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Schule der Meisterdiebe

hier erhältlich:

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„Wir sind ein Zuhause für die Vergessenen, ein Zufluchtsort für die Verlorenen und, ja, ein Übungsplatz für die größten Gauner der Zukunft."

Der 13-jährige Gabriel ist ein genialer Taschendieb. Das hilft ihm, seinen oft leeren Bauch zu füllen. Bis er eines Tages von dem geheimnisvollen Caspian Crook erwischt wird. Doch statt die Polizei zu verständigen, lädt Caspian ihn ein, die Schule der Meisterdiebe zu besuchen – eine Schule für zukünftige Robin Hoods. Gabriel ist neugierig. In Crookhaven werden die Schüler im Schlösserknacken und Fälschen ausgebildet, um Gutes zu tun! Gabriel lernt die talentierte Tochter des Schulleiters kennen und freundet sich mit Hacker-Brüdern an. Bald fühlt es sich an, als hätte er endlich ein Zuhause gefunden. Aber kann man einem Dieb jemals wirklich trauen?

Eines der besten Kinderbücher 2023 (Sunday Times)

Ein charmanter, moderner Robin Hood mit dem Herzen am rechten Fleck

Kurze Kapitel mit spannenden Wendungen für maximalen Lesesog


  • Erscheinungstag: 26.09.2023
  • Aus der Serie: Meisterdiebe
  • Bandnummer: 1
  • Seitenanzahl: 304
  • Altersempfehlung: 10
  • Format: Hardcover
  • ISBN/Artikelnummer: 9783505150821

Leseprobe

Für meinen Grandpa,
der jedes Wort von jeder Geschichte gelesen hat,
die ich je geschrieben habe.

Gabriel Avery hatte seit Wochen nichts mehr geklaut und seine Fingerspitzen begannen zu jucken. Der Sommer neigte sich schnell dem Ende zu, und jede Woche waren weniger Touristen in Torbridge, was bedeutete, dass es für Gabriel immer weniger gute Gelegenheiten gab. Die paar Urlauber, die noch kamen, blieben nicht lange im Städtchen. Schließlich konnte man nur eine bestimmte Anzahl Fotos von der Hauptattraktion des Ortes machen – einer hässlichen Brücke aus Granitblöcken –, bevor man die Nase voll hatte und weiterzog. Zu Gabriels Glück tröpfelten täglich immer noch einzelne Durchreisende ein, zweifellos unterwegs zu weit entfernten Orten, an denen wunderbare und aufregende Dinge passierten. Gabriel lebte erst seit einem Jahr in Torbridge, doch er hatte bereits jetzt das Gefühl, dass so ziemlich jeder andere Ort spannender sein musste.

Es war früh am Montagmorgen. Gabriel lehnte an der Wand des Bahnhofs und wartete auf den nächsten Zug. Bald würde der Bahnsteig voller Menschen sein, die umstiegen, um nach Norden in Richtung Exeter oder nach Süden Richtung Cornwall zu fahren. Im Moment waren nur zwei Männer in dunklen Anzügen da. Sie wurden von der aufgehenden Sonne angestrahlt, sodass Gabriel sie nicht richtig sehen konnte. Er gähnte. Wahrscheinlich Einheimische. Die Einwohner von Torbridge hatte er noch nie beklaut. Sie würden ihn nur erkennen und sich bei seiner Grandma beschweren. Und nach dem Vorfall neulich war sie ohnehin nicht gut auf ihn zu sprechen. Wenn er darüber nachdachte, war Gabriel nicht sicher, ob sie überhaupt irgendwann gut auf ihn zu sprechen gewesen war, seit sie nach Torbridge gezogen waren.

Es war kurz vor acht, und alle, die aus dem Zug stiegen, waren mürrisch und müde – und das Beste war, dass sie Gabriel keines Blickes würdigten. Das bedeutete, dass er sich wie ein Gespenst mit Geisterfingern zwischen ihnen bewegen konnte. Den Gedanken fand er aufregend. In den letzten Wochen war er so sehr damit beschäftigt gewesen, Grandma in der Villa zu helfen, dass er nicht mehr hier gewesen war, und es hatte ihm richtig gefehlt.

Er fröstelte im frischen Morgenwind und zog die Ärmel seines blauen Pullovers über seine Hände. Kalte Finger waren steif und ungeschickt und zu nichts zu gebrauchen. Er benötigte warme, flinke, zuverlässige Finger. Links von ihm wurden bei Benson’s Café warme Getränke aus einem offenen Fenster verkauft. Der süße Geruch heißer Schokolade und der bittere Duft von Kaffee wehten in dünnen Schwaden zu ihm herüber. Von drinnen hörte er das Brutzeln von Speck, das sich mit dem Zischen und Gluckern der Kaffeemaschine vermischte. Gabriels Magen knurrte. Von meinen Einnahmen kaufe ich mir als Erstes ein Bacon-Sandwich und ein Würstchen-Sandwich für Grandma.

Auf einem der Stehtische neben dem offenen Fenster stand ein zurückgelassener Kaffeebecher. Er dampfte noch. Gabriel wartete, bis die Bedienung drinnen verschwunden war, bevor er sich hinüberbeugte und ihn sich schnappte. Er hasste den Geschmack von Kaffee, aber der heiße Becher war perfekt, um seine steifen Finger zu lockern. Ein paar Minuten später hörte er das leise Rumpeln eines einfahrenden Zugs, und er trat einige Schritte vor, um besser sehen zu können. Er stellte den Becher auf einer Bank ab und beobachtete, wie die Fahrgäste aus dem Zug stiegen.

Gabriel runzelte die Stirn. Der nahende Herbst hatte den Nachteil, dass er sich meist mit Mänteln und Jacken herumschlagen musste, die mehrere Taschen hatten. Er konnte sie nicht alle überprüfen und musste oft raten, wo etwas zu finden war. Im Raten war er mittlerweile ziemlich gut. Und zum Glück hatten heute nicht alle mit der für die Jahreszeit untypischen Kälte gerechnet, die an diesem Morgen in der Luft lag.

Die meisten Fahrgäste blieben auf dem Bahnsteig, um auf ihren Anschlusszug zu warten, einige gingen aber auch zum Café hinüber. Gabriel grinste und nahm eine 2-Pence-Münze aus der Tasche. Er hatte sie schon, solange er denken konnte. Das Besondere an ihr war, dass die eine Seite – Kopf – ganz normal kupferfarben glänzte, während die andere Seite – Zahl – kohlschwarz war. Beinahe als wäre sie verbrannt. Warum, das wusste er nicht. Aber es sah ziemlich cool aus und die Münze war zu einem wichtigen Teil seines Spiels geworden.

