×

Ihre Vorbestellung zum Buch »Schneeflockenmagie«

Wir benachrichtigen Sie, sobald »Schneeflockenmagie« erhältlich ist. Hinterlegen Sie einfach Ihre E-Mail-Adresse. Ihren Kauf können Sie mit Erhalt der E-Mail am Erscheinungstag des Buches abschließen.

Schneeflockenmagie

Der Zauber der ersten Schneeflocken

Vier Wochen vor Weihnachten wird Claire vor dem Altar stehen gelassen und flüchtet in die weiße Winteridylle der französischen Alpen. In einem kleinen verträumten Bergdorf will sie wieder zu sich finden. Doch es kommt alles anders, als sie Hugo Moreton begegnet. Zuerst will er sie nicht in seinem Chalet haben; nach einem Tag ist jedoch klar, dass Claire bleibt. Nach zwei Tagen denkt er darüber nach, ob sie ihn attraktiv findet. Dann nimmt er ihr die Angst vor seinen Hunden. Und plötzlich sieht es ganz danach aus, als sei mit dem ersten Schnee auch der magische Funken der Liebe geweckt.

»Tiefe Emotionen, amüsante Dialoge und das alles in den traumhaft schönen französischen Alpen.«
(Piste, 30.11.2020)


  • Erscheinungstag: 25.08.2020
  • Seitenanzahl: 384
  • ISBN/Artikelnummer: 9783959675888
  • E-Book Format: ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Erster Tag. Ein Scheißtag.

Mist, Mist, Mist und noch mal Mist! Das Auto steckt fest. Erster Gang, Rückwärtsgang, das Getriebe kracht, aber das ist mir jetzt egal. Wie konnte das nur passieren? Ist dieser Tag nicht schon schlimm genug? Das kann doch nicht wahr sein! Ich fasse es einfach nicht. Ich strampele mich ab wie eine Irre, aber jetzt reicht’s mir. Wut und Panik steigen in mir auf, und ich weiß noch nicht, was von beidem die Oberhand gewinnt. Gleich drehe ich jedenfalls durch. Sophie ist immer noch in der Leitung, und über die Freisprechanlage kann sie bestimmt hören, wie ich mich abkämpfe.

Dann platzt es aus mir heraus: »Verdammte Scheiße!«

»Ganz ruhig bleiben, Claire.«

»Du hast leicht reden! Du sitzt sechshundert Kilometer weit weg gemütlich im Warmen bei dir zu Hause. Ich stehe auf einer Schotterpiste irgendwo in den Bergen und habe keine Ahnung, wo ich lang muss, es ist stockdunkel, und für das Navi hier braucht man einen Abschluss in Informatik! Und jetzt habe ich mich gerade festgefahren, weil ich zum fünften Mal wenden musste.«

»Einatmen, ausatmen, immer mit der Ruhe. Keine Panik.«

»Komm mir jetzt nicht mit irgendwelchen bescheuerten Yogaübungen!«

»Es bringt nichts, sich aufzuregen. Du müsstest schon fast da sein. Was siehst du vor dir?«

»Was ich sehe? Es ist dunkel, Sophie. Ich weiß ja nicht, ob es in Paris im Winter um elf Uhr abends noch hell ist, aber hier in den Bergen ist es stockfinster. Man sieht nichts. Rein gar nichts.«

Ich brülle, und ich weiß, dass ich auf dem besten Wege bin, einen hysterischen Anfall zu bekommen. Dabei kann ich hysterische Menschen nicht ausstehen. Also gut. Ich atme tief ein und aus. Ziehen wir kurz Bilanz: Ich trage eine kurze Hose, feine Schuhe mit Absätzen, eine Satinbluse und einen kleinen weißen Schal aus Zobelimitat. Mein Auto sagt mir, dass es nicht mehr kann, es scheint regelrecht um Gnade zu flehen, obwohl ich noch vier Jahre Kredit abzubezahlen habe und es bei dem Preis das Mindeste wäre, dass die Heizung auf Hochtouren läuft, das Navi funktioniert und ich dazu noch einen heißen Kaffee serviert bekomme! Argh, immer schön ruhig bleiben …

Es ist minus vier Grad kalt, und ich bin auf dem Weg in ein verlassenes Kaff irgendwo in den südlichen französischen Alpen, ich habe keine Ahnung, wie ich dort hinkomme, geschweige denn, wo ich gerade bin. Und die einzige Person, die mir helfen kann, ist meine Schwester Sophie, die mich vom anderen Ende Frankreichs, wo sie im Warmen in ihrem schicken Pariser Appartement sitzt, bittet, ruhig zu bleiben und Straßenschilder zu lesen, die es nicht gibt.

»Sophie, wenn ich irgendwann über diese Geschichte lachen kann, dann erinner mich bitte daran, dass man über alles, also wirklich alles lachen …«

»Grrschschrrg …«

»Was? Wie bitte? Oh nein! Sophie? Sophie?«

»Schurschrrrrgrschsch … Tut tut tut …«

Verbindung abgebrochen. Mit letzter Hoffnung schreie ich »Sophie« und lege mich dabei so ins Zeug, dass man es für die Einstiegsszene eines Horrorfilms hätte brauchen können, in dem ich die am schlechtesten bezahlte Schauspielerin am Set wäre.

Gut. Dann also gelassen und vernünftig. Es bringt schließlich nichts, sich selbst etwas vorzumachen: Ich habe keinen Empfang mehr, und ich bin am Arsch.

Ich gebe auf. Das Auto weigert sich endgültig, sich aus dem Loch zu befreien, in das es seine Reifen bugsiert hat. Es wird nicht mehr lange dauern, und das Benzin geht mir aus, was bedeutet, dass auch die Heizung ausgeht, und dann werde ich ganz einfach erfrieren. Ich bin allein, es ist dunkel, ich bin mehr wütend als verängstigt, was schon mal gut ist, und ein winziger Teil meines Hirns kann noch nachdenken. Was soll ich also tun? Das Beste wäre, wenn ich:

  1. alle Müsliriegel verputze, die ich an der Raststätte gekauft habe, um eine Fettschicht anzusammeln und somit die Kälte zu überleben,

  2. eine Kerze anzünde,

  3. mich von einer Klippe stürze, um mein bevorstehendes Leid und die Qualen eines Erfrierungstodes zu verkürzen,

  4. mein Hochzeitskleid anzünde, das auf der Rückbank liegt, um mich aufzuwärmen und womöglich durch den Rauch den Rettungsdienst auf mich aufmerksam zu machen.

Okay. Ich habe noch Ideen. Das ist ein gutes Zeichen.

»Neeeeiiin!«, schreie ich unvermittelt mein Lenkrad an, während ich darauf eintrommele. »Das mache ich nicht, auf keinen Fall! Und weißt du auch wieso? Hm, weißt du das, du blöde Karre? Weil ich überleben will, damit ich diesem Idioten von Hector, der mich vor dem Altar hat stehenlassen, den Hals umdrehen kann!«

Und plötzlich kommt die Wirklichkeit wieder bei mir an, und ich fange an zu heulen. Was auch den letzten Rest meines Tausend-Euro-Make-ups verschmiert. Allerdings weine ich nicht lange, denn ich weine nicht gern, und außerdem sitze ich wirklich in der Patsche. Jetzt heißt es zusammenreißen, ich kann mich später immer noch selbst bemitleiden. Wenn es denn ein Später gibt.

Aber was mache ich hier eigentlich? Ach ja, ich erinnere mich. Als ich nach anderthalb Stunden Warten begriffen habe, dass Hector nicht mehr auftaucht, dass er auf keine meiner Nachrichten reagieren wird, dass seine Eltern kurz vor dem Zusammenbruch stehen und dass alle mit einem mitleidigen Gesichtsausdruck zu mir kommen, habe ich nur den einen guten Gedanken gehabt, das verdammte Kleid auszuziehen, das erste Kleidungsstück überzustreifen, das ich in meinem Koffer finde, und ins Auto zu steigen und Hals über Kopf loszufahren. Weit weg von den Gästen, ihren Floskeln, ihrem Geflüster, ihren verstohlenen Blicken … Als ich dann nach einer Stunde sinnlosen Herumfahrens meine Schwester angerufen und ihr gesagt habe, wo ich bin, hatte sie den Einfall, mich in die Berge zu schicken, und zwar dorthin, wo sie mit ihrem Mann immer hinfährt, damit ich »neue Kraft schöpfen« kann. Genau das wird auf meinem Grabstein stehen: »Schöpfte neue Kraft.« Schade, dass die Inschrift nicht lauten wird: »Am Unglückstag ihrer gescheiterten Hochzeit erfror sie in ihrem Auto irgendwo in den Bergen.«

Nein, ich werde nichts von alledem tun. Ich werde vernünftig nachdenken, so wie meine Mutter es mir beigebracht hat.

