×

Ihre Vorbestellung zum Buch »Schura«

Wir benachrichtigen Sie, sobald »Schura« erhältlich ist. Hinterlegen Sie einfach Ihre E-Mail-Adresse. Ihren Kauf können Sie mit Erhalt der E-Mail am Erscheinungstag des Buches abschließen.

Schura

Als Buch hier erhältlich:

„Niemand sagte: Er ist gestorben. Sie sagten: Er ist weggegangen. Richtig wäre es zu sagen: Er ist nicht wiederaufgetaucht.“

Sommer sind für Schura eine Zeit der Leichtigkeit. Auf der Datscha ihrer Großeltern kann sie den strengen und emotional abwesenden Eltern entkommen, Erziehung und Vorbildfunktion übernehmen ihre vier älteren Brüder – Kostja, Mischa, Fedja und Grischa. Sie führen Schura ins Rauchen und Trinken ein, üben Vergeltung für den Übergriff des Nachbarjungen Iwan, sind ihre Verbündeten und Wegweiser. Bis einer von ihnen plötzlich verschwindet.

Der einschneidende Verlust entfremdet Schura von der Kernfamilie. Sie wächst zu einer wütenden, jungen Frau auf, die hinter ihrer Feindseligkeit große Unsicherheit verbirgt. Erst ein unerwartetes Wiedersehen konfrontiert sie aufs Neue mit ihrer unverarbeiteten Trauer und eröffnet eine Chance, ihrem Leben eine andere Richtung zu geben ...

»Berührend erzählt Maria Jansen von der Wucht der Trauer und findet einen ganz unerwarteten Weg, wie Schura – und Kostja – ihren Frieden finden!« Emotion

»Ein beeindruckendes Debüt.« Buchkultur


  • Erscheinungstag: 21.02.2023
  • Seitenanzahl: 352
  • ISBN/Artikelnummer: 9783753000763

Leseprobe

посвящается моей семье

Всем нашим встречам разлуки, увы, суждены

Тих и печален ручей у янтарной сосны

Пеплом несмелым подёрнулись угли костра

Вот и окончилось всё, расставаться пора

– Юрий Визбор

All unsre Treffen sind leider Beginne von Trennung/

Stiller, bekümmerter Bach vor einer Bernsteinkiefer/

Kohlebröckchen schrecken auf als ängstliche Asche/

Schon ist alles vorüber, nehmen wir Abschied/*

– Jurij Vizbor

*übersetzt von Yevgeniy Breyger

1

Kostja hat mal versucht, mir den Tod beizubringen. Mutters Vater war gestorben. Opi ist also tot, sollte ich gesagt haben. Aber wann kommt er denn wieder?

Er lachte laut und mit offenem Mund, sodass seine Augen hinter seinen Wangen verschwanden und ich unweigerlich mitlachen musste. Nichts fand er so amüsant, wie seiner kleinen Schwester die Welt zu erklären.

Alles, was er mir vor dem Schlafengehen vorlas, formte und richtete mich. Ich sollte so klug werden wie Mascha, die den Bären überlistete. So stark wie Marija Morewna, die ein ganzes Heer schlagen konnte. So gütig wie die schöne Wassilissa, die jedes Leid ohne Murren ertrug.

Lange Zeit war ich davon überzeugt, dass die Kondensstreifen am Himmel das Wolkenmädchen Ilmatar hinterließ. Kostja hatte mir erzählt, wie sie durch die Lüfte flog. Kein Schauer, kein Orkan hatte Gewalt über sie.

Meine anderen Brüder – Mischa, Fedja und Grischa – nutzten meine kindliche Einfalt für ihre Späßchen. Sie ließen mich glauben, dass ich adoptiert sei, sie mich im Wald gefunden hätten, als mich Bären fressen wollten. Sie sagten, meine Finger würden abfallen, wenn ich sie zu viel benutzte. Sie wollten mich vom Popeln abhalten. Ich hörte sofort auf, alles anzufassen, und weigerte mich, im Kindergarten schreiben zu lernen. Nachdem ich das erste Mal einen Schwarz-Weiß-Film gesehen hatte, überzeugten sie mich davon, dass die Welt früher keine Farben hatte. Als ich die Wahrheit erfuhr, lachten sie so laut, fast wären sie an ihren Zungen erstickt. Ich heulte mich bei Kostja aus, der daraufhin Kopfnüsse und Arschtritte verteilte.

Meine Brüder waren immer da gewesen. Bei meinem ersten Schritt (und Fall), bei meinem ersten Milchzahn (und den damit verbundenen schlaflosen Nächten). Während alle anderen Kinder mit ihren Eltern zur Einschulung kamen, begleiteten mich alle meine Brüder – Kostja, Mischa, Fedja und Grischa.

Mutter arbeitete, wie sie immer gearbeitet hatte, während Vater in seiner Garage hockte, die ihm nach dem Zerfall des Sozialismus zum zweiten Zuhause wurde.

Ich trug einen hellblauen Blazer, und meine frisch geschrubbten Füße steckten in frisch gebleichten Socken und nagelneuen schwarzen Lackschuhen, die beim Schreiten klack klack machten. Meine Brüder – Kostja, Mischa, Fedja und Grischa – trugen verfilzte Pullover und Arbeiterstiefel, aber alle Leute kannten ihre Namen und begrüßten sie, als wären sie die Herrscher des Nordens.

Während jeder Erstklässler einen Blumenstrauß für die Klassenlehrerin mitgebracht hatte, trugen einige Jungs zwei. Chrysanthemen für die Lehrerin, weiße Pfingstrosen für mich. Dahlien für die Lehrerin, Gladiolen für mich. Ich war höflich und sagte: Danke. Danach würdigte ich sie keines Blickes mehr.

Schon im Kindergarten kämpften sie um mich wie um ein begehrtes Spielzeug. Sie wollten mit meinen Buntstiften zeichnen und meine Hand halten. Besonders gern hörten sie meinen Geschichten zu.

Wusstet ihr, dass ihr einen dicken Bauch bekommt, wenn ihr ins Wasser fallt? Ilmatar war siebenhundert Jahre schwanger, nachdem sie ins Meer fiel.

Voller Stolz sah Mutter dabei zu, wie ich mit jedem Tag schöner wurde. Vater war groß, aber unförmig – klobig, könnte man sagen. Mutter war so dünn und zäh wie ein nasses Streichholz. Alle meine Brüder – Kostja, Mischa, Fedja und Grischa – kamen entweder nach Vater oder nach Mutter. So wurde ich zum goldenen Kalb inmitten der aschfahlen Landschaft, in allen Familienfotos nach vorne gedrängt.

