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Schrei im Morgengrauen

hier erhältlich:

Spurlos verschwindet Kellys kleiner Sohn in der Wildnis. Eine verzweifelte Suche beginnt - zusammen mit dem Mann, der dieses Kind nie wollte: ein spannungsgeladener Roman von Linda Castillo!

Wo ist Eddie? Angst schnürt Kelly die Kehle zu. Ihr vierjähriger Sohn ist bei der gemeinsamen Wandertour in den Bergen spurlos verschwunden! Es ist Ironie des Schicksals, dass ihr nur der Mann helfen kann, der damals auf keinen Fall ein Kind haben wollte: der Leiter des Rettungsteams, ihr Ex Buzz Malone. Ihm zu gestehen, dass er einen Sohn hat, ist eine Sache. Aber sich mit Buzz durch die bedrohliche Wildnis zu kämpfen, eine andere. Kelly weiß, dass ihre einzige Chance gegenseitiges Vertrauen ist - doch was, wenn gerade dieses Gefühl endgültig erloschen scheint?


  • Erscheinungstag: 10.07.2014
  • Seitenanzahl: 304
  • ISBN/Artikelnummer: 9783956493409
  • E-Book Format: ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

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Linda Castillo

Schrei im Morgengrauen

Thriller

Aus dem Amerikanischen von Miriam Höllings

MIRA® TASCHENBUCH

MIRA® TASCHENBÜCHER

erscheinen in der Harlequin Enterprises GmbH,

Valentinskamp 24, 20354 Hamburg

Geschäftsführer: Thomas Beckmann

Copyright © 2014 by MIRA Taschenbuch
in der Harlequin Enterprises GmbH

Titel der nordamerikanischen Originalausgabe:

A Cry In The Night

Copyright © 2002 by Linda Castillo

erschienen bei: Silhouette Books, Toronto

Published by arrangement with

Harlequin Enterprises II B.V./S.àr.l

Konzeption/Reihengestaltung: fredebold&partnergmbh, Köln

Covergestaltung: pecher und soiron, Köln

Redaktion: Thorben Buttke

Titelabbildung: Thinkstock/Getty Images, München; Corbis, Düsseldorf

Autorenfoto:© Harlequin Enterprises S.A., Schweiz

ISBN eBook 978-3-95649-340-9

www.mira-taschenbuch.de

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eBook-Herstellung und Auslieferung:
readbox publishing, Dortmund
www.readbox.net

1. KAPITEL

Kelly Malone wusste, dass sie nicht in Panik verfallen durfte. Auch wenn sie spüren konnte, wie sich die eisige Klaue der Angst um ihren Brustkorb legte. Sie musste dagegen ankämpfen.

Panik brachte selbst kluge Menschen dazu, dumme Dinge zu tun. Dumme Dinge, die unweigerlich zu Fehlern führten. Und sie konnte sich keinen Fehler leisten. Nicht, wenn das Leben ihres Sohnes auf dem Spiel stand.

Sie hielt das Lenkrad so fest umklammert, dass ihre Knöchel weiß hervortraten. Das Gaspedal bis zum Anschlag durchgetreten, starrte sie in den dunklen Abgrund vor sich.

Weniger als zwanzig Meilen von hier, am östlichen Rand dieses rauen, aber wunderschönen Landstrichs, war sie aufgewachsen. Seit einunddreißig Jahren war der White River National Forest ihr Zuhause. Ihr Vater war Feuerspringer gewesen, ihre Mutter Rangerin. Kelly kannte diesen Wald wie ihre Westentasche, und sie hatte großen Respekt vor der unberechenbaren und launischen Natur. Sie kannte und liebte die Menschen, die hier lebten. Sie wusste von etwa einem Dutzend Kinder, die in den letzten Jahren hier als vermisst gemeldet worden waren. Bei einigen hatte sie sich sogar selbst an der Suche beteiligt. Und sie wusste auch, dass die meisten Kinder heil und unversehrt wieder aufgefunden wurden.

Doch keines dieser Kinder war ihr eigenes gewesen.

Ein Gedanke, der die Angst erneut in ihr heraufbeschwor, wie eine Schlange, die sich durch ihre Eingeweide wandte und dabei nervös mit dem Schwanz schlug.

„Ihm wird nichts passieren“, flüsterte sie beschwörend. „Es wird alles gut.“

Kelly wusste zwar, dass es wichtig war, auch in einer Situation, die wie diese bereits außer Kontrolle geraten war, ruhig und gelassen zu bleiben. Doch der Mutter in ihr war das völlig egal.

Ihr Kind wurde vermisst.

Es war ihre Schuld.

Und es gab nur einen Mann auf der ganzen Welt, dem sie zutraute, es zu finden und zu ihr zurückzubringen. Es war der Mann, den sie einst von ganzem Herzen geliebt hatte. Der Mann, den sie so schrecklich verletzte. Der Mann, dessen Leben sie schon bald für immer ändern würde.

Eine erneute Welle der Panik überkam sie, schnürte ihr die Luft ab, presste auch das letzte bisschen Gelassenheit aus ihrem Körper. Adrenalin strömte durch ihre Adern und setzte ihre Nervenenden in Brand.

Sie verspürte den Impuls, der herannahenden Hysterie einfach nachzugeben. Aber sie wusste, sobald sie den ersten Schritt in dieses Schattenreich gesetzt hatte, würde sie nie wieder hinausfinden.

Die Kegel ihrer Scheinwerfer schnitten durch die schwärzeste Nacht, die sie je gesehen hatte. Trotzdem drosselte sie das Tempo nicht. Wie eine Wahnsinnige und ohne auch nur einen Gedanken an ihre eigene Sicherheit zu verschwenden, raste sie durch die pechschwarze Dunkelheit, fest entschlossen, das Wertvollste, was sie hatte, zu beschützen.

Die Nacht war sehr mild – was in den Colorado Rockies nicht selbstverständlich war, da die Temperaturen hier selbst im Juli oft noch gewaltig schwankten – dennoch war ihr kalt. Es war eine innere Kälte, als fließe Eis anstelle von Blut durch ihre Adern.

Sie würde es sich niemals verzeihen, wenn ihrem kleinen Jungen etwas Schreckliches zustoßen würde.

Der Wind rüttelte bedrohlich an ihrem Wagen. Wie ein Spielzeugauto trieb er es von einer Seite der Straße zur anderen. Bremsend ging sie in eine Kurve, die für die hohe Geschwindigkeit viel zu gefährlich war. Die Reifen quietschten. Im Westen zuckten Blitze über den Himmel und zeichneten ein Muster, das an Risse in gesprungenem Kristall erinnerte. Knochige Bäume und Felsen, so groß wie Dinosaurier, wurden in helles Licht getaucht.