Gabriel schnippte die Münze mit dem Daumen in die Luft, fing sie in der Handfläche auf und schnippte sie erneut hoch. Er war gerade dabei, seinen Plan in die Tat umzusetzen, als er eine vertraute Stimme hörte.

»Gabriel Avery, bist du das?«

Gabriel fing die Münze auf, steckte sie schnell in die Tasche und schaute auf. Vor ihm stand Theodora Evans. Ihr Gesicht mit den tiefen Falten und der ungesunden grauen Farbe war vermutlich das Ergebnis von ständigem Stirnrunzeln und jahrzehntelangem Rauchen.

»Guten Morgen, Mrs. Evans«, antwortete Gabriel freundlich.

Nun wurde ihr Gesicht noch düsterer, als es ohnehin schon war. »Was hast du um diese Zeit am Bahnhof zu suchen, hm?« Sie spitzte ihre faltigen Lippen. »Nichts Gutes, möchte ich wetten.«

Gabriel tat so, als würde ihm diese Anschuldigung nichts ausmachen. »Aber nein, Mrs. Evans. Ich bin hier, um für Grandma ein Würstchen-Sandwich zu holen. Die mag sie so gern.« Er zuckte mit den Schultern. »Ich wollte sie überraschen.«

Für einen kurzen Moment wurde Mrs. Evans’ Gesicht weich. Dann schaute sie ihn streng an. »Ich glaube dir nicht.« Sie beugte sich vor. »Ich weiß, dass du es warst, der letzte Woche die Fleischpastete von meiner Fensterbank entwendet hat, Gabriel Avery. Ich weiß es.«

Gabriel runzelte die Stirn. »Was bedeutet ›entwenden‹, Mrs. Evans?« Natürlich wusste Gabriel genau, was entwenden bedeutete – genau wie jedes andere Wort, das mit Diebstahl zu tun hatte.

Mrs. Evans kam näher und blickte ihn mit ihren wässrig grauen Augen an. »Das heißt, dass du sie gestohlen hast.«

Gabriel trat einen Schritt zurück und hob seinen Pullover und sein T-Shirt, sodass sein magerer goldbrauner Oberkörper zum Vorschein kam. »Sieht dieser Bauch etwa wie der Bauch eines Pastetendiebs aus, Mrs. Evans?«

Verdattert straffte sie die Schultern. »Du hast eine flinke Zunge, Gabriel Avery. Ein bisschen zu flink, wenn du mich fragst. Einem guten, ehrlichen, gottesfürchtigen Jungen kommen solche Lügen nicht so leicht über die Lippen.«

Gabriel ließ sein T-Shirt und den Pullover wieder herunter. »Ich wünschte, ich wäre bei Ihnen gewesen, Mrs. Evans – dann hätte ich den Dieb vielleicht erwischt. Aber leider war ich nicht da.« Natürlich hatte er die Pastete gestohlen. Die Kruste war butterzart und köstlich gewesen, die Füllung hingegen nicht annähernd so gut wie sonst. Nach Gabriels bescheidener Meinung war es sogar Mrs. Evans’ bisher schlechteste Pastete gewesen.

Mrs. Evans schnaubte und verließ den Bahnhof, wobei sie leise vor sich hin schimpfte. Gabriel kramte seine Münze aus der Tasche und wandte sich wieder dem Bahnsteig zu. Vor dem Fenster des Cafés hatten sich bereits ein paar Leute angestellt. Gabriel runzelte die Stirn. Warteschlangen waren schwierig. Wenn einer Person in der Schlange etwas passierte – wenn sie stolperte oder jemand sie anstieß –, blickten die anderen zu ihr hinüber. Und viele Augen erhöhten das Risiko, dass irgendjemand seine verirrte Hand bemerkte. Gabriel schaute nach, ob sich jemand dem Café näherte. Er sah zwei Personen in seine Richtung kommen, doch sie waren zu nah beieinander, um es bei ihnen zu versuchen. Aber hinter den beiden entdeckte er einen silberhaarigen Mann.

Wie wär’s mit dem? Gabriel musterte ihn. Kein Mantel. Lockere Hose. Eine portemonnaiegroße Beule in der linken Hosentasche. Abgelenkt vom Handy. Perfekt.

Gabriel schnippte seine Münze in die Luft und wartete, bis die beiden anderen vorbei waren. Dann steuerte er direkt auf den Mann zu und stieß mit ihm zusammen, sodass seine Schulter die Hüfte des Fremden streifte. Die Münze landete klimpernd auf dem Betonboden.

»Oje, das war meine Schuld«, sagte der Mann, schob sein Handy in die rechte Hosentasche und schenkte Gabriel ein entschuldigendes Lächeln. »Warte, lass mich das machen.«

»Ist schon in Ordnung.« Gabriel tat, als wäre er verlegen. »Es ist nur eine alte Münze.« Doch der Mann hatte sich bereits gebückt und entblößte dabei die dünne schwarze Lederbörse in seiner linken Hosentasche. Im einen Moment war sie noch da, im nächsten nicht mehr. Der Mann richtete sich auf und hielt Gabriels Münze mit dem Kopf nach oben auf der Hand.

»Wo hast du die denn her? Ich habe noch nie eine so lädierte Münze gesehen.«

»Sie ist ein Geschenk«, antwortete Gabriel schulterzuckend. »Von meinen Eltern.« Das stimmte sogar. Die einzigen anderen Dinge, die sie ihm hinterlassen hatten, waren seine honigbraunen Haare und seine bernsteinfarbenen Augen. Beides mochte er nicht besonders. Der Mann ließ die Münze in Gabriels Hand fallen und Gabriel steckte sie ein.

»Na, jedenfalls besser als ein Handy.« Der Mann zog sein Smartphone aus der Tasche. »Diese Dinger sind übel, mein Junge. Spiel du lieber mit Münzen, solange du kannst.«

Gabriel nickte höflich. »Entschuldigung noch mal, dass ich Sie angerempelt habe.« Der Mann klopfte ihm im Weitergehen auf die Schulter und richtete die Augen wieder auf sein Handy.

»Schon gut, mein Junge. Schon gut.«

Gabriel bog um die Ecke, und nachdem er einen Blick über die Schulter geworfen hatte, zog er vorsichtig die schwarze Lederbörse aus der Tasche. Er grinste. Das war ja so leicht, wie die Fleischpastete von Mrs. Evans’ Fensterbrett zu mopsen. Er öffnete die Börse und …

Komisch. Sie war so gut wie leer. Im Inneren steckten nur ein 10-Pfund-Schein und etwas Weißes. Eine Karte, wie es aussah. Gabriel zog sie heraus und las:

Du bist gut. Ich bin besser.

