien einen Moment lang wie erstarrt. „Es gibt keine höfliche Art, das zu fragen, aber hat dir ein Mädchen das Herz gebrochen?“

Sie lachte. Es gab Zeiten, und das hier war so ein Moment, da hätte es ihr so gutgetan, jemandem ihre Geschichte zu erzählen, zu erklären, wie einem das Herz von einem skrupellosen Konkurrenten oder den Medien gebrochen werden konnte. „Ich vermute, es liegt nicht in meiner Natur, an einen Mann gebunden zu sein“, erwiderte sie.

„Kein Freund?“

„Versuchst du mir etwas zu entlocken?“, fragte sie. „Ich hatte ein paar tolle Freunde, nur halt nichts Ernstes. Keine festen Bindungen oder jemand, mit dem ich zusammen gewohnt habe.“

„Warum habe ich noch keinen davon kennengelernt?“, hakte er nach.

Sie zuckte die Achseln. „Ich nehme an, dass du nicht da warst, wenn einer von ihnen da war. Ich habe tatsächlich heute spätabends noch eine Verabredung.“

„Oh? Wie ist er?“, fragte Troy.

„Er ist so eine Art mittelalterlicher Ritter, der aber auch eine zarte, kultivierte Seite hat. Groß und muskulös, sehr sportlich und diszipliniert. Er ist auch klug. Weise.“

„Fantastisch“, erwiderte Troy. „Wo geht ihr hin?“

„Wir bleiben zu Hause. Vielleicht schauen wir uns einen Film an.“

Troy zog die Brauen hoch. „Wenn ich unangekündigt auftauchen würde, würde ich ihn dann antreffen?“

„Sehr wahrscheinlich. Er ist ein bisschen besitzergreifend, aber das ignoriere ich total. Wie gesagt, ich bin niemand, der auf etwas Ernstes aus ist. Lass uns mal über deine Freundinnen sprechen.“

„Ich schweige und genieße.“

Sie straffte den Rücken. „Hm. Aber von mir erwartest du, dass ich rede!“

„Ich glaube, du hast geprahlt und auch ein wenig die Wahrheit verdreht. Du bist ein bisschen schräg, Grace. Das letzte Mal, als wir an Halloween zusammen aus waren, warst du eine komplette Hexe, einschließlich des fehlenden Zahns. Und du hast mich verhext.“

Sie lächelte, weil sie sich erinnerte. Sie hatte ihm gesagt, dass sie sein Ding schrumpfen lassen würde. „Wie hat es funktioniert?“

„Wie sich herausstellt, bist du keine so tolle Hexe. Also, wenn du behauptest, dein Herz sei noch nie gebrochen worden …“

„Ach komm, ich hatte meinen Anteil an Enttäuschungen wie jeder andere auch, aber einfach noch keine Beziehung, die schlecht ausging. Wir können uns ein anderes Mal gegenseitig das Herz darüber ausschütten, wie wir mal sitzengelassen wurden. Das machen wir, wenn wir beide in unserer Trauer und im Selbstmitleid versinken. Aber nicht jetzt, okay? Ich habe so das Gefühl, dass du, wenn du mal damit anfängst …“

„Hat Iris dich gebeten, nach mir zu sehen?“

„Auf keinen Fall. Sie sagte, du seist sehr erwachsen gewesen und hättest ihr alles Glück der Welt gewünscht. Und ich muss sagen, einen Jeep zu kaufen, den du dir nicht leisten kannst, ist definitiv eine reife Leistung.“ Dann grinste sie ihn an.

„Das ist ein toller Jeep. Vielleicht nehme ich dich mal auf eine Spritztour abseits der Straßen mit. Außerdem habe ich ja keine Familie, es ist also nicht so, als ob ich einem Baby die Milch weggenommen hätte.“

Sie stützte den Kopf auf eine Hand. „Dir geht es immer um den Spaß, stimmt’s, Troy?“

„Ich arbeite in zwei Jobs, Grace. Ich bin halt gerne aktiv.“

„Und was ist deine Lieblingsaktivität?“

„Das ist eine Mischung aus Tauchen, Rafting oder Kajakfahren. Deswegen hat es mich nach Oregon gezogen, in eine Stadt am Wasser. Und wegen der Rafting-Flüsse. Ich war zwischen Colorado, Idaho und Oregon hin- und hergerissen. Oregon hat das Rennen gemacht.“

„Und du bist wegen der vielen Freizeit Lehrer geworden?“

„Und wegen des hohen Gehalts“, erklärte er grinsend.

„Iris sagt, du seist der begnadetste Lehrer, den sie kennt“, sagte Grace.