Irgendwo da draußen in der Kälte kauerte ihr Kind. Allein und verängstigt. Kelly unterdrückte ein Schluchzen. Eddie hatte sich noch nie vor der Dunkelheit gefürchtet, aber vor Gewitter. Sie spürte, wie die eiserne Faust ihre Rippen durchbrach und ihr Herz so fest umklammerte, dass es ihr den Atem nahm.

Fast hätte sie den schmalen Weg verpasst, der in den Wald führte.

Kelly trat so hart auf die Bremse, dass der Wagen ins Schlingern geriet. Sie riss das Lenkrad weit nach rechts, um den Wagen wieder unter Kontrolle zu bekommen. Schotter wirbelte hinter ihr hoch, als sie mit heulendem Motor in Richtung Hütte schoss. Sie war sich nicht einmal sicher, ob sie hier überhaupt richtig war. Beinahe fünf Jahre war es her, dass sie das letzte Mal da gewesen war. Damals war die Hütte noch unbewohnbar gewesen. Über mehrere Ecken hatte sie erfahren, dass er sie renoviert hatte.

Wie eine Boje auf stürmischer See tauchte die Verandabeleuchtung vor ihr auf. Sie hatte die Hütte anders in Erinnerung, aber den alten Geländewagen erkannte sie sofort wieder. Erleichtert atmete sie aus. Es war ein merkwürdiges, beinahe animalisch anmutendes Geräusch, das durch die Stille ihres Wagens hallte. Schlitternd brachte sie den Wagen nur wenige Meter vor der Veranda zum Stehen. Dann rammte sie den Schalthebel des Automatikgetriebes in die Parkposition, riss die Tür auf und rannte los.

Der Himmel über ihr schien zu explodieren. Blitze spannten sich über das Schwarz wie ein Netz aus weißen Kapillaren. Es roch nach Regen. Wind trieb Kelly den Staub in die Augen, als sie zu der Hütte rannte.

Bitte, lieber Gott, lass ihn zu Hause sein.

Verzweifelt klammerte sie sich an diesen Gedanken, während sie die Verandastufen mit zwei großen Schritten hinter sich ließ und mit der flachen Hand fest gegen die Holztür schlug. Einmal. Zweimal.

„Buzz! Hilf mir! Buzz, bitte!“ Sie erkannte ihre eigene Stimme kaum wieder.

Im hinteren Teil der Hütte ging ein Licht an und erleuchtete schwach das Fenster zur Terrasse. Die Sekunden kamen Kelly vor wie eine Ewigkeit, das Herz schlug ihr bis zum Hals.

Einen Augenblick später öffnete sich die Tür und gab den Blick auf ein Paar schiefergraue Augen, eine breite, mit dunklen Haaren bedeckte Brust und eine eng anliegende ausgewaschene Jeans frei, in der muskulöse Oberschenkel steckten.

Ein Anblick, der trotz aller Furcht und Verzweiflung sehr beeindruckend war und einen recht schnell aus der Fassung bringen konnte, wenn man nicht darauf vorbereitet war.

Doch was Buzz Malone anging, war Kelly vorbereitet.

Sie schob sich an ihm vorbei in den Flur. Am ganzen Körper zitternd und so aufgelöst, wie sie war, fühlte sie sich in seiner sauberen und aufgeräumten Hütte ziemlich fehl am Platz. Wie musste sie erst auf ihn wirken? Einen Mann, der immer alles unter Kontrolle hatte?

Kelly atmete zur Beruhigung einmal tief durch, dann drehte sie sich um und sah ihm in die Augen. Geballte ein Meter und achtzig männlicher Stolz und eine der komplexesten – und schwierigsten – Persönlichkeiten, der sie jemals begegnet war, standen vor ihr. Seine grauen Augen waren wie ein Hauch von Eis, doch hinter der eisernen Selbstbeherrschung, für die sie beide während ihrer Ehe so bitter bezahlt hatten, verbargen sich Überraschung und Besorgnis.

„Ich stecke in Schwierigkeiten. Ich … ich brauche deine Hilfe“, stieß sie abgehackt und atemlos hervor. „Bitte, du musst mir helfen.“

Er zog die Augenbrauen zusammen, als hätte sie gerade eine völlig unmögliche Forderung an ihn gestellt. Dann machte er einen Schritt auf sie zu, ohne sie jedoch zu berühren. „Du blutest. Bist du verletzt?“

Sie hatte die Wunde an ihrer Stirn ganz vergessen. Sie schüttelte den Kopf. „Mir geht es gut. Aber ein Kind … es wird vermisst. Eddie. Wir … wir hatten ein Familientreffen auf dem Zeltplatz. Wir waren wandern, und ich bin gestürzt …“

„Beruhige dich, Kelly. Erzähl mir, was passiert ist.“

Mit der unpersönlichen Geste des Cops, der er einst gewesen war, nahm Buzz ihren Arm und führte sie zum Küchentisch. „Wer ist Eddie?“

Kelly sank auf den Stuhl und legte die Hände flach vor sich auf den Tisch, in der Hoffnung, so das unkontrollierbare Zittern in den Griff zu bekommen. „Eddie …“ Sie schloss die Augen zu einem stillen, innigen Gebet. „Er ist mein Sohn. Und er hat sich im Wald verirrt. Die Ranger suchen bereits nach ihm. Sie haben einen Suchtrupp aus Boulder losgeschickt. Aber das ist jetzt schon vier Stunden her, und sie haben ihn immer noch nicht gefunden. Du musst ihnen helfen. Wenn jemand ihn finden kann, dann du.“

Wenn die Information für ihn neu war, dass sie Seinen Sohn hatte, ließ er es sich nicht anmerken. „Wo wurde er das letzte Mal gesehen?“

„Auf dem Wanderweg im Osten. Ich bin ausgerutscht und hab mir den Kopf gestoßen. Dann muss ich bewusstlos geworden sein. Ich weiß nicht, wie lange, aber als ich wieder zu mir kam, war er weg. Ich habe nach ihm gerufen und habe die ganze Gegend abgesucht, aber …“ Der Schrecken der Erinnerung packte sie und schüttelte sie so fest durch, dass sie Sterne sah. „Er ist so ein tapferer kleiner Kerl. Vermutlich wollte er Hilfe holen.“

„Wie lange warst du bewusstlos?“

„Ich weiß es nicht. Vielleicht zehn Minuten.“

„Und du hast sofort an Ort und Stelle nach ihm gesucht? In zehn Minuten kann er nicht weit gekommen sein.“

„Ich habe sofort die ganze Gegend abgesucht und nach ihm gerufen. Dann hab ich mit meinem Handy die Rangerstation angerufen. Ich bin in der Nähe der Stelle geblieben, wo ich gestürzt bin. Über eine Stunde lang habe ich nach ihm gesucht. Als die Ranger kamen, bin ich zurück zum Zeltplatz, um meine Schwester und die Familie ihres Mannes zu informieren. Sie haben sofort die Suche aufgenommen. Dann bin ich zur Rangerstation gefahren. Dort haben sie den Suchtrupp ‚Boulder Eins‘ angefordert.“

„Boulder Eins ist gut.“

„Nicht so gut wie du.“

Buzz seufzte. „Das Team ist noch ziemlich neu. Und sie haben keine Nachtsichtgeräte.“

„Aber du hast eins.“

„Wie alt ist er?“

Kelly schloss kurz die Augen, sah dann Buzz an. „Er ist vier Jahre alt.“

Es war das erste Mal, dass sie sah, wie Buzz Malone, der coole Excop, der mit allen Wassern gewaschen war und seine Gefühle niemals zeigte, blass wurde. Die Blässe zog sich hinunter bis zu seinem kantigen Kinn. Er wich zurück und starrte sie an. In der Tiefe seiner Augen sah sie die Fragen, das Funkeln eines Verdachts, und schließlich die ihm dämmernde Erkenntnis.