Gabriel wirbelte herum und sprintete zurück in Richtung Café. In der Schlange standen jetzt nur noch zwei Menschen. Der Mann war nicht dabei. Hektisch suchte Gabriel den Bahnsteig nach dem silberhaarigen Mann ab. In dem Moment setzte sich der Zug in Bewegung. Oh nein … Der Fremde saß auf einem Fensterplatz und lächelte ihn an. Gabriel schaute ihm direkt in die Augen. Langsam hielt der Mann etwas an die Scheibe. Es war klein und rund und sah ziemlich verkohlt aus. Mit klopfendem Herzen wühlte Gabriel in seiner Tasche und zog eine 2-Pence-Münze hervor. Aber es war nicht seine.

Der Zug tuckerte in die aufgehende Sonne hinein und nahm den silberhaarigen Mann mit – und Gabriels Münze. Gabriel ließ sich gegen die Wand des Wartehäuschens sinken. Seine Gedanken rasten. Für jeden anderen war es nur eine 2-Pence-Münze, aber für Gabriel war sie wichtig. Sie war das Einzige, das seine Eltern ihm hinterlassen hatten, als sie weggegangen waren. Der einzige Gegenstand, der ihm helfen könnte, sie eines Tages zu finden. Er ging nirgends ohne sie hin und benutzte sie bei fast jedem Diebstahl und jetzt hatte ein Fremder sie geklaut.

Aber warum? Gabriel schaute noch einmal in die Brieftasche. Nichts außer der 10-Pfund-Note. Wieder las er die Nachricht auf der Karte. Irgendwoher hatte der silberhaarige Mann gewusst, dass Gabriel ein Dieb war. Gabriel drehte die Karte um und blinzelte. Da stand noch etwas! Er las die kleine Schrift:

Kauf dir von dem Geld eine Fahrkarte nach

Moorheart.

Dort wartet deine Münze auf dich.

Es gibt einen Platz auf dieser Welt für dein

Talent, Gabriel Avery.

Gabriel las die Nachricht ein zweites Mal. Dann ein drittes.

Mein Talent? Er meint doch wohl nicht …

Gabriel schüttelte den Kopf. Wenn dieser Mann selbst ein Dieb war, war die Wahrscheinlichkeit hoch, dass das hier irgendein Trick war. Gabriel hatte keine Ahnung, was sich der Mann davon erhoffte. Aber ganz sicher würde er sich von den zehn Pfund keine Fahrkarte nach Moorheart kaufen – einen Ort, von dem er noch nie gehört hatte und der seiner Meinung nach völlig ausgedacht klang. Das Geld würde er sinnvoller investieren.

»Ein Sandwich mit Bacon und eins mit Würstchen, bitte«. Der rundliche Mann an der Theke von Benson’s Café war Mr. Hartley, und er war einer der wenigen Menschen in Torbridge, der Gabriel nicht so ansah, als hätte er gerade etwas unsagbar Schreckliches verbrochen oder würde es in näherer Zukunft tun.

»Aber gerne doch«, antwortete Mr. Hartley. Er drehte sich um und rief: »Eins mit Bacon und eins mit Wurst, Geoff. Und pass bloß auf – wenn du noch eine Wurst anbrennen lässt, kannst du dir einen neuen Job suchen!« Mr. Hartley wandte sich wieder an Gabriel. »Hab dich schon ein paar Wochen nicht gesehen, Avery. Was hat dich abgehalten?«

Geld. Besser gesagt, dass ich keins hatte … »Ich hab meiner Grandma geholfen.«

Mr. Hartley grunzte. »Ach ja? Wie geht’s ihr denn, der alten Ziege?«

Grandma war in Torbridge aufgewachsen. Mr. Hartley und sie waren als Kinder innige Feinde gewesen und hatten genau da wieder angeknüpft, wo sie aufgehört hatten, als Grandma im letzten Jahr mit Gabriel zurückgekehrt war. Mr. Hartley nannte sie »die alte Ziege«, Grandma nannte ihn »den fetten Oger«. Der Fairness halber musste man dazusagen, dass Mr. Hartley wirklich wie ein Oger aussah, wenn auch kleiner, breiter und wesentlich haariger.

»Es geht ihr gut. Das Würstchen-Sandwich ist eine Überraschung für sie.«

Mr. Hartley drehte sich wieder zur Küche. »Geoff, lass die Wurst ein bisschen anbrennen, ja?«

Eine verdatterte Stimme rief zurück: »Aber du hast doch gerade gesagt …«


»Ich weiß, was ich gesagt habe!«, polterte Mr. Hartley. »Aber die alte Ziege mag ihre Wurst nun mal verkohlt, also tu, was ich dir sage.« Er wandte sich wieder Gabriel zu. »Du machst keinen Ärger, klar?«

Gabriel schüttelte den Kopf. »Nee. In Torbridge gibt’s sowieso keinen Ärger.«

»Und trotzdem scheinst du immer welchen zu finden.« Mr. Hartley zog die Nase hoch. »Wird schon September. Was ist mit der Schule? Kommst jetzt in die neunte Klasse, oder?«

Ein schlaksiger, pickliger Junge kam mit einer Plastiktüte in der Hand aus der Küche. Am Boden der Tüte sammelte sich bereits das Fett. Wortlos reichte er Gabriel die Tüte.

»Danke.« Gabriel wandte sich zum Gehen.

»He!«, rief Mr. Hartley ihm nach. »Du hast meine Frage nicht beantwortet.«

Gabriel verließ den Bahnhof und machte sich auf den langen, gewundenen Weg nach Hause. Wieder beschäftige ihn dieselbe Frage wie in den letzten Wochen. Grandma war fest entschlossen, ihn für die neunte Klasse erneut auf die Schule nach Torfalls zu schicken. Aber er hatte bereits ein Jahr an diesem düsteren Ort verbracht, und die Vorstellung, an eine Schule zurückzukehren, an der ihn jeder hasste oder ignorierte, gefiel ihm ganz und gar nicht. Noch schlimmer war der Gedanke, dass die meisten Leute, die nach Torfalls gingen, am Ende in diesem fürchterlichen Nest hängen blieben. Gabriel wollte an irgendeinen neuen, aufregenden Ort. In eine Stadt. Vielleicht sogar in eine Großstadt! Irgendwohin, wo die Leute ihn nicht so anschauten, als würde etwas mit ihm nicht stimmen …

Das GEÖFFNET-Schild an der Innenseite der Tür des Dorfladens drehte sich auf GESCHLOSSEN, als er vorbeiging. Das empörte Gabriel, weil er dort noch nie etwas hatte mitgehen lassen. Abgesehen von der gelegentlichen Pastete, die regelrecht darum bettelte, mitgenommen zu werden, hatte er noch keinen Bewohner von Torbridge bestohlen. In Wirklichkeit mochten sie ihn nicht, weil er anders war als sie. Er hatte mittlerweile in zahllosen Dörfern gelebt und gelernt, dass Leute in Dörfern anders nicht besonders gut fanden. Und in einem verschlafenen Kaff in Devon war ein zerzauster Junge mit goldbrauner Haut, der bei seiner ebenso zerzausten, aber hellhäutigen Großmutter wohnte, für die meisten ein bisschen zu anders. Als die Leute erfahren hatten, dass sie nicht blutsverwandt waren, hatte es erst Getuschel gegeben, dann Gerüchte und schließlich unangenehme Fragen. Das Schlimmste war, dass er für Aufmerksamkeit sorgte. Grandma hasste Aufmerksamkeit. Und Gabriels flinke Finger machten es nur noch schlimmer. Wenn es mit den Fragen erst mal losging, war ihre Zeit an einem Ort beendet. So lief das immer.

