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Schokolade - für immer und dich

AUF SCHOKOLADE UND EWIG!

Die romantische Vorgeschichte zu "Schokolade für dich": Samanthas Mutter Muriel findet ihre erste große Liebe …

Sommer 1969 in Icicle Falls, einer charmanten Kleinstadt in Washington: Muriel ist mit der Highschool fertig und wartet jetzt auf den perfekten Mann - hat also wahrlich Besseres vor, als einmal Sweet Dreams zu leiten, die Schokoladenfabrik ihrer Familie. Und auch wenn sie die süßen Vorräte dort durchaus zu schätzen weiß: Sie will lieber zu Hause bleiben, nebenbei ein paar Artikel in tollen Frauenzeitschriften veröffentlichen und eine Familie gründen. Seit ihrer ersten Begegnung mit einem sexy Neuankömmling in der Stadt namens Stephen Sterling weiß sie auch genau, mit wem …

SCHOKOLADE FÜR DICH

Mit einem spektakulären Schokoladen-Festival will Samantha ihre Firma vor der Pleite retten - und entdeckt, dass Liebe viel süßer verführt als Schokolade!
Aus der Traum! Samantha`s "Sweet Dreams Chocolates" steht vor der Pleite. Weder mit geballtem Charme noch mit ihren süßen Kreationen kann sie den Bankdirektor Blake Preston verführen. Jedenfalls nicht zu einem Kredit. Trotzdem gibt sie nicht auf. Ein großes Schokoladen-Festival soll Geld in die leeren Kassen bringen. Erstaunlicherweise wird sie bei der Planung von Blake tatkräftig unterstützt. Logisch, dass man sich dadurch näherkommt. Aber niemals würde Sam sich in einen Banker verlieben - auch wenn er noch so sexy ist...


  • Erscheinungstag: 26.11.2015
  • Aus der Serie: E Bundle
  • Seitenanzahl: 460
  • ISBN/Artikelnummer: 9783955765156
  • E-Book Format: ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Cover

Sheila Roberts

Schokolade - für immer und dich

Sheila Roberts

Auf Schokolade und ewig!

Übersetzung aus dem Amerikanischen von Barbara Minden

MEINE STADT

Hallo und willkommen in Icicle Falls. Ich bin Muriel Sterling-Wittman, und man hat mich gebeten, Ihnen ein wenig von meiner Stadt zu erzählen. Danke, dass Sie sich hier mit mir im Park getroffen haben. Das schien mir ein guter Startpunkt für unseren Rundgang zu sein.

Es ist schön hier, oder? In diesem Pavillon dort drüben treten häufig Bands oder eine der lokalen Tanzgruppen auf. Im Winter rodeln die Kinder begeistert den Hügel hinter mir runter, und auf der Eisbahn tummeln sich im Winter natürlich ganze viele Leute, die dort ihren Spaß haben. Ich komme oft im Sommer hierher – vor allem an so schönen Tagen wie heute –, um zu schreiben, einen köstlichen Kaffee aus dem Bavarian Brews zu genießen und Sonne zu tanken. Und natürlich, um die Aussicht zu genießen.

Wie Sie sehen, ist dies ein wunderbarer Ort zum Leben. Finden Sie nicht auch, dass es wie ein malerisches Alpendorf aussieht? Die Touristen machen immer sehr viele Fotos von unserer hübschen Innenstadt, mit der ganz speziellen Architektur und all diesen Blumenkästen.

Unser kleiner Ort schmiegt sich im östlichen Teil der Cascade Mountains in Washington in ein bezauberndes Tal zwischen all den hohen Felsen. Der Fluss Wenatchee fließt am Ort vorbei und versorgt unsere Besucher mit vielen unterschiedlichen Möglichkeiten, auf und im Wasser Spaß zu haben. Das Flüsschen Icicle Creek ist ebenfalls wunderhübsch, und meine Freundin Olivia Wallace betreibt eine gemütliche Frühstückspension, von deren Zimmern aus man direkt auf den Fluss schauen kann.

„Ach du meine Güte, willst du, dass die Leserinnen an all deinem Gesülze ersticken?“

Dot Morrison. Wer hat die denn eingeladen? „Dot! Was machst du denn hier?“

„Ich versuche zu verhindern, dass die Leserinnen sich zu Tode langweilen.“

„Entschuldige bitte. Sheila Roberts hat mich gebeten, die Stadt vorzustellen.“

„Tja, und sie hat entschieden, dass du Hilfe brauchst. Warum gehst du nicht und isst ein bisschen Schokolade oder so?“

„Also wirklich!“

„Na los. Ich schaff das schon.“

„Ich lasse dich für einen Moment allein. Aber nur, weil ich versprochen habe, mich mit Waldo auf einen Kaffee im Bavarian Brews zu treffen.“

„Sehr schön. Geh deinen Kaffee schlürfen, und ich erzähle ein bisschen was.“

Okay, jetzt ist sie fürs Erste weg. Aber sie kommt wieder. Also, kann ich – Dot – nun erst einmal ein wenig berichten. Doch sobald Muriel wieder da ist, wird sie Ihnen mehr über die Geschichte von Icicle Falls erzählen. Dazu ist sie, das muss ich fairerweise zugeben, besser geeignet. Muriel und ihrer Familie gehört Sweet Dreams, die Schokoladenfabrik hier im Ort. Die ist ein wirklich wichtiger Bestandteil unserer lokalen Wirtschaft. Muriels Familie lebt seit Generationen hier. Man könnte also schon fast sagen, sie sind unsere Royals, und sie hat alles miterlebt. Als die Stadtoberen erkannten, dass es nicht mehr lange dauern würde, bis der Ort zu einer Geisterstadt verkommen würde, war sie noch ein Kind. Dieser Flecken Erde war kurz davor, von der Landkarte zu verschwinden, als ihr Vater und ein paar andere Visionäre Icicle Falls von einer toten Holzfällerstadt in das bayrische Alpendorf verwandelten, das es jetzt ist. In letzter Zeit ist es zu einer echten Touristenattraktion geworden. Die Menschen kommen gern hierher. Im Winter tummeln sie sich im Schnee und im Sommer am und im Fluss. Und natürlich kaufen sie in unseren Geschäften ein.

Es gibt bei uns viele Geschäfte und Restaurants, die den Ort bunt machen. Ja, meins eingeschlossen. Mir gehört das Breakfast Haus. Unsere Spezialität sind belgische Waffeln, aber man bekommt bei uns auch ein köstliches Omelett. Im Gegensatz zu Muriel, die in zweiter Ehe verheiratet ist, bin ich alleinstehend. Der erste Mann, den ich hatte, hat mir nichts als Ärger eingebracht. Ich hab damals seinen kleinen roten Planwagen wieder flottgemacht, hab Kalifornien verlassen und neu angefangen. Meinen zweiten Ehemann, Duncan, habe ich in Oregon getroffen. Aber er ist früh gestorben. Diese verdammten Zigaretten bringen einen halt um – ich müsste dringend aufhören zu rauchen. Eines Tages werde ich das auch tun. Also, in meinem Leben gibt es keinen Mann, aber das ist völlig okay. Ich bin kein junges Küken mehr, und Sex ist nicht mehr von Belang, sondern nur eine nette Erinnerung. Wie auch immer, ich bin ja nicht allein. Ich habe eine zweiunddreißigjährige Tochter, Tilda, auf die ich ziemlich stolz bin. Sie ist Polizistin und sorgt dafür, dass die Leute hier parieren.

Wobei, ehrlich gesagt, die Gefahr, dass hier jemand nicht pariert, nicht sonderlich groß ist. Na ja, abgesehen von den Jungs, die drüben in Todd Blacks Man Cave immer mal wieder über die Stränge schlagen. Dieser Todd Black, das muss ich ja zugeben, ist schon ein Teufelskerl. Wenn ich den ansehe, wünsche ich mir manchmal, ich wäre dreißig Jahre jünger.

Luke Goodman, der Produktionsmanager bei Sweet Dreams, ist auch so eine Augenweide. Er ist Witwer, allerdings noch viel zu jung, um es auch zu bleiben. Ich hoffe, der Junge findet bald wieder eine nette Frau. Dann ist da noch Joe Coyote. Wie ich hörte, ist er mit Lauren Belgado zusammen, die drüben in der Bank arbeitet. Er wäre ein netter Junge für Tilda gewesen. Nur dass er leider zu nett ist. Tilda würde ihn zum Frühstück verspeisen. Den Gerüchten nach zieht einer unserer ehemaligen Highschool-Footballhelden wieder zurück in die Stadt. Kann ich ihm nicht verdenken. Wer würde nicht gern hier leben wollen? Es ist friedlich hier, und die Leute sind großartig.

Selbst die ganz speziellen Charaktere, die es bei uns genauso gibt wie wohl in jeder anderen Stadt auch. Na ja, auf jeden Fall haben wir da so ein paar Spezies. Billy Williams zum Beispiel, den alle nur Bill Will nennen. Er ist ein bisschen durchgeknallt, aber, das kann ich Ihnen sagen, der Junge könnte das Cover eines Liebesromans zieren. Dann haben wir noch Del Stone, unseren Bürgermeister. Pst … Er hält sich für ein Geschenk Gottes an die Frauen. Von wegen. Wenn Sie mich fragen, eher ein Trostpreis mittleren Alters.

Ich vermute, dass irgendwann jemand anderes ihm den Bürgermeisterposten streitig machen wird. Ich hätte nichts dagegen, wenn Ed York sich um das Amt bewerben würde. Er ist der Präsident unserer Handelskammer, und ihm gehört der Weinladen D’Vine Wines. Ed ist ein netter Kerl, der auch schon eine ganze Weile hier wohnt. Er ist ein paar Jahre jünger als ich, alleinstehend und ziemlich attraktiv mit all dem grau melierten Haar. Aber er hat ein Auge auf Pat Wilder geworfen, die den Buchladen Mountain Escape Books betreibt. Auch sie würde sich gut als Bürgermeisterin machen.

Im Moment stolziert jedoch Del noch glücklich durch die Stadt und tut so, als wäre er wichtig, wobei er gern vergisst, dass er mal einen Angelladen betrieben hat, der pleitegegangen ist.

Aber auch ohne Dels Geschäft gibt es genügend andere Läden, in denen man sein Geld loswerden kann. In unserer Fußgängerzone findet man wirklich alles, was das Herz begehrt: Weihnachtsdekoration im Kringle Mart, lustige Hüte im Mad Hatter und Blumen im Lupine Floral. Spezialitäten aus der Region gibt es im Local Yokel, Bücher in Pat Wilders Buchladen, und wenn man sich erkältet hat, gibt’s die Medizin dagegen in Johnson’s Drugs. Dort muss man sich mit Hildy herumplagen, aber was soll ich sagen, alles hat seine Schattenseiten. Und selbst in New York findet man keine besseren Restaurants als hier. Okay, ich bin zwar nie da gewesen, aber ich wette, einen köstlicheren Huckleberry Martini als den, den man bei Zelda’s trinken kann, gibt es auch in New York nicht, genauso wenig wie den Sauerbraten, den sie im Schwangau servieren. Und die Bratwürstchen im Big Brats können mit jedem New Yorker Imbiss mithalten.

