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Schneeflockenträume und Weihnachtszauber

hier erhältlich:

Dieses Weihnachtsfest muss einfach perfekt werden! Nach einem turbulenten Jahr mit etlichen Tiefschlägen setzt Christina alles daran, ihrem kleinen Sohn Nathaniel das schönste Weihnachten aller Zeiten zu bereiten - inklusive Plätzchen backen, Schmücken des Christbaums und selbstverständlich dem Besuch der Weihnachtsparade. Aber wie soll sie das alles schaffen? Wenn sie doch zwei linke Hände hat und selbst Rauchmelder und Kaffeemaschinen nie so wollen wie sie. Allerdings hat sie auch nicht mit ihrem persönlichen Weihnachtsretter Will gerechnet …


  • Erscheinungstag: 06.12.2015
  • Seitenanzahl: 55
  • ISBN/Artikelnummer: 9783955765705
  • E-Book Format: ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Shannon Stacey

Schneeflockenträume und Weihnachtszauber

Aus dem Amerikanischen von Stefanie Kruschandl

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MIRA® TASCHENBUCH

MIRA® TASCHENBÜCHER

erscheinen in der HarperCollins Germany GmbH,

Valentinskamp 24, 20354 Hamburg

Geschäftsführer: Thomas Beckmann

Copyright © 2015 by MIRA Taschenbuch

in der HarperCollins Germany GmbH

Titel der nordamerikanischen Originalausgaben:

Her Holiday Man

Copyright © 2014 by Shannon Stacey

erschienen bei: Carina Press, Toronto

Published by arrangement with

Harlequin Enterprises II B.V./S.àr.l

Konzeption/Reihengestaltung: fredebold&partner gmbh, Köln

Umschlaggestaltung: pecher und soiron, Köln

Titelabbildung: Harlequin Enterprises S.A., Schweiz

Redaktion: Mareike Müller

ISBN 978-3-95576-570-5

www.mira-taschenbuch.de

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eBook-Herstellung:

readbox publishing, Dortmund

www.readbox.net

1. KAPITEL

Es war ein Freitagabend, als Will Broughton in seine Heimatstadt zurückkehrte. Aus dem Autoradio ertönte ein trauriger Country-Song, während auf der Ladefläche des Pick-ups sein gesamtes Hab und Gut leise vor sich hin rumpelte.

In der Stadt herrschte eine trostlose Stimmung. Kein Wunder, dachte Will. Immerhin war das hier New Hampshire, und zwar mitten im November. Die bunten Blätter waren längst von den Bäumen gefallen, und nun reckten sich die Äste kahl dem Himmel entgegen. Das würde sich ändern, sobald der erste Schnee fiel. Dann verwandelte sich der Ort jedes Jahr aufs Neue in eine typische New-England-Winteridylle, wie man sie von Postkarten kannte. Aber noch war es nicht so weit.

Will schaute aus dem Fenster des schwarzen Fords F-150, Baujahr 1992. Seit er das letzte Mal hier gewesen war, hatte eine neue Tankstelle eröffnet – eine von diesen Ketten, die man jetzt überall sah. Außerdem hatte der Autohändler sich einen neuen Anbau zugelegt – ziemlich schick, überall verglast. Über die Jahre hatte sich das Viertel, in dem Will aufgewachsen war, verändert. Viele der alten Häuser waren in Apartments unterteilt worden. Statt einer einzelnen Familie wohnten hier nun Dutzende von Menschen, und entsprechend vollgestopft mit Autos waren die Einfahrten.

Will bog in seine Straße ein. Hier war eigentlich noch alles beim Alten. Okay, die Wagenmodelle waren neuer, und viele der Hausfassaden bestanden nicht mehr aus Holzschindeln, sondern aus Vinyl. Aber das hier war noch immer der Schauplatz seiner Kindheit. Bis auf eine Veränderung, die ihm schon bei seinem letzten Besuch vor ein paar Monaten aufgefallen war: Die große Eiche im Garten der Anders-Familie fehlte. Seine Mom hatte ihm erzählt, dass der Baum unter der Schneelast des letzten Winters zusammengebrochen war.