Als Gabriel die berühmte Brücke überquerte, fiel ihm die Nachricht des silberhaarigen Mannes wieder ein. Es gibt einen Platz auf dieser Welt für dein Talent, Gabriel Avery.

Gabriels Herz begann zu rasen. Konnte das stimmen? Sein Talent war das unbemerkte Leeren gut gefüllter Taschen. Und das war Diebstahl und Diebstahl war nirgends erlaubt.

Oder?

Gabriel war so in Gedanken, dass er beinahe gegen das große Eisentor geprallt wäre. Durch die Zwischenräume der Gitterstäbe konnte er die weiße Kiesauffahrt sehen, an deren Ende die Villa thronte. Gabriel seufzte. Die Merciers haben immer noch nichts gegen den abblätternden Putz und den wuchernden Efeu getan. Er steckte die Hand in die Tasche und zog eine Haarnadel heraus. Den Schlüssel hatte er zu Hause gelassen, damit Grandma nicht merkte, dass er sich weggeschlichen hatte. Er hielt die Sandwich-Tüte in der linken Hand, beugte sich vor und schob die Haarnadel ins Schloss. Nach kurzem Gefummel hörte er das vertraute Klick.

Das Tor öffnete sich quietschend. Gabriel schlüpfte hindurch und drückte es hinter sich zu. Er lief über die Auffahrt, wobei er darauf achtete, nicht auf den frisch gemähten Rasen zu treten. Dass der Garten so ordentlich war, kam bei den knauserigen Merciers selten vor, aber sie hatten tags zuvor wichtige Gäste gehabt, die sie beeindrucken wollten, deshalb hatten sie den Rasen mähen lassen. Gabriel war sicher, dass sie das Gras bis zum nächsten VIP-Besuch wuchern lassen würden.

Zwei teure Autos – eins schwarz, eins dunkelblau – blitzten in der Morgensonne. Einen Moment lang blieb Gabriel neben dem schwarzen stehen, um sein Spiegelbild zu mustern. Oh Mann, ich muss dringend zum Frisör. Seine lockigen hellbraunen Haare reichten ihm fast über die Ohren …

»Na, willst du den als Nächstes klauen?«, fragte eine näselnde Stimme.

Gabriel erstarrte. Er hatte gehofft, so früh am Morgen noch niemandem zu begegnen. »Charlie …«

»Du weißt genau, dass ich Charles heiße«, unterbrach der Junge ihn. Er lehnte an der Hauswand. Sein feines schwarzes Haar war ordentlich zur Seite gekämmt und die scharfen Züge seines habichtartigen Gesichts lagen im Schatten.

Gabriel zuckte mit den Schultern. »Okay, meinetwegen. Ich wollte mir nur meine Frisur ansehen. Die ist gerade etwas wild …«

Charles trat langsam aus dem Schatten und seine eisblauen Augen verengten sich. Der Rest seines Gesichts war schlaff und ausdruckslos.

»Ist ja auch egal.« Gabriel und hob die Plastiktüte hoch. »Ich muss Grandma ihr Sandwich bringen, bevor es kalt wird …«

»Wo ist der Fedora-Hut von meinem Dad, Gabriel?«, fragte Charles kühl. Er machte einen weiteren Schritt in den Sonnenschein. Gabriel hatte schon öfter festgestellt, dass reiche Leute sich langsamer und lässiger bewegten als andere, als hätten sie alle Zeit der Welt. Selbst als Charles sich bückte, um einen Kieselstein aufzuheben, tat er das mit der arroganten Langsamkeit eines Menschen, der diese Tätigkeit nicht gewohnt war. Er richtete sich auf und inspizierte den Stein. »Er ist verschwunden. Und soweit ich weiß, bist du der einzige Kleptomane, der hier wohnt.«

Charles schnippte den Stein und traf Gabriel hart an der Kniescheibe.

Gabriel trat einen Schritt zur Seite. »Dann kennst du meine Grandma aber schlecht«, witzelte er nervös, um die Spannung aufzulockern.

Charles legte den Kopf schief. »Willst du etwa behaupten, dass sie stiehlt?«

Gabriel schluckte. »Nein, natürlich nicht.« Erschrocken wich er zurück.

»Denn wenn du sagst, dass deine Großmutter eine Diebin ist«, fuhr Charles fort und hob einen weiteren Kiesel auf, »fürchte ich, dass wir sie von ihrem Posten entlassen müssen.« Er schnippte den Stein gegen Gabriels andere Kniescheibe, aber diesmal zog Gabriel das Bein gerade noch rechtzeitig weg.

»Das war doch nur ein Witz. Bestell deinem Dad, dass ich seinen Hut nicht gesehen habe. Aber ich werde auf jeden Fall die Augen offen halten. Versprochen.« Bevor Charles ein weiteres Wort sagen oder einen weiteren Stein schnippen konnte, bog Gabriel um die Ecke des Hauses.

Wenn die Sonne wie jetzt auf den halb geöffneten Fenstern glitzerte, sah das Sommerhäuschen am Waldrand richtig einladend aus. Aber wenn es schüttete, kam der Regen durchs Dach. Außerdem gab keine Heizung, und wenn man morgens den Hahn aufdrehte, war das Wasser mit fünfzigprozentiger Wahrscheinlichkeit kalt. Während Gabriel die letzten Schritte über den sanft gewundenen Pfad ging, sog er den süßen Duft der Wildblumen ein, die im Wald hinterm Haus wuchsen. Er wusste, dass er drinnen nur klamme Feuchtigkeit riechen würde.

Gabriel spähte durchs Fenster, und als er keine Spur von seiner Grandma sah, öffnete er langsam die Haustür.

Oje.