Mutter liebte es, Oberflächen zu polieren. Sie besaß extravagante Blusen, von denen sie Ausschlag bekam, und holte – als wir uns das noch leisten konnten – die unbequemsten Möbel der ganzen Föderation ins Haus. Unsere Gäste lobten ihren Einrichtungsstil, aber niemand wollte lange bleiben.

Ich war eins dieser Sachen, die sie ausstaffieren und herumzeigen konnte. Seht nur, wie schön meine Tochter ist! Sieht meine Tochter nicht wunderschön aus? Währenddessen nährte sich Vaters Angst, ich würde ein naives Balg werden, das Wochenendvergnügen eines Oligarchen. Also investierte er das bisschen Geld, das reinkam, in meine Ausbildung.

Alle meine Brüder – Kostja, Mischa, Fedja und Grischa – übten Karate im Verein nebenan oder spielten im Hof. Ich musste jeden Tag nach dem Unterricht in die Musikschule gehen, und wenn ich abends nach Hause kam, reihten sich die Nachhilfelehrer in unserem Flur.

Wenn ich mich beschwerte, wischte Kostja mit seiner warmen Hand über meine nassen Wangen und sagte: терпи. Mit Mutter kannst du nicht kämpfen, du kannst sie nur aushalten.

Morgens weckte sie mich eine Stunde vor meinen Brüdern, und ich schwankte unausgeschlafen durch die Wohnung wie ein Grashalm im Wind. Jeden Morgen musste ich mich mit eiskaltem Wasser waschen, das Gesicht, die Achseln und zwischen den Beinen. Ein heißes Bad nahmen wir nur sonntags, erst Mutter, dann ich, dann Vater und zum Schluss, als das Wasser bereits kalt war und ein Schmutzfilm auf der Oberfläche schwamm, alle meine Brüder – Kostja, Mischa, Fedja und Grischa.

Ich war zu klein, mich an meine Eltern als erfolgreiche Geschäftsleute zu erinnern, aber wenn Vater über diesen Lebensabschnitt sprach, stellte ich ihn mir als Zaren vor, den die Veränderung der Zeit in den Abgrund gestürzt hatte. Sie beschäftigten über siebzig hart und nicht so hart arbeitende Menschen, die Büroräume, Restaurants und Privatresidenzen ausbauten – und auch mal einen Kiosk für die Bratwa.

Vater hatte die Aufträge reingeholt und Mutter die dicken Umschläge an Aufsichtsbehörden und Ordnungshüter überreicht. Dann wachten sie eines Morgens auf, und der Rubel war um dreißig Prozent gefallen. Was das genau hieß, wusste ich damals noch nicht, aber so ging die Geschichte.

Die abgenutzte Sofagarnitur aus grünem Samt erzählte noch von einer Zeit, in der Vater sein eigener Herr war und in den besten Restaurants der Stadt speiste. Die Besitzer legten seinen Namen noch respektvoll auf die Zunge, aber sie besaßen keine Restaurants mehr und waren nur noch Eigentümer ihrer eigenen Leben. Vater blieb sein Transporter, mit dem er hin und wieder irgendwelche Ladungen für Freundschaftspreise herumfuhr.

Er klagte ständig über Kopfschmerzen von den Abgasen, und Mutter klagte ständig über die leere Brieftasche. Dabei sagte sie im gleichen Atemzug, Armut sei keine Schande, sondern ein Unglück, und ging in die Kirche, um das Rad der Fortuna zu drehen. Aber es handelte sich wohl um einen platten Reifen, denn es bewegte sich nirgendwohin.

Jeden Morgen machte sie mir ein hart gekochtes Ei und hart geflochtene Zöpfe und band mir Tüllschleifen ins Haar, die wie Elefantenohren zu beiden Seiten meines Kopfes abstanden. Meine Kleider nähte sie alle selbst. Aus floralen Stoffen, die sie günstig bei einem tadschikischen Nachbarn erwarb.

Das altmodische Material verursachte Juckreiz, aber Mutter lächelte, wenn sie mich darin sah. Mein Name passte gut zu diesen Kleidern: Schura.

Mutter gab sich große Mühe, mich in eine Alexandra zu verwandeln, doch der Kosename haftete an mir wie der Wodkaschweiß an Onkel Wassja.

Schura war der Name meiner Babuschka.

Meine Babuschka buk nicht, häkelte nicht und las keine Gute-Nacht-Geschichten. Sie grub Kartoffeln, reparierte Regenrinnen und kannte sich mit Elektrik aus. Wenn sie Anweisungen gab, wurden sie ohne Widerrede befolgt.

Mein Deduschka war ein Bär von einem Mann. Er sah aus, als könnte er einen Angreifer mit nur einem Prankenhieb töten, unter Babuschkas Votum knickte er jedoch sofort ein: Да, да, да, ты права.

Babuschka war gerade mal eins fünfzig, aber einmal Vorarbeiterin in einer Brigade Anstreicherinnen gewesen. Sie hatte über vierzig Malerfrauen in sozialistischen Wettbewerben angeführt, wo sie stets den ersten Platz holte. Fast zehn Jahre lang arbeitete sie nebenbei in der kommunalen Volksvertretung. Tagein, tagaus hörte sie sich die Klagen der Bevölkerung an – das Dach sei undicht, der Strom wieder ausgefallen, eine riesige Pfütze vor der Tür –, um in den oberen Etagen Reformen durchzusetzen. Sie sollte den goldenen Stern bekommen, die höchste Auszeichnung des Staats, und nur weil sie nie Mitglied der Partei war, wurde er ihr aberkannt, bevor er überhaupt in den Guss kam. Stattdessen erhielt sie für ihre zivilen Verdienste den Orden der Oktoberrevolution und den Rotbannerorden. Nach der Verleihung sahen die Medaillen erst wieder das Tageslicht, als ich sie in einer Kiste auf dem Dachboden der Datscha entdeckte.

Jeden Sommer verbrachten wir bei unseren Großeltern auf der Datscha. Babuschka und Deduschka lebten im Rhythmus eines Kartoffellebens. Sie wechselten ihren Hauptwohnsitz im Mai, wenn der Frost nachließ und sie Kartoffeln pflanzen konnten, und kehrten im September in ihre Stadtwohnung zurück, wenn die letzten Knollen ausgegraben waren. Wenn wir im Juni mit den ersten Sonnenstrahlen der Sommerferien aufs Land fuhren, blühten die Bäume.