Ich kann auf keinen Fall die ganzen kalorienhaltigen Müsliriegel essen. Schon gar nicht, nachdem ich zwei Monate lang diese wahnwitzige Diät eingehalten habe, um vier bescheuerte Kilo abzunehmen, damit ich in dieses VERDAMMTE HOCHZEITSKLEID passe. Zweitens kann ich keine Kerze anzünden, und zwar aus dem einfachen und einleuchtenden Grund, DASS ICH KEINE KERZE HABE!

Hör auf, Claire. Bleib ruhig. Einatmen, ausatmen. Wie Hector es dir gezeigt hat, als er dir erklärt hat, dass Yoga die Zukunft ist. Die Zukunft von was? Irgendeiner anderen Tussi, die er erst vögelt und dann vor dem Altar stehenlässt? Stopp! Einatmen, ausatmen. Ganz ruhig.

Ich werde mich auch in keine Schlucht stürzen. Hier gibt es keinen steilen Abhang, oder zumindest entdecke ich im Dunkeln keinen. Wobei, irgendwo muss es einen geben … Wir befinden uns schließlich in den Bergen.

Und schließlich: mein Hochzeitskleid anzünden? Ich würde sicher in Tränen ausbrechen, nicht, weil es mich an die fehlgeschlagene Hochzeit erinnert, sondern weil es MEHR ALS ACHTTAUSEND EURO GEKOSTET HAT! Das ist also auch keine Option. Was bleibt mir da noch?

Pling, pling, pling. Mein Telefon! Es hat wieder Empfang. Du bist das Beste! Orange-Netz, ich werde mich nie mehr über dich beschweren!

»Hallo? Sophie?«

»Ja … Clai … fah … ich … ünf … Krawasser?«

»Krawasser? Soll das heißen ›Alles in Ordnung, ich habe den Rettungsdienst alarmiert‹? Sophie? Hörst du mich?«

»Kr … Krawasser?«

»Was ist mit Krawasser? Ich würde dann doch lieber Krawhiskey nehmen, bitte.«

Es ist offiziell: Ich habe den Verstand verloren.

Ich koppele mein Handy von der Freisprechanlage ab, damit ich es mir direkt ans Ohr halten kann, falls der Empfang im Auto zu schlecht ist, und verrenke mich in alle Ecken und Enden des Wagens, damit mein Telefon einen kleinen Balken mehr anzeigt. Ich wusste gar nicht, dass es E noch gibt. Seitdem es 4G gibt, bin ich davon ausgegangen, dass 3G die langsamste Verbindung ist. Ich gerate wieder in Panik. Die Handbremse drückt mir ans Knie, die Kopfstütze droht nachzugeben, als ich mir den Kopf daran stoße, es ist die Hölle. Ich darf meine letzte Verbindung zur Außenwelt nicht verlieren. Ich muss mit Sophie reden, selbst wenn es nur dazu gut wäre, dass sie meine letzten Wünsche hört. Inzwischen bin ich an dem Punkt angelangt, dass ich nicht mehr nachdenke, also was soll’s, ich drücke die Autotür auf und purzele förmlich aus dem SUV – was nicht verwundert, wenn man bedenkt, in was für einer Position ich mich eben noch befunden habe.

»Claire? Hörst du mich?«

»Jaaaa, es funktioniert!«

Es ist schweinekalt hier draußen. Fürchterlich. Ich hüpfe auf der Stelle, aber es bringt nichts.

»Sophie, warte, bleib noch dran!«

Okay, ich habe keine Ahnung, was ich tun soll. Mein weißer Schal aus Kunstpelz wärmt in etwa so sehr wie ein String am Nordpol. Im Kofferraum liegt zwar mein Gepäck, aber da drin sind nur Sommerkleider. Wie dumm von mir, meinen Mantel nicht mitzunehmen! Allerdings hieß es ja heute Morgen noch, ich würde Hector heiraten, den Mann meines Lebens, und heute Abend um zehn wären wir vom Flughafen Charles de Gaulle auf Hochzeitsreise nach Australien geflogen. Der Inhalt meines Koffers: aufreizende Dessous, Negligés aus Satin, kurze Cocktailkleider. Eine Daunenjacke, gefütterte Stiefel oder Creme für rissige Haut: Fehlanzeige. Manchmal ist das Leben einfach gemein.

Während ich in Endlosschleife Sophies Namen in mein Telefon brülle – ich bin davon überzeugt, dass es meine Worte besser überträgt, wenn meine Stimme lauter ist –, zerre ich mein Brautkleid vom Rücksitz, das mir in diesem Augenblick trotz seines hauchdünnen Stoffs wie eine anständig wärmende Decke vorkommt.

»Claire, ich rufe ja den Abschleppdienst, aber dafür musst du mir sagen, wo du bist! Versuch bitte, irgendwo ein Straßenschild zu finden, einen Wegweiser, irgendwas. Claire, ich rufe den Abschleppdienst. Claire, den Abschleppdienst! Claire!!!«

»Ja, ich höre dich! Perfekt, ich hab dich!«

»Ah, gut. Ich habe nur gesagt, dass ich den Abschleppdienst rufe, aber dafür musst du mir sagen, wo du bist.«

»Verstanden. Warte, ich schaue mal, ob ich ein Schild finde.«

Im Gehen versuche ich, mir mein Kleid über die Shorts zu ziehen, und dabei höre ich, wie irgendwo der Stoff reißt. Es versetzt mir einen Stich wegen der tausend Euro, die gerade den Bach runtergegangen sind, aber schnell erinnere ich mich daran, dass mir das doch vollkommen gleich ist. Was soll ich sagen? Wenn man zwei Monate lang einen Haufen Stoff liebkost und gehütet hat wie seinen Augapfel, zieht man ihn nicht so einfach über eine kurze Hose mitsamt Schuhen und tut so, als wäre es eine Rettungsdecke. Oh, ich erfriere.

»Claire? Bist du noch da?«

»Ja-a-a-a … M-m-mir k-klappern nur die Z-z-zähne …«

Ich gehe weiter und entdecke etwas, das wie eine Straße aussieht. Nein, doch nicht. Ich glaube, ich bin mitten auf einem … Feld! Deswegen hat mein Navi schlappgemacht. Das hier ist keine Straße, es ist eine Wiese! Es fehlt nur noch, dass mir eine Kuh über den Weg läuft.

»Claire, bist du noch da?«

»Ja-a-a. A-a-a-lles in Ordnung. Ich t-t-trage ein A-achttausend-Euro-K-kleid aus d-der W-w-winterkollektion, u-und dann h-hält es n-nicht mal w-warm.«

»Du hast dir dein Brautkleid wieder angezogen?«

»Wie soll ich denn sonst hier herumlaufen? In kurzer Hose?«

Sieh an, wenn ich schreie, bibbere ich nicht mehr so. Worin hat sich denn mein verfluchtes Auto eigentlich festgefahren? Hier ist doch alles gefroren. O-oh … Ich rutsche auf einem Fleckchen Glatteis aus und wäre beinahe mit allen vieren in der Luft auf dem Hintern gelandet. Gleichzeitig fliegt mir mein Telefon aus der Hand, und ich mache einen Satz, um es zu fangen. Mein Kleid reißt noch weiter ein. Noch einmal tausend Euro futsch, aber das klang so, als wäre es nichts, was eine Schneiderin nicht retten könnte. Aber Hector wird nicht zu mir zurückkehren. Und selbst wenn er zurückkäme, dann doch nur, damit ich ihn umbringen könnte! Dieses Kleid hat mich ein Vermögen gekostet, aber es ist bezahlt und zu nichts mehr gut, denn ein zweites Mal ziehe ich es bestimmt nicht an, sollte ich in einem zukünftigen Leben noch einmal versuchen zu heiraten. Es spielt also keine Rolle mehr, und ich knie mich mittendrauf und taste auf der Erde nach meinem Handy.