„Iris sollte ihre Messlatte ein wenig höher schrauben.“

„Okay, du bist also immer noch ein bisschen angepisst?“

„Ich sagte bereits, dass ich noch ein oder zwei Wochen brauche“, erinnerte er sie. Dann hob er die Tasse an die Lippen. „Wie verbringst du denn deine Freizeit am liebsten?“

Sie antwortete ihm nicht gleich darauf. „Ich brauche mehr Ausgleich in meinem Leben“, erwiderte sie schließlich. „Der Laden kostet mich zu viel von meiner Zeit. Aber es ist ein gutes Trainingsprogramm.“

„Blumen binden?“, fragte er zweifelnd.

„Na hör mal! Ich stehe den ganzen Tag, hebe schwere Wassereimer voller frischer Schnittblumen, liefere kiloschwere Gebinde für Hochzeiten und andere Veranstaltungen aus, klettere täglich mehrfach in diesen Lieferwagen und wieder hinaus, hebe schwere Pötte und Säulen, und das, noch bevor ich putzen und meine Buchhaltung machen muss. Das ist nichts für Weicheier.“

„Und was tust du zum Spaß?“

„Ich tanze gern“, sagte sie. „Das tue ich zwar nicht oft, aber es macht mir Spaß.“

„Ich wette, du warst mal Cheerleader“, sagte er.

„Ich war noch nie Cheerleader. Ich hätte vermutlich Cheerleader werden können. Aber es interessierte mich nicht.“

„Da wärst du aber das erste Mädchen seit Bestehen der Welt.“

„Ich bin mir sicher, dass das nicht stimmt“, entgegnete sie. „Als ich in dem entsprechenden Alter war, ging ich zum Ballett oder jedenfalls so was Ähnliches. Das sind überhaupt nicht dieselben Bewegungen. Dazu braucht man, wie beim Blumenbinden, Kraft. Außerdem habe ich ein Bike.“

Er hob die Augenbrauen. „Eine Harley?“

„Ein Mountainbike. Wegen Eis, Regen, Kälte und glatten Straßen über Winter eingemottet.“ Sie trank den Rest ihres Biers aus und legte ihr Geld auf die Theke. „Ich würde gern bleiben und dir noch Gesellschaft leisten, aber ich bin verabredet.“ Sie ging zur Tür und drehte sich noch einmal nach ihm um. „Ich freue mich, dass es dir gut geht, Troy. Ich würde gern sehen, was der Jeep abseits der Straßen so kann. Vielleicht, wenn es ein wenig wärmer draußen wird. Und trockener.“

„Dann sind wir jetzt verabredet“, sagte er.

Doch Grace wusste, dass es keine richtige Verabredung war. Sie kehrte zu ihrem Laden zurück, ging allerdings nicht gleich hinein. Stattdessen lief sie erst nach oben in ihre kleine Wohnung, stellte übrig gebliebene Lasagne aus Carries Feinkostladen in die Mikrowelle, schlüpfte in ihren weichen Schlafanzug und schaltete den Fernseher ein. Während die Lasagne auf ihrem Teller abkühlte, zappte sie sich durch die Kanäle und wiederholte das so lange, bis ihre Lieblingsshow begann. Mit ihrem Abendessen auf dem Tablett und einem E-Reader in der Hand, öffnete sie ein altes und geliebtes Buch – Der Wolf und die Taube –, und dann machte sie es sich mit Wulfgar, ihrem mittelalterlichen Ritter, gemütlich.

Sie liebte ihn. Und sie vertraute ihm.

2. Kapitel

Als Cooper Troy nach seinen Plänen für Silvester fragte, erklärte sich Troy bereit, zu arbeiten. Er war nicht zum Skifahren gefahren und langweilte sich etwas – da konnte er genauso gut ein wenig Geld verdienen. Es war eine klare und kalte Nacht und Partynacht, aber das Coopers war nicht die Bar, in der gefeiert wurde. Cliff hatte ein gerammelt volles Restaurant, das bis nach Mitternacht geöffnet bleiben würde, um den Nachtschwärmern einen Ort zu bieten. Doch bei Coopers am Strand war nach acht niemand mehr.

Kurz nach acht schloss Troy daher alles ab und ging nach nebenan zu Coopers Haus, um ihm den Inhalt der Kasse zu bringen. Cooper und seine Frau Sarah packten gerade zusammen. Sie hatten auf der Terrasse gesessen, wo unter dem dunklen Sternenhimmel ein Feuer im Außenkamin brannte. „Ich hörte, dass Cliff ein bisschen Feuerwerk an der Bucht veranstalten will, sobald der Wind nachlässt“, sagte Cooper. „Wenn wir dann noch wach sind, haben wir die besten Plätze der Stadt. Das Problem mit einem Haus wie diesem ist, dass man nie Lust hat, woanders hinzugehen.“

„Bei euch sieht es ziemlich gemütlich aus. Das Feuerwerk weckt euch vielleicht auf“, sagte Troy.