Grandma stand mit verschränkten Armen in der Tür. Sie trug ihre blaue Strickjacke, die vom Bleichmittel weiß gesprenkelt war, und hatte ihre leuchtend gelben Putzhandschuhe angezogen. Kein gutes Zeichen. »Ich bin zwar nicht mehr die Jüngste, mein Lieber, aber ich fürchte, du musst sehr viel früher aufstehen, um mich auszutricksen.«

Jetzt musste Gabriel seinen Trumpf ausspielen. Mit einem zerknirschten Lächeln hielt er die Tüte hoch. »Lust auf ein Sandwich, Grandma?«

Grandma zögerte. Sie war hin- und hergerissen zwischen Wut und Hunger. Langsam verschränkte sie die Arme und zog eine dünne weiße Augenbraue hoch. »Mit Würstchen?«, fragte sie.

Gabriel nickte.

»Ein bisschen verbrannt?«

»Mr. Hartley hat sein Bestes getan.«

Grandma schnupperte. »Eine Sache gibt es wohl, für die der fette Oger gut ist.« Als sie Gabriel die Tüte abnahm, verengten sich ihre Augen. »Willst du mir etwa erzählen, dass er dir diese Sandwiches einfach so geschenkt hat?«

»Ja, will ich«, behauptete Gabriel unschuldig.

Grandma schob die Unterlippe vor. »Und soll das der Wahrheit entsprechen?« Gabriel schwieg, in der Hoffnung, dass sie nicht weiter nachhakte. Aber ihre hellgrauen Augen blieben standhaft. Also drehte er sich um. »Ich glaube, wir haben noch Ketchup.« Schnell schob er sich an ihr vorbei und steuerte auf den Schrank zu, der neben dem kaputten Herd stand. Bis auf Salz, Pfeffer und eine viertel volle Spaghettipackung war der Schrank komplett leer. Gabriel riskierte einen Blick über die Schulter. Sie guckt ja immer noch …

»Dann eben Tee«, schlug er stattdessen vor, schloss den Schrank wieder und füllte den Wasserkessel. Zu seiner Erleichterung seufzte sie und nickte. Tee funktionierte einfach immer.

Grandma und er genossen jeden Bissen ihrer Sandwiches und spülten sie mit einer Tasse Tee hinunter. Grandma ließ wie immer die Hälfte ihres Sandwiches für ihn übrig. Als Gabriel protestierte, sagte sie: »Du bist ein Junge im Wachstum. Außerdem wirst du heute deine Kraft brauchen. Bei den Merciers gibt es wieder eine Menge zu tun. Oh ja, eine ganze Menge.« Dann fügte sie mit einem Lächeln hinzu: »Aber zur Belohnung mache ich heute Abend einen Auflauf.«

Gabriel erwiderte ihr Lächeln, obwohl er wusste, was das bedeutete. Heute würde es kein Mittagessen geben. Nicht wenn es abends Auflauf gab.

*

Gabriel arbeitete den ganzen Tag an der Seite seiner Großmutter. Er entfernte die vertrockneten Blüten der Rosen, polierte das Treppengeländer und putzte die Toilette im dritten Stock, die ausschließlich von den alles andere als reinlichen Kindern des Hauses benutzt wurde. Dabei musste er die ganze Zeit an seine gestohlene Münze denken. Und an den silberhaarigen Mann, der sie gestohlen hatte. Langsam bildete sich ein gefährlicher Gedanke in seinem Kopf. Was, wenn es da draußen wirklich einen Platz für ihn gab?

Als er mit dem Bad fertig war, wischte sich Gabriel mit dem Ärmel den Schweiß von der Stirn und streckte den Kopf über das Geländer der Wendeltreppe. Grandma saß auf einem Hocker im unteren Stockwerk. Sie atmete schwer und betrachtete mutlos die Treppe zum ersten Stock. Gabriel zog seine Putzhandschuhe aus, kramte in seiner Tasche und zog die weiße Karte hervor. Wieder las er die Nachricht und dann las er sie noch einmal.

Es gibt einen Platz auf dieser Welt für dein

Talent, Gabriel Avery.

Was, wenn dieser Platz in Moorheart wirklich die Chance auf ein besseres Leben bedeutete? Nicht nur für ihn, sondern auch für Grandma? Es gab nichts, was Gabriel nicht für sie tun würde.

*

Als an diesem Abend die Sonne unterging, sank Gabriel todmüde, aber mit vollem Magen und einem zufriedenen Seufzer auf seine Matratze. Gab es ein besseres Gefühl auf dieser Welt?

Na ja. Er schob eine Hand unter sein knarrendes Bett und zog etwas hervor. Müde stand er auf und betrachtete sich in dem kleinen runden Spiegel auf der Fensterbank. Der Spiegel war leicht nach oben geneigt, sodass Gabriel seinen Oberkörper, sein Gesicht und den großen grauen Filzhut sehen konnte, der schief auf seinem Kopf saß. Ein besseres Gefühl könnte es geben. Aber nur eins.

Der einzige Vorteil an einem Durchfahrtsort wie Torbridge war, dass es am Bahnhof keine Ticket-Schranken gab. Das bedeutete, dass Gabriel ohne Fahrkarte auf den Bahnsteig spazieren und in den Acht-Uhr-sechs-Zug nach Penzance steigen konnte, ohne dabei misstrauisch angesehen zu werden. Sobald er allerdings an Bord war, gingen die Probleme los.

»Die Fahrkarten, bitte!«, rief der schnauzbärtige Schaffner, der durch den vollen Waggon schlurfte. Die meisten Fahrgäste hatten einen Sitzplatz gefunden, nur einige wenige waren wie Gabriel gezwungen, in den Gängen zu stehen.

»Verzeihung, Miss«, brummelte der Schaffner beim Zusammenstoß mit einer jungen Frau, der fast das Handy aus der Hand fiel. »Ganz schön voll heute Morgen, was?« Die Frau zückte ihre Fahrkarte und reichte sie ihm wortlos. Der Schaffner versuchte, die Fahrkarte abzustempeln, und schüttelte dann sein Stempelgerät. »Das verdammte Ding spielt schon den ganzen Morgen verrückt. Eine Sekunde …« Er versuchte es ein zweites Mal, aber es klappte wieder nicht.

Langsam breitete sich ein Grinsen auf Gabriels Gesicht aus. So könnte es gehen. Ich brauche nur …

»Na endlich!«, rief der Schaffner und gab der Frau die abgestempelte Fahrkarte zurück. »Nach gerade mal vier Anläufen.« Die Frau nickte zerstreut und wandte sich wieder ihrem Smartphone zu. Gabriel trat näher. Der Schaffner ging weiter den Gang entlang. Er schwankte, als befände er sich an Bord eines Schiffs im Sturm und nicht in einem sanft rumpelnden Zug an einem windstillen Tag. Als Nächstes traf er auf eine ältere Frau in einem gelben Regenmantel und mit einer braunen Tasche, die schon bessere Tage gesehen hatte.