Vater packte uns in den Wagen, und es ging am Ufer des Sees aus der Stadt raus. Während Kostja selbstverständlich den Beifahrersitz besetzte, weil er der Älteste war, hatte ich auf dem Rücksitz die Wahl zwischen dem Schoß von Mischa, Fedja oder Grischa. Die Autofahrt war lang und unbequem. Genau wie Vaters Monologe. Ihm ging nie der Brennstoff aus:

Wir haben mehr als eine Million Arbeitslose im Land, aber als Saisonarbeiter haben sie wieder Migranten und Häftlinge geholt. Und dann sind sie empört, dass es einen Aufstand gibt? Die sollten mal das Jammern lassen und sich lieber darum kümmern, wie der garantierte Lohn erhöht werden kann. In Jalta zahlen sie in der Zwiebelernte tausend Rubel für einen Achtstundentag – könnt ihr das fassen? –, bei 35 Grad Hitze. Kein Einheimischer würde für so wenig Geld seine Gesundheit aufs Spiel setzen.

Ich erzähl euch, wie es hier läuft. Banken vergeben Kredite und verlangen die Rückzahlung vor Ablauf der Frist.

Habt ihr von dem Landwirt bei Kursk gehört? Der bat seine Bank um eine Ratenzahlung, weil er seine Produktion wegen einer Naturkatastrophe oder irgendeiner anderen höheren Gewalt nicht realisieren konnte. Die Bank verkaufte sofort alle seine Pfandrechte an einen großen landwirtschaftlichen Betrieb. Der arme Kerl musste natürlich sein Eigentum als Sicherheit verpfänden, als er um das Darlehen bat. Er hat alles verloren. Dabei schuldete er der Bank nur die Zinsen. Er ging in Konkurs, und es gibt Hunderte von solchen Geschichten. Um die kleinen Unternehmer kümmert sich keiner.

Wir fuhren vorbei an stillgelegten Industriegebäuden und verblassten Werbebannern an rostigen Zäunen. Auf der Brücke, die die Stadt vom Land trennte, saßen Männer vor ausgeworfenen Angelruten mit Panoramablick auf unseren See. Den grenzenlosen, dem Meer ähnlichen, den der nördliche Frosthimmel und das Weiß der Möwen färbte und in dessen Wasser unsere Stadt blickte.

Von hier aus sah sie flach aus, mehr ein Bild auf einer Postkarte als ein wachsendes, schwellendes Konstrukt mit rauchenden Schloten und Kränen über Beton.

Früher öffnete sich die Brücke zweimal am Tag für Schiffsverkehr. Dann mussten wir lange auf dem Rücksitz ausharren, während sich die Eltern vorne gegenseitig beschuldigten, weshalb sie nicht früher losgefahren seien. Derweil wuchsen die Straßenkolonnen ungeduldig zu beiden Seiten. Alte Frauen mit Kopftüchern saßen am Straßenrand mit getrocknetem Fisch, Beeren und zusammengebundenen Birkenzweigen, die sie zum Verkauf anboten.

Die alte Brücke bot nur Platz für eine einzige Autospur und war nur langsam befahrbar. Die Stadt versuchte sie instand zu halten, aber jedem neuen Holzbrett setzten Winter und Autoreifen dermaßen zu, dass es sich in kürzester Zeit bog und zersprang. Irgendwann stellte die Regierung eine Ampel auf, um den Verkehr zu regeln und damit Handgreiflichkeiten zu verringern, die aus Streitereien über die Vorfahrt resultierten.

Im Dorf dahinter war nur eine Handvoll der alten windschiefen Holzhäuser ganzjährig bewohnt. Erst im Sommer füllte sich der Ort mit Kindergelächter, Sägegeschrei und Klatsch und Tratsch. Wir hielten immer bei Babuschkas Cousine, dem blauen Dreigenerationenhaus am See, brachten der Familie Lebensmittel mit, die hier schwer zu bekommen waren: Brot, Milch und Fleisch.

Dann ging es auf die Schlaglochpiste. Der dunkle Tannenwald schloss sich rechts und links um die immer schmaler, mit jedem Kilometer brüchiger werdende Straße, die bald keine Straße mehr war, sondern nur noch Erde und Rollsplitt. Entlang der Strommastleitungen führte sie immer weiter durch Wald, Wald, Wald. Der Staub stieg in einer riesigen Wolke hinter uns auf, kleine Steinchen knallten gegen den schwer beladenen Autobauch, Grischa wurde schlecht. Hier führten die Wege in Militärgebiete mit bewaffneten Kontrollposten und Straßen, die sich in Marschland verloren. Hier gab es Bäume, deren Stämme Gewehrkugeln trugen, Sümpfe, in denen jedes Jahr Pilzsammler umkamen, und große Kahlschläge, wo die Holzmafia geplündert hatte.

Je näher wir unserer Datschensiedlung kamen, desto lichter wurde das Grün. Die hohen Fichten und Kiefern wichen weichen Birken und Espen. Die ersten Blechdächer und bunten Holzfassaden winkten uns zwischen den Bäumen zu. Als wir in unsere Parzelle einbogen, öffnete sich der Himmel über uns, blaute breit und tief über unseren Köpfen, als hätte jemand die Welt aus dem Hochformat ins Querformat fallen lassen.

Das gelbe Haus mit den geschnitzten Rahmen an den Fenstern gehörte uns.

Babuschka und Deduschka verteilten kräftige Umarmungen auf der Veranda. Der Tisch war gedeckt. Die Zeiger der alten Plastikuhr bewegten sich zwar, aber im Hausinneren veränderte sich nie irgendetwas. Wir aßen aus denselben Emailletellern, aus denen Vater in meinem Alter gegessen hatte, und schliefen auf denselben Matratzen, deren Federn schon vor unserer Zeit plattgelegen wurden.

Ich brachte einen Rucksack voll Schulaufgaben, alle meine Brüder – Kostja, Mischa, Fedja und Grischa – nur ihre nackten Oberarme. Während ich am Küchentisch vor meinen Heften saß, reparierten und isolierten sie und taten alles, was Babuschka ihnen auftrug. Wir bekamen die Freiheit für unsere Folgsamkeit.