»Claire?«

Ah, da ist es. Doch plötzlich spüre ich, wie Adrenalin in gewaltigen Schüben in mir aufsteigt. Diese Geräusche … verdammt, diese Geräusche … Und da entdecke ich vor mir zwei große Fellbäusche, denen sicherlich warm ist.

»Wölfe!«, schreie ich.

Ich schnappe mir mein Telefon und stürze los, und zwar in die entgegengesetzte Richtung, weg von meinem Auto.

»Krrrsch … kra … ni … wa … Claire … krrsch.«

Ich habe keine Zeit herauszufinden, was Sophie zu mir sagt, ich renne, wie ich noch nie im Leben gerannt bin, schon gar nicht in Stöckelschuhen, Shorts und Brautkleid. Was gäbe ich für einen Baum, den ich hochklettern könnte, sogar in Acht-Zentimeter-Absätzen, sogar in diesem Aufzug. Plötzlich klappern meine Sohlen wie auf Asphalt, ich überquere wohl eine Straße. Mein Herz schlägt so heftig, ich bin sicher, dass es gleich explodiert. Die gute Nachricht: Mir ist nicht mehr kalt. An diese Möglichkeit hätte ich auch schon eher denken können: ein wenig joggen, um mich aufzuwärmen. Ich höre, wie das Geheul näher kommt, ich spüre, dass ich mich gleich übergeben muss, und tief in mir weiß ich, dass ich sterben werde. Allein, im Brautkleid, sechshundert Kilometer von meiner Familie entfernt.

Als ich alles für verloren halte und bedaure, dass eine Warnweste im Auto Pflicht ist, aber keine Kerze – die mir von erheblich größerem Nutzen gewesen wäre, um einen Gott anzuflehen, egal welchen –, spüre ich, wie mich von hinten etwas packt, oder besser gesagt, an sich reißt. Meine Füße lösen sich vom Boden, doch einer meiner Schuhe bleibt stecken, und mit voller Wucht pralle ich … gegen einen Bären.

Wieder schreie ich auf, und Sophie kreischt auch, wahrscheinlich aus Solidarität, allerdings direkt in mein Ohr, denn ich halte das Telefon immer noch daran gepresst, bis der Bär ebenfalls zu schreien anfängt.

»Hey! Das reicht jetzt, verstanden?«

»Was? Ein sprechender Bär?«

Verdammt, ich glaube, das habe ich laut gesagt. Das wird mir in dem Moment bewusst, in dem mir auch klar wird, dass der Bär ein Mann ist. Zwar groß, behaart und stämmig, aber definitiv ein Mann. Ich flüchte mich hinter ihn, denn ich folge nur noch meinem Instinkt, außerdem wollte er mich ohnehin loslassen, und dann drücke ich mich an seinen warmen Mantel, der – igitt! – nach Kaminrauch stinkt, luge hinter ihm hervor – er ist wirklich ziemlich groß – und zeige mit zitternden Fingern in die Richtung, aus der ich gekommen bin.

»Wölfe!«

»Was?«

»Wölfe!«, wiederhole ich etwas lauter für diesen ungehobelten Kerl. Er scheint wirklich schwer von Begriff zu sein. »Können wir uns irgendwo verstecken?«

»Verstecken?«

Er dreht sich zu mir um. Ich kralle mich noch immer an seinem Mantel fest, und als ich seinem Blick folge und mich umschaue, bemerke ich, dass wir direkt vor einem Haus stehen.

»Gott sei Dank!«

Ich lasse ihn los, stürze auf das Gebäude zu, reiße die Tür auf und schlage sie hinter mir zu. Das beheizte Zimmer, in dem ich nun stehe, kommt mir vor wie das Paradies.

»Claire?«

Meine Hand redet mit mir. Ich habe gar nicht mehr daran gedacht, dass ich immer noch das Handy umklammert halte.

»Sophie! Dich habe ich ja ganz vergessen! Alles in Ordnung, ich habe einen Ureinwohner getroffen. Ich ruf dich später wieder an.«

Gerade, als ich das sage, geht die Tür auf, und nicht gerade freundlich starrt der Bär mich an. »Wen nennen Sie hier einen Ureinwohner?«

»Na, Sie natürlich. Sie sehen doch, dass ich nicht von hier bin.«

Daraufhin mustert er mich eingehend. Und ich denke … rein gar nichts. Was er wohl von mir hält? Ich trage einen einzelnen weißen Schuh – na ja, beinahe weiß –, der andere musste draußen bleiben und sich von den Wölfen zerfetzen lassen. Dazu mein Kleid, das ganz und gar nicht mehr weiß ist und unten auf einer Seite mindestens vierzig Zentimeter weit eingerissen. Die andere Seite habe ich nicht richtig heruntergezogen, sodass sie nur bis zur Hüfte reicht und an meinen Shorts festhängt. Das Oberteil des Kleids sitzt korrekt, immerhin, aber der Satinbluse darunter hat es nicht gefallen, dass man ihr die Show stiehlt, sodass sie versucht, über meiner linken Brust unter dem Kleid hervorzukriechen. Und mein Schal sieht aus, als hätte ich versucht, ein Kaninchen auszunehmen, und es mir mitsamt den Eingeweiden über die Schulter geworfen.

Ich reibe mir die Wangen, um sie zu wärmen, und versuche mir einzureden, dass all das hier nur ein Albtraum ist. Als ich die Hände wieder herunternehme, entdecke ich schwarze und braune Streifen darauf, was bedeutet, dass mein Make-up sich ebenfalls in Wohlgefallen aufgelöst hat. Ich hole tief Luft, und in dem Versuch, wenigstens ein Mindestmaß an Würde zu bewahren, strecke ich meine verschmierte Hand aus und stelle mich vor.

»Claire Stanlais. Freut mich.«

Der Bär sieht mich an und neigt den Kopf.

»Äh, Sie sprechen schon Französisch, oder?«, frage ich ihn, denn er sieht mich immer noch so verschlossen und ausdruckslos an, dass ich nicht den Eindruck habe, er würde mich verstehen.

»Was machen Sie hier bei mir?«

»Ah, wir sind hier also bei Ihnen. Hübsch«, bemerke ich, während ich mich umsehe.

»Sie können hier nicht bleiben.«

»Ah, ja, das verstehe ich, aber ich kann jetzt nicht rausgehen. Sie werden es nicht glauben, aber ich wurde da draußen eben von Wölfen gejagt.« Ich reiße die Augen weit auf, um meinem Bericht ein wenig mehr Dramatik zu verleihen, auch wenn er an sich schon schaurig genug ist.

»Von Wölfen?«, wiederholt er.

»Ja, von Wölfen.«

»Wölfe, hier?«

»Haben Sie etwa Probleme mit den Ohren? Ich habe eine haarsträubende Verfolgungsjagd hinter mir und konnte ihnen gerade so entkommen.«

»Hören Sie mir mal zu. Ich sehe ja, dass es Ihnen nicht gut geht, aber ich kann Ihnen da nicht helfen, Schätzchen. Möchten Sie, dass ich jemanden anrufe? Sie wohnen doch sicher in einer Einrichtung?«

»Aber nein, ich kenne hier doch niemanden …«

Ich habe keine Ahnung, was er meint. Warum redet er so mit mir? Er verhält sich ausgesprochen seltsam, und langsam gerate ich in Panik. Was, wenn ich bei einem Verrückten gelandet bin, einem von der Sorte, die sich menschenfressende Drachen als Haustier halten? Als ich gerade eine Flucht in Erwägung ziehen will, ertönt draußen das Geheul der Wölfe.

»Ah! Hören Sie das? Woher soll dieses Geheul denn kommen, wenn nicht von Wölfen?«

Der Bär ist einen Augenblick lang sprachlos, bis er ohne die geringste Vorwarnung in Lachen ausbricht.

»Das sind Arthur und Hector«, erklärt er schließlich.