Aber es sind nicht nur die Geschäfte und Restaurants oder die bayrisch anmutende Architektur, die unsere Stadt zu etwas Besonderem machen. Nein, Leute, letztlich sind es doch immer die Menschen, die zählen. Oh, wir sind alle schon sehr unterschiedlich, aber wenn es hart auf hart kommt, dann halten wir zusammen. Das war hier schon immer so.

Ach, so wie es aussieht, hat Muriel ihren Kaffee mit Ehemann Nummer zwei schon ausgetrunken. Wahrscheinlich hätte ich sie nicht so davonscheuchen sollen. Schließlich ist Muriel bei allen beliebt.

„Wie ich sehe, bist du wieder da.“

„Bist du schon fertig?“

„Mehr oder weniger. Ich wollte es dir überlassen zu erzählen, wie die Stadt sich selbst gerettet hat.“

„O ja, das berichte ich gern.“

„Du könntest auch erzählen, wie du deinen ersten Mann, Stephen, getroffen hast. Wie ich hörte, waren Pat und du damals keine so guten Freundinnen.“

„Das stimmt nicht!“

„Komm, fang nicht an zu lügen. Du wirst ja ganz rot. Wie auch immer, jeder hört gern ein paar Tratschgeschichten. Also komm, mach schon. Leute, bleiben Sie dran. Wir erzählen Ihnen, wie es damals, in der guten alten Zeit, war, als Muriel noch jung war.“

„Haha, sehr witzig.“

„Ignorieren Sie sie einfach. Was ihr Alter angeht, ist sie ein bisschen empfindlich. Lässt ein Vermögen im Sleeping Lady Salon, um sich …“

„Das ist doch jetzt völlig unerheblich. Und lass dich von mir nicht aufhalten, Dot. Du musst sicher noch ein paar Waffeln backen.“

„Nein, nein, der morgendliche Ansturm ist schon vorüber. Ich bleibe einfach still hier sitzen und höre zu.“

„Na gut. Aber wir bleiben nicht sitzen. Kommen Sie, lassen Sie uns einen Spaziergang durch die Stadt machen, und dabei erzähle ich Ihnen von früher.“

„Vergiss nicht, ihnen von deinem Liebesleben zu erzählen. Das interessiert die Leute am meisten.“

„Mach ich. Wissen Sie, Pat Wilder ist eine meiner ältesten und besten Freundinnen, aber es gab eine Zeit, da hätte fast ein Mann unsere Freundschaft zerstört …“

1. KAPITEL

Sommer 1969

„Wir brauchen unbedingt noch ein paar mehr tolle Jungs hier in der Stadt“, beklagte sich Olivia Green, während sie zusammen mit Muriel und Pat Pearson von der High School nach Hause ging.

„Wir haben doch schon mehr als früher“, meinte Muriel.

Ende der Fünfzigerjahre waren die meisten netten Jungs zusammen mit ihren Familien fortgezogen. Genau wie viele der Mädchen, einschließlich Muriels bester Freundin Doreen Smith. Muriel und Doreen schrieben sich jahrelang noch, entschlossen, zumindest beste Brieffreundinnen zu bleiben. Doch es war einfach nicht dasselbe, als wenn man gemeinsam in einer Stadt wohnte.

Zu der Zeit machte der Ort nicht viel her. Mit Icicle Falls war es seit Jahren bergab gegangen: Die Eisenbahngesellschaft hatte den Ort verlassen, und folglich war auch der Holzhandel zusammengebrochen. Viel war nicht übrig geblieben – eine heruntergekommene Stadt mit verfallenen Gebäuden, die einen kleinen Gemischtwarenladen, eine Bank und ein Postamt beherbergten. Außerdem hatte es noch ein abgewirtschaftetes Motel und einen Diner gegeben, um den Leute, die über den Pass kamen, Unterkunft und Verpflegung bieten zu können. Dazu ein paar alte Häuser, eine Kirche, eine Grundschule und eine winzige High School, das war alles gewesen.

Als Muriel acht gewesen war, hatte sie einer Unterhaltung von mehreren Erwachsenen gelauscht, die im Wohnzimmer ihrer Eltern zusammengesessen hatten.

„Wir haben eine Bergkulisse, die mindestens genauso malerisch ist wie all das, was man in den Alpen findet“, hatte ihr Daddy erklärt. „Wir könnten aus unserer Stadt eine Art bayerisches Dorf machen, damit es zu einer richtigen Touristenattraktion wird. Die Berge und die Flüsse, mit denen wir Skiläufer und Angler anlocken können, haben wir schon. Lasst uns diesen Touristen doch einen Grund geben, hierzubleiben und ihr Geld bei uns auszugeben.“

„Ich weiß nicht, Joe. Das ist ziemlich gewagt“, hatte Mr Johnson gesagt.

„Aber wenn wir es nicht wagen, wird Icicle Falls innerhalb der nächsten zehn Jahre zu einer Geisterstadt. Immer mehr Menschen ziehen von hier fort“, hatte ihr Daddy erwidert.

Geister? Spukten hier Geister durch den Ort?

Etwas später hatte Muriel ihre Mutter danach gefragt. Mom hatte ihr einen Kuss gegeben und ihr versichert, dass es keine Geister gab.

„Was hat Daddy denn dann gemeint?“, hatte sie wissen wollen.

„Er hat gemeint, dass wir einen Weg finden müssen, um unsere Stadt zu einem Ort zu machen, wo die Menschen sich gern aufhalten.“

„Ich bin gern hier“, hatte sie erklärt. Und ihre beste Freundin hätte sie auch gern bei sich gehabt.

„Ich auch, Schätzchen“, hatte ihre Mutter beteuert. „Keine Angst. Dein Daddy sorgt schon dafür, dass alles gut wird.“

Daddy machte Schokolade, und Muriel hatte nicht eine Sekunde lang daran gezweifelt, dass er auch dieses Problem lösen würde. Dieses Problem, das anscheinend allen Erwachsenen so große Sorgen bereitete.

Und das hatte er auch getan. Im Sommer 1962, als ihre Freundin Doreen die Weltausstellung in Seattle genoss, half Muriel beim großen Aufräumen in Icicle Falls, indem sie zusammen mit Pat Pearson und Olivia Green alte Getränkedosen von einem Feld sammelte. Das war eine Erfahrung gewesen, die die drei zusammengeschweißt hatte.

Und während sie beim Müllsammeln zu Freundinnen wurden, gelang es auch den Erwachsenen, beim Wegschaffen der alten Reifen und Schrottautos von den brachliegenden Grundstücken einen stärkeren Gemeinschaftssinn zu entwickeln. Architekten und Bauleute wurden engagiert, und die heruntergekommenen Gebäude wurden einer Schönheitskur unterzogen. Die Center Street erwachte zu neuem Leben, und hatte der Ort vorher eher an eine verlassene Stadt aus dem Wilden Westen erinnert, glich das malerische Städtchen jetzt einem bayrischen Alpendorf.

Muriels Korrespondenz mit Doreen versandete schließlich, aber das Leben in Icicle Falls ging weiter. Im folgenden Jahr tauchten neue Gesichter in der Stadt auf. Anfangs kamen sie nur tröpfchenweise, so wie die Eiszapfen an den Häuserdächern langsam anfingen zu tropfen, wenn der Winter sich dem Ende zuneigte und der Schnee zu schmelzen begann. Diese Besucher brachten manchmal nette Jungs mit. Einige kamen sogar wieder, um zu bleiben, und sie eröffneten neue Geschäfte. Wie zum Beispiel Dale Holdsworth, der den Laden Kringle Mart aufmachte. Er importierte Schneekugeln und mundgeblasene Glaskunst aus Deutschland, um sie an die Touristen zu verkaufen, die kamen, als sich die Kunde von dem charmanten, neu erblühten Ort herumsprach. Und Andy Marks, der ein kleines Geschäft mit Holzschnitzereien gründete, oder Gerhardt Geissel, der Gerhardts Gasthaus eröffnete. Das ehemalige Mountain Inn wurde renoviert und runderneuert und bekam einen neuen Namen – Bavarian Inn.

Als Muriel in die High School kam, hatte sich die Anzahl der Studenten fast verdoppelt. Sage und schreibe einhundertachtundvierzig Schüler drückten dort inzwischen die Schulbank. Zweiunddreißig von ihnen, Muriel und ihre Freundinnen eingeschlossen, bildeten in dem Jahr die Abschlussklasse.

„Kann schon sein, dass es jetzt hier mehr Jungs gibt als früher“, sagte Olivia, „aber die meisten sind doch jünger als wir. Wen haben wir denn schon groß in unserer Klasse, der infrage käme?“

Für Muriel? Niemanden. Keiner der Jungs glich dem Mann ihrer Träume auch nur annähernd. Dem Mann, von dem sie hoffte, dass er irgendwann in ihrem Leben auftauchen würde. Ihre Freundinnen fanden es albern, auf den perfekten Mann zu warten, doch Muriel glaubte an die große Liebe. Und sie glaubte an die Macht der Träume. Ihre Großmutter hatte mithilfe ihrer Träume eine ganze Firma aufgebaut, also hegte Muriel keinerlei Zweifel daran, dass sie auch den Mann finden würde, den sie in ihrer Fantasie vor sich sah – jemanden, der nicht nur blendend aussah, sondern auch noch romantisch war, jemanden, der ihr Herz höher schlagen ließ.

„Na ja, wie wär’s denn mit Arnie Amundsen?“, schlug Muriel vor. Für Olivia, nicht für sie selbst. Arnie war dünn und trug eine Brille, obwohl er sehr nett war. Olivia konnte es sehr viel schlechter treffen.

„Der ist doch in dich verknallt“, protestierte Olivia.

„Alle sind in Muriel verknallt“, fügte Pat mit gespielter Empörung hinzu.

„Das ist doch total übertrieben“, verteidigte sich Muriel.

Pat jammerte ständig, weil sie sich zu groß fand. Außerdem hasste sie ihr rötliches Haar und beklagte immer wieder den Umstand, dass sie weder so blond wie Olivia war, noch so hübsches braunes Haar wie Muriel hatte. Und trotzdem war sie von mehreren Jungs zum Abschlussball, der vor einer Woche stattgefunden hatte, eingeladen worden. Muriel war mit Arnie hingegangen. Aber nur als gute Freunde, hatte sie ihm gegenüber mehrfach betont.

Sie wünschte, er hätte Olivia gefragt. Die hatte sich letztlich dafür entschieden, mit Gerald Parker hinzugehen, der am Ende des Abends versucht hatte, sie rumzukriegen. Olivia hatte sich darauf eingelassen, aber im letzten Moment die Notbremse gezogen. Jetzt bedauerte sie ihre Entscheidung, denn Gerald ignorierte sie, was die letzte Schulwoche für sie zu einer Qual machte. Er hatte sich jedoch bei der Marine verpflichtet und würde bald weg sein. Insgeheim war Muriel darüber ganz froh. Natürlich wünschte sie ihm nichts Schlechtes, aber es war besser, wenn Olivia nicht länger der Versuchung ausgesetzt war.

„Wie wäre es denn mit Hank Carp?“, schlug Pat vor.

Muriel runzelte die Stirn. „Hank ist ein Depp.“

„Aber ein niedlicher Depp“, konterte Olivia.

Das fehlte gerade noch, dass Olivia sich mit Hank einließ.

„Ich würde ihn ja nehmen“, fuhr Olivia fort, „aber leider ist er in Stephie verschossen.“

„Das ist eine von den ganz Schnellen.“

„Wahrscheinlich mag er sie deshalb“, murmelte Olivia.