Im Juli zog mich der Geruch nach feuchter, schwarzer Erde in die Beete, und ich pflückte die ersten Erdbeeren, von denen viele die für sie vorgesehene Plastikschale verfehlten und direkt auf meiner Zunge landeten. Im August kamen die Himbeeren. Wir liefen mit Sonnenbrand und Dreck unter den Fingernägeln herum. Babuschka versteckte sich im Haus vor der Mittagssonne, und Deduschka knüpfte in seinem kühlen Schuppen Netze, und meine Brüder liehen sich das Fahrrad vom Nachbarn, um an den See zu radeln. Mich setzten sie auf den Lenker, einer trat in die Pedale, einer saß breitbeinig auf dem Gepäckträger und zwei sprinteten hinterher. Wir kamen an saftig grünen Grundstücken vorbei und grüßten jedes vollbusige Tantchen, das in BH und buntem Fischerhut zwischen den Gemüsebeeten hockte. Im kleinen Waldstück vor dem Ufer mussten wir einen Zahn zulegen, um nicht von den Myriaden von Stechmücken gefressen zu werden.

Am Pier hatten sich bereits ein paar Jungs versammelt, um mich im Badeanzug zu sehen. Ljowa hatte seinen Hofhund Snickers mitgebracht. Er nutzte jede Gelegenheit, zu erzählen, dass der Hund Snickers hieß, weil er schokoladenbraun war und Nüsse hatte. Außer ihm lachte niemand mehr über diesen Witz. Er fragte mich, ob ich ihn streicheln wollte, und ich sagte definitiv: Nein.

Auch Jenja machte mir den Hof. Er konnte Steine über den See hüpfen lassen und auf jeden Baum klettern. Aber seit ich gehört hatte, dass er eines Wintermorgens mit der Zunge für eine halbe Stunde am Schulgeländer festklebte und seitdem nichts Süßes mehr schmecken konnte, imponierte er mir nicht mehr.

Sascha konnte mir nicht in die Augen sehen. Dafür konnte er mir an den Haaren ziehen und ein Bein stellen. Ich schlug mir die Knie auf, und einer meiner Brüder – Kostja, Mischa, Fedja oder Grischa – schubste ihn vom Pier. Er ertrank fast, weil er nicht schwimmen konnte. Ein paar Monate später sollte er beim Schaukeln auf den Kopf fallen, nach Hause gehen, sich hinlegen und nie wieder aufwachen. An die anderen Jungs kann ich mich kaum erinnern. Sie konnten weder ein Rentierhaar mit einem stumpfen Messer spalten noch einem Felsen die Haut abziehen. Kostja hatte mir von Kyllikkis Anforderungen an Bewerber erzählt, und meine sollten nicht darunter liegen, fügte er hinzu.

Die endlosen Tage dehnten sich ausgelassen unter der brütend heißen Sonne, und die Nächte hingen hell über uns wie ausgeblichene Laken. Dann löste der Regen die Sonne ab. Vaters Wagen parkte unter dem Apfelbaum. Es ging zurück in die Stadt.

Dort angekommen fiel es mir direkt auf: Die Jungs aus der Nachbarschaft waren gewachsen. Sie begannen Haare zu kultivieren und einen gewissen Ruf. Iwan war einer von ihnen. Iwan, der Katzenkinder ertränkte.

Niemand dachte auch nur daran, Geld dafür auszugeben, seine Katze zu kastrieren. Es war einfacher, sie werfen zu lassen und danach Iwan die frisch geschlüpften Fellnasen in einem Sack zu übergeben. Für ein paar Kopejek ging er mit ihnen zum See.

Seine Mutter kassierte im Supermarkt, sein Vater hatte sich totgesoffen. Der Apfel fällt nicht weit, sagten die Nachbarn, als Iwan anfing, die ganze Nacht auszubleiben und mit älteren Jungs Reifen auf Müllhalden anzuzünden.

Als ich einmal spät über den Hof nach Hause gelaufen kam, stellte er sich mir groß und breit in den Weg. Ich begrüßte ihn höflich und trat zur Seite, um an ihm vorbeizugehen. Er ließ mich nicht. Ich versuchte es andersherum, auch da kam er mir zuvor. Seine dicken Pupillen schwammen in wässrigem Augenweiß. Nase und Wangen quollen aus seinem Gesicht wie aufgegangener Sauerteig. Er grinste, wie Hunde Zähne fletschten, und da begriff ich: Es gab keine Zeugen, niemanden, der zu Hilfe kommen konnte.

Geh mir aus dem Weg, sagte ich mit fester Stimme, und da er sich nicht rührte, noch grober: Пошёл ты!

Kurz strauchelte er, war wohl überrascht, nicht das wohlerzogene Mädchen vor sich zu haben, das er erwartet hatte. Ich hielt seinem Blick stand, bis er die Augen beschämt abwandte. Doch ohne einen letzten Treffer wollte er das Feld nicht räumen. Also streckte er seine Hand aus und grabschte mir an die Brust.

Die Brust, die erst seit einer Woche in einem A-Körbchen lag. Meine linke, um genau zu sein. Tante Katjuscha hatte mir meinen ersten BH gekauft, und ich war peinlich berührt gewesen, aber auch stolz, damit in die Schule zu gehen. Und nun hatte Iwan seine schmutzige Pfote draufgelegt und zugedrückt, um anschließend sein ekelhaftes Grinsen wieder aufzutragen und mit den Händen in den Taschen siegessicher an mir vorbeizuziehen. Ich fragte mich, was er gewonnen hatte. Es musste etwas Kostbares gewesen sein, weil es sich nach einem großen Verlust anfühlte.

Ich schwor mir, nicht zu weinen, und ich schwor mir, niemandem davon zu erzählen. Doch als ich auf meine Brüder traf, die ihre heimliche Zigarette verlegen im Busch versenkten, kam ich nicht umhin loszuheulen. Der Rotz lief in Eimern, und sie stürmten auf mich zu, nahmen mich in den Arm, trockneten meine Tränen, traktierten mich mit Fragen, bis ich ihnen schilderte, was vorgefallen war. Hatte sich so Kyllikki gefühlt, als Lemminkäinen sie gewaltsam an den Schlitten band und sie raubte?

Kostjas Ohren wurden rot, meine Brüder wechselten bedeutende Blicke.

Es ist alles meine Schuld, brachte ich keuchend hervor.

Da packte mich Kostja hart an beiden Schultern und schüttelte mich kurz, dass es wehtat. Er hatte sich vorgebeugt, sodass sein Kopf ganz nah an meinem war. Er sah wütend aus. Jetzt kommt der größte Anschiss meines Lebens, dachte ich noch, aber dann sagte er: Du hast nichts falsch gemacht.