Kelly wünschte sich, sie hätte es nicht mit ansehen müssen.

Buzz war kein emotionaler Mensch. Das hatte sie bereits während ihrer Ehe in den Wahnsinn getrieben. Es war allerdings schon eine bemerkenswerte Leistung, so abgeklärt und distanziert zu sein wie er. „Kühl“ war sein zweiter Vorname. Hätte sie ihn nicht so gut gekannt, wäre ihr sicherlich verborgen geblieben, wie sich seine Kiefermuskulatur anspannte. Auch der Schock, der in seinen stählernen Augen aufblitzte, entging ihr nicht. Doch weil sie ihn kannte, ihn sogar einmal geliebt hatte, sah sie all diese Dinge. Angst stieg in ihr auf, so groß und erdrückend, dass es sie beinahe in die Knie zwang.

„Was zum Teufel erzählst du mir da?“, fuhr er sie an.

Kellys Puls hämmerte in der Lautstärke eines Güterzugs. Blut rauschte in ihren Ohren und mischte sich mit dem Donnergrollen der Nacht. Nur mit Mühe und Not gelang es ihr, seinem Blick standzuhalten. „Er ist dein Sohn, Buzz.“

Buzz Malone starrte sie an. „Ich habe keinen Sohn.“ Kelly starrte zurück. Tausend Worte gingen ihr durch den Kopf, tausend Gefühle, die drohten, ihr Herz zu zerreißen. Es tut mir leid. Ich wollte es dir sagen. Mehr als hundertmal habe ich zum Hörer gegriffen. Du hast uns beide nie gewollt.

Aber nichts davon war angemessen. Es war zu spät. Sie konnte es nicht mehr rückgängig machen. Und sie wusste, dass es noch schlimmer werden würde. „Es tut mir leid“, flüsterte sie.

Unglauben mischte sich in seinen Blick und ein Schmerz, der so pur war, dass ihr der bloße Anblick selbst wehtat.

Doch weder hatte sie die Zeit zu klagen, noch hatte er die Zeit verletzt zu sein. Nicht heute Nacht. Jetzt zählte nur eins: dass sie ihren Sohn zurückbekam. Alles andere musste warten, bis sie ihn gefunden hatten.

Es spielte keine Rolle, dass ihr Exmann ihr niemals verzeihen würde. Dass sowohl sein als auch ihr Leben nie mehr so sein würde wie vorher. Oder dass die Wahrheit ihr Leben erneut in Stücke reißen würde. Während der ersten Stunde ihrer verzweifelten Suche nach ihrem Sohn war Kelly klar geworden, dass sie alles aufgeben würde, nur um ihn wiederzufinden. Und das beinhaltete ihren eigenen Seelenfrieden ebenso wie die Zukunft, an der sie seit der Trennung von Buzz gearbeitet hatte.

Nur vage hörte sie ihn fluchen. Das Rauschen in ihren Ohren war zu einem lauten Dröhnen geworden, und um sie herum schien es langsam dunkler zu werden. Offenbar war ihr überlastetes Gehirn kurz davor, sich einfach abzuschalten. Und auch ihr Herz konnte unmöglich die wahnsinnige Geschwindigkeit aufrechterhalten, mit der es schlug. Es wäre das erste Mal, doch sie befürchtete ernsthaft, dass sie jeden Augenblick ohnmächtig vor seinen Füßen zusammenbrechen würde.

Doch stattdessen straffte sie die Schultern, blickte ihm fest in die Augen und sagte: „Eddie ist dein Sohn. Es tut mir leid, dass du es auf diese Art und Weise erfährst. Aber ich brauche deine Hilfe, ihn zu finden. Und zwar sofort.“

Buzz Malone war fünfzehn Jahre alt gewesen, als er während eines Sommergewitters vom Blitz getroffen wurde. Gerade noch hatte er auf einem Felsvorsprung mit Blick auf den Pike National Forest gestanden, da lag er auch schon völlig orientierungslos und verwirrt mit Verbrennungen zweiten Grades an Armen und Beinen auf dem Boden.

Die Ärzte sagten, es sei ein Wunder gewesen, dass er überlebt habe.

Buzz fragte sich, wie hoch die Chancen waren, so eine Tortur ein zweites Mal zu überleben. Denn genauso fühlte er sich: wie vom Blitz getroffen.

Ihre Worte hallten in seinen Ohren wie ein Donnerschlag. Hart. Gefährlich. Vernichtend. Er wollte es nicht wahrhaben. Wollte der Wut, die in ihm kochte, Luft machen. Doch zum ersten Mal in seinem Leben war er sprachlos. Er starrte die Frau an, die er drei Jahre lang über alles geliebt hatte, und die er in den Jahren danach verzweifelt versucht hatte zu vergessen. Die Welt begann, unter seinen Füßen zu schwanken.

„Wovon redest du da?“, fragte er schroff, obwohl er die Antwort längst kannte. Wenn das Kind vier Jahre alt war, gab es keinen Zweifel an seiner Vaterschaft. Auch wenn Kelly nicht in der Lage gewesen war, mit ihm zusammenzuleben, war sie ihm immer treu gewesen. Es hatte niemand anderen gegeben. Nicht für sie. Und ganz sicher nicht für Buzz.

Kelly sah auf ihre Hände hinunter, die sie nervös in ihrem Schoß ineinander verschränkt hatte, und biss sich auf die Unterlippe. Das hatte sie schon immer getan, wenn sie aufgeregt war oder in Schwierigkeiten gesteckt hatte. Und es sah ganz danach aus, als würde beides auf diese Unterhaltung zutreffen.

„Es tut mir leid, dass ich es dir nicht gesagt habe. Ich war damals … ich habe es nicht fertiggebracht“, sagte sie.

„Dass du mir was nicht gesagt hast?“ Er wusste ganz genau, was sie meinte, doch ebenso, wie sein Verstand sich weigerte, es zu glauben, war sein Mund unfähig, es laut auszusprechen. Er wollte es einfach nicht hören. Doch besser als jeder andere wusste er, wie vergebens Wünsche sein konnten.