„Wie auch immer“, fuhr Pat fort, „der wird es nie zu etwas bringen. Da kannst du wahrlich jemand Besseres finden.“

„Glaube ich nicht“, klagte Olivia. „Niemand will ein dickes Mädchen haben …“

„Du bist doch nicht dick“, widersprach Muriel. „Du bist …“

„Kurvig“, warf Pat ein. „Und Jungs lieben Kurven.“

„Nein“, korrigierte Olivia sie, „Jungs lieben Muriel. Ich wette, du bist verheiratet, noch ehe du zwanzig bist.“

Muriel schüttelte den Kopf. „Nicht wenn mein Vater etwas mitzureden hat.“ Sie seufzte. „Er hat meine Zukunft genau geplant.“

„Jaja, es ist schon schwer, Mitglied einer Familie zu sein, der eine Schokoladenfabrik gehört“, meinte Pat. „Du armes Mädchen. Du musst dort arbeiten, reich werden und kannst jederzeit so viel Schokolade essen, wie du willst.“ Sie und Olivia kicherten.

„Ich habe ja gar nichts dagegen, dort zu arbeiten, wenn ich Sachen machen kann, die Spaß bringen, zum Beispiel neue Rezepte kreieren helfen oder das Telefon beantworten. Aber ich will die Firma nicht leiten. Ich möchte heiraten und eine Familie gründen.“

„Und du willst eine berühmte Schriftstellerin werden“, erinnerte Olivia sie. „Hast du schon von Seventeen gehört?“

Der Brief, mit dem ihr Artikel „Wie man in einer Kleinstadt Spaß haben kann“ abgelehnt worden war, hatte gestern im Briefkasten gesteckt. Muriel hatte sich noch nicht getraut, ihren besten Freundinnen davon zu erzählen. Es war so beschämend, eine solche Versagerin zu sein. Sie biss sich auf die Unterlippe.

„O nein“, meinte Pat mitleidig. „Dein Artikel hat ihnen nicht gefallen?“

Muriel schüttelte noch einmal den Kopf.

„Na, schön blöd von denen“, sagte Olivia nur.

„Keine Sorge“, tröstete Pat sie. „Irgendwann wirst du schon noch etwas verkaufen. Vielleicht werden es sogar solche Bestseller wie die Bücher von Jacqueline Susann.“

Muriel verzog das Gesicht. „Solche Sachen will ich nicht schreiben.“

„Ich schon“, erklärte Pat. „Das heißt, natürlich nur, wenn ich etwas schreiben würde. Aber ich lese lieber.“

„Und ich würde lieber rumknutschen“, erklärte Olivia grinsend. „Wisst ihr, es wird bestimmt richtig schwierig, einen Mann zum Heiraten zu finden, wenn wir jetzt mit der Schule fertig sind. Irgendwie scheint mindestens die Hälfte der Jungs aufs College zu verschwinden.“ Ihre Miene verdüsterte sich. „Ich kann nur hoffen, dass Gott uns ein paar neue schickt.“

Zwei Wochen nach Schulende wurden ihre Gebete erhört. Und Olivia und Pat kamen in den Laden von Sweet Dreams Chocolate Company, wo Muriel arbeitete, um ihr davon zu berichten.

„Wir sind gerade die Hauptstraße entlanggelaufen, da hat er uns angehalten und gefragt, wo man hier wohl gut essen könnte“, erzählte Pat.

„Er sieht umwerfend aus“, schwärmte Olivia. „Groß und muskulös, und er sieht aus wie Mick Jagger. Sogar seine Haare. Na ja, außer dass er blond ist.“

Lange Haare. Das würde Muriels Vater gar nicht gefallen. „Das heißt, er ist ein Hippie?“

„Nein“, meinte Pat. „Er fährt Motorrad.“

„Und trägt eine Lederjacke“, fügte Olivia hinzu. „Wir treffen uns gleich mit ihm bei Herman’s Hamburgers.“

Und schon waren sie wieder verschwunden, während Muriel sich um den Laden kümmern musste. Das war unfair. Und nicht richtig. Die Sommerferien hatten gerade erst begonnen, und Daddy bestand darauf, dass sie hier arbeitete! Pat und Olivia dagegen brauchten nicht zu arbeiten.

„Pat und Olivia besitzen auch kein Familienunternehmen“, belehrte ihr Vater sie, als sie sich ein paar Minuten später bei ihm beschwerte.

„Na, ich wünschte, ich hätte auch keins.“

„Muriel, das möchte ich nicht noch einmal hören“, erwiderte er streng. „Dies ist ein wunderbares Geschäft, das von deiner Großmutter erträumt wurde. Das ist etwas, worauf du stolz sein solltest, junge Dame.“

„Bin ich ja auch“, protestierte sie, ehe er ihr, wieder einmal, die Geschichte erzählen konnte, wie Grandma Rose, im wahrsten Sinne des Wortes, die ersten Schokoladenrezepte geträumt hatte, mit denen Sweet Dreams gegründet worden war. „Aber das heißt nicht, dass ich hier arbeiten will.“

„Dies ist dein Erbe, und das hast du dir und zukünftigen Generationen zuliebe zu respektieren.“

Muriel zeigte ihren Respekt, indem sie die Augen verdrehte.

„Dir mag das jetzt vielleicht nicht gefallen …“

Es gefiel ihr wirklich nicht, vor allem Wechselgeld herausgeben war schrecklich. Das hasste sie total. Sie konnte einfach nicht rechnen. Egal wie viel Mühe sie sich auch gab, ständig kam sie durcheinander. Wie auch immer, sie wollte gar nicht Karriere machen. Ihr gefiel die Vorstellung, eine Firma zu besitzen und auf einen endlosen Vorrat an Schokolade zurückgreifen zu können, aber sie wollte diese Firma nicht leiten. Im Gegensatz zu ihrer Mutter, die ständig im Büro war, um Daddy zu helfen, wollte sie lieber zu Hause bleiben und sich darauf konzentrieren, eine Familie zu gründen. Oh, und natürlich ein paar Artikel in tollen Zeitschriften wie Seventeen und Mademoiselle oder vielleicht sogar Woman’s Day veröffentlichen.

„Aber“, fuhr ihr Vater fort, „letztlich wirst du dich darüber freuen, dass ich darauf bestanden habe, dass du dich hier engagierst. Frauen bleiben heutzutage nicht mehr nur zu Hause, das weißt du doch. Ich möchte, dass du etwas aus deinem Leben machst.“

Ja, sie wollte auch etwas aus ihrem Leben machen. Und im Moment wollte sie nichts weiter als Spaß haben.

Ihr Vater legte einen Finger unter ihr Kinn und hob es an. „Komm schon, nicht schmollen. Weißt du, wie viele deiner Freundinnen einen Mord begehen würden, nur um in einem Schokoladengeschäft arbeiten zu können?“

Im Augenblick? Keine einzige. Die waren alle bei Herman’s, dem neuen Hamburgerladen, und stopften Cheeseburger, Milchshakes und Pommes in sich rein. Mit einem gut aussehenden Fremden, der Motorrad fuhr … Klugerweise behielt sie aber ihren Protest für sich.

Ihr Vater, der mit dem Bürgermeister zum Mittagessen verabredet war, tätschelte noch kurz ihre Wange, bevor er zur Tür eilte. Muriel legte frustriert die Ellenbogen auf den Tresen und … schmollte.

Bis Mrs Lind hereinkam, um eine Schachtel Pralinen zu kaufen. Da erinnerte sie sich wieder an ihre guten Manieren.

„Die sind für meine Schwester zum Geburtstag“, erklärte Mrs Lind. „Ich hoffe, ich kann die Finger davon lassen.“

„Na, vielleicht hilft Ihnen das hier …“ Muriel steckte eine Pfefferminzpraline in eine kleine Geschenkschachtel und schob sie über den Tresen.

Janice Lind strahlte, als hätte sie gerade im Lotto gewonnen. „Oh, du bist ja so ein Schatz. Vielen Dank, Muriel.“

„Gern geschehen“, erwiderte Muriel. Okay, das war der Teil des Geschäfts, der ihr Spaß machte: der Umgang mit den Kunden. Das musste sie ja zugeben, als sie sich selbst eine Praline gönnte. Außerdem war es wirklich toll, freien Zugang zu solchen Schokoladenköstlichkeiten zu haben.

Trotzdem verbrachte sie den Rest ihrer Schicht damit, ständig auf die Uhr zu schauen, in der Hoffnung, dass die Zeit schneller umging, damit sie endlich zu den anderen stoßen konnte. Um vielleicht noch einen Blick auf den Neuankömmling zu erhaschen. Der wurde bestimmt schon von den Mädchen umschwärmt.

Olivia hatte recht: Es gab einfach nicht genügend nette Jungs in der Stadt. Wie sollte sich denn ihr Wunsch von einem Happy End mit einem Traummann erfüllen, wenn es hier niemanden gab, mit dem sie ein Happy End erleben wollte?

Die Glocke über der Tür ertönte. Ach herrje, wer kam denn jetzt noch?

2. KAPITEL

Hereinspaziert kamen Pat und Olivia. Olivia kicherte; Pat schmollte. Hinter ihnen trat der Neuankömmling in den Laden.

Er sah tatsächlich wie ein blonder Mick Jagger aus. Muriel bekam sofort Herzklopfen und wünschte, sie hätte mehr Lippenstift aufgetragen.

„Das ist Stephen Sterling“, stellte Olivia ihn vor. „Er wollte dich kennenlernen.“

Das erklärte wohl Pats missmutige Miene. Ganz offensichtlich fand sie die Idee, Stephen Muriel vorzustellen, nicht sonderlich prickelnd. Wahrscheinlich schmiedete sie schon Pläne mit diesem Mann, die niemand anderen einschlossen.

Und Muriel konnte es ihr nicht einmal verdenken. Was für ein Mann! Stephen Sterling hatte das Gehabe eines erwachsenen Mannes, von dem die Jungs aus dem Ort noch weit entfernt waren, und er sah sowohl gefährlich als auch faszinierend aus mit seiner Lederjacke und den Jeans. Sein Haar war lang und zerzaust und reichte ihm bis zum Kinn. Ob er wohl in einer Rockband mitspielte?

Muriel lächelte und sagte Hallo.

„Als ich ihm von dir und der Schokoladenfabrik deiner Familie erzählt habe, wollte er dich unbedingt kennenlernen“, erklärte Olivia.

„Magst du Schokolade?“, fragte Muriel.

„Ich steh auf süße Dinge“, antwortete er, und das Lächeln, das seine Worte begleitete, ließ Muriel heftig erröten.

„Welche Art von Schokolade magst du lieber: die dunkle oder Vollmilch?“

Er zuckte mit den Achseln. „Schokolade ist Schokolade.“

Daraufhin kicherte Olivia erneut. „Mann, o Mann, du musst noch viel lernen.“

Muriel hätte nichts dagegen gehabt, ihn zu unterrichten.

Gerade wollte sie ihnen ein bisschen kostenlose Schokolade zuschieben, als ihr Vater wieder in den Laden kam. „Hallo, alle zusammen.“

Seine Begrüßung klang freundlich, doch Muriel sah den missbilligenden Blick, den ihr Vater Stephen zuwarf. Natürlich, die langen Haare. Ihr Vater vertrat die Meinung, dass Männer wie Männer auszusehen hatten. Na ja. Der hier, fand sie, sah auch mit langen Haaren ziemlich männlich aus.