Genau, gab ihm Mischa recht. Jungs in dem Alter sind nicht besser als Affen.

Fedja nutzte die Chance für einen Seitenhieb: Sagt der Orang-Utan. Prompt kassierte er von seinem älteren Bruder einen leichten Fausthieb gegen die Rippen. Sie brachen in eine Rangelei aus.

Grischa legte seine Hand auf mein Haar und streichelte mich. Ich schluckte, und der Kloß im Hals löste sich langsam auf.

Meine Brüder brachten mich zur Tür und machten auf dem Absatz kehrt. Ohne vorherige Absprachen untereinander zu treffen, marschierten sie als Mauer davon.

Mischa, der auf seinem breiten Kreuz einen Laster hätte stemmen können, aber der Erste war, der heulte, als Simbas Vater in den Tod stürzte. Fedja, dessen Mund so groß wie sein Mundwerk war, aber ihm bisher nur dabei genützt hatte, sich in Schwierigkeiten zu bringen und nicht aus ihnen herauszukommen. Grischa, der Sanfte, der am längsten brauchte, einen Witz zu verstehen, aber der Schnellste war, sich zu entschuldigen. Und Kostja, der alles ertragen konnte. Ohne Mucks. Sogar unsere Familie.

Bei irgendeinem Festtagsessen klagte Mutter mal darüber, was für ein schwieriges Kind er gewesen sei. Dass er jeden Tag blaue Flecken, Schrammen und Schlimmeres mit nach Hause gebracht habe. Von meinen Brüdern hörte ich, Kostja habe keinen einzigen Kampf verloren und dabei selbst keinen herausgefordert.

Die Nachbarjungs bauschten regelmäßig Geschichten auf, Kostja würde selbst bei Brüchen nicht mit der Wimper zucken. Als einer mal das Fenster unseres Autos einschlug, kamen sie auf uns zu, noch bevor wir das Unglück entdeckten: Mischa Radugin hat euch das Autofenster eingeschlagen, wir haben alles gesehen, wir sagen aus! Vater rief die Milizija. Mischa Radugin bekam, was ihm zustand. Und die kleinen Ordnungshüter zur Belohnung einen Schulterklopfer von Kostja. Es gab keinen, der nicht nach einem anerkennenden Blick von ihm lechzte. Mich eingeschlossen.

Als meine Brüder zurückkamen, war aus ihnen kein einziges Wort herauszukriegen.

Iwan blieb eine Zeit lang verschwunden. Die Nachbarn spekulierten, seine Mutter hätte ihn in ein Umerziehungsheim geschickt. Ich stellte mir vor, wie meine Brüder ihn in acht Teile zerhackten und in Tuonis Totenfluss warfen. Aber als die Tage länger wurden, tauchte er aus dem Nichts wieder auf.

Er hatte abgenommen und war nach oben geschossen wie eine magische Bohnenranke. Jedes Mal, wenn er meinen Weg kreuzte, buckelte er unterwürfig und verkrümelte sich aus meinem Blickfeld. Dann ging er dazu über, Mutter die Einkäufe zu tragen und Vater bei der Reparatur seines Transporters zu helfen.

Alle meine Brüder duldeten Iwan, weil er ihnen Limonaden und Zigaretten aus dem Kiosk besorgte und über alle ihre Witze lachte. Sie riefen ihn freundschaftlich neckend Krupa, Grütze, von seinem Familiennamen Kruptschinski abgeleitet. Warum ich ihn dulden musste, wusste ich nicht genau, aber gerne hätte ich ihm andere Namen an den Kopf geworfen.

Zeitgleich passierte etwas Ungeheuerliches mit meinem Körper. Meine linke Brust hörte auf zu wachsen. Als hätte sie Iwans Anwesenheit gespürt und sich verkrochen. Mit Schrecken beobachtete ich ihre Stagnation im Badezimmerspiegel. Der Spiegel hing zu hoch, ich musste einen Hocker vor das Waschbecken rücken und mich daraufstellen. Es wurde Teil meines morgendlichen Rituals. Das Ausziehen, der Hocker, die Bestürzung danach.

Wenn Mutter mich wie eine Puppe kleiden und frisieren wollte, begann ich mich zu wehren. Aber guck nur, wie schön du darin aussehen würdest, sagte sie. Zeig doch mal dein schönes Lächeln, bat sie. Aber ich wollte nicht lächeln. Ich wollte Hosen anziehen und meine Haare offen tragen, möglichst viel von mir verstecken.

Ich konnte keine runden Lebensmittel mehr essen. Nicht mehr auf dem Bauch schlafen. Die Jungs sahen mich anders an. Sie wussten, dass etwas nicht mit mir stimmte. Ich hörte das Tuscheln in meinem Rücken, spürte Blicke wie Brennnesseln an mir entlangstreifen. Als würde sich die Abscheulichkeit aus der Mitte meines Körpers wie ein Geschwür ausbreiten, sich auf meine Haare legen, meine Haut bedecken. Schließlich kam die Scheußlichkeit unten aus mir heraus.

Der Schreck fuhr mir in die Knochen, als ich auf der Toilette den rotbraunen, klumpigen Auflauf in meiner Unterhose sah. Erst dachte ich, ich sei krank. Die Ausscheidung roch nach Übel und Eisen. Ich inspizierte das schleimige, warme Zeug als den allerletzten Beweis meiner Grässlichkeit.

Nachdem Mutter meine mit Mühe zusammengeknüllte und im weitesten Winkel des Wäschekorbs verborgene dreckige Unterhose fand, bestätigte sie meine Sorge. Die Periode sei etwas, das ich vor der Welt und vor allem den Männern verstecken musste. Also klebte ich mir morgens Binden in die Unterhose und entsorgte abends klammheimlich das schwere vollgesogene Synthetikmaterial im Mülleimer, bis nichts Anstößiges mehr aus mir austrat. Was nur eine kurze Atempause von siebenundzwanzig bis dreißig Tagen bedeutete, bevor das Grauen wieder einsetzte.

Ich war zu einer Baba Jaga verkommen, einer hässlichen Schreckgestalt, kurz davor, in einen dunklen Wald zu ziehen und meinen Garten mit Schädeln zu dekorieren.