»Hector?«

Jetzt überkommt mich endgültig die Panik. Die Kälte muss mir die Neuronen eingefroren haben, oder ich liege im Koma, ohne dass ich es weiß, und fantasiere, denn ich verstehe gar nichts mehr. Wie hat mein Ex-Zukünftiger es geschafft, sich in einen Wolf zu verwandeln? Oder nein, das hier ist ein abgekartetes Spiel, um mir das Leben zur Hölle zu machen. Hector persönlich ist da draußen, vor der Tür. Nur woher konnte er wissen, dass ich hier in diesem gottverlassenen Nest landen würde? Das wusste ich doch selbst bis vor ein paar hundert Kilometern noch nicht. Jetzt hab ich’s! Er spioniert mir nach. Das Auto, das wir uns gekauft haben, ist verwanzt.

Panisch versuche ich, eine plausible Erklärung für das alles zu finden, und höre den Höhlenmenschen zuerst nicht. Erst als er sagt: »Das sind Huskys, Sie Dummerchen«, schalte ich wieder zu.

»Was?«

Er nimmt mich bei der Hand und zerrt mich hinter sich her. Vor dem Fenster deutet er nach draußen, und dort entdecke ich meine zwei Wölfe.

»Arthur und Hector sind Hunde«, erklärt er mir. »Huskys. Die haben Sie doch schon mal gesehen, oder? Zumindest im Fernsehen oder auf einem Bild, hoffe ich. Man muss wirklich dumm sein, um sie mit Wölfen zu verwechseln.«

»Also bitte, jetzt machen Sie mal halblang! Haben Sie schon mal was von Höflichkeit gehört? Ich bin aus Paris, guter Mann, ich bin nicht irgendwo in der Pampa aufgewachsen. Wenn ich morgens auf dem Boulevard Haussmann frühstücken gehe, begegnen mir keine Huskys. Und entschuldigen Sie bitte, aber keiner der beiden hat mir seine Visitenkarte überreicht oder erläutert, dass er ein Husky ist, als er mir hinterhergerannt ist. Außerdem bedeutet Husky doch so viel wie ›Wolfshund‹, oder etwa nicht?«

Empört schaut er mich an. »Sie machen hoffentlich Witze. Die beiden sind schon alt, sie können nur noch in Zeitlupe rennen, und außerdem würden sie keiner Fliege was zuleide tun.«

»Tja, das haben sie mir aber genauso wenig verraten. Außerdem bin ich keine Fliege, also passe ich lieber auf.«

»Sind Sie sicher, dass bei Ihnen alles in Ordnung ist? Dass niemand Sie sucht? Ich kann die Polizei rufen, wenn Sie wollen.«

»Die Polizei? Aber wozu denn?«

»Ich weiß nicht, Sie … Ihr Aufzug … Ihr unzusammenhängendes Gerede … Vielleicht stehen Sie ja unter Schock? Und ich glaube, ich bin nicht die richtige Person, um Ihnen zu helfen.«

»Mein Aufzug?«

Wieder schaue ich an mir herunter und auf mein Aschenputtel-nach-Mitternacht-Kleid. Den Schuh, den ich draußen verloren habe, wird wohl kein charmanter Prinz finden, sondern ein Wolfshund zerfetzen, und ich bin auf einmal so müde und hilflos, dass die Tränen ganz von allein über meine Wangen kullern.

Da der Hauseigentümer daraufhin vollkommen in Panik zu geraten scheint, eben ganz so wie jeder normale Mann, habe ich von ihm wohl nichts zu befürchten. Er ist ein Bauer, aber kein Bösewicht, und ich versuche, die Stimmung mit einer spöttischen Frage aufzulockern.

»Wer ist denn eigentlich so albern und gibt seinen Hunden Männernamen?«

»Meine Mutter.«

Okay. Damit habe ich das Eis wohl nicht gebrochen.

Ich mache ein paar Schritte und lasse mich auf den erstbesten Sessel vor dem Kamin fallen. Die Kälte packt mich wieder, und da das Adrenalin sich aus meinem Blut verflüchtigt hat, wird mir bewusst, dass ich an Unterkühlung sterben werde. Wie dumm, dabei sitze ich doch direkt vor dem Feuer …

Plötzlich fange ich vollkommen unkontrolliert an zu zittern. Der Bauer scheint zu bemerken, dass es mir nicht gut geht, und kommt zu mir. »Ziehen Sie dieses eisige Ding aus«, befiehlt er mir.

Und weil ich mit klappernden Zähnen erfolglos an meinem Kleid zerre, zieht er mich kurzerhand aus dem Sessel hoch und reißt es mit einem Ruck nach oben, sodass mein Schal und meine Bluse ebenfalls mit ausgezogen werden und ich nur noch mit meinem weißen BH bekleidet vor ihm stehe.

Da meine Würde sich ohnehin gleich mit verabschiedet hat, lässt mich das relativ unbewegt. Ich denke kurz, dass bei dem Geräusch, das das Kleid beim Ausziehen gemacht hat, mal eben noch weitere sechstausend Euro den Bach heruntergegangen sind. Egal, ich verkaufe den Stoff einfach für vierzig Euro online.

Der Bauer nimmt eine Decke von einem der Sofas vor dem Kamin, wickelt mich darin ein und reibt mir die Arme, um meinen Blutkreislauf in Gang zu bringen. Das verfluchte Kleid auf dem Boden scheint mich auszulachen. Ich bin am Ende meiner Kräfte und völlig willenlos, doch in einem letzten Akt der Zurückweisung versetze ich dem Kleid einen kleinen Tritt, der es nicht wie beabsichtigt zur Seite befördert, sondern direkt vor den Kamin. Eine Flamme leckt am Stoff, und in Sekundenschnelle geht das Kleid in Flammen auf, und während der Bär flucht und mein Kleid mit dem Schürhaken weiter in den Kamin schiebt, damit sein Teppich kein Feuer fängt, und wir mit ihm, schaue ich zu, wie die Überreste meines Tages in Flammen aufgehen, und sage mir, dass ich für achttausend Euro wohl doch etwas bekommen habe, was mich warm hält, bevor ich endgültig in Tränen ausbreche.

Ankunft einer Durchgeknallten.
Ein Monat und ein Tag in der Verbannung.

Es ist unglaublich. Ich hätte nicht gedacht, dass es noch schlimmer kommen könnte. Bis sie aufgetaucht ist.

Seit einem Monat, einem langen und nicht enden wollenden Monat, bin ich allein hier. Ich gebe auf, Mama. Ich schaffe das nie. Ich habe es dir versprochen, ich weiß, und ich habe mein Bestes gegeben. Du hast doch immer gesagt, dass nur das zählt, stimmt’s? Aber ich tauge einfach zu nichts, ich habe keine Ahnung, wie man eine Herberge führt, geschweige denn ein Hotel, so wie ihr es euch vorgestellt habt, Marlène und du. Daraus wird also leider nichts. Ich bin noch nicht bereit, Gäste zu empfangen, und ich glaube auch nicht, dass ich es jemals sein werde. In zwei Wochen beginnen die Weihnachtsferien, aber ich werde den Saisonauftakt verpassen. Stattdessen schlage ich mich mit dem verfluchten Heizkessel herum. Tut mir leid, Mama.

Einerseits geht es mir gut hier, allmählich rückt der Big Apple und alles, was dazugehört, in den Hintergrund. Andererseits hat sich mein Leben so radikal verändert, dass selbst ich manchmal Schwierigkeiten habe mitzuhalten. Inzwischen bin ich an dem Punkt angelangt, an dem ich am liebsten alles hinwerfen würde. Ich bin nicht mein Vater, und das werde ich auch nie sein. Meine Mutter wusste das, deswegen hat sie mich auch nicht darum gebeten, nach Hause zu kommen, als sie spürte, dass ihre letzten Tage gekommen waren. Seit einem Monat gehe ich das alles immer wieder gedanklich durch, aber ich finde nichts, was meine Nerven beruhigen würde. Die Verrückte, die im Wohnzimmer vorm Kamin sitzt und bibbert, wird daran auch nichts ändern. Woher soll ich wissen, ob sie nicht eine psychische Erkrankung hat? Selbst wenn es recht eindeutige Hinweise darauf gibt: Als ob sie direkt vorm Haus von Wölfen verfolgt werden würde, also wirklich!