„Muriel, spendiere deinen Freunden ein Stück Schokolade“, sagte Daddy.

„Danke schön, Sir“, sagte Stephen und bewies damit, dass er über gute Manieren verfügte. Muriel hoffte, dass ihm das ein paar Pluspunkte bei ihrem Vater eintrug.

Daddy nickte. „Ich fürchte allerdings, danach müsst ihr gehen. Muriel muss wieder an die Arbeit.“

Und was sollte sie tun? Unsichtbare Kunden bedienen?

Mit dieser unmöglichen Bemerkung verschwand ihr Vater hinauf ins Büro. Muriel ärgerte sich nicht nur über seine Unhöflichkeit, sondern auch darüber, dass ihre Freundinnen gleich wieder verschwinden würden. Denn den gut aussehenden Neuankömmling würden sie natürlich mitnehmen.

Trotzig schenkte sie jedem von ihnen zwei Pralinen. Es war eine kleinliche Rache, trotzdem fühlte sie sich danach besser. Ein wenig.

Stephen steckte die Praline in den Mund und kaute. „Die sind ja lecker.“

„Natürlich sind sie das“, sagte Muriel, „wir machen die beste Schokolade in ganz Washington.“

„Sieht mir fast so aus, als würde es hier ein Menge guter Sachen geben“, erwiderte er und lächelte sie an.

Pat runzelte die Stirn und zupfte an seinem Ärmel. „Komm schon, Stephen, wir sollten gehen.“

„Ja, wir wollen ja nicht, dass du Ärger mit deinem Dad bekommst“, sagte Olivia zu Muriel.

„Stephen hat beschlossen, noch ein paar Tage hierzubleiben“, fügte sie hinzu, „also wollen wir heute Abend ein Lagerfeuer am Fluss machen.“

„Ich komme auch“, meinte Muriel. Wenn ihr Vater sie fragte, wohin sie gehen wollte, würde sie einfach sagen, dass sie mit Arnie ausging. Daddy mochte Arnie.

„Bring Arnie mit“, schlug Pat vor, und Muriel wusste, dass es ihrer Freundin nicht darum ging, ihr eine gute Ausrede für den Abend zu verschaffen.

„Ich sage noch ein paar mehr Leuten Bescheid“, sagte Muriel. „Oh, Pat, ich sorge auch dafür, dass Hank kommt.“ Nicht dass Pat und Hank ein Paar waren. Sein Name war ihr einfach als Erstes durch den Kopf geschossen.

Pat kniff die Augen zusammen. Ihr war sehr wohl bewusst, dass Muriel versuchte, sie auf die gleiche Art und Weise auszutricksen, wie sie es eben auch versucht hatte. „Mach dir meinetwegen keine Mühe.“

„Lad einfach alle ein.“ Olivia war so ahnungslos. „Je mehr, desto lustiger.“

„Kommt, lasst uns gehen“, sagte Pat. „Wir zeigen ihm den Lost-Bride-Wanderweg“, verkündete sie im Gehen.

Muriel hätte ihr am liebsten hinterhergerufen: „Du bekommst sie sowieso nicht zu Gesicht“, doch sie widerstand der Versuchung.

In Icicle Falls kannte jeder die Legende von der verlorenen Braut. Rebecca Cane war als Katalogbraut hier in die Stadt gekommen. Aber ihr Ehemann, Joshua Cane, hatte Schwierigkeiten gehabt, seine hübsche Frau nur für sich allein zu behalten. Sie hatte sich in seinen jüngeren Bruder Gideon verliebt. Daraufhin war es zwischen den Brüdern immer wieder zu Streitereien und öffentlichen Schlägereien gekommen, was natürlich zu viel Klatsch und Tratsch geführt hatte. Und als Rebeca und Gideon auf einmal verschwunden gewesen waren, schossen immer wildere Gerüchte wie Pilze aus dem Boden, vor allem als Joshua zu einem verbitterten Einsiedler wurde. Die Spekulationen gipfelten darin, dass man annahm, Joshua hätte sowohl seine Frau als auch seinen Bruder ermordet. Und als jemand Rebeccas Geist oben bei den Wasserfällen, den Icicle Falls, sah, diente das als Beweis.

Eine Zeit lang hatten die Leute Angst, in die Nähe der Wasserfälle zu gehen. Doch eines Tages hatte eine unverheiratete Frau, die dort oben mit ihren Cousinen Blaubeeren pflücken war, Rebeccas Geist gesehen, und zwar am Tag, bevor sie einen Heiratsantrag bekam. Danach hielt man es für ein gutes Omen, wenn jemand den Geist der verlorenen Braut hinter den Wasserfällen auftauchen sah – ein eindeutiges Zeichen, dass die Frau, die Rebecca Cane gesehen hatte, bald heiraten würde.

Jetzt war also Pat auf Geistersuche. Also ehrlich, konnte man noch durchschaubarer sein?

„Sie will ihn für sich, oder?“, fragte Muriel, als sie später am Nachmittag quer auf dem Bett lag und mit Olivia telefonierte.

„Na, wer würde das nicht wollen?“, erwiderte Olivia. „Er ist so cool. Weißt du was? Er war schon in Vietnam.“

„Du meine Güte, wie alt ist er denn?“

„Zweiundzwanzig.“

Eine weitere Traummann-Anforderung erfüllt. Der mysteriöse Mann in Muriels Träumen war älter und weiser als sie. „Und was macht er jetzt?“ Was hatte er für einen Job, dass er mitten in der Woche auf dem Motorrad durch die Gegend fahren konnte?

„Er arbeitet gar nicht.“

Oh, oh, das würde Daddy gar nicht gefallen.

„Er sagt, er hat ein bisschen Geld gespart und sucht sich nur einen Job, wenn er einen braucht. Ein Jahr lang ist er auf dem College gewesen.“

Gut aussehend, clever und älter – oh, da schlug ihr Herz ganz definitiv schneller. Noch eine Anforderung, die er erfüllte.

„Ich muss Schluss machen“, sagte sie. Vor dem Essen musste sie unbedingt noch schnell ihre Haare waschen und sich die Fingernägel lackieren.

„Was hast du denn heute Abend vor?“, wollte Muriels Vater wissen, als sie Makkaroni mit Käse und Fischstäbchen aßen, eins der Standardgerichte, die ihre Mutter unter der Woche gern kochte, wenn sie von der Arbeit kam.

„Arnie und ich gehen zusammen aus“, antwortete Muriel, froh, dass sie Arnie auch eingeladen hatte. Sie log ihre Eltern nicht gern an.

„Er ist ein netter Junge“, meinte ihre Mutter.

Er war nett, aber er war nicht der Stoff, aus dem Träume gesponnen wurden. Dieser Stephen dagegen …

„Ich hoffe, du gehst nirgendwohin, wo dieser langhaarige Hippie aufkreuzt“, erklärte Daddy.

Hatte er womöglich ihr Telefonat belauscht?

„Ich bin sicher, dass alles in Ordnung ist, wenn sie mit Arnie unterwegs ist“, erwiderte ihre Mutter ruhig.

„Du bleibst bei Arnie“, beharrte ihr Vater und deutete mit der Gabel auf Muriel.

Das waren die Momente, in denen Muriel es verfluchte, Einzelkind zu sein. Es war niemand anderes da, der dafür sorgen konnte, dass nicht immer nur sie im Rampenlicht stand.

„Holt er dich ab?“, hakte Daddy nach.

„Nein, ich treffe mich mit ihm im Park.“

Daddy runzelte die Stirn. „Na, dann sorg wenigstens dafür, dass er dich nach Hause bringt.“

„Ja, Daddy“, murmelte sie. Wenn alles nach Plan verlief, würde jemand ganz anderes sie nach Hause bringen.

Sie half ihrer Mutter beim Abwasch, dann flüchtete sie aus dem Haus, für die Party zurechtgemacht mit tief sitzenden Jeans, einem Batik-Top und einem Sweatshirt, das sie um die Taille geschlungen hatte.

Als sie am Fluss ankam, hatten es sich schon viele der Jugendlichen, die gerade mit der Schule fertig waren, auf Decken am Ufer gemütlich gemacht. Andere saßen auf umgefallenen Baumstämmen. Über dem Lagerfeuer wurden Hot Dogs gegrillt, und man trank Cola und andere alkoholfreie Getränke. Nur ein paar Jugendliche, wie Hank Carp, tranken Bier. Alkoholkonsum war erst mit einundzwanzig erlaubt, doch einige der älteren Teenager organisierten sich häufiger Bier und trafen sich dann auf den Feldern oder unten am Fluss, um dem unerlaubten Genuss zu frönen.

Muriel war nicht besonders erpicht aufs Trinken und machte sich eher Sorgen, dass diese Party hier außer Kontrolle geraten könnte, vor allem als sie sah, dass Olivias zehnjährige Schwester Wendy auch da war, zusammen mit Nils’ zwölfjährigem Bruder Peter und Hanks wilder Schwester Josie. Normalerweise kamen nur die älteren Jugendlichen zu diesen Partys. Wenn alle anfingen, etwas zu trinken, wer würde dann ein Auge auf die Jüngeren haben?

Arnie stand neben Olivia und Hank am Lagerfeuer und fühlte sich sichtlich unwohl und fehl am Platz. Er war merklich erleichtert, als er Muriel entdeckte, und kam sofort zu ihr, um sie zu begrüßen. „Hallo, Muriel. Ich habe mich schon gefragt, ob dein Dad dich wohl herkommen lässt.“

„Er wusste, dass du hier sein würdest, also hat er Ja gesagt.“ Das entlockte Arnie ein Lächeln. Mist. „Olivia sieht heute Abend süß aus, oder?“, versuchte Muriel, ihn abzulenken.

Arnie warf Olivia einen kurzen Blick zu. „Ja, klar. Du siehst fantastisch aus, Muriel.“

Warum sahen Jungs nur nie das, was direkt vor ihrer Nase war? Arnie bräuchte nur zu fragen, und schon würde Olivia mit ihm ausgehen. Sie war zurzeit nämlich ziemlich frustriert. So verzweifelt, wie sie war, würde sie vermutlich mit jedem ausgehen.

Muriel dagegen nicht. Sie wartete auf den perfekten Mann. Sie lächelte Stephen zu, der mit Pat redete. Er musterte sie einmal anerkennend von Kopf bis Fuß, blieb jedoch, wo er war. Hatte Pat ihn etwa verzaubert?

Lenny Luebecker holte seine Gitarre heraus. „Hey, Muriel, ich hab einen Song für dich“, rief er, bevor er „Dizzy“ von Tommy Roe anstimmte und sie hoffnungsvoll angrinste. Muriel hatte nicht vor, ihn zu ermutigen, daher lächelte sie nur zurückhaltend. Aber Olivia schlenderte zu ihm und Nils hinüber, um in den Gesang mit einzustimmen. Und auch ein paar andere Jugendliche gesellten sich dazu. Pat und Stephen blieben jedoch ein wenig abseits und redeten. Muriel runzelte die Stirn. Diese Party machte definitiv nicht so viel Spaß, wie sie gehofft hatte.