Er fuhr die Einfahrt zum Haus seiner Mutter entlang und parkte den Pick-up. Das große Haus im New-England-Stil, das seine Eltern kurz nach Wills Geburt gekauft hatten, sah immer noch genauso aus wie damals: Die Fassade bestand aus cremefarbenen Holzschindeln, neben denen sich die blauen Fensterrahmen effektvoll hervorhoben. Die Veranda war in demselben Blauton gehalten, während die angebaute Garage, die Platz für drei Autos bot, ebenfalls mit cremefarbenen Holzschindeln verkleidet war.

Will entschloss sich, seinen ganzen Kram erst mal im Wagen zu lassen. Als er die Steinplatten entlang auf das Haus zuging, öffnete sich die Tür. Seine Mutter trat auf die Veranda heraus und lief ihm entgegen. Sie hatte einen selbst gestrickten Wollschal um die Schultern geschlungen, und ihre Füße steckten in ledernen Hausschuhen, die sicher mit Lammfell gefüttert waren. Will war schon halb die Verandatreppe hinaufgestiegen, da bemerkte er plötzlich die zusammengezogenen Augenbrauen seiner Mutter und die winzigen Sorgenfältchen auf ihrer Stirn. Verdammt, er hätte ihr sagen sollen, dass er kam.

„Was ist passiert, Will? Was machst du hier?“

„Ich hatte keine Lust mehr, in der Weltgeschichte rumzugondeln. Also hab ich beschlossen, nach Hause zu fahren.“

Seine Mutter schloss ihn in die Arme, und Will ließ sich von ihrer Körperwärme und der Wolle des Schals einhüllen. Da war er wieder: der Geruch seiner Kindheit. Es duftete nach Mom. Nach ihrem Parfüm und der Wolle. Immer wenn er als kleiner Junge Trost gesucht hatte und seine Mutter nicht da gewesen war, um ihn zu umarmen, hatte er sich in diesen Schal gekuschelt.

Als er nach so langer Zeit die weiche Wolle an der Haut fühlte, überrollte ihn eine Welle der Nostalgie. Will schlang die Arme fester um seine Mutter, nicht ganz sicher, ob er ihr Trost spendete oder sie ihm. Vielleicht beides.

Unwillkürlich erinnerte er sich daran, wie er im Juni nach Hause geflogen war. Zur Beerdigung seines Dads. Der Herzinfarkt hatte sie alle völlig überrascht. .Also war Will ins nächstbeste Flugzeug gestiegen und hatte benommen versucht, Mutter und Schwester irgendwie in den schweren Stunden beizustehen. Wie sie das geschafft hatten, war ihm immer noch ein Rätsel. Aber sie standen es durch, nur die Bestellung des Grabsteins hatte warten müssen.

So war Will im September noch einmal nach Hause zurückgekehrt. Am Geburtstag seines Dads hatten sie auf dem Friedhof zugesehen, wie der schwere Granitstein langsam auf das Grab gesenkt wurde. Das war fast genauso schlimm gewesen wie die Beerdigung selbst, und danach hatte Will noch einmal ein paar Tage im alten Zuhause verbracht.

„Du hättest wirklich nicht kommen müssen“, holte ihn die Stimme seiner Mom wieder ins Hier und Jetzt. Sie trat einen Schritt zurück, um ihrem Sohn ins Gesicht schauen zu können. „Ich weiß, ich war letztes Mal ein wenig emotional. Doch das war nur ... Es war einfach so ein Moment.“

Einfach so ein Moment? Seine Mutter hatte geweint, als er abgereist war! Die Erinnerung an diesen Tränenausbruch hatte Will den ganzen Weg zurück nach Ohio begleitet. Selbst dort hatte ihn das Bild immer weiter verfolgt, bis er es irgendwann nicht mehr ausgehalten hatte und seinem Boss die Kündigung unter die Nase gehalten hatte. Danach hatte er seine Siebensachen auf den Pick-up geladen und war schnurstracks in Richtung Ostküste aufgebrochen.