Ich bereite einen Kräutertee zu, so wie meine Mutter es mir als kleiner Junge beigebracht hat: ein paar Blätter Eisenkraut, einen Spritzer Zitrone, einen großen Löffel Honig und einen Kaffeelöffel braunen Rum. Wenn das sie nicht beruhigt …

Ich frage mich, ob das tatsächlich ihr Hochzeitskleid war. Ist ihr Mann womöglich verstorben, und sie trägt es einmal im Jahr als Trauerritual? Hat sie das Kleid in einem Laden oder jemand anderem geklaut? Oder ist sie die Art Kindermädchen, das für eine reiche und berühmte Frau arbeitet und sie derart um ihr Leben beneidet, dass sie ihr das Kleid stiehlt? Nun gut, ich werde sie ausfragen und dabei streng bleiben müssen. Ich weiß nichts über sie, außer dass sie in Paris lebt, aber ich erkenne Qualität, wenn ich sie sehe, und der Stoff des Kleids, das sie ins Feuer geworfen hat, sagt mir, dass das kein wertloser Plunder war. Nur warum hat sie das Kleid überhaupt in die Flammen geworfen? Ist sie womöglich selbstmordgefährdet oder gar gefährlich? Ich habe aber auch wirklich kein Glück. Schon als ich klein war, habe ich ständig irgendwelche verirrten und halbtoten Tiere aufgelesen, das hat meine Mutter zumindest immer gesagt, und das hat sich offenbar nicht geändert. Großartig. Nur dass das verirrte und halbtote Tier jetzt eine vom Himmel gefallene Frau ist.

Ich reiche ihr die Tasse, und als sie den Blick hebt, habe ich den Eindruck, als würde sie mich zum ersten Mal sehen und sich nicht daran erinnern, wie sie hier gelandet ist. Verdammt, ich hoffe, sie leidet nicht an dieser Goldfischkrankheit, bei der das Gedächtnis alle paar Stunden wieder bei null anfängt, das halte ich nicht lange durch. Ich muss sie irgendwie loswerden.

»Wann fahren Sie wieder?«, frage ich sie, und meine Stimme klingt ein wenig barsch.

Sie bleibt stumm. Vielleicht war das tatsächlich zu grob. Ich korrigiere mich.

»Also, ich meine, wohin sind Sie unterwegs?«

»Da mein Auto auf Ihrer Wiese feststeckt, komme ich nicht mehr weit, ich würde sagen, irgendwohin, wohin ich in dieser Eiseskälte in kurzen Hosen zu Fuß laufen kann.«

Diesmal bleibe ich stumm. Das hier wird offenbar schwierig.

»Fangen wir noch einmal von vorne an. Wer sind Sie? Frau Stan…«

»Stanlais, Claire Stanlais. Immer noch Stanlais …«

Sie fängt wieder an zu weinen.

Ich stehe auf und lege Holz nach; das Kleid hat das Feuer schneller herunterbrennen lassen. Keine fünf Minuten ist eine Frau hier, und schon ist alles doppelt so aufwändig.

»Es tut mir furchtbar leid. Sie müssen mich für verrückt halten«, setzt sie mit flehendem Blick wieder an.

Sie hat ausgesprochen schöne grüne Augen. Ich glaube zumindest, dass sie unter ihrem Junkie-Look mit all der zerlaufenen schwarzen Schminke grün sind. Kommt das vom Weinen oder von der Kälte draußen? Ich weiß es nicht, von so was habe ich keine Ahnung.

»Ach, woher denn«, sage ich mit hochgezogenen Augenbrauen.

»Heute war mein Hochzeitstag.«

»Heute?«

»Ja, genau. Heute sollte ich heiraten.«

»Wer heiratet denn mitten im Dezember bei solchen Temperaturen?«

»Ist doch egal, wer im Dezember heiratet! Außerdem hat in Paris die Sonne geschienen, und es war auch nicht so kalt, wie Sie meinen. Sie stellen wirklich komische Fragen. Wollen Sie jetzt, dass ich Ihnen meine Geschichte erzähle, oder nicht?«

»Nein! Ich habe Sie doch gar nicht nach Ihrer Geschichte gefragt. Ich möchte einfach nur, dass Sie wieder gehen.«

»Ah, verstehe. Wirklich toll, die Gastfreundschaft in den Bergen. Und Sophie erzählt mir, alle hier in Cambairoux seien so wundervoll. Sicher doch, ich komme bestimmt wieder.«

»Hören Sie mal, ich bin nicht jeder. Ich habe Sie eingesammelt, weil ich Sie da draußen panisch herumirren gesehen habe, Sie konnten sich vorm Kamin aufwärmen und ich habe Ihnen einen Kräutertee angeboten, aber meine Gastfreundschaft hat ihre Grenzen. Das war schon deutlich mehr, als ich normalerweise anbieten würde.«

»Okay, okay. Ich sehe schon, dass wir nicht die gleiche Auffassung von Gastfreundschaft haben. War schön, Sie kennenzulernen, Herr Unbekannt. Sie haben mir ja nicht einmal gesagt, wie Sie heißen. Ich lasse Sie jetzt allein und gehe nach draußen, um dort zu erfrieren und mich von Huskys, die wie Wölfe aussehen, in Stücke reißen zu lassen.«

Ohne dass ich Zeit habe, etwas zu erwidern, steht sie auf, durchquert, immer noch in die Wolldecke eingewickelt, das Wohnzimmer, zögert kurz vor der Tür, bis sie sie schließlich öffnet und entschlossenen Schrittes hinausgeht und sie hinter sich zuschlägt.

Was für eine dumme Idee! Ich stehe auf, um sie zurückzuholen. Ich weiß nicht, weshalb, aber was ich getan habe, gehört sich nicht, und ich will auch nicht für ihren Tod verantwortlich sein. Gerade als ich die Tür öffnen will, schwingt sie auf, und der blonde Wirbelwind wirft sich kreischend auf mich, sodass ich beinahe rücklings zu Boden stürze. Sie schiebt mich aus dem Weg, schließt die Tür hinter sich, lehnt sich mit dem Rücken dagegen und schaut mich vollkommen panisch an.

»Okay, ich wollte die Stolze spielen, aber das übersteigt meine Kräfte. Sie sind da.«

»Wer ›sie‹? Werden Sie jetzt von einer Geheimorganisation verfolgt?«

»Die Wolfshunde.«

Sie bleibt mit dem Rücken an die Tür gedrückt stehen, als wollte sie sie fest verschlossen halten und sich vor Arthur und Hector in Sicherheit bringen.

»Ich habe Ihnen doch gesagt, dass sie harmlos sind.«

»Das mag ja sein, aber es sind … es sind … Hunde«, flüstert sie, als würde sie mir ein Staatsgeheimnis anvertrauen.

»Ja, genau, das haben wir ja bereits festgestellt. Eine Art Wolfshund, wie Sie selbst gesagt haben. Gut. Hören Sie zu, junge Frau, das ist ja nett, aber …«

»Nein! Ich bitte Sie! Werfen Sie mich nicht raus! Ich habe eine Hundephobie. Seit ich klein war. Ich muss wohl mal gebissen worden sein, das weiß man nicht, selbst meine Mutter hat keine Ahnung, warum, aber es ist nun mal so. Wenn ein Hund auf mich zukommt, dann sehe ich nichts als sein Maul und seine Zähne, und ich denke nur noch daran, dass sie zubeißen können …«

Da sie wieder in Panik zu geraten scheint und ich nicht weiß, ob mir die Erfrorene, die Heulsuse oder die hysterische Verrückte lieber ist, versuche ich, sie zu beruhigen.

»Selbst wenn sie beißen würden, Ihre Kleidung könnten sie nicht noch mehr zerfetzen …«

Ich fange leise an zu lachen, so skurril ist die ganze Situation, und ich bin sicher, dass sie mich gleich mit Beschimpfungen überhäufen wird, doch da beginnt auch sie zu lachen. Es gefällt mir, ihr Lachen klingt sanft, und sie wirkt weniger verrückt.

Nach ein paar Augenblicken sehen wir uns verlegen an, und es wird ganz still. Was soll ich nur mit ihr machen? Meine innere Stimme sagt mir, dass diese Frau nur Probleme bringt, doch ein Teil von mir amüsiert sich auch und würde gern mehr über sie erfahren. Schließlich hätte das auch den Vorteil, dass es mich von meinen eigenen Problemen ablenken würde.