Der Abend nahm seinen Lauf, und immer mehr Nachtschwärmer tauchten auf. Die Kinder flitzten zwischen den Bäumen hin und her und spielten Fangen, während die Älteren tranken. Die Gesänge wurden immer lauter und das Lachen immer kreischender. Einige verschwanden an den äußeren dunklen Rand des Feuerscheins, und man erkannte nur noch Silhouetten, die sich küssten. Bei Hank und Stephie sah es aus, als meinten sie es ernst. Das läuft doch auf eine Mussheirat hinaus, dachte Muriel, ehe sie merkte, dass sie eigentlich nur eifersüchtig war. Nur zu gern hätte auch sie dort im Dunkeln gestanden und mit Stephen rumgeknutscht.

Wo steckte Stephen überhaupt? Er und Pat waren nirgends zu sehen. Na, vielleicht war er doch nicht der Richtige für sie. Vielleicht hatte sie sich die Ähnlichkeit zwischen ihm und dem Bild des großen blonden Mannes, den sie so häufig in ihren Träumen gesehen hatte, doch nur eingebildet.

Plötzlich übertönte ein gellender Schrei den Lärm wie ein falscher Ton in einem Orchester, und einen Augenblick später kam Josie zum Lagerfeuer gerannt. „Wendy ist in den Fluss gefallen!“

„O nein!“, schrie Olivia und sprang sofort auf.

Die Strömung war stark, und wenn ein Kind mitten in der Nacht in die Fänge des Flusses geriet, konnte das in einer Katastrophe enden. Sofort waren alle auf den Beine und rannten zum Ufer. Voller Panik rief Olivia ständig den Namen ihrer kleinen Schwester.

Gerade erst hatte sie den kleinen Körper entdeckt, der vom wütenden Fluss davongespült wurde, als auf einmal, wie aus dem Nichts, eine große männliche Gestalt ins Wasser sprang: Stephen Sterling.

Muriel hielt den Atem an und sah zu, wie er sich gegen die Strömung zu dem kleinen Mädchen vorkämpfte. Es war ein heldenhafter Kampf. Der Fluss gab seine Beute nicht so leicht wieder her, und beim ersten Versuch scheiterte Stephen. Beim zweiten Mal erwischte er Wendy, doch es sah aus, als würde er all seine Kraft aufbieten müssen, um sich und die Kleine ans Ufer zu bringen.

„Warum hilft ihm denn keiner?“, brüllte Olivia.

Hank fand einen langen Ast und streckte ihn Stephen entgegen. Der griff danach und benutzte ihn, um sich und das Mädchen in Sicherheit zu bringen.

Wendy war in Tränen aufgelöst, genau wie Olivia.

Auch Josie weinte vor Schreck, und Peter sah aus, als müsste er sich sehr beherrschen, um nicht ebenfalls anzufangen.

Nils griff nach dem Arm seines Bruders und fragte: „Was habt ihr denn getrieben, verdammt?“

„Wir haben nur Fangen gespielt“, protestierte Peter. „Sie ist ins Wasser gelaufen, um abzuhauen und …“, jetzt flossen auch bei ihm die Tränen.

„Sie ist zu weit reingelaufen“, beendete Muriel seinen Satz, während sie ihr Sweatshirt um das triefnasse Mädchen legte. „Oh, Wendy, was hast du dir nur dabei gedacht? Du müsstest es doch besser wissen!“

„Ich bin ausgerutscht“, schluchzte die Kleine.

„Kommt, wir müssen sie zum Feuer bringen“, meinte Pat und übernahm die Führung. „Komm, Schätzchen. Wir wärmen dich in null Komma nichts wieder auf.“

Pat und Olivia versuchten, Wendy zu beruhigen. Muriel schnappte sich eine Decke und ging hinüber zu Stephen, der gerade mit Nils redete. „Ich dachte, vielleicht kannst du die gebrauchen.“

„Danke“, sagte er und legte sie sich um die Schultern.

Nils war klug genug zu wissen, wann eine Frau einen Mann für sich alleine haben wollte, und machte sich von dannen. So hatte Muriel jetzt zum ersten Mal heute Abend die Chance, allein mit dem Neuankömmling zu sprechen.

„Was du getan hast, war wirklich heldenhaft.“

Er schüttelte den Kopf und starrte in die Flammen. „Ach, was.“

„Doch“, widersprach sie. „Außer dir ist niemand ins Wasser gesprungen.“

„Jemand hätte es schon noch getan. Ich war nur einfach der Erste.“

„Das ist doch das, was Helden tun, oder nicht? Sie stellen sich unerschrocken der Gefahr.“

„Glaub mir, davon hatte ich mehr als genug.“

„Einige Männer sind einfach zum Helden geboren, ob sie es nun wollen oder nicht.“

Sein Lächeln wirkte spöttisch. „Bist du auf der Suche nach einem Helden, Muriel?“

Vielleicht. „Wäre das so falsch?“

Arnie trat zu ihnen. „Olivia will nach Hause. Ich glaube, wir sollten vielleicht auch gehen.“

Wieso führte er sich so auf, als wäre er ihr Freund? Am liebsten hätte Muriel ihn getreten. „Ich möchte eigentlich noch nicht gehen.“

„Okay. Willst du Olivia noch Tschüss sagen?“

Natürlich wollte sie das! Pech nur, dass gerade jetzt, wo sie bei Stephen verlorenen Boden wiedergutmachen wollte, Pat ankam und ihn anlächelte, als wären sie schon ein Paar.

Trotzdem, ein Mädchen ignorierte ihre beste Freundin nicht wegen eines Mannes. Muriel ging zu Olivia hinüber, die gerade ihre Sachen zusammenpackte und aussah, als würde sie gleich wieder in Tränen ausbrechen. „Alles okay bei dir?“

„Meine Eltern bringen mich um, und ich kann es ihnen nicht mal verdenken. Das ist alles mein Fehler.“

„Du hast sie doch nicht in den Fluss geschubst.“

„Ich hab aber auch nicht auf sie aufgepasst. Ich war zu sehr damit beschäftigt, mit Nils zu flirten.“

Das konnte man nicht leugnen. Aber den Kindern von Icicle Falls wurde schon in jungen Jahren eingebläut, dass der Fluss Gefahren barg. „Es war schlicht und einfach ein Unfall“, entgegnete Muriel. „Das Wichtigste ist doch, dass es ihr gut geht.“

„Ja, aber nicht wegen mir“, jammerte Olivia unglücklich. „Fangen“, fügte sie grimmig hinzu.

„Das haben wir doch alle gespielt“, erinnerte Muriel sie.

„Aber nicht am Fluss.“

Muriel umarmte sie und versicherte ihr, dass alles gut werden würde. Dann, nachdem sie alles getan hatte, um ihre Freundin aufzumuntern, sah sie sich nach Stephen um. Er stand nicht mehr am Lagerfeuer. Genauso wenig wie Pat. Muriel entdeckte die beiden, wie sie den Weg am Fluss entlanggingen, vermutlich in Richtung Bavarian Inn, wo Stephen abgestiegen war. Vielleicht war sie jetzt doch bereit, nach Hause zu gehen.

Der Vorfall hatte die Stimmung der Party empfindlich gestört, und die meisten Jugendlichen machten sich auf den Weg nach Hause. Weil sie kurz vorher ihren Standpunkt ja schon klargemacht hatte, ließ Muriel sich schließlich doch von Arnie heimbringen.

An der Haustür griff er nach ihrem Arm, und sie drehte sich noch einmal zu ihm um. „Muriel.“

An seiner Stimme konnte sie schon erkennen, was jetzt kam.

Und tatsächlich. „Du weißt, was ich für dich empfinde.“

Sie nickte. „Es tut mir leid, Arnie. Ich mag dich, aber eben nicht … auf diese Weise.“

Er sah sie grimmig an. „Es geht um den neuen Typ, oder? Ich hab gesehen, wie du den angestarrt hast.“

„Ein Mädchen kann sich nicht aussuchen, zu wem es sich hingezogen fühlt.“ Jetzt sah Arnie aus, als hätte sie ihm das Herz gebrochen, und Muriel bekam ein schlechtes Gewissen.

Aber er war nun mal nicht der Mann ihrer Träume.

Er seufzte tief. „Wenn du jemals deine Meinung ändern solltest, weißt du, dass ich immer für dich da bin.“

„Du bist ein guter Freund, Arnie“, flüsterte sie.

„Danke“, antwortete er, doch sein Tonfall verriet, was er davon hielt.

Der Weg zur wahren Liebe ist genauso verzweigt und unübersichtlich wie der Lost-Bride-Wanderweg, dachte Muriel traurig, als sie ins Haus schlüpfte.

3. KAPITEL

Als sich am Sonntagabend die kirchliche Jugendgruppe traf, zog Muriel Pat zur Seite. „Wo bist du mit Stephen nach der Party hingegangen?“

„Wir waren spazieren. Nicht dass es dich was angeht.“

„Ich hatte aber doch gerade mit ihm geredet.“

Pat zuckte mit den Schultern. „Und dann bist du weggegangen.“

„Ich habe nur Olivia Tschüss gesagt. Ich wollte gleich wiederkommen.“

„Woher sollte ich das denn wissen?“, fragte Pat schnippisch. „Pass auf, Muriel, du kannst jeden Jungen hier im Ort haben. Da brauchst du Stephen nicht auch noch in deine Sammlung mit aufzunehmen.“

„Ich sammle doch keine Jungs!“

„Doch, das tust du. Dir gefällt es doch, dass alle Jungs in der Stadt verrückt nach dir sind. Na ja, der hier ist es jedenfalls nicht, und ich will ihn.“

„Ich auch“, beharrte Muriel. „Und ich habe nicht vor, ihn einfach dir zu überlassen. Immerhin ist er vielleicht der Mann, von dem ich die ganze Zeit geträumt habe.“

Pat verdrehte die Augen. „Oh, ich bitte dich. Dieser alberne Traum.“

„Das ist nicht albern!“

„Ist es wohl, und außerdem ziemlich egoistisch. Und wenn du glaubst, ich räume das Feld, nur weil du es so bestimmst, dann hast du dich aber geschnitten.“

Das war das Ende ihrer Unterhaltung gewesen. Vielleicht sogar das Ende ihrer Freundschaft. Zum ersten Mal, seit man sich erinnern konnte, saßen Pat und Muriel bei einer kirchlichen Veranstaltung nicht nebeneinander.

„Irgendwie ist das für uns alle unangenehm“, meinte Olivia, als sie am folgenden Freitag in den Laden kam.

„Sag das doch Pat“, erwiderte Muriel beleidigt.

„Ihr zwei solltet euch nicht wegen eines Jungen streiten.“

„Er ist kein Junge. Er ist ein Mann, und er ist …“

Olivia schnitt ihr das Wort ab. „Ich weiß: Er ist der Mann, von dem du geträumt hast.“

„Wir sind füreinander bestimmt. Da bin ich mir ganz sicher“, sagte Muriel ernst.

„Aber ihr zwei seid nicht zusammen. Er geht mit Pat. Und es sieht so aus, als würde er auch weiterhin mit ihr gehen. Hast du schon gehört, dass er sich ein Zimmer bei den Schoemakers mietet? Und er fängt einen Teilzeitjob bei Swede in der Werkstatt an. Anscheinend will er bleiben – und er will bei Pat bleiben.“

Muriel beschäftigte sich damit, die Geschenkkartons neu zu arrangieren.

„Kannst du dich denn nicht für sie freuen?“, versuchte Olivia, sie umzustimmen.