»Mrs. Davenport!«, grüßte der Schaffner sie fröhlich und nahm ihre Fahrkarte. »Sind wir auf Regen eingestellt? Es ist keiner vorhergesagt, soweit ich weiß.«

Die alte Dame strahlte. »Man kann nie vorsichtig genug sein! Hier kann es im Handumdrehen wie aus Eimern schütten.«

»Wohl wahr«, erwiderte der Schaffner lachend. »Heute Morgen geht es zum Markt, richtig?«

Während Gabriel zusah, reichte Mrs. Davenport dem Schaffner ihre Fahrkarte und erhielt sie ungestempelt zurück. Das Gerät hatte wieder nicht funktioniert und der Schaffner hatte es nicht bemerkt. Langsam und unauffällig schob sich Gabriel neben Mrs. Davenport. Er wusste, was jetzt kam.

Drei, zwei, eins, zählte er im Kopf. Im Zug wurde es dunkel.

»Oh, du liebe Zeit!«, rief Mrs. Davenport aus. »Ich vergesse diesen fürchterlichen Tunnel immer.« Zwanzig Sekunden später wurde der Wagen wieder von sanftem Sonnenlicht beleuchtet, Gabriel war an Mrs. Davenport und zwei weiteren Personen vorbeigegangen, und die ungestempelte Fahrkarte der Dame steckte wohlbehalten in seiner Tasche. Als er kontrolliert wurde, reichte er sie lächelnd dem Schaffner und erhielt sie, diesmal gestempelt, zurück.

»In Kürze erreichen wir Moorheart«, verkündete eine Stimme. »Alle Fahrgäste, die in den hinteren vier Waggons sitzen, begeben sich bitte zum vorderen Ausstieg. Dieser Bahnhof hat nur einen kurzen Bahnsteig.«

Gabriel setzte sich in Bewegung und ging durch den Waggon.

Ein Anzugträger, an dem er vorbeikam, beugte sich zu seinem identisch gekleideten Freund und sagte: »Keine Ahnung, warum sie immer noch in diesem Kaff halten. Hier steigt nie jemand aus. Wir würden bestimmt zehn Minuten sparen, wenn die Bahn sich endlich dazu durchringen würde, diesen Ort auszulassen.« Der Zug hielt. »Schau dich mal um. Die reinste Ruine.«

Gabriel verbarg ein Lächeln, als sich die Zugtüren mit einem Zischen öffneten.

Hinter ihm fuhr der Mann fort: »Was wollen wir wetten, dass hier seit fünf Jahren niemand mehr ausgestiegen ist? Na los, wette mit mir!«

»Die Wette nehme ich an«, erwiderte sein Freund grinsend.

Der Mann blinzelte überrascht. »Wirklich?«

»Ja, und du hast schon verloren. Siehst du?« Er zeigte durch das Fenster auf Gabriel, der auf dem Bahnsteig stand und winkte.

Als der Zug mit dem verdatterten Mann weitergerumpelt war, drehte Gabriel sich um und musterte den Bahnhof von Moorheart. Er glich keinem anderen Bahnhof, den er je gesehen hatte. Lange Efeuranken hatten das kleine Gebäude neben dem rostigen Ortsschild komplett überwuchert. Manche Ranken waren so dick und kräftig, dass sie sich tief in den Granit gegraben hatten, als wollten sie das verlassen wirkende Gebäude wie eine leere Cola-Dose zerquetschen. Die Fenster waren vergittert, die blaue Farbe an der Tür blätterte ab, und das Anschlagbrett hatte sich halb von der Wand gelöst. Zu hören war nur das Quietschen des Bretts, das an einem einzelnen rostigen Nagel hin und her schaukelte. Die Natur, dachte Gabriel, ist auf dem besten Weg, sich diesen Ort zurückzuerobern.

Er ging einmal und dann ein zweites Mal um das Gebäude herum und versuchte, durch die vernagelten Fenster und sogar durch das Schlüsselloch zu spähen, konnte aber nichts als Dunkelheit erkennen. Schließlich gab er es auf und lehnte sich an die mit Efeu bewachsene Wand.

Der silberhaarige Mann hatte ihn reingelegt. Er hatte ihm erst seine Münze geklaut und ihn dann noch als fiesen Streich zu einem verlassenen Bahnhof mitten im Nirgendwo geschickt. Aber was Gabriel nicht verstand: Warum? Gabriel hatte ihm nichts getan. Okay, abgesehen davon, dass er ihm seine Brieftasche geklaut hatte. Aber darauf war der Mann vorbereitet gewesen. Er hatte gewollt, dass das passierte. Die Karte, die jetzt in Gabriels Tasche steckte, war der Beweis. Also konnte er doch nicht umsonst hergekommen sein …

Oder eben doch. Gabriel setzte sich auf die Bahnsteigkante. Denn es sieht wirklich nicht so aus, als wäre hier in den letzten Jahren irgendjemand gewesen.

Der Bahnsteig war kurz und völlig zugewachsen. Heidekraut und Stechginster hatten den Beton verschluckt und in ein Meer aus lila und gelben Blüten verwandelt. Die Gleise hingegen sahen noch recht neu aus. Die Züge halten ja in Moorheart, erinnerte er sich, auch wenn nie jemand aussteigt. Seltsam. Er hatte sich gerade entschlossen, den nächsten Zug zurück nach Torbridge zu nehmen, als ihm etwas noch Seltsameres auffiel.

Am anderen Ende des Bahnsteigs stand jemand.

Gabriel schluckte. »Ähm … hallo?«, rief er. Die Gestalt starrte schweigend und unbeweglich vor sich hin.

Mit klopfendem Herzen richtete Gabriel sich auf und machte einen halben Schritt rückwärts, falls er fliehen musste. »Ich kenne mich hier nicht aus. Können Sie mir helfen? Ich bin auf der Suche nach einem Mann mit silbernen Haaren. Er hat etwas von mir …« Gabriel verstummte, als ein Sonnenstrahl durch die dünne Wolkendecke brach und die Gestalt beleuchtete.

»Ach, nur eine Statue«, murmelte Gabriel. »Ein Glück, dass mich niemand gehört hat.« Misstrauisch trat er näher, denn wer wäre einer Statue gegenüber, die am Ende eines überwucherten Bahnsteigs an einem verlassenen Bahnhof stand, nicht misstrauisch? Dabei hatte er das Gefühl, dass etwas in seiner Tasche summte, aber vielleicht hatte er sich das nur eingebildet. Dann hörte er in einiger Entfernung ein leises Surren und Klicken.