»Kommen Sie, setzen Sie sich wieder vors Feuer, ich mache Ihnen noch einen Tee, und Sie erzählen mir, was Sie in unsere schöne Gegend geführt hat. Anschließend bringe ich Sie zu Ihrer Unterkunft. Allerdings hoffe ich, dass man Sie erwartet, es ist nämlich fast Mitternacht.«

»Mitternacht?« Wieder sieht sie mich panisch an.

»Was denn jetzt noch? Verwandeln Sie sich um Mitternacht etwa zurück in Aschenputtel? Ach nein, das sind Sie ja schon.«

»Hahaha. Für einen Bären haben Sie ja doch Humor.«

Ich gehe nicht auf ihre spitze Bemerkung ein, und während sie im Sessel Platz nimmt, gehe ich in die angrenzende Küche, um noch einmal Wasser aufzusetzen. Aus dem Augenwinkel beobachte ich sie. Sie wirkt einfach nicht ganz bei sich. Sie scheint sich nicht wohl zu fühlen und setzt sich ganz vorne auf die Sesselkante, bereit zur Flucht.

»Hugo.«

»Was, Hugo?«

»Ich heiße Hugo Moreton.«

»Freut mich, ich heiße …«

»Claire Stanlais. Ich weiß.«

Okay. Sie hat wirklich ein Problem.

»Entschuldigung, ich habe heute nicht alle Sinne beisammen«, murmelt sie.

Hoffen wir mal, dass das nur für heute gilt.

»Und, waren Sie schon mal in Cambairoux?«

»Nein, ich bin zum ersten Mal hier. Meine Schwester kommt öfter her. Mit ihr habe ich vorhin telefoniert. Sie hat mir empfohlen, herzukommen, um neue Kraft zu schöpfen. Haben Sie eine Toilette?«

»Was? Äh … ja. Die Zeiten mit den Plumpsklos im Garten haben wir hinter uns. Auch in den Bergen entwickeln wir uns weiter, wissen Sie.«

»Ja, das weiß ich, aber das war die elegante Art zu fragen, ob ich sie benutzen darf und Sie mir wohl den Weg zeigen würden. Nächstes Mal sage ich Ihnen einfach, dass ich mal pinkeln muss.«

Wie nervtötend sie doch ist …

Ich entgegne nichts, deute aber auf die Tür, als ich den Tee hinübertrage, und hoffe nur, dass ich sie los bin, bevor es ein nächstes Mal gibt.

Sie bleibt eine Ewigkeit im Bad, und ich bin schon fast so weit, dass ich nach ihr schauen will, als sie endlich wiederkommt, ein wenig verändert. Jetzt begreife ich, dass sie sich am kleinen Waschbecken das Gesicht gewaschen hat, sodass die verschmierte Schminke verschwunden ist. Sie hat tatsächlich schöne grüne Augen und ein hübsches Gesicht. Wenn man auf den verheulten und verzweifelten Typ steht, versteht sich.

»Tut mir leid, ich habe versucht, die Fassade ein bisschen zu renovieren, aber es hat länger gedauert, als ich dachte.«

Klugerweise mache ich keine Bemerkung, auch wenn es mich in den Fingern juckt.

Sie trinkt ihren Tee, als wäre er eine Überlebensration, und mir wird bewusst, dass sie noch immer völlig durchgefroren und dazu noch ausgehungert sein muss.

»Also, zu wem soll ich Sie bringen?«

»Zu Jeanine«, antwortet sie mit einem Lächeln.

»Oh nein. Das geht nicht.«

»Wie, kennen Sie sie etwa nicht? Meine Schwester hat mir erzählt, dass jeder hier im Dorf Jeanine kennt, selbst in den Nachbardörfern. Und ausgerechnet Sie nicht?«

Wer ist diese Frau? Warum will sie zu Jeanine? So einfach werde ich sie wohl doch nicht los. Und weil es nur eine Antwort auf ihre Frage gibt …

»Es geht nicht, weil Jeanine verstorben ist.«

»Oh nein! Die Arme. Aber weiß sie es denn?«

Ich schaue sie nur schief an.

»Nein! Ich meine, wie ist es passiert? Also, wann? Hat sie keine Familie? Hat jemand die Herberge übernommen?«

Was soll das? Will sie den Rekord für die meisten innerhalb einer Minute gestellten Fragen brechen?

»Vor einem Monat«, antworte ich. »Sie weiß Bescheid, genau wie das gesamte Dorf. Und ihre Familie ebenfalls.«

»Dann führt die Familie die Herberge doch bestimmt weiter, nicht wahr? Oder gibt es eine andere Unterkunft, in der ich übernachten kann?«

»Nein, die Familie betreibt die Herberge nicht weiter. Sie müssen zu den Hotels an den Skiliften fahren. Aber heute nicht mehr, die Rezeption dort ist jetzt geschlossen.«

»Dann fahren wir doch trotzdem zu Jeanine, ich bin sicher, dass ihre Familie mich gern …«

»Nein!«

»Warum nicht?«

»Weil ich ihre Familie bin.«

»Weil Sie ihre … was? Mein Gott!«

Ist sie wirklich so schwer von Begriff, oder macht sie das absichtlich?

»Sind Sie ihr Sohn?«

»Ja.«

»Dann ist Ihre Mutter gestorben?«

»Sie begreifen schnell, toll, man muss es Ihnen nur sehr ausführlich erklären.«

»Es tut mir leid. Mein herzliches Beileid.«

»Danke, aber Sie kannten sie nicht.«

»Ich nicht, aber meine Schwester. Sie hat mir oft von Jeanine erzählt, sie wollte sie mir unbedingt vorstellen. Und diese nette junge Frau, die sich um die Küche gekümmert hat … Wie hieß sie doch gleich?«

»Marlène.«

»Genau! Ist sie Ihre Schwester?«

»Meine Cousine, aber sie ist so gut wie meine Schwester. Marlène werden Sie übrigens auch nicht begegnen. Sie ist weggezogen. Also gut. Hören Sie. Es sieht ganz so aus, als kämen wir so nicht weiter. Ihre Schwester hat Sie schlecht beraten. Und wenn man einfach so, mitten im Winter, ohne zu reservieren in die Berge fährt, muss man wirklich vollkommen …«

»… verzweifelt sein. Genau das war ich. Sophie trägt daran keine Schuld. Ich flehe Sie an, ich tue alles, was Sie wollen, nur werfen Sie mich bitte nicht raus zu den Wölfen. Zu den Hunden, meine ich. Nein, den Wolfshunden. Ich habe keine Ahnung, wo ich hinsoll, das können wir besser morgen früh ganz in Ruhe überlegen, nicht wahr? Wenn wir anständig ausgeschlafen haben. Ich kann auf dem Sofa schlafen, Sie werden mich gar nicht bemerken, ich gebe keinen Mucks von mir und mache mich auch ganz klein.«

Die schiere Panik scheint sie wieder überkommen zu haben. Ihr »ich tue alles, was Sie wollen« klingt schon ein wenig verlockend, das muss ich zugeben. Mir würde da auch etwas einfallen, wie sie für die Übernachtung aufkommen könnte … Aber gut, das ist zu riskant. Sie ist verrückt und möglicherweise gefährlich noch dazu, mit ihr anzubändeln wäre also keine gute Idee.

»Gut, einverstanden. Ich bereite ein Zimmer für Sie vor, aber nur provisorisch«, bestimme ich mit meinem strengsten Blick. »Morgen bringe ich Sie in den Ort, und Sie suchen sich ein Hotel.«

»Ja! Versprochen! Danke!«

Sie hüpft auf der Stelle wie ein kleines Mädchen. Dann sieht sie mich mit Unschuldsmiene an. »Äh … sagen Sie, dürfte ich wohl auch länger bleiben?«

»Nein.«

Normalerweise reicht meine tiefe Stimme aus, um jemanden abzuschrecken, aber bei ihr scheint sie keinen nennenswerten Eindruck zu machen. Als ich aus dem Wohnzimmer in den Flur gehe, folgt sie mir und hopst herum, um meine Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. Diese Frau ist wirklich lächerlich klein, oder? Gut, ich bin groß, aber trotzdem.