„Bald ist Thanksgiving, Mom. Und dann kommt Weihnachten“, entgegnete er. Das erste Mal ohne Dad. Die Festtage würden sehr hart für seine Mutter werden, das wusste Will aus Erfahrung.

„Aber warum hast du nicht angerufen und gesagt, dass du kommst?“

„Weil du mir dann garantiert erklärt hättest, wie gut es dir geht, und versucht hättest, mich von meinen Plänen abzuhalten.“ Und weil sie Letzteres vielleicht sogar geschafft hätte. Schließlich war es wesentlich einfacher, in den Ferien schnell mal nach Hause zu fliegen, als für immer in diese kleine Stadt mit all den Erinnerungen zurückzukehren. „Dann hätte ich mir den ganzen Winter lang Sorgen gemacht.“

„Du musst dir keine Sorgen um mich machen. Die Nachbarn sind wirklich nett und hilfsbereit. Außerdem kommt Erin so oft wie möglich vorbei.“

Tja, kann schon sein. Nur dass ‚so oft wie möglich‘ in Erins Fall vermutlich ‚nicht allzu oft‘ bedeutete. Mit einem Ehemann und zwei kleinen Töchtern hatte seine Schwester genug andere Dinge, um die sie sich kümmern musste. Nicht, dass Will ihr das vorwarf oder deswegen sauer auf sie war, Erin hatte ein ausgefülltes Leben. Die Fahrt zu Mom dauerte für sie fast eine Stunde – und das auch nur, wenn gerade nicht so viel Verkehr herrschte. Daher musste Erin alle Besuche bei ihrer Mutter sorgfältig planen und konnte nicht mal eben schnell zum Kaffee vorbeischauen, schließlich musste sie sich auch um ihre Kinder kümmern. Sie mussten Mittagsschlaf halten, versorgt und irgendwann auch ins Bett geschickt werden. Kurzum: Die ganze Sache war alles andere als ideal.

„Ach, weißt du, Mom. Wenn Erin dich besucht, ist das ja schön und gut. Aber sie ist selbst mit einem superlangen Schneeschieber viel zu klein, um den Schnee vom Dach zu bekommen.“

Seine Mutter lächelte. Gut, das war genau das, was er beabsichtigt hatte.

„Du hast eine lange Fahrt hinter dir“, erwiderte sie. „Also rein mit dir, wärm dich auf, ich mach dir etwas Heißes zu trinken. Wenn du dich ein wenig erholt hast, können wir deine Sachen holen.“

Will folgte ihr ins Haus und hängte den Mantel an denselben Haken, den er benutzt hatte, solange er denken konnte. Gut, er würde sich kurz frisch machen und dann gemütlich eine Tasse Kaffee am Küchentisch trinken. Die Küche war schon immer das Herz des Hauses gewesen.

Plötzlich vernahm er Gelächter. Das fröhliche Lachen eines kleinen Kindes. Wie erstarrt blieb Will stehen. Es hatte sich angehört, als wäre es aus dem Wohnzimmer gekommen. Aber er konnte es nicht über sich bringen, nachzuschauen.

Ich kann es kaum erwarten, dass dieses Haus von Kinderlachen erfüllt wird.

Genau das waren die Worte seiner Mom gewesen, als Emily erzählt hatte, dass sie schwanger war. Zu viert hatten sie an dem großen Esstisch gesessen – Emily, seine Eltern und er. Der Pfirsich-Pie zum Nachtisch war köstlich gewesen. Will hatte die Freude in den Gesichtern der anderen gesehen. Schon damals hatte er gewusst, dass er sich ein Leben lang an diesen perfekten Moment erinnern würde.