Verzweifelt suchte ich nach Rettung, und das Einzige, was mir einfiel, war, hinter den Garagen die Hand irgendeines Dimas zu drücken und meine Lippen auf seinen Mund zu legen. Er schmeckte nach nassem Fisch, und seine Hand war feucht von Schweiß. Er wischte sich mit dem Hemdärmel über die Lippen und befreite sich ungelenk aus meinen Fingern. Um meine Verlegenheit zu überspielen, schubste ich ihn gegen die Mauer und drohte ihm, meine Brüder auf ihn zu hetzen, wenn er irgendwem davon erzählte.

Auf dem Weg nach Hause sah ich sie vor dem Kiosk herumlungern. Iwan stand bei ihnen. Obwohl sich alle meine Brüder eigene Zigaretten hätten leisten können, teilten sie sich wie immer eine. Sie nahmen kleine Züge und ließen den gestopften Papierstängel liebevoll gegen den Uhrzeigersinn wandern. Iwan lief wie auf Knopfdruck hinein, um ein eiskaltes Getränk zu holen, und ich schloss den Kreis.

Um meinem Mund die schamvolle Erinnerung zu nehmen, verlangte ich selbst zu rauchen.

Kostja sagte: Nein.

Ich sagte: Doch.

Mischa, Fedja und Grischa traten unsicher von einem Fuß auf den anderen. Schließlich gaben sie nach. Sie zündeten eine neue Zigarette für mich an. Einer hielt das Streichholz, der Zweite formte seine Hände zum Windschutz, der Dritte machte den ersten Zug und der Vierte legte den vorgeglühten Stängel zwischen meine Finger.

Der Rauch kratzte in meinem Hals, mir schossen Tränen in die Augen, aber ich hustete nicht. Ich schluckte das Unbehagen einfach herunter. Alle meine Brüder waren beeindruckt von meinem gelungenen ersten Zug.

Iwan stolperte aus dem Kiosk. Die Dosenlimonade schmeckte nach Metall und die Zigarette einfach widerlich. Aber ich hatte sie für mich allein und rauchte sie bis zum Filter auf.

2

Streit war in unserer Familie wie Unkraut in Babuschkas Beeten: vertraut und ungemein anstrengend. Babuschka konnte nicht gegen Unkraut gewinnen, und trotzdem machte sie sich den Rücken krumm.

Wenn sich Mutter nicht mit Vater um Haushalt und Geld stritt, ging sie auf uns los: Räumt das weg, macht eure Hausaufgaben, warum kommt ihr erst so spät nach Hause! Mischa und Fedja führten ihre Fehde seit der Steinzeit. Sie stritten darüber, wer zuerst mit irgendetwas spielen durfte, wer das größere Stück Kuchen bekam, wer an der Reihe war, Kostjas rotes T-Shirt zu tragen. Das Ding war ausgeleiert und hatte überall Löcher, aber es anzuziehen war offenbar wie auf einem Thron zu sitzen. Weil Mischa der Ältere war, musste er oft nachgeben. Viel öfter jedoch artete das Ganze in einen Ringkampf aus. Mischa hatte mehr Kraft. Fedja war flink und fluchte wie ein Irrer. Wenn Grischa zwischen ihnen stand, konnte auch mal Blut fließen. Wenn einer seinen Scherz zu weit trieb, warf sich direkt der andere als Schutzschild vor den Kleinen. Dann waren es zwei gegen einen und Kostja musste eingreifen.

Ich brauchte keine Fäuste, um mich zu verteidigen. Meine Stimme reichte aus. Wenn mich Mutter zur Hausarbeit zwingen wollte, brachte ich eine Ausrede vor: Ein Test steht an, ich muss lernen, oder soll ich schlecht abschneiden? Wenn mich Vater ermahnte aufzuessen, argumentierte ich: Eine dicke Tochter frisst dir noch alle Haare vom Kopf – willst du das? Wenn mich Kostja vor dem Abendprogramm im Fernsehen ins Bett schickte, verhandelte ich: Nur, wenn du mir vorliest.

Er pustete genervt seine Backen auf, aber gab nach.

Kostja war derjenige, der bei uns Unkraut jätete. Er ging dazwischen, versöhnte oder fügte sich. Er hatte ein Talent dafür, Tiefpunkte mit einem kurzen Spruch abzutun.

Wie das eine Mal, als Mutter zu Mischas Geburtstag ein Festmahl veranstaltete und dann überschnappte, weil Vater vergessen hatte, Wurst vom Markt mitzubringen.

Sie heulte und warf ihm vor, das ganze Essen ruiniert zu haben, und stürzte theatralisch nach draußen, um den versäumten Einkauf nachzuholen. Die Haustür fiel mit einem Knall ins Schloss und wir in betretenes Schweigen.

Keiner rührte auch nur einen Finger. Als hätte sie uns mit einem Fluch belegt, der besagte, dass wir so lange vor der kalt werdenden Tafel sitzen bleiben mussten, bis die Dame des Hauses zurückkehrte. Wer sich widersetzte, dem würde Schreckliches bevorstehen.

Da streckte Kostja seinen Arm nach dem Plov aus, hievte eine große Portion auf seinen Teller und sagte lapidar: Wir heben ihr was auf.

Die Leichtigkeit in seiner Stimme erzeugte ein kollektives Aufatmen.

Fedja stimmte mit ein: Solange wir ein paar Scheiben Brot für die Wurst übrig lassen, sind wir fein raus. Selbst Vater schmunzelte: Achtet nun darauf, später ganz schuldbewusst dreinzublicken, wenn sie wiederkommt. Auf keinen Fall darf eure Mutter mitkriegen, dass wir nicht genauso gelitten haben wie sie.

Kostja war drei Jahre älter als Mischa, vier Jahre älter als Fedja, sieben Jahre älter als Grischa und zehn Jahre älter als ich. Obwohl uns so viele Jahre trennten, war er immer der Erste gewesen, zu dem ich gerannt kam, wenn mich jemand ärgerte, wenn ich eine gute Note bekam, wenn es etwas zu erzählen gab. Zumindest bis er wegging.

Nach der Schule wurde Kostja ausgemustert. Mutters Freude darüber währte nicht lang. Er heuerte auf Fischereischiffen an, dann auf einem Frachter, schälte monatelang Kartoffeln und half im Maschinenraum aus.

Er sei für etwas Besseres gemacht, klagte sie und versuchte ihn zu einer höheren Ausbildung zu überreden. Die hiesige Universität sei fußläufig erreichbar, er könne weiter zu Hause leben, hätte keine Unkosten.