Wenn Stephen lieber mit Pat als mit ihr zusammen war … „Na ja, ich kann es versuchen“, murmelte Muriel. Aber mehr konnte sie nun wirklich nicht versprechen.

Trotzdem war es ziemlich schmerzlich, als sie und Olivia am Abend in Herman’s Diner gingen und dort auf Stephen und Pat trafen. Pat hatte sich schon in eine Nische gesetzt, während Stephen anstand, um das Essen zu bestellen.

„Sehr schön, wir können uns zu ihnen setzen“, meinte Olivia. „Jetzt hast du die Chance zu beweisen, dass du ihnen nicht böse bist.“ Sie reichte Muriel einen Fünf-Dollar-Schein. „Bestell mir einen Cheeseburger und ’ne Cola, ja?“, bat sie, bevor sie zu Pat hinüberging.

Muriel fühlte sich nicht wohl in ihrer Haut und reihte sich etwas befangen in die Schlange ein, zwei Plätze hinter Stephen.

Er entdeckte sie und ließ die anderen vorgehen, damit er sich zu ihr gesellen konnte. „Na, willst du hier in Icicle Falls mal richtig einen draufmachen?“, neckte er sie.

„So ungefähr“, erwiderte sie.

„Wie kommt’s, dass du gar nicht mit Arnie zusammen bist?“

„Weil ich nicht mit ihm zusammen bin. Wie kommst du darauf?“

„Ihr zwei seid doch ein Paar, oder nicht?“

Sie dachte, sie hätte bereits ziemlich deutlich gemacht, dass das nicht der Fall war. „Wer hat dir denn das erzählt?“

„Pat.“

Pat, ihre ehemalige gute Freundin. „In einer Kleinstadt wird viel geredet. Nicht alles davon ist wahr.“

Er zog eine Augenbraue in die Höhe. „Ach, ja?“

„Arnie und ich sind gute Freunde. Und mehr werden wir auch nie sein.“

„Das heißt, wenn dich jemand anderes bitten würde, mit ihm auszugehen …“

Sie lächelte. „Dann würde ich vielleicht Ja sagen.“

Als sie schließlich ihre Bestellung aufgegeben und die Sachen bekommen hatten, kehrten sie zurück an den Tisch, wo Pat schon vor Wut kochte. „Ich kann mich nicht erinnern, dass ich dich an diesen Tisch eingeladen habe“, sagte sie.

„Keine Angst, wir bleiben nicht“, konterte Muriel eisig. Sie nickte Olivia zu. „Komm, lass uns drüben zu Hildy und Nils gehen.“ Olivia hatte besorgt von einer Freundin zur anderen geschaut. Jetzt nickte sie und stand auf. „Das ist echt nicht gut“, sagte sie, als sie Muriel auf die andere Seite des Restaurants folgte.

„Nein, das ist es nicht“, stimmte Muriel zu.

„Wir sind schon seit Ewigkeiten befreundet. Das ist nicht richtig.“

Muriel seufzte. „Ich schätze mal, nur Liebe kann eine Freundschaft zerstören.“

In den folgenden Wochen wechselte Stephen die Fronten. Er kam in den Laden und fragte Muriel, ob sie Lust hätte, mit ihm ins Kino zu gehen. Sie sagte Ja und bekam dann ein schlechtes Gewissen. Pat hatte sich heftig in diesen Mann verliebt, und sie ging einfach mit ihm aus. Hatte Pat recht? War sie wirklich egoistisch und sammelte Männer wie Trophäen?

Im Kino teilten sie sich eine Tüte Popcorn, und Stephen legte einen Arm um Muriels Schultern. Während John Wayne auf der Leinwand gegen die Bösen kämpfte, focht sie dort in der Dunkelheit ihren eigenen Kampf aus. Sie wollte Stephen. Tief in ihrem Inneren wusste sie, dass er der Richtige für sie war, dass sie zusammengehörten. Aber sie wollte auch ihre Freundin nicht verlieren. Wie sollte das funktionieren, wenn sie alle hier in Icicle Falls lebten?

Plötzlich kam ihr ein anderer Gedanke. Wollte Stephen überhaupt in Icicle Falls bleiben?

„Gefällt es dir hier eigentlich?“, fragte sie ihn daher etwas später, als sie bei Herman’s noch etwas tranken.

„Sicher. Es ist eine nette Kleinstadt, wenn auch ziemlich viel kleiner als Seattle. Weiß nicht, ob ich hier mein ganzes Leben verbringen möchte.“

Muriels Magen verkrampfte sich. „Wo möchtest du denn dann leben?“

Er zuckte mit den Schultern. „Keine Ahnung. Ich muss mir erst einmal noch viel anschauen.“

„Du könntest um die ganze Welt fahren, aber ein schöneres Plätzchen als Icicle Falls wirst du nirgends finden.“

„Es ist hier schon ganz hübsch“, meinte er. „Aber in so einem kleinen Ort ist es schwierig, Erfolg zu haben.“

„An was für eine Art von Erfolg denkst du denn?“ Muriel hatte immer gedacht, ein einfaches Leben mit einer Familie und engen Freunden würde schon als Erfolg gelten.

Freunde. Sie dachte an Pat und schob frustriert ihr Glas weg.

„Das kann ich noch nicht so genau sagen“, antwortete Stephen. „Ich weiß, dass ich was aus mir machen will, aber was und wie, wird sich noch zeigen.“ Er runzelte die Stirn. „Eins weiß ich aber genau: Ich werde erfolgreich sein. Mein alter Herr war das nicht“, fügte er hinzu. „Und er glaubt auch nicht, dass aus mir mal was wird. Aber ich werde es ihm schon noch beweisen.“

„Ich glaube fest an dich“, sagte sie. „Aber dafür brauchst du keine Großstadt. Ein Mann kann auch in einer Kleinstadt erfolgreich sein.“

„In Kleinstädten haben die Leute meist Vorurteile.“

„Vorurteile findest du überall.“ Sie erinnerte sich, wie ihr Vater Stephen, den „langhaarigen Hippie“, angesehen hatte, als er in das Geschäft von Sweet Dreams gekommen war. Ob Stephen auch daran dachte?

Er schaute sich im Restaurant um. „So, wie es hier aussieht, kann man nicht groß was machen, außer man betreibt ein Restaurant oder einen Laden.“

„Man kann auch eine Obstplantage besitzen“, warf sie ein. Oder eine Schokoladenfabrik.

„Ach nee, ich bin kein Farmer. Aber ich finde es schon noch heraus. Eins kann ich dir aber sagen: Ich möchte eine Frau, die bereit ist, alles aufzugeben, damit sie mit mir zusammen sein kann. Eine, die mit mir überall hingeht.“

Muriel begriff, was er ihr sagen wollte. Für Stephen wäre sie sogar dazu bereit. Sie nickte. „Darum geht es doch bei der Liebe, oder? Dass man für den Menschen, mit dem man zusammen sein will, das aufgibt, was einem am meisten bedeutet.“

Er lächelte sie an, als hätte sie gerade einen Test bestanden. Okay, sie hatte das Richtige gesagt. Aber konnte sie wirklich ihr Heim verlassen?

Natürlich konnte sie das. Ein Zuhause ist mehr als ein Ort, redete sie sich ein. Es ist überall dort, wohin es zwei verliebte Menschen verschlägt. Vermutlich war es zu früh, um über Liebe zu sprechen, aber sie wusste, was sie fühlte, und sie wusste, was sie wollte: Stephen.

Jetzt musste sie nur noch einen Weg finden, um ihren Vater davon zu überzeugen, dass sie den richtigen Mann für sich gefunden hatte. Irgendwann würde sie Stephen mit nach Hause bringen müssen. Aber vorerst noch nicht.

Also beharrte sie darauf, dass sie sich anderswo trafen – im Riverwalk Park, im Schwimmbad, im Kino. So verging der Juni wie im Flug, und die Zeit mit Stephen kam ihr vor wie ein wahr gewordener Traum. Das Einzige, was ihre Freude trübte, war die Tatsache, dass Pat jedes Mal, wenn sie ihr begegnete, auf dem Absatz kehrtmachte.

Na und? Vielleicht würde sie ja nicht mehr lange hier sein. Vielleicht würde sie Stephen heiraten und wegziehen. Dieser Gedanke heiterte sie auf. Ein wenig.

Am dritten Juli war Icicle Falls voller Touristen, die hier campten, sich beim Rafting auf dem Fluss vergnügten, auf den Wiesen in den Bergen picknickten und all die anderen Annehmlichkeiten genossen, die die Stadt zu bieten hatte. Die Vorbereitungen für die Feierlichkeiten zum vierten Juli waren fast abgeschlossen. Überall an der Hauptstraße standen Buden, an denen Essen verkauft wurde, und im Park gab es Stände von Kunsthandwerkern. Stephen und Muriel hatten beschlossen, eine kleine Spritztour zu machen und die Stadt zu verlassen.

Muriel traf sich mit ihm am Pavillon und hüpfte hinter ihn auf das Motorrad. So richtig wohl war ihr allerdings nie, wenn sie auf die große, laute Maschine stieg, und jedes Mal, wenn sie auf die Landstraße fuhren, klammerte sie sich ängstlich an Stephen fest. Doch es erfüllte sie auch mit heimlicher Genugtuung, wenn die anderen Jugendlichen sie so sahen und sie beneideten. Die Jungs wollten alle sein wie Stephen, und die Mädchen hätten gern den Platz mit ihr getauscht. Pech gehabt. Er gehörte ihr.

Gerade als sie sich stolz umschaute, sah sie, dass jemand sie von der anderen Straßenecke aus beobachtete. Und dieser Mensch schien alles andere als glücklich zu sein.

Muriel schnappte nach Luft, doch Stephen hörte sie nicht. Er ließ den Motor aufheulen. Dann, ehe sie einen klaren Gedanken fassen konnte, brausten sie schon die Straße entlang. Wenn sie die Fahrt auf diesem großen, beängstigenden Monster überlebte, würde zu Hause etwas auf sie warten, was ihr noch viel mehr Angst einflößte – Daddys Zorn.

4. KAPITEL

Kaum hatte Muriel das Haus betreten, als das Feuerwerk auch schon losging. Einen Tag zu früh.

Aus der Küche roch es lecker nach frisch gebratenen Frikadellen, die auf jeden Fall ihre Mutter gemacht hatte, doch Muriel hatte überhaupt keinen Appetit. Ihr Magen war schon seit zwei Stunden völlig verkrampft.

Daddy war zu Hause und wartete bereits im Wohnzimmer auf sie. Mom, die ihm Gesellschaft leistete, wirkte besorgt, während ihr Mann aussah, als würde er gleich explodieren.

„Was hast du mit diesem langhaarigen Gammler auf dem Motorrad getrieben?“, wollte er wissen.

„Er ist kein Gammler“, protestierte Muriel. „Er ist nett.“

„Man braucht ihn nur anzusehen, um zu wissen, dass an dem nichts Nettes dran ist. Er hat ja nicht mal einen Job.“

Das bewies doch nur, dass ihr Vater rein gar nichts wusste. „Hat er wohl. Er jobbt bei Swede in der Autowerkstatt.“

Daddy deutete mit dem Finger auf sie. „In seinem Alter sollte er einen Vollzeitjob haben.“

„Ach, komm schon, Joe“, meinte Mom beruhigend. „Er ist noch jung.“

„Er ist alt genug, um mit seinem dröhnenden Motorrad durch die Stadt zu brettern. Dann ist er auch alt genug, um einen ordentlichen Job zu machen und den ganzen Tag zu arbeiten“, erklärte Daddy mit erhobener Stimme.