Einige Monate nachdem er ausgezogen war, hatte ihn seine Schwester angerufen, um ihm zu sagen, dass sie ein Kind bekommen würde. In Erins Tonfall schwang damals eine Spur von Verlegenheit und Bedrückung mit, was die Sache umso schwieriger gestaltete. Natürlich war das eine freudige Nachricht gewesen. Er war froh darüber, dass seine Mom jetzt zwei Enkelinnen hatte, die sie von vorne bis hinten verwöhnen konnte. Und er zwei Nichten, mit denen er sich nur allzu gern über Video-Chat unterhielt. Doch dieses Lachen eben war nicht von den beiden Mädchen gekommen, so viel stand fest.

„Komm rüber ins Wohnzimmer, Will. Dann kannst du Nathaniel begrüßen“, rief ihm seine Mutter zu.

Nathaniel? Gehorsam machte Will sich auf den Weg ins Wohnzimmer, wo er einen kleinen blonden Jungen auf der Couch entdeckte, der das Kinn in die Hand gestützt hatte und konzentriert einen Zeichentrickfilm im Fernsehen verfolgte. Wer auch immer der kleine Kerl war, er fühlte sich hier offensichtlich voll und ganz zu Hause.

„Nathaniel. Sag Hallo zu Will, meinem Sohn.“

Der Kleine sprang auf, marschierte auf Will zu und streckte ihm einen Arm entgegen. Überrascht ergriff Will die Kinderhand und schüttelte sie. „Hi, Nathaniel. Freut mich, dich kennenzulernen.“

„Ich freue mich auch, Ihre Bekanntschaft zu machen, Mr Broughton.“ Für so einen kleinen Burschen war der Griff erstaunlich fest und selbstbewusst.

„Du kannst ruhig Will zu mir sagen.“ Merkwürdig, schoss es ihm durch den Kopf. Ein verdammt erwachsenes Benehmen für einen Sechs- oder Siebenjährigen. „Es sei denn, du lehnst den Gebrauch von Vornamen ab.“

Der Kleine lächelte. „Grammy Gail sagt, dass man andere Leute so anreden soll, wie sie das möchten.“

Grammy Gail? Will beobachtete, wie seine Mutter noch ein paar Worte mit dem Jungen wechselte, bevor sie den Kleinen wieder seinem Zeichentrickfilm überließ. Dann folgte Will ihr in die Küche.

„Grammy Gail?“

Seine Mutter zuckte mit den Schultern. „Christina – seine Mutter – findet es nicht gut, wenn Nathaniel einfach alle Menschen beim Vornamen nennt. Aber ,Mrs Broughton‘ finde ich viel zu gestelzt, und ,Miss Gail‘ klingt irgendwie lächerlich. Also haben Nathaniel und ich uns darauf geeinigt, dass er mich ,Grammy Gail‘ nennt.“

„Und wer ist Christina?“ Will konnte sich vage daran erinnern, dass seine Mom bei einem Telefonat irgendeine neue Nachbarin erwähnt hatte. Aber bei dem Anruf war er gerade auf dem Sprung gewesen und hatte dem Nachbarschaftstratsch nicht allzu viel Aufmerksamkeit gewidmet.

„Christina hat das Haus der Porters gemietet. Die Porters sind nach Florida gezogen, wollten aber trotzdem nicht alle Verbindungen abbrechen. Sie waren nicht so sicher, ob es ihnen im Süden auch wirklich gefallen wird. Also haben sie ihr Haus nicht verkauft, sondern es erst mal nur vermietet. Christina ist alleinerziehend. Deshalb kommt Nathaniel nach der Schule zu mir, bis seine Mutter von der Arbeit zurück ist. Sie müsste eigentlich jeden Moment klingeln. Aus irgendeinem Grund ist sie heute später dran, aber du wirst sie sicher gleich noch treffen.“

O ja, und wie er sie treffen würde, dachte Will grimmig. Als er vor wenigen Monaten wegen der Sache mit dem Grabstein hier gewesen war, hatte niemand diese Christina auch nur mit einer einzigen Silbe erwähnt. Und jetzt saß der kleine Bengel dieser Person bei ihnen im Wohnzimmer und nannte eine fremde Frau ganz selbstverständlich Grammy?