„Wir hatten Einladungen für Silvester“, erklärte Cooper.

„Da bin ich mir sicher“, sagte Troy und grinste. „Wirst du alt, Cooper?“

„Oh ja, ich glaube schon. Aber was ist mit dir – hast heute Abend gearbeitet und schon vor neun alles aufgeräumt …“

„Ich werde noch an einem Laden anhalten, mir ein Sixpack kaufen und bei einem Freund vorbeigehen“, meinte Troy, der loswollte.

„Ich erspare dir einen Weg“, sagte Cooper. Er stand auf und holte sechs Pullen Heineken aus dem Kühlschrank. „Reicht das?“

Troy lachte. „So viel wollte ich gar nicht ausgeben. Was bin ich dir schuldig?“

„Hör auf.“ Cooper winkte ab. „Verschwinde einfach und guten Rutsch. Ich hoffe, dein Freund ist weiblich.“

„Sie ist weiblich, aber nur eine Freundin. Ich hoffe, sie ist zu Hause, oder ich lande mit dem Sixpack noch allein in meiner Wohnung wie der hinterletzte Versager.“

„Dir kam vermutlich gar nicht in den Sinn, sie vorher anzurufen?“

„Daran habe ich gar nicht gedacht“, sagte Troy. „Wie gesagt, nichts Besonderes. Nur eine Freundin.“

Doch Troy hatte sehr wohl darüber nachgedacht. Er war vollkommen darauf vorbereitet, dass Grace eventuell nicht zu Hause sein könnte. Oder vielleicht hatte sie Gäste eingeladen, wobei er sie irgendwie gern gestört hätte. Da Grace diese Freunde nie irgendwo vorzeigte, hatte er sich überlegt, dass er sie überraschen musste, um einmal einen Blick auf sie zu werfen. Er hätte wirklich gern gewusst, ob Grace genauso einsam war wie er. Denn zwei einsame Menschen konnten eine Abmachung treffen, die ihnen half, das alles durchzustehen. Warum nicht?

Er hatte in den letzten Tagen, seit sie während seiner Arbeitszeit bei Coopers vorbeigekommen war, immer wieder an sie gedacht. Grace war schon ein wenig länger in Thunder Point als er, aber bisher war sie ihm kaum aufgefallen. Er war ihr ein paarmal mit Iris begegnet. Grace brachte ihn zum Lachen. Sie war süß. Eigentlich hübsch, aber nicht auf umwerfende Art schön oder sexy. Wenn er ehrlich war, dann machten ihn Frauen wie Grace nervös. Sie wirkte so gesund und strahlend und irgendwie immer wie frisch gewaschen. Sie war sehr zierlich. Eine Frau im Körper eines Mädchens. Doch wenn sie anfing zu sprechen, dann verschwand das Mädchenhafte – Grace war klug, und sie besaß einen frechen, wachen Geist. Außerdem hatte sie Ecken und Kanten, so als ob sie schon eine Menge erlebt hätte.

Insgeheim war ihm klar, dass er nach einer Frau suchte, mit der er sich ein bisschen die Zeit vertreiben konnte. Er war noch nicht oft ohne Beziehung gewesen – das hier war vielleicht eine seiner längsten Durststrecken; er hatte sich zu lange auf eine Frau konzentriert, die er nicht haben konnte. Kurzen Beziehungen war er zwar nicht abgeneigt, aber er bevorzugte etwas Beständigeres. Was das betraf, hatte er ziemlich normale Maßstäbe. Zunächst einmal war ihm das Aussehen wichtig. Das war zwar nicht sein einziges Kriterium, aber jemand, der sich von seiner besten Seite zeigte, achtete auch auf sein Äußeres. Als Nächstes war es ihm wichtig, dass sie unternehmungslustig war. Troy liebte Extremsportarten. Es war nicht erforderlich, dass die Frau, mit der er zusammen war, ebenfalls auf extreme Sportarten stand, aber es war ihm wichtig, dass sie sich gern auf etwas Neues einließ. Dass sie sich gern im Freien aufhielt, und dass ihr sportliche Aktivitäten gefielen. Iris hatte diesen Anforderungen entsprochen. Sie war gern draußen, wanderte gern, fuhr Rad oder ging zum Paddeln. Außerdem hatte sie sich gern die Videos seiner Sportabenteuer angesehen. Manchmal hatte sie sich dabei die Augen zugehalten, aber sie hatte sich seine anspruchsvollen Wildwasserfahrten angeschaut, wie er auf hohe Felsen kletterte, mit Haien, Walen und Tintenfischen tauchte.