„Dann solltest du ihm vielleicht einen geben“, schlug Muriel mutig vor.

„Eher friert die Hölle zu. Also, ich will nicht, dass du dich wieder mit ihm triffst.“

„Du hast mir gar nichts zu befehlen, Daddy!“

„Solange du unter meinem Dach lebst, kann ich das sehr wohl“, brüllte ihr Vater, „und ich erwarte, dass du auf mich hörst.“

Er konnte erwarten, was er wollte, aber das hieß noch lange nicht, dass sie sich daran halten würde. Muriel drehte sich um und stürmte aus dem Zimmer, um nach oben zu verschwinden.

„Junge Dame, ich bin noch nicht fertig mit dir!“

Aber sie war fertig mit ihm. Also lief sie die Treppe hinauf und schmiss die Zimmertür zu, damit ihr Vater wusste, dass sie es ernst meinte.

Ein paar Minuten später verriet ein zaghaftes Klopfen an ihrer Tür, dass er einen Unterhändler geschickt hatte. „Darf ich reinkommen?“, fragte ihre Mutter.

Hatte sie denn eine Wahl? Sie saß auf dem Bett und sah schmollend zu, wie ihre Mutter ins Zimmer gehuscht kam. Sie setzte sich zu Muriel und legte eine Hand auf die ihrer Tochter. „Muriel, dein Vater macht sich doch nur Sorgen um dein Wohlergehen. Er möchte, dass du glücklich wirst.“

„Nein, das tut er nicht, denn sonst würde er nicht solche übereilten Urteile fällen. Stephen ist nett und ehrenhaft und … ich liebe ihn.“ So, jetzt war es raus. Ihre Eltern sollten ruhig wissen, was los war.

Mom seufzte. „Du kennst den Jungen doch kaum.“

„Du hast Daddy doch auch kaum gekannt“, protestierte Muriel. Ihre Eltern hatten sich getroffen, als sie mit ihren jeweiligen Familien Urlaub am Meer gemacht hatten, und es war Liebe auf den ersten Blick gewesen. Sechs Monate lang hatten sie sich gegenseitig Briefe geschrieben, hatten sich genau drei Mal verabredet, bevor sie sich verlobt hatten.

Ihre Mutter lächelte widerstrebend. „Ich rede mit deinem Vater. Pass in der Zwischenzeit auf, dass du nichts überstürzt.“

Muriel begriff, was das übersetzt bedeuten sollte: Schlaf nicht mit ihm, werde nicht schwanger. Na, sie hatte nicht vor, bei nächster Gelegenheit mit Stephen ins Bett zu gehen. Aber wenn er sie bat, ihn zu heiraten, würde sie es morgen tun. Doch statt ihre Mutter mit dieser Information zu beunruhigen, nickte sie einfach nur.

Ihre Mutter gab ihr einen Kuss auf den Kopf. „So, und jetzt lass uns essen.“

Das Letzte, was sie wollte, war, ihrem Vater am Essenstisch gegenüberzusitzen. „Ich bin nicht hungrig.“

„Schätzchen, komm, vertrag dich wieder mit deinem Vater.“

Muriel schüttelte den Kopf. „Ich gehe mit Olivia zum Straßenfest.“

Das war eine dreiste Lüge, und das wusste ihre Mutter auch, aber sie tat so, als hätte sie keine Ahnung, und lenkte ein. „Okay. Aber denk dran, was ich dir gesagt habe. Und sei deinem Vater nicht böse. Er liebt dich wirklich und möchte nicht, dass du verletzt wirst.“

Muriel hielt den Blick gesenkt und nickte. Sie schaffte es nicht, ihre Mutter anzusehen, nachdem sie sie eben angelogen hatte. Doch ihrem Vater verzeihen konnte sie auch noch nicht. Eigentlich hätte er sie doch verstehen müssen. Warum war er nur so stur und weigerte sich zu begreifen, dass sie mit Stephen den Richtigen gefunden hatte?

Als sie ein wenig später in der Innenstadt ankam, wimmelte es auf der Hauptstraße schon von Touristen, die sich an den Ständen mit Maiskolben und Zuckerwatte stärkten. Die Pink Poodle Skirts, eine Band, die Hits aus den Fünfzigern und Sechzigern coverte, baute drüben im Pavillon bereits auf und stimmte die Instrumente. Der Klang der elektrischen Gitarre driftete durch die Dämmerung. Muriel stieß gleich auf Olivia. Das milderte ihr schlechtes Gewissen wegen der Lüge, die sie ihren Eltern aufgetischt hatte, ein wenig.

Und da kam auch schon Stephen. Wie immer trug er Jeans und ein enges T-Shirt, und heute hatte er das lange Haar zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden.

Olivia seufzte theatralisch. „Er sieht so unglaublich gut aus.“

„Ja, das stimmt“, meinte Muriel.

„Ihr zwei seid echt das perfekte Paar.“

„Erzähl das mal meinem Vater“, erwiderte Muriel grimmig.

„Er wird schon noch einlenken.“

Das hatte Olivia auch von Pat gesagt, doch da hatte sie sich geirrt. Pat war immer noch sauer und würde wahrscheinlich erst wieder mit Muriel reden, wenn die sich von Stephen trennte. Doch Muriel hatte nicht vor, ihn aufzugeben, nicht für ihren Vater und schon gar nicht für Pat. Dieses miese Verhalten von Pat zeigte doch nur, wie egoistisch sie war. Eine echte Freundin würde sich darüber freuen, dass ihre beste Freundin, die sie schon seit Kindheitstagen kannte, den Mann ihrer Träume gefunden hatte.

„Hallo, ihr beiden“, begrüßte Stephen sie. „Ihr seht heute Abend aber toll aus.“

Olivia errötete. „Du siehst aber auch nicht schlecht aus.“

„Danke“, meinte er grinsend. „Wie wäre es mit einem Maiskolben?“

„Ja, gern“, antwortete Olivia, und zusammen gingen sie hinüber zu dem Stand.

Dort trafen sie Nils und Lenny sowie Hildy und Sue Lind. In ein paar Minuten hatte Stephen es geschafft, sich zusammen mit Muriel von der Gruppe zu entfernen, während sie Olivia in der Obhut der anderen ließen.

Das war Muriel nur recht. Sie wollte ihn sowieso für sich allein haben. Hand in Hand schlenderten sie die Straße entlang, und dann später, als es langsam dunkel wurde, gingen sie hinüber, um der Band zuzuhören. Die hatte gerade angefangen zu spielen, und die Sängerin gab „He’s a Rebel“ zum Besten. Stephen schlang einen Arm um Muriels Schultern, während sie in der Menge standen und der Musik lauschten.

Sie lächelte ihn an. „Bist du ein guter Tänzer?“

„Der beste.“

Als die Band „Proud Mary“ spielte und alle anfingen zu tanzen, bewies er es. Stephen hat die Schritte wirklich drauf, dachte Muriel begeistert. Und als die Band kurz darauf „Never My Love“ spielte, ein Stück, das sehr viel langsamer war, schmiegte sie sich glücklich in seine Arme und wiegte sich mit ihm im Takt der Musik.

„Wer hätte gedacht, dass ich hier in den Bergen so einen Schatz finde?“, murmelte Stephen ihr ins Ohr und zog sie noch näher an sich.

So ein Engtanz mit Stephen glich einem wunderbaren Traum. Muriel schaute den Mann ihrer Träume an und dachte: Mein Leben ist perfekt. Etwas später, als sie und Stephen am Fluss spazieren gingen, sagte sie ihm das auch.

„Ich finde, es wird Zeit, dass ich deine Eltern kennenlerne“, meinte er nach einem langen, leidenschaftlichen Kuss, der sie vollkommen durcheinandergebracht hatte.

Muriel biss sich auf die Unterlippe und starrte hinaus auf den Fluss, der jetzt einem dunklen Band glich. Außer dem Rauschen der Strömung und dem leichten Rascheln der Blätter am Ufer war nichts weiter zu hören.

„Du willst doch, dass ich deine Eltern kennenlerne, oder nicht?“

„Daddy hast du ja schon mal getroffen“, wich sie aus.

„Das war ja kein richtiges Treffen.“

Wie sollte sie das nur anstellen? Sie spürte Stephens bohrenden Blick und zog nervös den Pullover enger um sich.

Stephen seufzte frustriert. „Dein Dad hat was gegen mich, oder?“

„So würde ich das nicht sagen.“ Noch eine Lüge.

„Muriel, ich bin doch nicht blöd. Meinst du, mir ist nicht bewusst, warum du dich mit mir immer in der Stadt verabredest?“

„Ich dachte nur …“

„Dass ich nicht merken würde, wie er mich an dem Tag in eurem Laden angesehen hat?“

Muriel spürte, dass ihre Wangen zu glühen begannen. „Mein Vater wird schon noch einlenken.“

„Wird er das?“

„Da bin ich mir ganz sicher“, erwiderte sie standhaft.

„Und was ist, wenn nicht?“

„Ich denke, darüber machen wir uns Gedanken, wenn es so weit ist.“

Selbst in der Dunkelheit bekam sie mit, dass Stephen sich versteifte. Abrupt löste er sich von ihr. Diesmal hatte sie den Test wohl nicht bestanden.

„Stephen, was ist?“

„Nichts. Es ist spät. Ich bringe dich nach Hause.“

Muriel malte sich aus, wie ihr Vater vorn auf der Veranda wartete und ihnen grimmig entgegensehen würde. „Ich kann auch allein gehen.“

„Sicher kannst du das. Ich bringe dich trotzdem bis in eure Straße“, sagte er.

Als sie den Park verließen, herrschte zwischen ihnen ein unangenehmes Schweigen, und Muriel fühlte sich nicht wohl in ihrer Haut, weil sie nicht wusste, wie sie die Kluft überbrücken sollte.

An der Kreuzung zu ihrer Straße blieb Stephen stehen. „Auf Wiedersehen, Muriel.“

„Wir sehen uns morgen Abend am Fluss beim Feuerwerk“, sagte sie.

Er nickte. Dann drehte er sich um und verschwand, ohne dass er ihr einen Gutenachtkuss gegeben hatte.

Muriel ging schweren Herzens den Rest des Weges zum Haus ihrer Eltern. Alles war so gut gelaufen, bis das Thema auf ihren Vater gekommen war. Daddy zerstörte ihr ganzes Leben.

Schon von Weitem entdeckte sie ihren Vater, der auf der vorderen Veranda wartete, genau so, wie sie befürchtet hatte. Grimmig sah er sie an, als sie die Stufe hinaufkam. „Du warst doch wieder mit diesem Kerl zusammen, obwohl ich es dir verboten hatte.“

„Daddy, ich bin kein kleines Mädchen mehr. Ich lasse mir von dir nicht vorschreiben, mit wem ich ausgehe“, fuhr sie ihn an und marschierte ins Haus.