Erst wurde sie zornig, und dann weinte sie. Als Wut und Tränen ihre Wirkung verfehlten, strafte sie ihn mit Schweigen. Kostja nahm das nächste Boot und verschwand. Und Mutter ging mit erhobenem Haupt durch die Stadt und erzählte jedem, wie unermüdlich ihr Ältester arbeite, in seinen jungen Jahren Geld nach Hause schicke, um die Familie zu unterstützen. Dabei kam nicht ein einziger Brief.

Sobald er zurückkam, fiel ich ihm zur Begrüßung um den Hals. Mutter sagte abschätzig, Kostja solle aufhören, mich zu verhätscheln. Um auf seinen Schultern zu reiten, war ich zu groß geworden, also war ich wohl auch zu alt für Umarmungen. Die anderen nahmen mich noch Huckepack und in den Schwitzkasten – dafür kam man als kleine Schwester nie aus dem Alter.

Ich überhäufte ihn mit Fragen, wollte wissen, was er gesehen, was er erlebt hatte, aber er sagte nur: später. Er blieb nie lange genug für später.

Unsere kleine kalte Hauptstadt war ihm wohl zu eng geworden und zu bieten hatte sie eh nicht viel. Wir hatten Wälder und Werften und so viel Kultur, dass es für ein paar Postkarten reichte. Die berühmtesten Söhne und Töchter der Stadt waren Athleten und nach Berühmtwerden nicht mehr gesehen. Hier lebte man, weil die Eltern hier lebten, und die lebten hier, weil die Großeltern vom Land gekommen waren, um hier zu arbeiten. In den Wäldern und den Werften. Bevor Kostja die Stadt verließ, wusste ich gar nicht, dass die Welt größer und weiter war als bis zum Horizont.

Über die Flüsse und Kanäle konnte er mit dem Schiff jedes Land der Küstenmeerzone erreichen. Wir legen morgen ab, hörte ich ihn mit den Eltern sprechen. Es geht nach Deutschland.

Nach der Schule nahm ich den Bus zur Bibliothek, um mir dieses Deutschland anzusehen. Ein Land voller Märchenschlösser und Kriegsniederlagen. Ich versuchte mir vorzustellen, wie es wäre, wenn mich Kostja mitnähme. Aber aus irgendeinem Grund sah ich uns nie weiter als bis zum Seeufer gehen.

Als Kostja zum letzten Mal zurückkam, war ich fünfzehn.

Der Sommer auf der Datscha startete regnerisch und kalt. Babuschka war die ganze Zeit gereizt, weil die Jungpflanzen verrotteten. Dann setzte eine Affenhitze ein und sie kam mit dem Gießen nicht hinterher. Kostja verlegte irgendwo im Norden Telefonkabel und Mischa, Fedja und Grischa langweilten sich. Da kam das Angebot des Nachbarn ganz recht.

Er hatte ein undichtes Dach, konnte aber nur mit Schnaps bezahlen, Selbstgebranntem aus Äpfeln und Birnen. Manche hatten sich schon an dem Gesöff vergiftet. Tante Katjuscha zum Beispiel, die nach einem Umtrunk zwei Tage bettlägerig war.

Meine Brüder hatten zwei Tage auf seinem Dach verbracht und bekamen dafür ihre Lorbeeren: eine Flasche Hochprozentigen pro Kopf.

Babuschka war an einem der heißesten Tage über Nacht in die Stadt gefahren, und Deduschka war liberal. Die perfekte Gelegenheit für meine Brüder, auf dem Basketballplatz ihre Trinkfestigkeit unter Beweis zu stellen. Das wollte ich mir nicht entgehen lassen.

Der Basketballplatz war kein richtiger Platz, sondern nur ein Basketballkorb ohne Netz, der an einen Baumstamm zwischen Waldrand und Seeufer genagelt war. Vor langer Zeit hatte jemand den Boden davor asphaltiert, aber Baumwurzeln und Witterung spalteten den Straßenbelag, sodass hier schon lange niemand mehr punktete. An einem der dicken Äste hing eine Schaukel, die aus einem Holzbrett an Seilen bestand. Ein Baumstumpf und ein aus dem Wald gezerrter Stamm dienten als Sitzmöglichkeiten. Die Enkelinnen und Enkel und Söhne und Töchter trafen sich hier gelegentlich in den Abendstunden, um Zigaretten und Küsse zu teilen.

Als ich mit meinen Brüdern auf den Platz kam, hatten ihn bereits einige in Beschlag genommen. Zwei Jungs in Fedjas Alter warfen sich einen Federball zu, ich erkannte Jurij und Dima, die Söhne vom Hof am Rande der Genossenschaft. Sie hielten Hühner und eine Kuh und rochen auch so. Und einer, der viel jünger aussah, versuchte mit einigen Zweigen und Streichhölzern ein Feuer zu entfachen. Ein Mädchen in einem Kleid stand daneben. Später erfuhr ich, dass sie Aljona hieß und auf unsere Schule ging.

Mischa trug den Samogon in einer Plastiktüte. Fedja hatte einen Laib Brot und ein großes Glas sauer eingelegte Gurken dabei. Grischa folgte mit einem breiten Grinsen.

Als sie die erste Flasche köpften, kamen Jurij und Dima wie aufgeregte Welpen angerannt. Es gab keine Gläser, also tranken sie aus der Flasche. Erst Mischa, dann Fedja, zuletzt Grischa, der hustete und rot im Gesicht wurde. Sie klopften ihm auf den Rücken und lachten. Anschließend durften auch Jurij und Dima probieren. Der kleine Junge kam auch angerannt und verlangte zu trinken.

Lass erst mal ein Brusthaar sehen, sagte Mischa, dann kriegst du was.

Der Junge hob sein T-Shirt und begann zu suchen. Alle lachten. Seine Brust hätte mit einem vom See polierten Steinchen verwechselt werden können.

Aljona stand abseits und musterte uns, neugierig, aber auch missbilligend, wie ich fand. Mit ihren ordentlich in Zöpfe geflochtenen Haaren und dem sauberen weißen Bubikragen ihres Kleides schien sie meinen Aufzug zu verspotten – ein zerschlissenes übergroßes T-Shirt, das in ausgeleierten Shorts steckte. Sie war mir ein Dorn im Auge, und trotzdem oder genau deshalb konnte ich nicht aufhören, sie anzusehen. Ihre langen Wimpern und ihre Porzellanlippen und ihre symmetrischen Knie.