So traurig es auch war: Es gab genügend Menschen auf dieser Welt, die die Einsamkeit und Großherzigkeit einer Witwe gnadenlos für ihre Zwecke ausnutzten. Er nahm sich vor, gleich verdammt genau zu überprüfen, ob diese Christina von nebenan gedachte, seine Mutter auszunehmen.

Christina Forrester ließ sich auf den Fahrersitz des betagten Subarus fallen und lehnte die Stirn an das Lenkrad.

Was für ein Tag! Wenn ihr jemand prophezeit hätte, dass sie irgendwann mal als Kassiererin in einer Tankstelle arbeiten und in einem Mietshaus irgendwo in einer winzigen Stadt an der Ostküste leben würde, hätte sie vermutlich folgendermaßen reagiert: Sie hätte höflich gelächelt. Und die Person für völlig verrückt erklärt.

Wenn ihr dieser Mensch dann auch noch vorausgesagt hätte, dass Christinas Ehemann wortwörtlich alles, was sie besaßen, verlieren würde, hätte sie sich schlicht und einfach geweigert, einen derartigen Blödsinn zu glauben. Aber genau so war es gekommen: Sie war geschieden, alleinerziehend, und ihr Ex saß wegen Veruntreuung von Geldern im Gefängnis.

Und sie? – Sie durfte sehen, wie sie klarkam. Nachdem die Katastrophe über sie hereingebrochen war, hatte Christina schnell lernen müssen, dass sie keinerlei echte Freunde besaß. Und leider auch keinerlei Qualifikationen für einen Job. Wie denn auch? Sie war eine Frau, die aus dem luxuriösen Anwesen ihres Vaters direkt in das luxuriöse Heim des Ehemanns gezogen war. Nie hatte sie einer Arbeit nachgehen müssen. Sie hatte damals noch nicht mal gewusst, wie man ein Konto führte und Geld überwies, wenn man eine Rechnung bezahlen musste. Mit anderen Worten: Sie war genau die Art von Frau, die als Kassiererin an der Tankstelle landete, wenn in ihrem behüteten Leben irgendetwas mächtig schiefgegangen war.

Seufzend hob sie den Kopf, schnallte sich an und drehte den Schlüssel im Zündschloss. Es war zu kalt, um herumzusitzen und in Selbstmitleid zu baden. Außerdem machte sie ihre Sache eigentlich doch ganz gut: Nathaniel war glücklich. Sie beide hatten ein Dach über dem Kopf, und der Job bei QuickStop hielt sie über Wasser.

Als Christina endlich in die Einfahrt einbog und den Wagen abstellte, war es schon fast halb sieben. Eigentlich war vereinbart, dass sie von zehn Uhr morgens bis sechs Uhr abends bei QuickStop arbeiten sollte. Aber die Spätschicht hatte heute ihrem Namen alle Ehre gemacht und war zu spät gekommen. Also würde der Abend wohl mal wieder mit aufgewärmten Hotdogs oder einem anderen Fertiggericht enden.

Schnellen Schrittes eilte sie zur anderen Straßenseite. Schon das zweite Mal diese Woche, dass sie nicht pünktlich dran war. Hoffentlich hatte Gail nicht langsam den Eindruck, sie würde sie gnadenlos ausnutzen. Denn dass Nathaniel eine sichere und liebevolle Betreuung nach der Schule bekam, war der größte Pluspunkt überhaupt.