Troy wollte also eine Frau, für die Sport kein Fremdwort war. Natürlich musste sie auch intelligent sein und einen Sinn für Humor haben. Und da er im Augenblick noch Wunden leckte, war es vielleicht eine gute Idee, wenn sie nicht so der Typ Klette war. Das machte aus Grace, die nichts Ernstes wollte, eine heiße Anwärterin. Sie schien sich ab und zu mit jemandem zu treffen, was normalerweise ein Grund für ihn war, sich zurückzuhalten, aber nicht jetzt.

Er klopfte an die Tür ihrer kleinen Wohnung im oberen Stockwerk über dem Blumenladen und erwartete eigentlich nicht wirklich eine Reaktion. Dann sah er, wie sich der Vorhang bewegte. Sie öffnete ihm die Tür in Yogahose, dicken Socken und einem übergroßen, langärmligen T-Shirt. Ihr Haar hatte sie zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden. Troy neigte den Kopf und lächelte sie an. „Du hast heute keine Verabredung?“

„Im Augenblick nicht.“

Troy versuchte an ihr vorbei in die Wohnung zu sehen. „Ist der mittelalterliche Ritter da?“

Sie stemmte eine Hand in die Hüfte. „Möchtest du hereinkommen, Troy?“

Er hielt das Sixpack hoch. „Falls du nicht zu beschäftigt bist. Ich habe Bier mitgebracht. Sorry, ich hätte vorher anrufen sollen.“

Sie hielt ihm die Tür auf. „Ich bin überrascht, dass du kein Date hast.“

„Hat sich nicht ergeben“, meinte er beim Eintreten. Er hielt ihr ein Bier hin, nahm auch eins für sich selbst, bevor er ihren kleinen Kühlschrank aufmachte, um die restlichen Bierflaschen darin zu verstauen. „Oh-oh“, sagte er. Der Kühlschrank war sehr klein und vollgestopft bis obenhin. Nirgendwo Platz für ein Sixpack.

„Warte, ich mache das.“ Sie arrangierte den Inhalt des Kühlschranks so weit um, dass sie die restlichen vier Flaschen irgendwie noch darin unterbrachte. Die Pappverpackung warf sie weg.

„Bist du sicher, dass ich dich nicht bei irgendwas störe?“

„Komm rein, Troy“, sagte sie und schob ihn durch die winzige Küche zum Sofa. „Kannst du dir bitte die Schuhe ausziehen?“

Auf dem Bildschirm war ein Film zu sehen, den sie per Pausetaste angehalten hatte, und auf dem Couchtisch stand ein Teller mit etwas zum Naschen.

„Pizzabrötchen. Ich war gerade dabei, mir einen Mädchenfilm anzusehen, aber der läuft nicht weg. Und wie geht es jetzt weiter hier?“

Troy zog seine Schuhe aus und setzte sich ans andere Ende des Sofas. „Keine Ahnung. Ich habe bis eben in Coopers Strandbar gearbeitet, deswegen habe ich keine Verabredung oder so. Da war es heute Abend ganz schön tot, und jetzt ist es immer noch früh. Also blieben mir drei Möglichkeiten zur Auswahl – Cliff, Waylan oder du.“

„Du hättest mit deinem neuen Jeep hoch nach North Bend oder Bandon fahren können. In eine Bar, in der was los ist. Ein bisschen feiern.“ Sie hob den Teller und bot ihm ein Pizzabrötchen an.

„Danke.“ Er biss hinein und nickte anerkennend. „Nicht schlecht. Mir war nicht danach, mit einem Haufen fremder Menschen zu feiern“, sagte er. „Ich wollte einfach nur ein bisschen Gesellschaft haben, bevor ich nach Hause gehe.“ Er grinste sie an. „Und ich dachte, dass ich hier vielleicht einem deiner Freunde begegne.“

„Oh, das ist also der eigentliche Grund, weshalb du nicht angerufen hast! Ich wollte heute Abend nicht ausgehen. Ich war laufen.“

„Laufen? Hast du nicht genug Bewegung?“

„Heute waren es kurze Stunden im Laden. Das Schöne an einem Ein-Mann-Unternehmen wie meinem ist, dass ich den Laden schließen oder lange auflassen kann, ganz wie ich will. Für Kunden bin ich ja immer übers Handy erreichbar und kann ständig und überall Aufträge annehmen. Tatsächlich kann ich sogar, falls jemand etwas braucht, runterlaufen und schnell etwas zusammenstellen. Aber ich wusste, dass heute Abend keine Bestellungen mehr reinkommen würden. Es war herrlich am Strand! Da waren nur wenige Menschen unterwegs – Sarah Cooper mit ihrem Hund, ein paar Teenies, ein älteres Paar, das ich noch nie gesehen habe, vielleicht Urlauber. Und ich. Ich bin gern in Bewegung, aber hier gibt es kein Fitnessstudio, das zu meinen merkwürdigen Arbeitszeiten passt.“

„Machst du viel Sport?“, fragte er.