»Bitte! Ich bezahle Sie auch.«

Ich drehe mich um, und sie steht direkt hinter mir. Ich muss den Blick senken, so klein ist sie.

»Ich brauche kein Geld«, versichere ich ihr.

»Jeder braucht Geld.«

»Ich nicht.«

»Na schön, aber was anderes werden Sie von mir nicht bekommen. Mein Verlobter hat mich gerade vor dem Altar stehenlassen, wenn Sie also glauben, ich würde Ihnen irgendwelche anderen Dienste anbieten, um für die Übernachtung zu bezahlen, haben Sie sich geschnitten.«

Sie setzt eine empörte Miene auf, schiebt mich zur Seite und stolziert an mir vorbei.

Das kann ich nicht auf mir sitzen lassen.

»Ich habe nichts in der Richtung von Ihnen verlangt!«, rufe ich.

»Ich konnte es Ihnen ansehen!«

»Das ist doch Unsinn.«

Ich lasse sie weitergehen und eine Tür aufziehen, die sich als Schranktür erweist. »Das ist nicht Ihr Zimmer«, bemerke ich trocken.

»Ach nein? Hätte ich jetzt aber gedacht.«

Sie scheint außer sich. Aber was habe ich denn getan?

Sie fängt an, eine Tür nach der anderen aufzureißen. Weil ich nicht will, dass sie auch die zu meinem Zimmer aufmacht und das Chaos darin entdeckt, überhole ich sie mit zwei großen Schritten und öffne die Tür, die zu ihrem Zimmer für diese Nacht führt.

Sie nickt, was wohl so viel wie »Danke« heißen soll, und geht an mir vorbei. Im Zimmer ist es ein wenig kalt, aber mit mehreren Decken sollte es gehen. Ich hole Bettwäsche aus dem Schrank, und ohne ein Wort fangen wir an, gemeinsam das Bett zu beziehen.

Weil ich kaum glauben kann, was sie mir da gerade erzählt hat, hake ich noch einmal nach: »Ihr Verlobter hat Sie an Ihrem Hochzeitstag verlassen?«

Sie nickt stumm.

Es könnte sein, dass sie doch nicht verrückt ist, sondern einfach nur völlig durch den Wind. Kein Wunder!

»Was für ein Arschloch«, sage ich leise.

»Der reinste Abschaum.«

»Und … was haben Sie dann gemacht?«

»Ich bin in meinen RAV4 gestiegen und einfach drauflosgefahren. Nach einer Stunde habe ich dann meine Schwester angerufen, die mir vorgeschlagen hat, hierherzukommen, weil sie hier immer herzlich aufgenommen wurde. Weil sie jedes Jahr für die gleiche Woche bucht, war es theoretisch nicht nötig, vorher anzurufen. Sie ist schwanger und leidet an Übelkeit, also wollte sie mir ihren Platz überlassen. Ich hatte nur meinen Koffer für unsere Flitterwochen in Australien dabei, aber ich habe gedacht, dass ich mir etwas Warmes zum Anziehen kaufen kann, sobald ich hier ankomme. Ich hatte nicht vorgehabt, mich zu verfahren und dann auch noch steckenzubleiben …«

»Ein RAV4?«

»Was?«

»Sie haben es geschafft, sich auf der ebenen Wiese vorm Haus mit einem Allradwagen festzufahren?«

»Aha, schon klar. Das schockiert Sie an der ganzen Geschichte also am meisten. Mensch, Sie sind offenbar wirklich nicht so weit, Gäste zu empfangen! Vor allem, wenn man Ihren Sinn für Gastfreundschaft mit einberechnet. Nun denn, das trifft sich ausgezeichnet, ich könnte nämlich sehr gut etwas zu tun gebrauchen. Also erst einmal ausschlafen, aber morgen reden wir noch einmal darüber, wir schauen uns Ihr Konzept an, und ich gebe Ihnen ein paar Ratschläge. Kostenlos, keine Sorge. Und bis dahin würde ich gerne noch etwas essen. Sie haben ja vielleicht schon gegessen, aber ich noch nicht. Wenn es Ihnen also nichts ausmacht, koche ich uns einen kleinen Happen. Ein großer Kerl wie Sie kann doch immer etwas vertragen, oder?«

Während sie leichten Schrittes das Zimmer verlässt, bleibt mir der Mund offen stehen, und verdattert schaue ich ihr hinterher. Sie will mir Ratschläge geben? Und jetzt kocht sie uns einen kleinen Happen? In meiner Küche?

Ich habe es doch gewusst, ich hätte sie weiter im Garten herumirren lassen sollen, als ich sie vom Fenster aus gesehen habe. Diese Frau bedeutet nichts als Schwierigkeiten …

Zweiter Tag meines Martyriums.

Mir ist kalt. Wider Erwarten habe ich gut geschlafen, aber im Zimmer herrscht eine Eiseskälte. Ich wache mit höllischen Kopfschmerzen auf, und mit eisigen Schultern, weil sie unter der Decke hervorgelugt haben. Bilde ich mir das ein, oder ist die Temperatur über Nacht gesunken?

Hugo hat mir gestern noch einen Schlafanzug von sich gegeben. Es war sehr lustig. Ich habe nur das Oberteil angezogen, ein kariertes Baumwollhemd, das mir bis unter die Knie reicht und an mir wie ein Nachthemd aussieht. Dabei bin ich gar nicht so klein, immerhin 1,63 m. Sicher, das ist nicht riesig, aber eben auch nicht winzig. Der Kerl muss mindestens 1,90 m groß sein, man könnte ihn für einen Rugbyspieler halten. Dazu dann noch der Bart, damit sieht er fast aus wie Sébastien Chabal. Mir persönlich gefallen strubbelige Bärte ja ganz und gar nicht. Ich habe noch versucht, ihm ein paar Fragen zu stellen, aber gesprächig ist er auch nicht. Ein wandelndes Stereotyp. Ich habe nur aus ihm herausbekommen, dass er hier geboren wurde, aber die letzten Jahre über nicht mehr hier gelebt hat, daher auch seine mangelnden Kenntnisse der aktuellen Gegebenheiten. Ich glaube, dass er zurückgekehrt ist, nachdem er vom Tod seiner Mutter erfahren hatte. Er bringt nichts außer ein »Ja« oder ein Brummen über die Lippen, es ist also nicht leicht, etwas in Erfahrung zu bringen.

Ich habe uns ein Omelett mit Pilzen gebraten, und obwohl ich den Eindruck hatte, er hätte mich am liebsten dafür umgebracht, dass ich mich in seiner Küche zu schaffen gemacht habe, hat er einen Teller nicht abgelehnt. »Der Weg zum Herzen eines Mannes führt durch den Magen«, predigt mir meine Mutter ständig. Nur dass ich mir bei ihm nicht sicher wäre, ob sein Herz unter den Schichten von Pullis und dem Pelz, den er darunter mit Sicherheit hat, nicht vielleicht erstarrt ist.

Ich klettere aus dem Bett und gehe in Richtung Wohnzimmer, ohne die geringste Ahnung, wie spät es wohl sein könnte. Eine heiße Dusche wird mich aufwärmen. Ich meine mich ungefähr daran zu erinnern, wo das Badezimmer liegt … Aber es ist gar nicht so einfach hier, überall sehe ich nur Türen! Ich öffne schließlich die, die ich für die richtige halte … und treffe auf den halbnackten Bären. Wow! Er ist wirklich kein Bär. Er trägt eine Schlafanzughose, sein Oberkörper ist nackt, und steht vor seinem Kleiderschrank. Ich nehme es zurück: kein übermäßiger Pelz in Sicht. Ganz im Gegenteil. Dieser Körper ist mir unter dem unförmigen Pulli gestern gar nicht aufgefallen. Ich habe zwar gespürt, dass er muskulös ist, als ich mich draußen an ihn geklammert habe, aber der Waschbrettbauch, den ich jetzt vor mir sehe, ist, verglichen mit den meisten Typen, die ich sonst so kenne, außer Konkurrenz. Nein, ich muss mich korrigieren: verglichen mit allen. Ich kenne niemanden, der so aussieht wie er. Ein wenig Flaum auf der Brust, ein makelloser Körper. Gewaltig, groß … und perfekt.