Gabriel hielt inne. Das Surren hörte fast sofort wieder auf. Er wagte sich näher an die Statue heran. Sie war aus Bronze und hatte dünne Rinnsale aus türkisfarbenem Rost unter den Augen, die zum Teil von einem Zylinder und der Hand, die ihn zurechtrückte, verdeckt waren. Weitere türkisfarbene Rostflecken säumten die Kanten von etwas, das wie ein Jackett aussah. Nein, korrigierte sich Gabriel, wie ein Mantel. Oder … na, irgendwas dazwischen. Die Jacke war leicht geöffnet, als hätte der Wind sie nach hinten geweht, bevor die Gestalt eingefroren war.

Gabriel grinste. »Hast du was für mich?«, fragte er und ließ instinktiv die Finger in die Innentasche des Mantels gleiten. Verdutzt stellte er fest, dass seine Fingerspitzen tatsächlich etwas berührten. Er zog es heraus und runzelte die Stirn. Es war rund und aus Metall, aber zu klein für eine Münze. Am ehesten sah es wie diese kleinen Jetons aus, die man in einen Autoscooter steckte. Er ließ das Plättchen ein paar Mal zwischen den Fingern kreisen, spürte sein beträchtliches Gewicht und sah sich dann um.

Ich frage mich, ob sich damit etwas öffnen lässt. Er drehte noch eine Runde um das Gebäude und suchte nach einer Öffnung, in die das Plättchen passen könnte. Ein Schlüsselloch? Falsche Form. Ein Fensterschloss? Zu groß. Der Riss im kunststoffverkleideten schwarzen Brett? Zu flach.

Nichts passte.

Gabriel ging zu der Statue zurück. »Du kannst es wiederhaben, Kumpel«, murmelte er missmutig und ließ es in die Tasche fallen, in der er es gefunden hatte. »Damit lässt sich nichts öffnen.« Er schlenderte davon und setzte sich wieder auf die Bahnsteigkante, um auf den Zug zu warten.

Und doch …

Gabriel konnte den Blick nicht von der Statue abwenden. Irgendetwas an ihr beunruhigte ihn. Da stimmte etwas nicht. Die Kleidung war komisch. Und die Art, wie die Hand den Zylinder zurechtrückte, war unbeholfen, die Finger waren ein bisschen zu gerade, um …

Unmöglich. Gabriel sprang auf und eilte wieder über den Bahnsteig. Aufmerksam musterte er die Finger der Statue. Erst jetzt wurde ihm klar, dass sie auf etwas zeigte.

Da, versteckt zwischen wucherndem Farn, Stechginster und Heidekraut, befand sich ein Tor. Und das Tor war im Gegensatz zu allem anderen am Bahnhof von Moorheart in perfektem Zustand. Kein Rost, kein Efeu, keine Farbe, die von den glatten schwarzen Metallstäben abblätterte. Sein Herz klopfte vor Aufregung. Er wandte sich an die Statue. »Sorry, ich glaube, das brauche ich doch noch.« Er nahm das Plättchen wieder an sich und ging vorsichtig auf das Tor zu.

Das Tor hatte kein normales Schlüsselloch, sondern nur einen kleinen Schlitz für … tja, für genau so ein rundes Plättchen. Gabriel schob es hinein. Das Tor verschluckte den Jeton mit einem Klirren und öffnete sich lautlos. Dahinter führte ein ausgetretener Pfad in einen dichten Wald. Gabriel blickte zurück zu den Bahngleisen, die ihn in wenigen Minuten nach Hause führen konnten. Dann holte er tief Luft, nickte, als wollte er sich selbst überzeugen, und marschierte los.

Zu beiden Seiten des gewundenen Pfads drängten sich dicht an dicht flechtenbewachsene Bäume, zu deren Füßen bemooste Felsbrocken lagen. Das Violett des Heidekrauts und das Gelb des Stechginsters verschwanden und es tauchte eine dünne Decke aus Blauglocken vor ihm auf. Obwohl es seit Tagen nicht mehr geregnet hatte, gab der Waldboden vor Feuchtigkeit nach. Es roch sogar feucht. Frühmorgens war das Moor bestimmt in dichten Nebel gehüllt, der alles nass und glitzernd zurückließ. Merkwürdig war jedoch, dass nur bestimmte Stellen nass waren, so als wäre der Boden heute Morgen gewässert worden.

Dieser Ort, wurde Gabriel klar, war überhaupt nicht wild. Der Efeu war von den Bäumen entfernt worden, der Boden neben dem Weg war gepflegt, und man hatte nur das Unkraut gedeihen lassen, das die schönsten Blüten hervorbrachte. Es dauerte ein paar Minuten, bis Gabriel merkte, dass der Weg langsam spiralförmig anstieg, und einige weitere, bis er das Plätschern von Wasser hörte. Kurz darauf sah er, dass Sonnenstrahlen durch das dünner werdende Blätterdach brachen. Dann senkte sich der Pfad mit einem Mal so steil ab, dass er hinter der Kuppe nicht mehr zu sehen war. Wachsam stieg Gabriel die letzten Schritte hinauf.

Seine Augen weiteten sich. Wo bin ich denn hier gelandet?

Unter ihm lag ein großer See, der von dichtem Wald umgeben war. Er funkelte in der Sonne wie der Diamantring von Mrs. Mercier. In der Mitte des Sees befand sich eine kreisrunde Insel voller hoher, dicker Bäume. Durch die Lücken zwischen den Bäumen war ein großes Gebäude zu erkennen, das sogar die Villa der Merciers in den Schatten stellte. Es sah prächtig aus mit seinen makellosen cremefarbenen Wänden und den terrakottaroten Dachziegeln. Efeu wuchs an den Wänden hoch, aber er schlängelte sich in eleganten Linien empor und nicht in einem unordentlichen, kreuz und quer verlaufenden Wirrwarr. Blühende Kletterpflanzen, die Gabriel nicht kannte, reichten von den Balkonen, Fenstersimsen und Gehwegen bis auf den perfekt gepflegten Rasen.

Vor dem Haupthaus befanden sich in einem Halbkreis mehrere kleinere Gebäude, die jedoch alle noch immer deutlich größer waren als das Sommerhaus, in dem Gabriel wohnte. Das Ganze sah aus wie etwas aus den Reiseprospekten, in denen er früher immer geblättert hatte, um sich an einen anderen Ort zu träumen, weit weg von dem Kaff, in dem er damals gewohnt hatte. Es war wie irgendwo in Spanien oder Italien oder Portugal, wohin er in Gedanken schon so oft gereist war, aber noch nie im echten Leben.

Und da drinnen wartete ein silberhaariger Fremder mit einer gestohlenen Münze auf ihn.