Wie in Gottes Namen hatte sie so etwas tun können?

„Ich wollte es dir so oft sagen“, setzte sie an. „Aber ich dachte, dass du es nicht wissen willst.“

Langsam drehte er sich zu ihr um. „Du hast mir meinen Sohn verschwiegen.“

„Ich wollte dich nicht verletzen.“

„Verletzen ist nicht das richtige Wort.“

„Oh, ich vergaß“, sagte sie mit erstickter Stimme. „Buzz Malone kann man nicht verletzen, so wie uns Normalsterbliche …“

„Du hast mir vier Jahre meines Lebens mit meinem Sohn genommen. Ich bin viel zu wütend, um verletzt zu sein.“

„Du hast nie ein Geheimnis daraus gemacht, dass du keine Kinder willst, dass du mich nicht willst.“

Er stieß einen üblen Fluch aus, dann wandte er sich von ihr ab und starrte blind in die Küche. Sein Herz wütete wie ein Querschläger in seiner Brust.

„Wage es ja nicht, mir den Rücken zuzukehren“, sagte sie. „Nicht jetzt.“

Noch immer zutiefst getroffen, biss er die Zähne zusammen. „Du hattest kein Recht, mich anzulügen.“

„Ich habe nicht gelogen.“

„Spar dir die Spitzfindigkeiten. Du hast es mir verschwiegen und damit die Wahrheit von mir ferngehalten.“

„Du hast deine Wahl schon damals während unserer Ehe getroffen. Ich habe es dir nur leichter gemacht zu gehen.“

„Du warst diejenige, die gegangen ist.“ Doch ihn traf genauso viel Schuld. Er hatte einfach zugesehen und nicht das Geringste unternommen, um sie aufzuhalten. Tränen schimmerten in ihren Augen, als sie zu ihm aufsah.

„Ich kann jetzt nicht darüber diskutieren. Ich kann einfach nicht. Bitte, Buzz, ich flehe dich an. Um Himmels willen … hilf mir, ihn zu finden.“

Das Bedürfnis, jedes noch so kleine Detail über seinen Sohn zu erfahren, war so groß, dass es beinahe schmerzte. Doch sie hatte recht. Die Wildnis der Berge war kein guter Ort für einen kleinen Jungen.

„Okay“, hörte er sich sagen. „Ist ja gut. Ich werde ihn finden. Ich muss ein paar Telefonate führen. Gib mir eine Minute, mich anzuziehen.“ Eine Minute, um seine Gefühle wieder in den Griff zu bekommen.

Ihre Offenbarung würde sein Leben für immer verändern, das wusste er. Und am Ende würde er auf eine Art und Weise verletzt werden, die er sich nicht einmal vorstellen konnte. Genau so, wie er es niemals gewollt hatte. Ein Zittern ging durch seinen Körper und breitete sich von seinen Händen langsam in Arme und Beine aus. Eine Mischung aus Schock, Unglauben und das Gefühl, verraten worden zu sein, erhob sich in seinem Inneren, wie eine fauchende Raubkatze, die unsanft aus einem tiefen Schlaf geweckt worden war und ihre tödlichen Reißzähne bleckte. Wut stieg in ihm auf, so glühend heiß, dass er für einen kurzen Augenblick fürchtete, die Kontrolle über sich zu verlieren.

Doch Buzz hatte keine Zeit dafür, sich verraten zu fühlen oder die aufkeimende Wut in seinem Inneren zuzulassen. Er hatte keine Zeit, auch nur irgendetwas zu fühlen. Entschlossen schob er die tausend Fragen, die ihm durch den Kopf schossen, beiseite. Kelly konnte ihm auch später noch Rede und Antwort stehen. Aber im Moment war ein Leben in Gefahr. Und er hatte die feste Absicht, es zu retten.

„Ich will ihn sehen“, sagte er.

Sie blinzelte ihn an. „Was?“

„Ein Foto.“ Tränen schimmerten in ihren Augen, doch er weigerte sich, Mitgefühl für sie zu empfinden. Oder irgendetwas anderes. Das Risiko, von seinen Gefühlen überwältigt zu werden, war einfach zu groß. „Hast du ein Foto?“

Sie senkte den Kopf und öffnete ihre Handtasche. Verzweifelt kramte sie darin herum, bis sie einen Augenblick später ein kleines farbiges Porträtfoto hervorholte.

„Es wurde vor ein paar Monaten aufgenommen.“

Buzz starrte auf das Foto. Das Blut rauschte in seinen Ohren, und eine Mischung aus Wut und Schmerz flackerte in ihm auf, als er den kleinen Jungen mit den Sommersprossen und dem dunkelbraunen Haar sah. Er hatte ein verschmitztes, etwas schiefes Lächeln und ein Grübchen auf der linken Wange. Buzz sah die unschuldigen Kinderaugen und versuchte, nicht an all die schrecklichen Gefahren zu denken, die einem Kind bei Nacht allein in den Bergen drohten – oder in einer Welt, die keine Gnade mit den Unschuldigen kannte.

Verdammt, die Sache ging ihm mehr zu Herzen, als ihm lieb war. Oder als es vernünftig war. Er riss seinen Blick von dem Foto los und wandte sich ab, damit Kelly die Emotionen, die ihm sicherlich deutlich ins Gesicht geschrieben standen, nicht sah. „Später will ich ein paar Antworten“, sagte er. „Du schuldest mir eine Erklärung.“

„Ich weiß, ich weiß. Aber … zuerst müssen wir ihn finden.“

Ohne sie anzusehen, griff er nach dem Telefon. Seine Finger zitterten, als er die Nummer der Bergrettung wählte. Bereits nach dem ersten Klingeln wurde abgehoben.

„Rocky Mountain Search and Rescue, John Maitland.“

Als Buzz seinen Namen nannte, klang seine Stimme merkwürdig ruhig. Er hörte heiseres Lachen und laute Musik im Hintergrund. Vertraute Geräusche, die ihm das dringend benötigte Gefühl der Kontrolle zurückgaben, an das er sich mit aller Macht klammerte.

„Wir haben einen Einsatz. Höchste Alarmstufe. Ich will, dass sich alle in Bereitschaft befindlichen Kräfte zum Ausrücken fertig machen. Ich bin auf dem Weg. Voraussichtliches Eintreffen in zehn Minuten.“

„Ich werde das Team alarmieren.“ John zögerte, als spürte er, dass etwas nicht in Ordnung war. „Was ist los?“

„Ein vermisster Junge am White River. Vier Jahre alt. Ich komme auf meinem Weg zur Rangerstation in der Zentrale vorbei.“

„White River? Ich habe den Notruf per Funk gehört. Liegt das nicht außerhalb unseres Zuständigkeitsbereichs? Boulder Eins hat bereits …“

„Ich pfeife auf die Zuständigkeit“, fuhr Buzz ihn an. „Es ist ein Notfall. Tu, was ich gesagt habe.“

„In Ordnung.“

Für einen kurzen Moment herrschte Schweigen.