Ohne groß zu überlegen, griff ich auch nach der Flasche. Mischa hielt sie umklammert und gab sie nicht frei, fragte: Was tust du da?

Ich hab eins, sagte ich. Ein Brusthaar. Ich schwör, grinste ich, willst du sehen?

Mischa kapitulierte.

Ich musste die Flasche mit beiden Händen halten, um einen Schluck zu nehmen, weil sie so schwer war. Das trübe Getränk schmeckte kalt und leise nach Frucht und brannte ein bisschen im Hals, aber schon im nächsten Augenblick verwandelte sich das Brennen in Wärme, also nahm ich direkt noch einen. Der zweite Schluck war schärfer, und mir schossen Tränen in die Augen.

Die Jungs pfiffen anerkennend. Ich warf Aljona einen Seitenblick zu. Sie sah zu Boden.

Eineinhalb Flaschen später war ich unbesiegbar. Niemand konnte mir etwas anhaben. Ich hätte den Baum hochklettern und mein Leben im Schutz der Baumkronen verbringen können. Mit den Armen in der Luft stand ich auf dem Baumstumpf, die Bäume umkreisten mich, ihre Wurzeln brachen die Erde auseinander, ihre langen Stämme bewegten sich wie Giraffenhälse, tanzten um mich herum. Die anderen zu meinen Füßen hatten rote Nasen und rote Wangen und schielten aus rot geäderten Augen. Sie sangen Lieder der Pioniere. Клич пионеров – всегда будь готов! Mischa verzog das Gesicht, als ihm Dima ein Gürkchen reichen wollte. Er konnte Saures nicht ausstehen. Es roch nach Erbrochenem. Fedja rief, Jurij solle weiter in den Wald hineingehen, habe er keinen Anstand? Aljona sah Fedja mit einem solch verliebten Blick an, dass ich mich gestört fühlte.

Haltet euch fest, sagte Fedja gerade.

Er erzählte, dass Kostja bei seiner letzten Reise bis zum Ural gekommen war, wo er Streitkräften einer Raketenmilitäreinheit begegnete. Der Ort war praktisch leer gefegt und die Basis trotzdem abgeriegelt wie ein Tresor voller Schätze. Jedem Normalsterblichen war der Zugang verboten, aber Kostja könne sicher behaupten, dass die Regierung einen geheimen unterirdischen Militärkomplex gebaut habe, einen versteckten Bunker im Inneren des Berges.

Was ein Schwachsinn, rief Dima und schluckte und rülpste. Er hatte Schluckauf.

Fedja soll weitererzählen, bat Aljona mit kleiner Stimme.

Genau, trompetete Mischa, halt’s Maul und lass ihn ausreden. Fedja würde nie lügen.

Fedja räusperte sich und sprach weiter.

Kostja war eines Abends in einer Dorfkneipe mit seinen Kollegen was essen, als sich am Nebentisch ein betrunkener Unteroffizier ausplauderte. Er war im Inneren der Basis stationiert und bestätigte die Gerüchte. Der Berg könnte Unterschlupf für über zwei Milliarden Menschen bieten. Auf dem Gipfel befände sich ein Landeplatz für Hubschrauber, zwei Fußballfelder groß.

Wofür ist die Basis?, fragte Grischa. Seine Augen glänzten fast noch mehr als die von Aljona.

Das liegt doch auf der Hand, sagte Fedja. Nach dem Krieg arbeiteten dort Gefangene in Uranminen. Drumherum gibt es Beweise dafür, verlassene Schmalspurbahnen, Geistersiedlungen. Die Regierung hat sich die nötigen Ressourcen gesichert und bereitet sich auf einen thermonuklearen Krieg vor.

Vom See stieg Nebel auf, als würde die Erde ausatmen. Die aufgeheizten Wälder kühlten ab. Ich stellte mir vor, wie es wäre, der letzte Mensch auf Erden zu sein. Um mich herum nur Trümmer und Asche, die meinen Hals zerkratzte. Über mir ewiggraue Wolken, die säuerlichen Regen über die Landesgrenzen schleppten. Das Atmen fiel mir schwer. Meine Haut juckte. Wenn ich sie kratzte, löste sie sich und blieb unter meinen Fingernägeln hängen. Meine Tage verbrachte ich mit Zählen. Menschen: eins. Bäume: zwei kahle. Finger: zehn schmutzige. Schritte: drei, vier, fünf. Mehr hatte ich nicht zu tun. Schließlich war ich der letzte Mensch auf Erden. Es war auszuhalten. Man fühlte sich weniger einsam, wenn niemand sonst existierte.

Ist dir nicht kalt, fragte jemand.

Ich öffnete meine Augen und sah Kostja über mir stehen. Den Blick kannte ich gut. Den setzte er auf, wenn meine Brüder Blödsinn verzapft hatten und er vor ihnen den Großen spielen musste. Mich hatte er noch nie so angesehen. Die Adern auf seiner Stirn traten hervor.

Ich richtete mich auf, mein Kopf fühlte sich voll an, der Magen leer. Das verschwitzte Unterhemd klebte am Körper. Die anderen neben mir, Mischa trug nur eine Unterhose, Fedja eine Krone aus Ästen und Blättern, schüttelte Grischa wach, der seine Wange auf einem Stein abgelegt hatte. Jurij und Dima waren schon dabei, ihre Sachen aufzusammeln und sich zu verkrümeln. Aljona und der kleine Junge waren weg. Meine Gummistiefel auch. Mein T-Shirt lag ein paar Meter weiter in wilden Moosbeerensträuchern.

Ach, antwortete ich, was ist schon Kälte. Das hat sich doch irgendein Perverser ausgedacht, um Tiere zu häuten und ihr Fell zu tragen.

Mischa lachte.

Kostja sagte: anziehen.

Mischa verschluckte sich und hustete.

Ich sagte: Willst du mein Brusthaar sehen?

Kostja sagte: Warte, bis wir nach Hause kommen, dann kannst du was erleben.

Ich sagte: Das habe ich schon.

Das Einzige, was er hervorbringen konnte, war ein erbostes: Pass auf.

Worauf denn?, erwiderte ich. Der Rausch hob mich über alle und jeden. Von hier oben konnte ich die Sprünge in Kostjas Maske sehen, wie viel Kraft es ihn kostete, den strengen Bruder zu spielen.

Er schnappte sich den übrig gebliebenen Samogon – zu meiner Überraschung hatten wir zusammen nicht mal zwei Liter geleert – und kippte ihn in die Büsche. Gluckgluckgluck machte es.

Autor