„Nicht regelmäßig. Nur mal eine Radtour oder eine Runde joggen. Ich mache kein Krafttraining mehr – davon habe ich im Laden genug! Meine Blumenmädchen-Gymnastik reicht. Ich tue nur was für den Kreislauf und damit ich Bier trinken und Pizzabrötchen essen kann.“ Sie bot ihm das letzte Brötchen an. Nachdem sie den leeren Teller wieder auf den Couchtisch zurückgestellt hatte, kuschelte sie sich mit hochgezogenen Beinen in ihre Sofaecke. „Erzähl mir von Weihnachten. Erzähl mir von deiner Familie. Steht ihr euch sehr nahe?“

„Ich glaube schon. Solange wir uns nicht zu oft sehen.“

„Was heißt das?“

Troy trank einen Schluck von seinem Bier. „Ich liebe meine Familie. Wirklich. Wir kommen nicht so oft zusammen, aber wenn wir mal ein Familientreffen haben, dann freue ich mich immer sehr. Doch nach drei oder vier Tagen könnte ich meine Schwester umbringen und meinen Bruder auf den Mond schießen.“

Sie rückte ein wenig nach vorne. „Echt?“

„Meine Schwester kann eine herrische kleine Zicke sein, und mein Bruder ist eine Vollkatastrophe. Jess war mit neunzehn verheiratet und hat dann gleich was für die demografische Entwicklung getan – meine Nichte wurde geboren, als Jess zwanzig war. Dann kamen ein Neffe und eine weitere Nichte. Meine Schwester denkt zwar, dass sie das Ruder fest in der Hand hat, aber, wenn du mich fragst, dann ist das Boot schon längst am Sinken. Die Kinder sind außer Rand und Band. Mein Schwager Rick ist bei der Feuerwehr und macht so viele Überstunden, wie er kann, das Haus ist ein einziges Chaos. Meine Theorie ist, dass Rick gern auf der Feuerwache ist, weil es der einzige Ort ist, an dem er mal in Ruhe ein Spiel im Fernsehen ansehen kann. Und mein Bruder Sam ist manchmal so ein Vollidiot. Er ist einundzwanzig, benimmt sich aber meistens wie sieben. Meine Mutter würde ihm noch das Fleisch klein schneiden, wenn sie dürfte. Er ist verwöhnt, und ihm fehlt jegliches Verantwortungsbewusstsein. Er bringt nicht mal seinen Teller zur Spüle, und er isst wie ein Scheunendrescher. Wenn er im Kühlschrank sieben übrig gebliebene Stückchen Pizza sieht, fragt er dann etwa, ob jemand noch was abhaben will? Natürlich nicht – er isst sie einfach alle auf.“

Grace machte große Augen. „Muss es mir leidtun, dass ich gefragt habe?“

Troy holte Luft. „Nee. Ich komme nur gerade von einem dieser großartigen Familientreffen. Ich hätte lieber bei meinen Eltern im Motel bleiben sollen – bei meiner Schwester wird es schnell sehr eng.“

„Deine Eltern waren im Motel? Warum?“

„Weil sie schlauer sind als ich! Aber wenn du jeden für sich genommen einen Tag lang um dich hast, sind sie wirklich großartig. Jess’ Kinder sind vielleicht laut und unordentlich und hyperaktiv, aber sie sind außerdem auch glücklich! Rick ist ein ganz toller Mensch. Ich weiß nicht, wie Jess es geschafft hat, sich diesen Mann an Land zu ziehen. Und als ich schlechte Laune hatte und niemandem sagen wollte, was mich stört, hat mich Sam mit in die Stadt genommen. Die Stadt ist eher klein, es gibt nur drei Kneipen. Natürlich hat Sam nicht wirklich versucht, mich aufzuheitern, es ging ihm eher darum, noch schnell jemanden zu finden, den er flachlegen konnte, andererseits …“ Er schwieg.

„Andererseits…?“, fragte sie ihn.

„Als ich einundzwanzig war, war das auch fast das Einzige, das ich im Kopf hatte. Fürchterlich.“

Sie lächelte. „Und jetzt?“

„Ist es nicht mehr ganz das Einzige.“

„Also liebst du deine Familie, wenn du sie nicht gerade hasst?“

„Ich bin verrückt nach ihr – wir gehen uns halt nur gegenseitig auf die Nerven. Wir sind, glaube ich, typisch. Ich sage mal – die Hälfte der Zeit würde ich meinem Bruder am liebsten eine reinhauen und meine Schwester schütteln, aber wenn tatsächlich einmal jemand die Hand gegen sie erheben würde, würde derjenige es mit mir zu tun bekommen. Ehrlich. Ich weiß nicht, wie meine Leute das mit uns ausgehalten haben. Wie sieht es mit deiner Familie aus?“