„Ich will den Hubschrauber startbereit. Und ein Luftrettungsteam. Wetterprognosen. Nachtsichtgeräte. Und schick jemanden mit einer Karte vom Gelände zur Rangerstation. Jake Madigan soll sich mit einem Dutzend Freiwillige für die Rastersuche zu Pferd bereit machen. Und es ist mir scheißegal, wie viele Gefallen dich das kostet. Hol mir die Leute ran. Hast du verstanden?“

„Klar und deutlich.“

Buzz knallte den Hörer auf, drehte sich um und sah Kelly an. Sie starrte zurück. Ihr Gesicht war aschfahl, und die Abdrücke ihrer Zähne zeichneten sich auf ihrer Unterlippe ab. Zum ersten Mal bemerkte Buzz den Bluterguss, der sich unter der Verletzung an ihrer Schläfe bildete. Das Blut war inzwischen getrocknet, doch die Wunde musste gesäubert und verbunden werden.

„Du solltest ins Krankenhaus fahren. Vielleicht hast du eine Gehirnerschütterung.“

„Nein.“

„Ich kann dich nach Lake County bringen …“

„Ich werde nicht ins Krankenhaus fahren. Nicht, wenn Eddie ganz allein da draußen ist. Wahrscheinlich hat er Angst und Hunger und ihm ist kalt … oh Gott!“

Er sah die Furcht in ihren Augen und den Schmerz in ihrem Herzen. Und auch er spürte die Angst mit solcher Kraft in seiner Brust aufsteigen, dass es ihm beinah das Atmen unmöglich machte. „Es ist erst vier Stunden her. Wir werden ihn finden. Ihm wird nichts zustoßen.“

Er war sich dessen nicht wirklich sicher, doch er weigerte sich, weiter in diese Richtung zu denken. Stattdessen griff er zum Telefon. „Ich werde den Sheriff von Chaffee County anrufen und dafür sorgen, dass er seine Fährtenhunde mitbringt. Hast du etwas, das nach dem Jungen riecht?“

„Die Socken, die er gestern auf dem Zeltplatz getragen hat.“

„Das wird gehen.“ Nachdem Buzz im Büro des Sheriffs angerufen hatte, rief er die Rangerstation am White River an, wo die Suche bereits im vollen Gang war, und teilte mit, dass er innerhalb der nächsten halben Stunde dort eintreffen würde.

„Er ist noch so klein, Buzz. Er ist so süß und schlau und …“ Abrupt stand sie auf, wandte sich ab und verbarg ihr Gesicht in den Händen. „Ich halte diese Ungewissheit nicht länger aus. Ich muss ihn finden. Ich muss los …“

„Du musst dich beruhigen und einen klaren Kopf behalten, Kel.“

„Das versuche ich ja, verdammt. Aber ich … ich habe Angst.“

„Ich weiß.“

Verstört sah sie ihn an. „Es tut mir leid, dass du es auf diese Weise erfahren hast, Buzz. Aber ich wusste nicht, zu wem ich sonst hätte gehen sollen.“ Sie bedeckte den Mund mit ihrer zitternden Hand. „Ich weiß, dass wir eine Menge Dinge klären müssen. Aber im Moment möchte ich einfach nur meinen Jungen zurück.“

Buzz hörte die Worte kaum, so laut schlug sein Herz. Er versuchte, all das, was sie ihm erzählt hatte, in sich aufzunehmen und zu verarbeiten. Doch es war viel zu überwältigend, viel zu bedeutend, als dass er die Tragweite wirklich hätte erfassen können.

Buzz sah hinunter auf seine Hand, die noch immer heftig zitternd das Telefon umklammert hielt. Dann sah er seine Exfrau an. Sie war eine starke Frau, die wusste, was sie wollte, und in der Regel auch keine Hemmungen hatte, es zu sagen. Das war eine der Eigenschaften, die er schon immer an ihr geliebt hatte. Doch heute Nacht schien nicht mehr viel davon übrig zu sein. Sie sah niedergeschlagen aus. Schrecken und Schuld spiegelten sich in ihren kaffeebraunen Augen wider. Und so stark, wie sie zitterte, würde sie jeden Augenblick vor seinen Füßen zusammenbrechen. Das musste er unbedingt verhindern. Er stand auf, ging zu ihr und legte ihr die Hände auf die Schultern. „Setz dich, bevor du umfällst. Ich werde mich jetzt anziehen und meine Ausrüstung einpacken.“

„Ich will mich nicht hinsetzen. Ich kann nicht bleiben. Ich muss zurück zur Rangerstation …“

„Ich komme mit dir, und du wirst auf mich warten.“ Er führte sie zu einem Stuhl. „Setz dich hin.“

„Musst du nicht in die Zentrale, um dein Team für den Einsatz fertig zu machen?“

„Sie sind schon bereit. Wir beide machen auf dem Weg zur Rangerstation einen kleinen Zwischenstopp bei der Bergrettung.“ Buzz bemerkte, dass ihre Zähne klapperten, und runzelte die Stirn. Ihre Schultern zitterten unter seinen Händen. „Setzt dich hin und reiß dich zusammen. Ich brauche nur fünf Minuten.“ Sie sah ihn an, als sei die Idee, sich in einer Situation wie dieser hinzusetzen, so abwegig, dass allein schon der Gedanke daran sie hinderte, es zu tun.

„Wir werden ihn finden“, versprach er, während er sie auf den Stuhl drückte.

Ihre Schultern fühlten sich zerbrechlich an unter seinen Händen. Doch Buzz wusste, dass sie alles andere als zerbrechlich war. Sie mochte zwar selbst komplett angezogen und durchnässt nicht mehr als 50 Kilo wiegen, doch sie hatte die Entschlossenheit eines Footballspielers. Damit hatte sie ihn schon mehrfach überrumpelt, und er hatte schnell gelernt, dass Größe nicht immer entscheidend war.

„Er hatte kein Abendbrot“, sagte sie heiser.

„Hat er was zu essen dabei?“

„Nur ein paar Snacks in seinem Rucksack. Rosinen und ein Erdnussbutter-Sandwich. Ein paar Kekse. Eine kleine Tüte mit Saft.“

„Sonst noch was?“ Buzz zog ein Flanellhemd von der Stuhllehne und zog es über, bevor er in seine Wanderstiefel stieg.

„Eine Taschenlampe. Und Bunky, seinen Teddybären.“

„Das ist gut. Eine Jacke?“

„Ja, aber sie ist nicht wasserdicht.“

„Es wird nicht regnen. Es zieht eine weitere Trockenfront auf.“

Es donnerte, und Kelly zuckte zusammen. „Er hat Angst vor Gewitter.“

Buzz versuchte, klar zu denken, wie der Cop von damals – oder wie der Rettungsprofi von heute. Doch dazu war er definitiv nicht in der Lage. Zu viele Gefühle hatten sich in ihm aufgestaut und hinderten ihn daran. Es war unglaublich, wie schwer es ihm fiel, die Lage in den Griff zu bekommen. Er konnte kaum einen zusammenhängenden Gedanken fassen, geschweige denn, etwas planen.