Gabriels Abstieg durch den Wald ging deutlich schneller als sein Aufstieg. Das lag zum Teil daran, dass es bergab ging, vor allem aber daran, dass er vor Aufregung in einen Laufschritt verfiel, den Blick fest auf das Terrakotta-Dach gerichtet, bis er das Wasser erreichte.

Lila und gelbe Wildblumen wuchsen am Ufer und dazwischen vereinzelte Blauglocken, die sich aus dem dichten Wald hervorgewagt hatten. Ein schmaler Pfad führte nach rechts um den See herum und Gabriel folgte ihm. Das Wasser war ruhig und klar und so tief, dass er den Grund nicht sehen konnte. Er bückte sich und tauchte einen Finger hinein.

Puh! Wenn es schon im Sommer so kalt ist, dachte Gabriel schaudernd, wie ist es dann erst im Winter?

Vor ihm ragte ein krummer Holzsteg im Zickzack in den See. Ganz am Ende stand eine einsame Gestalt und starrte zur Insel hinüber, als würde sie auf etwas warten. Als er näher kam, erkannte Gabriel, dass es ein Mädchen war. Es hatte hellbraune Haut und dichte, gewellte braune Haare, die bis zum Saum seines schwarzen T-Shirts reichten. Seltsamerweise schien das Mädchen mit sich selbst zu sprechen, mit einer solchen Konzentration, dass seine Stirn in Falten lag.

Vorsichtig betrat Gabriel den Steg und folgte dem unebenen Weg zu ihr. Ein paar Meter hinter dem Mädchen blieb er stehen, um es nicht zu erschrecken. Es murmelte Worte in einer Sprache, die er nicht kannte.

Das Mädchen neigte den Kopf und nahm einen kabellosen Kopfhörer aus dem Ohr, ohne den Blick vom See zu lösen. »Du solltest dich niemals von hinten an eine Frau anschleichen, die zehn verschiedene Möglichkeiten kennt, dich k. o. zu schlagen.« Dann, als hätte sie ihm nicht gerade unverblümt gedroht, fragte sie beiläufig: »Und, sprichst du auch Kantonesisch?«

Gabriel schaute sich um, um sicherzugehen, dass sie auch wirklich ihn meinte. »Ähm … nein.«

»Hm«, machte das Mädchen und drehte sich endlich zu ihm. Sie nahm den anderen Kopfhörer aus dem Ohr und steckte beide Hörer in die Hosentasche. »Kein Wunder. Es ist die schwierigste Sprache, die ich je gelernt habe.«

Gabriel blinzelte. »Wie viele Sprachen hast du denn gelernt?«

»Fünf spreche ich fließend. Aber verstehen kann ich noch zwei weitere. Und du?«

»Wenn ich genau nachzähle …« Gabriel tat so, als müsste er scharf nachdenken. »… eine.«

Das Mädchen runzelte die Stirn. »Nicht mal Französisch?«

»Je m’appelle Gabriel«, sagte er stolz. »Zählt das?«

Sie wich zurück. »Mit dem Akzent höchstens als Verbrechen!«

Sie drehte sich um, starrte zur Insel und murmelte: »Es ist ein Uhr. Sie müsste längst da sein.«

Gabriel stellte sich neben sie. Ihre unnatürlich aufrechte Haltung ließ sie größer wirken, obwohl er vermutete, dass sie ungefähr gleich groß waren. »Worauf warten wir?«

»Wir warten auf gar nichts. Ich warte. Ich habe keine Ahnung, was du tust.« Sie verschränkte die Arme. »Abgesehen davon, dass du wie ein Elefant durch den Wald polterst.«

»Hast du mir etwa hinterherspioniert?« Komisch. Er hatte auf seinem Spaziergang niemanden gesehen.

»Den langen Weg nimmt fast niemand. Ich wollte nur nachsehen, welcher Trottel da kommt.« Sie musterte ihn grinsend von oben bis unten. »Jetzt weiß ich es.«

»Es gibt einen kürzeren Weg?«

Sie zog eine Augenbraue hoch. »Natürlich.«

»Und was machst du hier?«, fragte Gabriel gereizt. »Sieht so aus, als hättest du auch einen langen Weg hinter dir.«

»Sieht so aus, hm?«, erwiderte das Mädchen anstatt einer Antwort.

Sie blieben nebeneinander stehen und warteten schweigend, dass etwas passierte, auch wenn Gabriel keine Ahnung hatte, was. Verstohlen musterte er das Mädchen erneut und bemerkte, dass dessen Gesicht und T-Shirt schweißnass waren. »Was hast du gerade gemacht? Warum bist du so … verschwitzt?«

»Sonntags nach dem Mittagessen höre ich immer meinen Kantonesisch-Kurs und mache dabei eine halbe Stunde HIIT – hochintensives Intervalltraining«, erklärte das Mädchen, als wäre es die normalste Sache der Welt. »›Flinke Füße, flinker Geist‹, sagt Vater immer. Was?«, fügte sie hinzu, als sie Gabriels ungläubige Miene sah.

»Na ja … ähm …«, stammelte Gabriel. »Leute in unserem Alter machen so was doch nicht. Solche Übungen, meine ich. Das ist eher, du weißt schon, was für Erwachsene. Und du siehst nicht gerade erwachsen aus.«

Das Mädchen wirkte gekränkt. »Was weißt du bitte vom Erwachsensein?«

»Ich? Nichts. Und ich will auch gar nichts wissen. Erwachsenwerden, das ist ein Verbrechen. Völlig unnötig, finde ich.«

Das Mädchen warf Gabriel einen verächtlichen Blick zu. »Ich spreche fünf Sprachen, aber ich fürchte, Schwachsinn gehört nicht dazu.«

»Oh, dann bin ich wohl doch zweisprachig«, gab Gabriel grinsend zurück.

Über das Gesicht des Mädchens flackerte ein Lächeln.

Augenblicke später tauchte ein langes, schmales Boot aus dunkelbraunem Holz auf dem See auf. Ein großer, hagerer, gespenstisch wirkender Mann stand auf der flachen Plattform am Heck. Er blickte mürrisch drein und wankte leicht, während er das Ruder in die glatte Wasseroberfläche stieß, und die Wellen, die sein ungeschicktes Paddeln verursachte, erreichten den Steg, etwa eine Minute bevor er selbst ankam.

»Die konnten mir nicht mal ein halbwegs anständiges Ruder besorgen«, brummte der Mann, während er die Hand ausstreckte, sich an der Kante des Stegs abstützte und das Boot schaukelnd zum Stillstand brachte.

»Wer sind Sie denn?«, fragte das Mädchen. (Ziemlich unhöflich, wie Gabriel fand.) »Wo ist Thomas?«

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