Grace antwortete ihm nicht gleich. Stattdessen stand sie auf und brachte den Teller und ihre leeren Flaschen in die Küche, machte zwei neue Flaschen auf und kehrte in ihre Sofaecke zurück. „Da gibt es wenig zu erzählen. Mein Vater ist gestorben, als ich vierzehn war, und ich bin ein Einzelkind. Meine Großeltern leben nicht mehr. Die einen starben, bevor ich geboren wurde, und die anderen, bevor ich achtzehn wurde. Es gibt noch ein paar sehr entfernte Verwandte, aber die kenne ich gar nicht. Ich habe einen Brief von jemandem bekommen, der behauptet, mein Cousin oder Halbcousin oder so etwas zu sein, aber er wollte mich bloß anpumpen.“ Sie lachte. „Er wusste offensichtlich nicht viel über mich.“

„Wie hast du darauf reagiert?“

Sie lächelte. „Ich habe ihm zurückgeschrieben, dass es sehr nett von ihm sei, mich zu kontaktieren, dass ich im Augenblick aber kein Geld zu verleihen hätte.“

„Niemand, hm?“, fragte er. „Und deine Mutter?“

„Ist auch tot“, log sie und wich seinem Blick aus. Sie war einfach noch nicht bereit, ihm alles zu erzählen. Außerdem hatte sie Iris die gleiche Geschichte erzählt. „Ich habe ein paar Freunde, aber vermutlich nicht so viele wie du. Das Paar, dem der Blumenladen in Portland gehört, wo ich gearbeitet habe, sind enge Freunde von mir. Wir haben immer noch Kontakt miteinander. Ich telefoniere jede Woche mit ihnen und besuche sie hin und wieder. Sie haben mich nicht nur in ihrem Laden angelernt, sondern mich auch unter ihre Fittiche genommen. Gute Menschen. Sie sind über sechzig und hatten nie Kinder, deswegen bin ich ihre Familie. Aber wir sind nicht miteinander verwandt. Und es gibt noch ein paar andere Freunde, die auch mit mir in Kontakt stehen – Mikhail, um nur einen davon zu nennen. Aber er ist ständig auf Reisen, deshalb sehen wir uns nie. Das könnte einer der Gründe dafür sein, weshalb ich mich so gut mit Iris angefreundet habe – weil wir kaum Familie haben. Und weil ich ihren Blumenladen gekauft habe. Manchmal betrachte ich Menschen wie Iris … und … na ja, dich – und ich fühle mich ein bisschen unnormal, so als ob ich mich einfach mehr anstrengen müsste …“

„Iris? Und ich?“

„Ihr könnt beide sehr gut auf Menschen zugehen. Iris hat zwar keine Familie, aber einen unglaublich großen Freundeskreis. Jeder mag sie, und in der Schule verlassen sich alle auf sie. Und obwohl deine Familie nicht hier wohnt, wette ich, dass du mindestens einmal die Woche mit ihnen sprichst.“

„So ziemlich“, gab er zu.

„Du hast mit so vielen Leuten hier zu tun. Mit der Highschool, Coopers Strandbar, sogar dem Waylan’s. Überall in der Stadt grüßt man dich, wenn man dich sieht! Und ich? Ich bin nicht nur ein Einzelkind, sondern bin nicht mal zur Schule gegangen. Ich hatte Privatunterricht. Ich fühle mich vielleicht ein bisschen zu wohl allein.“

„Die Menschen hier sind doch ziemlich nett zu dir, oder?“

„Das sind sie. Das gefällt mir so gut an dieser Stadt. Aber ich bin eine Einzelgängerin.“

„Aber du hattest eine Menge männlicher Freunde“, erinnerte er sie.

„Das stimmt. Und sie waren alle großartig. Ich war mit einem Kerl zusammen, der tatsächlich eine eigene Farm in South Carolina hat. Und einem Mann mit einem britischen Adelstitel, einem – Viscount, glaube ich. Außerdem Malone – er besitzt einen Fischkutter und fängt Hummer an der Ostküste –, einen Barbesitzer und einen von der Bergpolizei, ein Navy SEAL … sehr interessante, sexy Männer. Aber ich besitze einen Blumenladen, und meine Zeit ist kostbar.“

Troy legte den Kopf schief und betrachtete sie. „Ich glaube, du ziehst mich auf, Grace.“