Als Buzz seine Jacke vom Sofa nahm und sich umdrehte, um die Tasche mit der Ausrüstung zu nehmen, wäre er beinahe mit Kelly zusammengestoßen. Er hatte nicht bemerkt, dass sie aufgestanden war. Der plötzliche Kontakt ließ ihn innehalten und versetzte ihm einen erneuten Schlag. Einen Augenblick lang war sie so nah, dass er ihren Duft riechen konnte. Die Mischung aus Zitrone, Natur und der mysteriösen Essenz der Frauen, war so vertraut, dass er beinah die Fassung verlor. Doch das würde er nicht zulassen. Nicht, wenn sie so verängstigt war und seine eigene Welt komplett auf dem Kopf stand. Nicht, wenn das unschuldige Leben eines Kindes auf dem Spiel stand. Doch als er tief einatmete, betäubte der Duft seine Sinne und weckte Erinnerungen, die äußerst unwillkommen waren.

Sich mit aller Kraft gegen den Sog dieser Erinnerungen stemmend, wandte er sich abrupt ab und ging zur Tür. In seinem Kopf drehte sich alles. Nicht nur, weil er gerade erfahren hatte, dass er einen Sohn hatte, dessen Leben in Gefahr war, sondern auch, weil seine Exfrau offenbar selbst fast fünf Jahre nach der Scheidung noch so stark auf ihn wirkte, dass es ihn mühelos erzittern ließ – innerlich wie äußerlich.

2. KAPITEL

Auf der Fahrt zur Bergrettungsstation herrschte angespanntes Schweigen. Sekunden verstrichen wie die Schläge einer Totenglocke. Als ehemaliger Cop hatte Buzz schon oft schwierige Situationen meistern müssen. Vor fünf Jahren war er dem Tod nur um Haaresbreite entkommen. Wie aus dem Nichts war der Sechzehnjährige damals vor ihm aufgetaucht und hatte ihm eine Kugel in die Wirbelsäule gejagt. Doch selbst während dieses schrecklichen Vorfalls, als ihm klar wurde, dass er ernsthaft, vielleicht sogar tödlich verletzt war, hatte er nicht solche Angst gehabt wie in dieser Nacht.

Kellys Neuigkeiten hatten ihn zutiefst erschüttert. Und auch wenn Buzz nie Kinder gewollt hatte, würde er alles in seiner Macht Stehende tun, um seinen Sohn zu beschützen und ihn heil wieder nach Hause zu bringen.

Damals, als sie noch mit ihm verheiratet gewesen war, hatte Kelly sich Kinder gewünscht. Ob Junge oder Mädchen war ihr egal gewesen. Doch Buzz kannte die Schattenseiten des Lebens zu gut, um ein unschuldiges Kind in diese Welt setzen zu wollen. Seine eigene Kindheit war ein Albtraum gewesen. Die Vernachlässigung und die subtilen, psychischen Grausamkeiten hatte er überlebt, aber er war sich schon in sehr jungen Jahren darüber klar geworden, dass er selbst niemals Kinder haben wollte. Und die vier Jahre als Detective bei der Polizei in Denver in der Abteilung für Kindesmisshandlung hatten seinen Entschluss bekräftigt. Während der drei Jahre ihrer Ehe hatte er versucht, Kelly seinen Standpunkt deutlich zu machen, doch es war ein ewiger Streitpunkt zwischen ihnen geblieben. Kelly würde es nicht zugeben, aber Buzz war fest davon überzeugt, dass es einer der Gründe war, warum ihre Ehe gescheitert war.

Mein Gott, das Ganze traf ihn wirklich aus heiterem Himmel.

Als er in die Auffahrt bog, lag die Zentrale der Bergrettung hell erleuchtet wie ein Fußballstadion vor ihnen. Er machte sich nicht die Mühe, auf seinem angestammten Parkplatz etwas abseits zu parken, sondern fuhr mit dem Geländewagen über das Gras. Nur wenige Meter vor dem Haupteingang hielt er an. Noch bevor der Wagen richtig stand, hatte Kelly die Tür geöffnet.

Es musste die Hölle für sie sein. Auch wenn er noch immer eine unglaubliche Wut auf sie hatte, wünschte er den Schmerz, den sie empfinden musste, nicht einmal seinem schlimmsten Feind. Er kannte seinen Sohn nicht einmal, aber in dem Augenblick, als er von ihm erfahren hatte, war sofort eine Beziehung da gewesen. Eine instinktive, ursprüngliche Verbindung, die tief in Buzz’ Innerstes reichte, bis an einen Ort, den er nie zu erkunden gewagt hatte.

Buzz war als Erster am Eingang und stieß mit beiden Händen fest gegen die Tür. Mit einem lauten Knall flog sie auf. Aaron „Dispatcher“ Henderson saß in der Funkzentrale. Buzz tauschte einen Blick mit ihm und sah die Besorgnis in den Augen des jungen Mannes. Keiner der beiden sprach ein Wort, als Buzz zu ihm stürmte. Buzz konnte sich vorstellen, was für ein Bild er abgab. Zu seinen Zeiten als Cop hatten die Kollegen ihm oft im Scherz gesagt, dass er aussah wie ein Wahnsinniger, wenn er wütend oder sehr auf einen Fall konzentriert war. Doch heute Nacht sah er vermutlich Furcht einflößend aus.

Seine schweren Stiefel polterten laut auf den Holzdielen, als er den Flur entlanglief. Er hörte Kelly hinter sich, ohne jedoch seine Schritte zu verlangsamen. In der Küche brannte noch Licht. Bestimmt hatten sich seine Männer dort versammelt und warteten auf ihn. Als die Jacke, die er während des Gehens abgestreift und in Richtung Garderobe geworfen hatte, zu Boden fiel, ließ er sie einfach liegen.

Buzz betrat die Küche und blieb stehen. Vier aufmerksame Augenpaare richteten sich auf ihn. Blicke wanderten zu der Frau hinter ihm und wieder zurück. Die Fragen standen den Männern deutlich ins Gesicht geschrieben, doch Buzz hatte nicht vor, sie zu beantworten. Nicht heute Nacht. Nicht, bevor sie seinen Sohn gefunden hatten.

An der Stirnseite des Raumes stand Rettungsassistent John Maitland in einem leuchtend orangefarbenen Anzug. Neben ihm stand Tony „Flyboy“ Colorosa, ebenfalls bereits in seinen Fliegeroverall gekleidet, und war dabei, eine topografische Karte des Waldgebietes von White River auf einer Staffelei anzubringen. Jake Madigan und Sanitäter Pete Scully, die sich gerade über die Karte gebeugt hatten, drehten ihre Köpfe zu Buzz und sahen ihn an, als hätte er sich von einem fremden Planeten zu ihnen gebeamt.