„Muriel!“

Sie ignorierte, wie frustriert er klang, und ging einfach weiter. Wieder schlug sie ihre Zimmertür wütend zu, doch diesmal kam niemand hinter ihr her, um mit ihr zu reden. Was auch gut so war. Sie wollte mit niemandem reden. Stattdessen ließ sie sich auf ihr Bett fallen und vergoss bittere Tränen. Das war doch alles nicht richtig. Sie hatte noch nie so mit ihrem Vater gestritten –, aber ihr Vater war auch noch nie so engstirnig und gemein gewesen.

Am nächsten Morgen, als sie in die Küche kam, sah sie, dass ihr Vater schon an dem Tisch mit der roten Resopalplatte saß und einen Kaffee trank. „Bist du immer noch sauer auf mich?“, fragte er.

„Ja.“ Sie öffnete den Kühlschrank und holte einen Karton mit Eiern heraus. „Möchtest du ein Ei?“

„Gern“, erwiderte er, bemüht freundlich.

Sie briet ihm eins und machte gleichzeitig Toast. Danach machte sie eine weitere Scheibe Toast für ihre Mutter fertig, die sich morgens immer mit einer Scheibe Brot und Kaffee begnügte.

Als ihre Mutter in die Küche kam, saßen Muriel und ihr Vater schweigend am Tisch und aßen. „Na, ist das heute nicht ein herrlicher Tag für ein Picknick?“, sagte sie.

„Ich komme nicht mit.“ Das fehlte Muriel gerade noch, dass sie den ganzen Tag damit verbringen sollte, so zu tun, als wäre sie nicht wütend auf ihren Vater.

„Natürlich kommst du mit“, erklärte ihre Mutter fürsorglich. „Wir picknicken jedes Jahr mit den Greens. Überleg doch mal, wie enttäuscht Olivia wäre, wenn du nicht kommen würdest.“

„Wie wäre es mit einem Waffenstillstand für heute?“, schlug ihr Vater vor.

Als wäre sie ein trotziges kleines Mädchen, das vor sich hinschmollte, weil man ihr ein Spielzeug vorenthielt? „Daddy, du begreifst es nicht. Das hier ist nicht irgendeine Laune, über die ich irgendwann hinweg sein werde. Ich bin verliebt. Stephen ist der Mann, mit dem ich den Rest meines Lebens verbringen möchte.“

Ihr Vater stellte seinen Kaffeebecher zur Seite und runzelte die Stirn. „Muriel.“

„Du hast ihm nicht mal eine Chance gegeben. Was wäre passiert, wenn Grandpa dir und Mom keine Chance gegeben hätte? Hat er dich anfangs gemocht? Wie gut hat es ihm gefallen, als er erfahren hat, dass du Mom heiraten und hierherziehen willst?“

Ihr Vater hob eine Hand. „Okay, dieser Punkt geht an dich. So, können wir jetzt den Tag genießen?“

Muriel lächelte ihn an. Sie hatte die Vorbehalte ihres Vaters überwunden, und es sah ganz so aus, als ob sie anfangen würde, ihren eigenen Weg zu finden. Was für ein passender Sieg für den vierten Juli, den Tag, an dem Amerika jährlich seine Unabhängigkeit feierte.

Aber gerade als sie die Küche verlassen hatte, hörte sie einen Gesprächsfetzen mit an, der sie dazu brachte, stehen zu bleiben und zu lauschen.

„Das war klug von dir“, sagte Mom.

„Nicht wirklich. Ich weiß, dass Muriel glaubt, sie und dieser Hippie bleiben für immer zusammen, aber dieser Junge ist ein Vagabund. Am Ende des Sommers ist er sowieso verschwunden. Warum soll ich mich also über etwas aufregen, was sowieso nicht passieren wird?“

„Da wäre ich mir nicht so sicher“, sagte Mom.

„Ich schon“, erwiderte Daddy.

Ihr Vater täuschte sich. Stephen würde in Icicle Falls bleiben, und Daddy würde das einfach akzeptieren müssen.

Das traditionelle Picknick der beiden Familien fand, wie immer, mittags am Flussufer statt. Olivias Schwester Wendy hatte aus ihrer nächtlichen Eskapade gelernt und blieb diesmal dem Wasser vorsichtshalber fern. Mrs Green hatte ihr berühmtes gebratenes Hähnchen zubereitet, und Mom hatte Kartoffelsalat und andere Köstlichkeiten aus dem Delikatessenladen von Schwartz’ zum Essen beigesteuert. Die Kühltasche war gut gefüllt mit Limonade für die jüngere Generation und Bier für die Väter. Mit Mrs Greens Schokoladenkuchen beendeten sie die Mahlzeit, und kurz darauf packten sie die Sachen zusammen und machten sich auf den Weg, um sich die Parade anzusehen.

Die war schon in vollem Gange, als Muriel in der Menschenmenge Stephen entdeckte. Heute Abend würden sie sich wieder am Fluss treffen, wo sie vor wenigen Wochen das erste Mal zusammen gefeiert hatten. Vor dort aus würden sie zusehen, wie die Bewohner von Icicle Falls den Feiertag mit einem Feuerwerk krönten. Muriel konnte es kaum erwarten, dass Stephen mit seinen Küssen ein Feuerwerk in ihr entzündete. Bei der Vorstellung daran begann ihr Herz schneller zu schlagen. Sie schenkte ihm ein Lächeln und winkte ihm heimlich zu. Er nickte und winkte zwar zurück, doch irgendetwas war mit ihm. Oder hatte sie sich nur eingebildet, dass es ein gezwungenes Lächeln gewesen war? Eins, das nicht bis zu seinen Augen vordrang?

Naturgemäß dauerte es um diese Jahreszeit ziemlich lange, bis es dunkel wurde, doch endlich verschwand die Sonne hinter den Bergen. Von überallher erklang das Knallen und Böllern der Feuerwerkskörper, und am Himmel leuchteten die ersten bunten Raketen.

„Es ist schön, oder?“, sagte Muriel zu Stephen, als sie auf einem Baumstamm am Lagerfeuer saßen, das Nils für ihre Clique aufgestapelt hatte. „Nicht schlecht für eine Kleinstadt“, fügte sie neckend hinzu.

„Nicht schlecht“, stimmte er zu. Dann verstummte er und kaute nervös auf seiner Lippe herum.

„Was ist?“

„Lass uns ein Stück spazieren gehen.“ Er stand auf und streckte ihr eine Hand entgegen.

Muriel schwante nichts Gutes. Dies würde kein glücklicher, romantischer Spaziergang werden. Sie zögerte, bis schließlich Stephen nach ihrer Hand griff. Er zog Muriel hoch und führte sie fort vom Feuer.

5. KAPITEL

Sie hatten sich von den anderen entfernt. Es wäre der perfekte Moment gewesen, um sich endlich zu küssen. Stattdessen schob Stephen die Hände in die Hosentaschen.

„Was ist los?“, wollte Muriel wissen, obwohl sie die Antwort eigentlich gar nicht hören wollte. Irgendetwas war los. Das hatte sie schon den ganzen Abend gespürt. Im Grunde hatte sie es schon gewusst, seit sie Stephen am Nachmittag bei der Parade erspäht hatte. Sicher, er hatte sie angelächelt. Doch es war nicht das Lächeln eines Geliebten gewesen.

„Ich verlasse die Stadt.“

Sie blinzelte. Die Fakten waren eindeutig, aber Muriel versuchte dennoch, die Wahrheit zu ignorieren. „Für wie lange? Wann kommst du wieder?“

„Gar nicht. Es ist an der Zeit weiterzuziehen.“

„Weiterzuziehen?“, wiederholte. „Warum willst du nicht bleiben?“

Er schaute über den Park und die Stadt hinweg zum Highway. „Das funktioniert nicht.“

„Was funktioniert nicht?“, hakte sie nach. „Das mit uns?“ Das konnte er doch nicht gemeint haben.

„Muriel, du weißt genau, wovon ich rede. Ich hab doch gemerkt, wie dein Dad mich heute bei der Parade angesehen hat.“

Während sie ihm also ein aufmunterndes Lächeln gesendet hatte, war die Botschaft ihres Vaters eine ganz andere gewesen.

„Er akzeptiert mich nicht. Und das wird er auch nie tun.“

„Und deshalb verschwindest du? Einfach so? Du willst nicht mal bleiben und um mich kämpfen?“

„Pass auf, es war wirklich toll. Du bist toll. Aber ich will mich nicht einsperren lassen“, erwiderte Stephen. „Das Leben ist viel zu kurz.“

„Ich würde dich nicht einsperren“, protestierte sie. „Ich würde mit dir gehen, wohin du willst.“

„Würdest du das wirklich, Muriel?“

„Natürlich!“

„Beweis es mir. Steig aufs Motorrad und verschwinde mit mir aus der Stadt.“

„J…jetzt?“, stammelte sie. Ohne sich zu verabschieden? Das ergab keinen Sinn.

Er schüttelte den Kopf. „Das habe ich mir gedacht.“

„Du irrst dich!“

Noch einmal schüttelte er den Kopf. „Nein. Ich weiß, dass du glaubst, du würdest mir überallhin folgen. Und vielleicht würdest du das sogar eine Zeit lang tun, aber irgendwann würdest du Heimweh nach Icicle Falls bekommen.“

Frustriert biss sie die Zähne zusammen. „Ich will mit dir zusammen sein, Stephen.“

„Diese Stadt liegt dir im Blut. Sie ist dein Leben, dein Lebenszentrum. Du meine Güte, du besitzt hier sogar eine Schokoladenfabrik.“

„Die gehört mir nicht, die gehört meinem Vater.“

„Du sollst sie aber irgendwann leiten. Es ist dein Erbe.“

Sie wollte dieses Erbe nicht. Sie wollte Stephen.

„Und ein wunderbares Erbe noch dazu. Du hast echt Glück, Muriel. Du hast einen Platz auf der Welt, wo du hingehörst, Familie und Freunde, die dich lieben. Gib das nicht aus einer Laune heraus auf.“

„Glaubst du etwa, du bist für mich nur eine Laune? Ich habe in einer halben Stunde meine Sachen gepackt.“

Er schloss die Augen. Dann küsste er sie. Es war kein Kuss voller Versprechen. „Lebe wohl, Muriel“, sagte er und ging davon.

Muriel rannte ihm hinterher und griff nach seinem Arm. „Stephen, tu das nicht. Wir gehören zusammen.“

„Ach, Muriel, du bist so naiv. In Amerika sind nicht alle gleich. Ich habe nun mal den falschen Stallgeruch. Und daran wird sich in den Augen deines Dads auch nichts ändern.“

„Das stimmt nicht“, beharrte sie, obwohl sie wusste, dass er recht hatte.

Er schnaubte nur ungläubig. „Die Leute haben ihre Vorurteile, unabhängig davon, was man tut oder was passiert. Denen ist es völlig egal, dass ich meinen Arsch in Vietnam hingehalten habe. Weißt du, was mir passiert ist, als ich zurück nach Hause kam? Ich war gerade gelandet, steckte noch in meiner Uniform, als mich auf dem Flughafen irgend so ein Jugendlicher angespuckt hat. Also habe ich meine Uniform in die Ecke geschmissen und meine Haare wachsen lassen. Aber die Leute spucken mich noch immer an. Ich werde einfach weiterziehen, bis ich einen Ort gefunden habe, wo sie das nicht mehr machen.“

„Niemand spuckt dich hier an“, sagte Muriel. Er war so schrecklich empfindlich, dass er gar nicht mehr klar sehen konnte.

„Ich gehöre nicht dazu.“

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