Grace erhob sich von der Couch, ging zur Schrankwand und öffnete eine Schranktür unter dem Fernseher. Da standen, ordentlich nebeneinander aufgereiht, eine Vielzahl von Büchern – Taschenbücher und ein paar Hardcover. Unter diesen Büchern befand sich eine ähnlich große Sammlung von DVDs. Sie ließ die Tür aufstehen und kehrte zum Sofa zurück. Dann deutete sie mit einer anmutigen Bewegung auf das Bücherregal. „Mein Beschützer-Regal. Vom mittelalterlichen Ritter bis zum Navy SEAL. Und dann hätte ich Wrath beinahe vergessen … ich fürchte, er ist ein Vampir, aber ein sehr netter, sexy Vampir. Sie gehören alle mir.“

„Sollten wir uns mal ein wenig über deine Medikamente unterhalten, Gracie?“

Sie lächelte. „Ich weiß, sie tun nur so, als wären sie echte Freunde, Troy. Aber sie betrügen mich nie, und ich musste mich auch noch kein einziges Mal auf Geschlechtskrankheiten untersuchen lassen.“ Dann lachte sie. „Ich habe nicht viel Platz, um Bücher und so zu verstauen, also lese ich das meiste auf meinem Kindle, aber ich habe da eine Spezial-Kollektion. Ohne die kann ich nicht leben. Was würde ich ohne meinen E-Reader machen?“

Troy spürte ein seltsames Ziehen in seinem Inneren, irgendwo in seiner Brust. Er wusste, das war ein Warnsignal, aber war es nicht viel zu früh für Gefühle? Eigentlich war er doch nur auf der Suche nach Freundschaft, doch es fühlte sich gut an zu wissen, dass Grace mit niemandem zusammen war. Dass sie tatsächlich noch nie mit jemandem zusammen gewesen war, war für eine Frau von ihrer Schönheit und in ihrem Alter ungewöhnlich. Aber es gefiel ihm.

„Wie sieht es bei dir mit echten Beziehungen aus?“, fragte er.

„Ich habe einen sehr anspruchsvollen Tagesablauf. Wenn du ein eigenes Geschäft besitzt, ist jeder freie Tag ein Tag ohne Einnahmen. Ich habe nicht sehr viel Hilfe im Laden. Ich hatte in den letzten paar Jahren immer mal wieder ein paar Aushilfen, aber im Augenblick habe ich niemanden – die letzte hat gerade gekündigt. Sie war sowieso keine so große Hilfe, aber wenigstens hielt sie im Laden die Stellung, wenn ich Blumen ausgeliefert habe. Ich muss mir da etwas überlegen. Wie gesagt, ich brauche dringend ein ausgeglicheneres Leben.“

„Hast du schon mal daran gedacht, Schüler aus der Highschool oder Collegestudenten einzustellen? Oder vielleicht zwei, die sich einen Job teilen könnten, zwei Aushilfen, die zusammen eine Ganztagskraft bilden könnten? Es gibt auf der Highschool so viele, die nicht aufs College wollen oder die gern studieren würden, sich aber die Studiengebühren nicht leisten können.“

„Gute Idee, aber wenn ich inseriere, um eine Aushilfe zu finden, meldet sich fast niemand.“

„Du musst den Job an der richtigen Stelle ausschreiben. Es gibt in der Highschool ein Arbeits-Studien-Programm. Wenn du eine Schüleraushilfe in etwas ausbilden kannst, kriegen sie die Leistung für den Abschluss gutgeschrieben und bekommen einen Vormittag oder Nachmittag frei, um zu arbeiten. Hat Iris dir das noch nie vorgeschlagen?“

Grace sah ihn interessiert an. „Nein! Soll ich sie bitten, mir dabei zu helfen?“

„Ja“, erwiderte er. „Nicht heute Abend. Heute Abend trinken wir Bier und essen etwas. Was hast du da? Ich könnte noch etwas holen gehen …“

„Hast du großen Hunger? Ich mache richtig gute Nachos. Und ich habe noch ein paar schwarze Oliven, Sour Cream und Tacofleisch sind auch noch übrig …“

„Au ja“, sagte er.

„Hast du noch nicht zu Abend gegessen?“

„Nur ein paar von Coopers Minipizzen …“

„Und du behauptest, dein kleiner Bruder fresse wie ein Scheunendrescher?“ Sie ging in die Küche.

„Bist du sicher, dass du nicht willst, dass ich noch mal losgehe, um uns etwas zu essen zu holen? Ich mag dich nicht darum bitten, etwas zu essen zu machen“, sagte er.

„Geh nicht“, erwiderte sie. „Es macht mir nichts aus, und ich habe Appetit drauf.“

Sie beugte sich nach vorne, um in ihrem kleinen Kühlschrank herumzusuchen. Troy spürte, wie ihm heiß wurde. Ihre Yogahose saß wirklich gut. Er musste wegsehen und tief Luft holen. Manchmal, so dachte er bei sich, bemerkt man das, was man direkt vor der Nase hat, einfach nicht. Er hatte die ganze Zeit darüber nachgedacht, ob Iris die Richtige für ihn war. Obwohl sie ihm klargemacht hatte, dass sie für ihn tabu war, hatte er sich nie die Mühe gemacht, andere Frauen kennenzulernen. Und hier war Grace, direkt vor seiner Nase. Sie machte ihn heiß.