Nur am Rande fiel Buzz auf, wie schwer er atmete und dass ihm das Hemd am Rücken klebte. Und er fragte sich, ob auch die anderen hören konnten, dass sein Herz wie ein Presslufthammer schlug.

„Das Luftrettungsteam und die Nachtsichtgeräte sind einsatzbereit“, sagte John.

„Der Hubschrauber steht bereit“, fügte Tony hinzu.

Buzz schuldete den Männern eine Erklärung. Er riss sich zusammen und ging zur Stirnseite des Raumes. „Setzt euch“, sagte er schroff.

Die vier Männer ließen sich auf ihren Stühlen nieder.

Zum ersten Mal, seit er vor vier Jahren die Stelle bei der Rocky Mountain Search and Rescue angenommen hatte, hatte er das Gefühl, eine Situation nicht unter Kontrolle zu haben. Er versuchte krampfhaft, objektiv zu bleiben und einen klaren Kopf zu behalten. Diese beiden Fähigkeiten hatten ihm in der Vergangenheit zu einem guten Cop gemacht. Und zu einem guten Leiter der Bergrettung. Doch als er mit dem Finger auf die Karte zeigte und sah, dass seine Hand zitterte, wusste er, dass es sinnlos war.

„Ein Junge wird vermisst. Vier Jahre alt.“ Er wies auf die ungefähre Position auf der Karte. „White River Forest. Osthang.“ Er holte tief Luft und sah Kelly an. „Sie brauchen eine Beschreibung. Du kennst dich in der Gegend aus. Bitte gib ihnen die genaue Position und die Umstände.“

Buzz beobachtete, wie Kelly zu ihm kam. Das Blut rauschte dumpf in seinen Ohren. Im grellen Licht der Küche sah sie blass und mitgenommen aus. Die Wunde an ihrer Schläfe stand im deutlichen Kontrast zu ihrer bleichen Haut, unter der sich langsam ein gewaltiger blauer Fleck bildete.

Zum ersten Mal wurde ihm klar, wie heftig ihr Sturz gewesen sein musste. Sie hatte ihre Jacke im Flur ausgezogen. An der linken Hüfte war ein Schmutzfleck auf ihrer Jeans. Der Stoff am Knie war zerrissen. Das Flanellhemd war auf einer Seite aus der Hose gerutscht und hing unelegant bis zur Mitte ihres Oberschenkels hinunter.

Auch wenn er wütend auf sie war, weil sie ihm all die Jahre ihren gemeinsamen Sohn verschwiegen hatte, würde er dafür sorgen, dass sie sich von einem Arzt untersuchen ließ. Warum war diese Frau nur so verdammt stur?

„Das ist Kelly Malone“, sagte er.

Absolute Stille erfüllte den Raum. Äußerst aufmerksam und mit größtem Interesse beobachteten die vier Männer, wie Kelly zur Stirnseite des Raumes ging und einen zittrigen Seufzer von sich gab. Sie ließ den Blick aus ihren braunen Augen über die Gesichter der Männer schweifen, die sie beobachteten.

„Eddie ist vier Jahre alt“, begann sie. „Er hat dunkelbraune kurze Haare und graue Augen. Er trägt ein weißes Sweatshirt mit einem Aufdruck des Denver-Broncos-Footballteams, eine blaue Jeans und weiße Turnschuhe. Es ist möglich, dass er inzwischen die grüne Jacke angezogen hat, die er sich um die Hüften gebunden hatte. Und er hat einen blauen Rucksack.“ Sie stellte ihre Handtasche auf den Tisch, suchte nach ihrem Portemonnaie und zog mit zitternden Fingern ein Foto heraus. „Ich habe nur dieses Foto. Es ist ein paar Monate alt.“ Sehnsüchtig betrachtete sie das Bild, bevor sie ihre Augen für einen kurzen Augenblick schloss. Dann reichte sie es, ohne es noch einmal anzusehen, weiter an John Maitland.

„Wo haben Sie ihn zuletzt gesehen?“, fragte Jake Madigan.

Buzz nahm Kelly am Arm und führte sie zur Karte. „Du hast gesagt am östlichen Rand des Parks, oder?“, fragte er sie.

Sie nickte und drehte sich zur Karte. Buzz konnte spüren, wie sie zitterte. Ihre Fassung hing nur noch an einem dünnen Faden, der jeden Augenblick reißen konnte. Buzz legte keinen besonderen Wert darauf, das mitzuerleben, aber es war ihm lieber, er war bei ihr, wenn es passierte, als jemand anders. Er sah, wie die Männer sie beobachteten. Neugierde erfüllte den Raum und war förmlich mit den Händen greifbar. Ganz offensichtlich fragten sich alle, ob ihr Chef ihnen eine Exfrau und ein Kind verschwiegen hatte. Verdammt, die ganze Situation war wirklich äußerst unangenehm.

Buzz zwang sich, an die vor ihm liegende Aufgabe zu denken. Sanft drückte er Kellys Arm, um ihr zu vergewissern, dass sie ihre Sache gut machte. Dass er es mit ihr gemeinsam durchstehen würde. Und dass sie ihren Sohn finden würden.

Dankbar sah Kelly ihn an, doch ihre Hand zitterte stark, als sie auf die Stelle auf der Karte deutete, wo sie gestürzt war. „Es war genau hier.“

„Das ist am östlichen Rand der Wanderwege“, sagte John Maitland. „Das Terrain wird dort im Norden ziemlich unzugänglich.“

Sie nickte. „Wir waren auf dem südlichsten Pfad. Ungefähr zwei Meilen entfernt vom Zeltplatz.“

„Seit wann wird der Junge vermisst?“

„Fast viereinhalb Stunden.“ Ihre Stimme zitterte. Es würde nicht mehr lange dauern, bis sie zusammenbrach. Buzz nahm sie vorsichtig beiseite und trat einen Schritt vor.

„Flyboy, wie ist die Wetterlage?“

„Aus Nordwesten kommt was auf uns zu. Der Wetterdienst erwartet Sturmböen mit bis zu fünfzig Knoten. Es könnte ziemlich ungemütlich werden, wenn das stimmt.“

„Wie viel Zeit bleibt uns zum Fliegen?“

„Ich denke, wir haben noch ein paar Stunden, bis ich zur Station zurückkehren muss.“

Buzz fluchte laut, wurde jedoch von Jake Madigan unterbrochen. „Wir haben noch ein anderes Problem“, sagte der große Mann mit dem abgewetzten Stetson-Cowboyhut. Buzz merkte, wie sich die Härchen in seinem Nacken aufrichteten. Auch Kelly hob ruckartig den Kopf und sah beunruhigt zu Jake, der Buzz’ fragenden Gesichtsausdruck mit einem schnellen Seitenblick auf Kelly beantwortete.