Jener Septembertag, an dem sie Gail Broughton zum ersten Mal im QuickStop begegnet war, hatte ihr Leben verändert. Und zwar im bestmöglichen Sinne. Damals hatte Christina gerade ihrer erste Woche als Kassiererin hinter sich. Nathaniel und sie wohnten in einem Motel, und die Kosten für seine Betreuung nach der Schule fraßen mehr oder weniger ihren gesamten Gehaltsscheck auf.

Wie sich später herausstellte, kam Gail fast täglich im QuickStop vorbei, um ihren Lottoschein zu kaufen. Und sie gehörte zu der Sorte von Menschen, die gerne mit Fremden plauderte. Kurz darauf wohnte Christina bereits in derselben Straße wie Gail. Das Haus gehörte einem Paar, das nach Florida gezogen war, aber nicht alle Brücken hinter sich abbrechen wollte. Daher hatte Christina es zu einem sehr fairen Preis mieten können. Nach der Schule nahm Nathaniel jetzt den Bus und verbrachte dann einige Stunden bei Gail – eine Vereinbarung, die sie alle glücklicher machte. Ganz besonders jedoch den Kleinen.

Als Christina näher kam, bemerkte sie einen schwarzen Pick-up, der mitten in der Einfahrt parkte. Hoffentlich hatte Gail nicht Besuch, der sich schrecklich daran störte, dass Nathaniel immer noch da war. Christina hastete die Verandatreppen hinauf und öffnete die Haustür, denn Gail hatte ihr vertrauensvoll sogar einen Schlüssel gegeben.

Sie eilte direkt in die Küche, da das der Ort war, an dem sich Nathaniel und Gail normalerweise aufhielten. Als sie um die Ecke bog, wäre sie um ein Haar gegen einen Mann geprallt. Gegen einen sehr großen, sehr muskulösen Mann, um genau zu sein. Reflexartig riss sie die Hände hoch, während sie gleichzeitig abzubremsen versuchte. Die Hände ließ sie hastig wieder sinken, bevor sie auf der Brust des Fremden landen konnten. Der Unbekannte trug ein blaues Henley-Shirt. Er hatte dunkle Augen, dunkles Haar, das sich über den Ohren ganz leicht lockte, und einen finsteren Gesichtsausdruck aufgesetzt, der Christina unwillkürlich einen Schritt zurückweichen ließ. An irgendwen erinnerte er sie. Ja, das war der Mann von dem Familienfoto, das im Wohnzimmer hing. Mit anderen Worten: Das hier musste Gails Sohn sein.

Die ältere Frau hatte ihr erzählt, dass er nach einem grauenvollen Unfall weggezogen war: Ein betrunkener Trucker hatte Wills schwangere Frau überfahren. Sie und das Ungeborene hatten die Verletzungen nicht überlebt. Danach hatte Will die Stadt verlassen und an verschiedenen Orten gelebt. Zuletzt offenbar in Ohio.

An irgendeinem Abend, den sie bei Gail verbrachte, hatte Christina sich das Bild im Wohnzimmer genauer angesehen. Die Nachbarin hatte ihr erzählt, dass es sich um ein älteres Foto handelte, das aufgenommen worden war, bevor ihre Tochter und auch ihr Sohn geheiratet hatten. Schon damals hatte Christina unwillkürlich bemerkt, dass besagter Sohn ein ziemlich attraktiver Mann war.

Und jetzt stand er also vor ihr. Will Broughton. Die Jahre hatten seinem guten Aussehen definitiv nichts anhaben können. Im Gegenteil. Er war jetzt nicht mehr so schlaksig, stattdessen wirkte sein Körper kräftig und durchtrainiert. Außerdem schien Will viel Zeit an der frischen Luft verbracht zu haben – darauf ließ zumindest der leichte Bronzeton seiner Haut schließen. Die Augen und der Mund waren umgeben von einer Vielzahl kleiner Fältchen, die sich ein wenig vertieften, als er erstaunt die Brauen hob. Christina spürte, wie ihr die Röte in die Wangen schoss. Verflixt! Wie lange hatte sie diesen Mann eigentlich schon angestarrt?