Als er aufsieht und mich entdeckt, knurrt er etwas, das wohl gleichbedeutend ist mit »raus hier«.

Eilig mache ich die Tür wieder zu und beschließe, uns Frühstück zu machen.

Himmel, ich kann es immer noch nicht fassen. Wie kann es sein, dass die Verpackung so wenig appetitlich daherkommt, wenn das darunter doch so … verlockend ist? Dieser Mann ist mir wirklich ein Rätsel. Das zu lösen mich aber ganz und gar nicht reizt.

Ah, sieh an, dort gibt es eine Uhr. Es ist erst acht? Ich bin um acht Uhr aufgestanden? Seit wann stehe ich denn bitte so früh auf? Das muss an der Bergluft liegen. Oder an meinen ganzen Sorgen. Ich habe zwar gut geschlafen, aber unglaublich viel geträumt. Natürlich von Hector, sowohl im Guten als auch im Schlechten.

Mein Handy hat sich heute früh ausgeschaltet, als ich eine Nachricht an Sophie abgeschickt habe, um sie zu beruhigen. Fünfundsiebzig ungelesene Nachrichten! Momentan bringe ich aber nicht den Mut auf, sie mir anzusehen oder auf sie zu antworten. Ich muss meinen Aufenthalt hier wie eine Auszeit angehen. Ich habe fast einen Monat lang frei, Hochzeitsreise plus all die zusätzlichen Urlaubstage, die sich angehäuft haben. Also habe ich Zeit. Jetzt muss sich nur noch der Bär einverstanden erklären und mich bei sich aufnehmen. Was soll das eigentlich heißen, die Herberge ist noch nicht bereit für Gäste? Es ist doch kein Kunststück, die Herberge aufzumachen. Also, mir scheint alles bereit.

Jetzt, wo ich mich bei Tageslicht umschaue, wird mir auch bewusst, wie hübsch es hier ist. Typisch alt, aber hübsch. Alles ist aus echtem Holz, wie im Film, nicht wie bei Ikea oder bei mir im Wohnzimmer.

Ich mache mich in der Küche zu schaffen, der einzige Ort, an dem ich mich wohl fühle, egal, wo ich gerade bin, und beschließe nach einem Blick auf die Vorräte, Pancakes zu machen.

Jetzt denk nach, Claire, denk nach. Was machst du jetzt bloß?

Es steht außer Frage, dass ich nicht nach Paris zurückfahre. Die Strecke muss ich mir heute nicht geben. Ich bin im Urlaub, weit weg von allem, und das hier scheint mir der ideale Ferienort, um neue Kraft zu schöpfen. Nur Sophie weiß, wo ich bin, und ich kann mich darauf verlassen, dass sie unsere Eltern beruhigt, aber sonst niemandem Bescheid gibt. Ich habe keine besondere Lust darauf, meine Freundinnen am Apparat zu haben. Ich brauche Zeit. Den scharfen Unterton in ihren säuselnden Stimmen hören, wenn sie mir ihre Predigten halten? Nein danke. »Du hättest es dir denken müssen.« – »Hector ist eben labil, und du hast ihm regelrecht das Messer an die Kehle gehalten, damit er dich heiratet.« Wir waren seit fünf Jahren zusammen, verdammt! Er hatte genug Zeit, es sich zu überlegen. Es ist doch wohl besser, es darauf ankommen zu lassen und rechtzeitig zu merken, dass etwas nicht stimmt.

Wäre es denn einfach so mit uns weitergegangen, hätten wir nicht geplant zu heiraten? Hätte ich Kinder mit ihm bekommen, ohne etwas zu merken? Und hätte er einfach mit seinem Ego-Trip weitergemacht und hier und da was nebenher laufen gehabt? Nein, »etwas laufen haben«, das ist doch viel zu harmlos, um jemanden zu beschreiben, der fremdgeht! Meine Mutter hat mir mal gesagt, manche Männer würden eben nebenher etwas laufen haben, das liege in ihrer Natur, und sie würden sich auch niemals ändern. Tja, Mama, ich wollte ja nicht begreifen, von wem du gesprochen hast, aber jetzt weiß ich es. Ich habe keine Beweise, aber wenn er am Tag unserer Hochzeit ohne ein Wort von der Bildfläche verschwindet, ohne eine Entschuldigung, ohne das geringste Zögern, dann doch wohl, um zu einer anderen zu gehen. Er hat kalte Füße bekommen? Von wegen! Ich konnte es Charles, seinem besten Freund, doch ansehen, wie unwohl ihm war.

»Er ist noch nicht so weit«, hat er mir erklärt. Nach fünf Jahren, verdammt. Wie viele Leben braucht er denn, um so weit zu sein? Sieben, wie eine Katze? Und als ich Charles gebeten habe, dieses eine Mal ehrlich zu sein und mir zu sagen, ob es da eine andere gibt, ist er mir eine Antwort schuldig geblieben. Die Yogalehrerin, angeblich eine Freundin aus Kindertagen, so ein Schwachsinn. Ich bin überzeugt, dass sie dafür verantwortlich ist.

Okay, genug jetzt. Ich versaue nur den Teig, wenn ich weiter an ihn denke. Ein paar Tage, nur ein paar Tage Auszeit, dann ist es nicht mehr so frisch und ich kann in aller Ruhe darüber nachdenken. Bis dahin kann ich nicht zurück. Sophie ist schwanger, da möchte ich nicht auf dem Höhepunkt meiner Depression bei ihr aufschlagen. Zurück in unsere Wohnung kann ich auch nicht, falls der Mistkerl dort auftaucht. Und meine Eltern liebe ich zwar über alles, aber jetzt bemuttert werden, wenn sämtliche Nachbarn ihre Aufwartung wie für eine Totenwache machen? Lieber nicht.

Am besten wäre es hierzubleiben. Davon muss ich bloß den Bären überzeugen. Ich könnte ihm helfen, seine Herberge zu eröffnen, ich weiß, wie kompetent ich bin und wie lebensfroh ich sein kann. Normalerweise zumindest. Aber das kommt schon wieder. Ich muss mich einfach nur unentbehrlich für ihn machen. Für mein Zimmer kann ich aufkommen, und wenn ich dafür meine letzten Ersparnisse hergeben muss. Jedenfalls brauche ich sie nicht mehr für meine Flitterwochen.

Er kommt in die Küche, als ich gerade die ersten Pancakes in der Pfanne habe, und er duftet frisch nach Seife. Er schaut zwar immer noch wie ein Bär, was nichts Gutes verheißt, aber seine Gesichtszüge werden weicher, als er meine Pancakes erschnuppert, was wiederum einen Punkt für mich bedeutet. Seine Haare sind noch nass und wirken dadurch weniger dicht, sie reichen ihm bis in den Nacken. Sogar sein Bart sieht nicht mehr so sehr nach Holzfäller aus. Er bleibt zwar ein angriffslustiger Bär, aber jetzt weiß ich, dass sich unter dieser Oberfläche ein ziemlich ansehnlicher Körper verbirgt.

»Passiert Ihnen das öfter, dass Sie morgens bei Fremden ins Zimmer platzen?«, will er wissen.

Okay, das fängt nicht gut an.

»Nein, das mache ich nur auf dem Land. In Paris gibt es nur Ein-Zimmer-Wohnungen.«

Da er nichts entgegnet, muss ich diesem Brummbären wohl erklären, dass das ein Witz war.

»Wann schauen wir uns Ihr Auto an?«, fragt er.

»Ah, wann Sie wollen. Nach dem Frühstück? Ich habe mein Ladegerät liegenlassen, und wahrscheinlich haben Sie nicht das gleiche. Ich muss meine Nachrichten abrufen und etwas zum Anziehen aus meinem Koffer holen, das vielleicht etwas … angemessener ist, wenn Sie verstehen, was ich meine. Das wird allerdings nicht einfach, ich habe nämlich praktisch nichts als Tangas und Bikinis dabei, ich glaube also …«

Ich halte inne.

Der Bär starrt mich panisch an.

»Was ist? Habe ich etwas Falsches gesagt?«, erkundige ich mich.

»Eigentlich hatte ich gehofft, dass wir uns Ihren Wagen ansehen, damit Sie abreisen können.«

Autor