Buzz verstand sofort, was Jake ihm damit sagen wollte, doch es war bereits zu spät. Kelly schoss um den Tisch herum. Mit erhobenem Kinn stellte sie sich vor Jake und streckte ihm den Zeigerfinger ins Gesicht. „Wagen Sie es ja nicht, irgendwelche Informationen vor mir zurückzuhalten, weil Sie denken, Sie können sie mir nicht zumuten. Ich will wissen, was Sache ist.“

Jake verzog das Gesicht und nahm seinen Stetson ab. Hilflos sah er zu Buzz hinüber. „Na ja, Ma’am … also, bei allem gebotenen Respekt …“

„Was ist das Problem?“, wollte sie wissen.

Als Buzz klar wurde, was Jake im Begriff zu sagen war, stand er abrupt auf und legte Kelly die Hände auf die Schultern. „Wir sind Profis, Kel. Lass uns einfach unsere Arbeit machen. Wir werden ihn finden.“

„Nein.“ Sie schüttelte ihn ab. „Versuch nicht, mich da rauszuhalten. Ich werde nicht tatenlos zusehen.“ Sie wandte sich erneut an Jake, der aussah, als hätte er gerade in einen Kaktus gegriffen.

„Verdammt noch mal, jetzt sagen Sie schon, was los ist!“

Jake seufzte und sah seinen Chef fragend an. Buzz wusste, dass seine Exfrau nicht so leicht aufgeben würde und nickte kurz.

„Die Rangerstation am Ruby Lake hat vor ein paar Stunden ein Feuer gemeldet“, begann Jake. „Ein Blitzschlag. Bei der Trockenheit und den starken Winden wird es sich ziemlich schnell ausbreiten. Es ist noch recht klein, aber es brennt unkontrolliert und bewegt sich auf uns zu.“

Kelly legte eine Hand auf den Mund und versuchte vergeblich, ein Schluchzen zu unterdrücken. Mit der anderen Hand fasste sie sich an den Bauch, als hätte ihr jemand einen Schlag in die Magengrube versetzt. „Oh Gott. Bitte nicht.“

Buzz drückte ihr die Schultern. „Kelly, das Feuer ist noch klein. Die Chancen stehen gut, dass die Feuerwehr es in den Griff bekommt. Überlass es uns. Wir werden uns darum kümmern. Diese Männer sind Profis, die besten. Sie müssen sich an die Arbeit machen. Sofort. Ich werde Dispatcher bitten, dich zum Krankenhaus zu fahren, damit sich jemand deine Verletzung …“

„Ich werde Eddie nicht allein lassen.“ Kelly schüttelte Buzz’ Hände ab und sah ihn an, als wäre sie fest entschlossen, es mit einer ganzen Armee aufzunehmen. „Du kannst nicht von mir verlangen, dass ich mich raushalte. Ich kenne die Gegend. Ich kenne die Wanderwege. Ich muss rausgehen und nach ihm suchen.“

„Du warst bewusstlos, verdammt. Du nützt niemandem, wenn du umkippst, sobald das Adrenalin nachlässt, weil du eine Gehirnerschütterung hast.“

„Mir geht es gut. Das Einzige was mir fehlt ist mein Sohn.“

„Du bist zu Tode verängstigt, blutest und stehst kurz vor einem Nervenzusammenbruch. Aber du bist zu stur …“

„Wage ja nicht, mich auszuschließen. Ich werde nicht tatenlos zusehen.“

„Du hast dich nicht mehr unter Kontrolle.“

Als sie einen Schritt vorwärts machte, zitterte sie so stark, dass sie ihren eigenen Beinen nicht traute. „Da hast du verdammt recht! Und ich hätte erwartet, dass es dir ähnlich geht. Aber offensichtlich ist dein Herz noch genauso kalt wie damals!“

Es war ihr einfach rausgerutscht. Sie hatte nicht vorgehabt, die Sache persönlicher zu machen, als sie ohnehin schon war. Doch sie hatte keine Kontrolle mehr über sich. Nutzlose, entwürdigende Tränen rannen ihr über das Gesicht, die ihr nichts weiter einbrachten als einen Mordskopfschmerz und den Männern im Raum vor Augen führten, dass sie keine große Hilfe sein würde. Tapfer kämpfte sie gegen das Schluchzen an, das tief aus ihrer Brust an die Oberfläche brach, aber es war einfach zu stark. Sie zitterte am ganzen Körper.

Als sie bemerkte, dass es um sie herum still geworden war, hielt sie die Luft an und zwang sich innezuhalten. Buzz starrte sie an, als hätte sie gerade bekannt gegeben, eine Außerirdische zu sein, die am Ende der Woche zurück auf ihren eigenen Planeten ans andere Ende des Universums ziehen würde. Tony Colorosa und Pete Scully hatten anscheinend etwas äußerst Faszinierendes auf den Holzplanken des Bodens entdeckt, während John Maitland den Blick angestrengt auf die Karte gerichtet hielt und Jake sich mit zusammengezogen Brauen konzentriert an einem nicht vorhandenen Fleck auf dem Filz seines Hutes zu schaffen machte.

Ihre Glaubwürdigkeit stand auf dem Spiel. Sie holte tief Luft, dann wandte sie sich an die Männer. „Eddie hat eine Taschenlampe bei sich. Es könnte sein, dass er sie bei Einbruch der Dunkelheit eingeschaltet hat. Sie ist aus Plastik und nicht sehr hell, aber die Batterien sind neu. Sie müsste funktionieren.“

Buzz räusperte sich. „Wenn das alles ist …“

Ihr Kopf fuhr herum. „Bitte findet ihn. Ich will meinen Sohn zurück.“

Er wandte sich an sein Team. „An die Arbeit, Gentlemen.“ Er sah seinen Piloten an. „Gib dein Bestes für mich, Flyboy. Okay?“

„Nichts leichter als das.“ Doch als er Kelly ansah, war seine Großspurigkeit verflogen. „Wir werden ihn finden, Ms Malone.“

Unfähig zu sprechen, nickte sie dankbar. Innerhalb von Sekunden waren die Männer mit ihren Ausrüstungstaschen aus dem Hintereingang gestürmt und hinterließen eine ungemütliche Stille.

Ohne ein weiteres Wort verließ auch Buzz den Raum und hob seine Jacke vom Boden im Flur auf. Kelly folgte ihm. „Es tut mir leid, dass ich die Kontrolle über mich verloren habe.“

„Es ist verständlich.“

„Ich weiß, dass es auch für dich sehr schwer ist.“

Er drehte sich zu ihr um und warf ihr einen Blick zu, der so schneidend und kalt war wie der Winter in den Bergen. „Tu, was du willst, aber entschuldige dich nicht.“

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