„Ich bin Will“, stellte er sich vor. „Gails Sohn.“

„Christina Forrester“, stieß sie hervor und streckte dann die Hand aus. „Freut mich sehr, Sie kennenzulernen.“

Seine Hand schloss sich um ihre, warm und rau. „Sie und Ihr Sohn scheinen viel Wert auf Umgangsformen zu legen.“

War das jetzt ein Kompliment oder eine Beleidigung? Christina zog die Hand zurück und schenkte Will Broughton ein extrahöfliches Lächeln. „Gute Manieren sind die Grundlage jeder zivilisierten Gesellschaft.“

Seine Augenbrauen vollführten wieder diese Aufwärtsbewegung, halb fragend, halb skeptisch. „Wenn Sie meinen.“

Der Mann machte sie nervös, auch wenn sie nicht genau sagen konnte, woran das lag. Vielleicht an dem Stirnrunzeln. Will war definitiv keiner der glatten, höflichen Typen, mit denen sie bisher zu tun gehabt hatte. Zum Beispiel hätte er vorhin ja eindeutig zur Seite weichen und ihr Platz machen können, als sie den Raum betreten hatte. Stattdessen war er einfach stehen geblieben. Jetzt musterte er sie auch noch mit einem Blick, der ihr nur allzu bewusst machte, dass sie ihre Haare heute Morgen in aller Eile zu einem Pferdeschwanz zusammengezerrt hatte. Und dass sie noch dazu ein T-Shirt von QuickStop trug, das voller Kaffeeflecken war. Denn leider hatte sie immer noch nicht herausgefunden, wie man diese Maschine bediente, ohne sich selbst dabei vollzukleckern.

„Mommy!“

Lächelnd drehte Christina sich um. Gerade noch rechtzeitig gelang es ihr, die Arme auszustrecken und Nathaniel aufzufangen, der quer durch den Raum auf sie zugeschossen kam. „Hey! Wie war die Schule?“

„Gut. Heute war Pizza-Tag.“

Sie drückte ihn fester an sich. „Verstehe. Das ist dann natürlich ein sehr guter Schultag.“

Seitdem ihr Essen nicht mehr von einem eigenen Koch zubereitet wurde, der zugegebenermaßen ein großer Snob gewesen war, hatte Nathaniel die Schul-Pizza für sich entdeckt. Seiner Meinung nach war es das beste Essen auf der ganzen Welt.

„Du bist spät dran, Mommy. Was gibt’s heut Abend?“

„Ich weiß, dass ich spät dran bin. Tut mir leid, Schatz. Ich dachte, wir können uns vielleicht ein paar Hotdogs machen. Das geht wenigstens schnell.“

„Ihr werdet auf keinen Fall Hotdogs essen“, verkündete Gail, die hinter ihrem Sohn aufgetaucht war.

Endlich trat Will einen Schritt zur Seite. Erleichtert atmete Christina auf. Sein Blick, die Art, wie er sie taxierte, hatte sie ganz nervös gemacht. Sie ging zu Gail hinüber. „Ich möchte mich für meine Verspätung entschuldigen. Es tut mir sehr leid. Aber irgendwie waren heute alle verspätet.“

„Das kommt vor, Liebes. Und genau aus diesem Grund habe ich immer eine Portion meiner berühmten Bolognese-Soße im Tiefkühlfach. Als Will aufgetaucht ist, habe ich schon Nudelwasser aufgesetzt. Also gibt es Spaghetti zum Abendessen, und zwar für uns alle.“

„Bestimmt willst du doch Zeit mit deinem Sohn verbringen, solange er auf Besuch ist. Nathaniel und ich kommen schon zurecht. Mach dir keine Sorgen, Gail.“

„Tja“, ertönte eine Stimme hinter ihr. „Nur bin ich diesmal nicht bloß zu Besuch hier. Ich werde auch nicht so bald wieder verschwinden. Der verlorene Sohn ist zurückgekehrt.“

„Ist das nicht wundervoll?“ In Gails Gesicht stand die pure Freude.