Er wusste, dass sie kompliziert war. Sie behauptete, ihr Leben sei langweilig, und dass es da nicht viel zu erzählen gebe, Einzelgängerin … Er wusste genau, dass das alles nur Fassade war. Doch es machte ihm nicht das Geringste aus.

„Dann lass mich dir wenigstens helfen“, bat er und gesellte sich zu ihr.

Sie stellten einen fabelhaften Teller Nachos zusammen und hatten allerdings schnell keine Salsa mehr – ihr kleiner Kühlschrank und die Regale in der winzigen Küche waren nicht geeignet für größere Vorratshaltung. Die nächste Stunde verbrachten sie damit, über die Stadt zu reden, und die Flüsse, auf denen Troy im Sommer gern unterwegs war, und die Kinder, die Troy unterrichtete. Doch jedes Mal, wenn er Grace eine Frage über ihr Leben stellte, gab sie ihm nur eine kurze Antwort und lenkte die Unterhaltung wieder auf ihn.

„Du weißt, dass es Schlafzimmer gibt, die größer sind als dein Loft“, sagte er zu ihr. „Du wohnst wie eine Collegestudentin.“

„Ich weiß. Ich halte mein Leben so einfach und die Kosten so gering wie möglich, bis der Laden besser läuft, und er läuft immer besser. In Thunder Point finden zwar nicht so viele Hochzeiten statt, aber ich beliefere eine Menge Hochzeiten außerhalb. Das ist mörderisch viel Arbeit, aber wird auch gut bezahlt. Wo wohnst du?“

„In einem kleinen, alten Apartment am Stadtrand. Ich habe es mit alten Möbeln aus meiner Familie eingerichtet. Du sparst für deinen Blumenladen, und ich spare für meine Reisen.“

Ihm fiel auf, dass sie da große Augen machte, und er fragte sich, weshalb. Neid? Sehnsucht? Überraschung? Etwas anderes? Er erzählte ihr von seinen sommerlichen Tauchtrips, von winterlichen Skireisen und gelegentlichen Jagdausflügen mit alten Kumpeln aus dem Marine Corps.

„Marines?“, fragte sie ihn.

„Ich war ein Jahr im Community College und dann beim Militär und ein Jahr im Irak. Dann war ich wieder hier. Auf die Art habe ich meinen Collegeabschluss finanziert, mit dem Bildungsprogramm für Soldaten. Ich war im Rang nur ein niederer Ledernacken, habe aber tolle Freundschaften geschlossen. Nicht weit von hier, in den Bergen, kann man gut jagen. Ich nehme dich mal mit, wenn du magst.“

„Oh, ich habe noch nie ein Gewehr angefasst“, sagte sie. „Die Jagd ist nichts für mich.“

„Dann nehme ich dich wegen der Landschaft mit.“

Gerade als sie über Waffen sprachen, drang etwas wie Gewehrschüsse durch die Nacht. Sie drehten sich beide gleichzeitig, wie einer geheimen Choreografie folgend, um und zogen die Rollläden des Fensters hinter dem Sofa hoch. Am dunklen Himmel über der Bucht explodierten bunte Feuerwerkskörper wie helle Feuerbälle, die in tausend Funken vom Himmel herabregneten.

„Feuerwerk“, sagte sie atemlos.

„Der Wind war in den letzten Jahren immer zu stark“, sagte Troy. „Ich glaube, Cliff hat jemanden angestellt, der sich um das Feuerwerk kümmert. Nicht schlecht für eine abgelegene kleine Stadt wie diese hier.“

„Thunder Point ist voller Überraschungen!“

Troy drehte sich zu Grace und fasste ihr ans Kinn. Dann lehnte er die Stirn gegen ihre Stirn. „Find ich auch.“

„Hör zu, Troy“, sagte sie, ohne nervös dabei zu klingen. „Ich … Es gibt da ein paar Dinge …“

Er unterbrach sie mit einem zärtlichen Kuss und nahm sie in den Arm. Es war ein sanfter und kurzer Kuss. Sein Instinkt sagte ihm, dass er es hier mit einer bedeutenden, unbekannten emotionalen Situation zu tun hatte, und er langsam und vorsichtig vorgehen sollte. Er küsste sie noch einmal ganz behutsam auf den Mund.

„Was für Dinge?“, fragte er.

Sie holte tief Luft. „Ich habe dir nicht die ganze Geschichte meiner Familie erzählt und wie ich aufgewachsen bin …“

„Ich weiß“, erwiderte er.

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