Christina nickte und blickte über die Schulter. „Willkommen zu Hause.“ Er lächelte nicht, neigte nur kurz den Kopf. Schnell drehte sie sich wieder um. Ihr war nicht ganz klar, ob Will grundsätzlich so unhöflich war oder ob er speziell sie so behandelte. Aber was konnte sie denn getan haben, um ihn derart gegen sich aufzubringen?

„Ich mag Grammy Gails Basghetti echt gern“, erklärte Nathaniel, der noch immer die Buchstaben verwechselte, und zog an ihrer Hand. „Bitte, Mommy?“

Christina verspürte keine besondere Lust, an einem Tisch mit Will zu sitzen und gemeinsam mit ihm zu Abend zu essen. Aber sie kannte Nathaniel und Gail gut genug, um zu wissen, dass sie aus dieser Nummer nie im Leben rauskam. Also zwang sie sich zu einem Lächeln und erwiderte: „Ich mag ihre Spaghetti auch echt gern. Aber nur, wenn’s dir wirklich recht ist, Gail.“ Sie erntete ein verschmitztes Lächeln.

„Ich habe diesen kleinen Racker immer gern bei mir am Tisch. Zumal er sich solche Mühe gibt, ihn zu decken.“

Nathaniel grinste. Eifrig zog er sich den Kinderstuhl aus der Ecke hervor und zerrte ihn bis zum Tisch. Dann kamen die Servietten an die Reihe. Mit konzentrierter Miene faltete er die Vierecke aus Papier zu kunstvollen Dreiecken. Als das geschafft war, reichte Gail ihm die Teller, und Nathaniel trug den Stapel zum Küchentisch, wo er auf jeden Platz einen Teller stellte.

Das Haus verfügte auch über ein Esszimmer, aber Gail zog es vor, in der Küche zu essen, weil sie das gemütlicher fand. Christina sah das ebenso. Sie beobachtete, wie ihr Sohn Messer und Gabel neben jeden der Teller legte – und zwar mindestens so präzise, wie das früher ihre Hausangestellten getan hatten. Als sie noch welche gehabt hatten. Ein Gedanke, der sie gleichzeitig traurig und sehr stolz auf Nathaniel machte.

„Er fühlt sich hier offensichtlich ganz zu Hause“, bemerkte Will.

Christina drehte sich zu ihm um. Schon wieder war sie nicht in der Lage, den Unterton zu deuten, der in seiner Stimme mitschwang. Sollte das eine freundliche Bemerkung sein? Oder eher ein kleiner Seitenhieb? „Er verbringt liebend gern Zeit mit Gail“, erwiderte sie unverbindlich.

Genauer gesagt, liebte Nathaniel seine neue Grammy heiß und innig. Aber das würde sie Will ganz bestimmt nicht erzählen. Und auch nicht die Geschichte, die dahintersteckte. Jedenfalls nicht, solange ihr kleiner Sohn im Raum war und jedes Wort mithören konnte. Sobald Nathaniel und sie verschwunden waren, würde Will seine Mutter sowieso einem strengen Verhör unterziehen. Falls er das nicht schon längst getan hatte, dachte Christina. Schließlich wusste sie ja nicht, wann der „verlorene Sohn“, wie er sich ausgedrückt hatte, heute hier aufgetaucht war. Aber je länger sie ihn beobachtete, desto klarer wurde ihr, dass hinter seiner schroffen Art wahrscheinlich ein Verdacht steckte: Auf irgendeine Weise schien Will davon auszugehen, dass sie seine Mutter erst um den Finger gewickelt hatte, um sie nun nach Strich und Faden auszunutzen.

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