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Seahorse - Der Gesang der Wasserpferde

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Ein mysteriöses Pferd in den schottischen Highlands und ein Geheimnis in der Vergangenheit

Shona wäre niemals freiwillig an diesen Ort gekommen: die kleine Grafschaft in den schottischen Highlands, wo ihr Onkel ein Anwesen besitzt und die störrische Nichte bei sich aufnimmt. Shona erwartet, hier genauso wenig verstanden zu werden wie sonst. Doch dann begegnet ihr ein majestätisches Pferd, mit dem sie ohne Worte eine innige Verbindung spürt. Und immer, wenn sie ihm begegnet, taucht kurz darauf dieser geheimnisvolle Junge in ihrer Nähe auf. Was hat er mit dem Pferd zu tun? Großtante Meghan ist die einzige, der Shona sich anvertraut. Und die alte Dame spricht eine Warnung aus: Reite niemals dieses Pferd! Erst recht nicht, wenn du in der Nähe von Wasser bist!

Romantische Mystery von Pferdeexpertin und Erfolgsautorin Karin Müller


  • Erscheinungstag: 28.06.2022
  • Aus der Serie: Seahorse
  • Bandnummer: 1
  • Seitenanzahl: 272
  • Altersempfehlung: 12
  • Format: E-Book (ePub)
  • ISBN/Artikelnummer: 9783505150104

Leseprobe

Kapitel 1

Loch Eriboll, schottische Highlands, Juni 1983

Der frische Wind, der vom Meer herangetragen wurde, spielte mit den Haaren des jungen Hengstes und des Mädchens auf seinem Rücken. Sein Fell hatte die Farbe von Herbstlaub, das mit einer feinen Schicht erster Schneekristalle bestäubt war: Puderzuckerweiß auf Orangebraun. Seine Mähne und ihr Haar schimmerten in demselben Rotton. Nur die Ohren, die aufmerksam und neugierig in Richtung des Mädchens spielten, waren eine Nuance dunkler. Red Roan nannte man diese Farbe in den schottischen Highlands – und vermutlich auch überall sonst in der Welt, wo Clydesdales vorkamen.

Die Beine und das weiche Maul des Tieres sahen aus, als hätte es eben noch fast bis zum Bauch in Milch gestanden – und einen ordentlichen Schluck daraus getrunken. Die untere Hälfte seines Gesichts und der dichte Behang an den Beinen, der fast vollständig die tellergroßen Hufe verbarg, waren schneeweiß.

Maggie hielt den Atem an. Allerdings nicht, weil das Pferd wirklich atemberaubend schön war, sondern weil ihre jüngere Schwester wie ein zerbrechliches Püppchen auf dem blanken Rücken dieses Riesen thronte. Sie war barfuß und trug einen zerschlissenen Strickpullover über dem karierten Sommerkleid. Ihre Beine waren nackt und blass, aber ihr Lachen klang laut und kräftig zu ihr herüber.

»Jetzt komm schon, Maggie! Stell dich nicht so an. Es ist nicht gefährlich. Ich sag dir doch, er ist mein Freund. Er würde uns niemals etwas tun. Steig auf den Felsen da drüben, dann kann ich dich besser hochziehen.« Sie streckte einen Arm aus und hielt ihr die geöffnete linke Hand hin.

»Auf den Feenhügel klettern? Ich weiß nicht. Und du hast nicht mal Zaumzeug!« Maggie zögerte immer noch. Skeptisch legte sie sich eine Hand über die Augen und sah zu ihrer Schwester hinauf. Die Sonne blendete.

»Das brauche ich auch nicht.« Lächelnd bewegte Mhairi ihre rechte Faust, die sie um ein dickes Büschel rostroter Mähnenhaare geschlossen hatte. »Sei nicht so abergläubisch.«

Das gewaltige Tier schnaubte und scharrte ungeduldig mit dem Huf im feuchten Sand.

»Na los, sei kein Angsthase! Früher sind wir hier doch immer zusammen um die Wette galoppiert. Hast du das vergessen, während du fort warst?«

»Natürlich nicht, aber das war auf unseren Highlandponys. Aus denen bin ich rausgewachsen, im Gegensatz zu dir. Das hier ist ein bisschen was anderes.« Maggie schüttelte den Kopf und seufzte tief, während sie den Riemen ihrer Reitkappe schloss und ihren Fuß auf den untersten Felsbrocken stellte. Schimpfend tastete sie mit den Händen nach einem guten Griff und kletterte Stück für Stück höher. »Du bist von allen guten Geistern verlassen, Mhairi Fitzgibbons. Aber der dicke Schäferhund von Father Brown soll mich fressen, wenn ich dich allein mit diesem Vieh den Strand runtergaloppieren lasse. Ich habe Papa geschworen, auf dich aufzupassen.«

Mhairi lachte wieder. »Gute Entscheidung! Ich dachte schon, du wärst fürchterlich erwachsen geworden, seit du in Edinburgh aufs College gehst.«

»Bin ich gar nicht. Aber ich hab was Besseres vor, als mir in meinen ersten Semesterferien auf einem fremden Hengst den Hals zu brechen.«

»Du musst Vertrauen haben. Er ist nicht fremd. Er ist wunderbar.« Gedankenverloren zupfte Mhairi ein paar grüne Seetangfasern aus der Mähne des Tieres.

»Und ein Riese!«, schnaufte Maggie. »Ich dachte, du würdest deinen dreizehnten Geburtstag nächste Woche eigentlich gerne noch erleben.«

Mhairi schnipste die Wasserpflanze fort. Ihre grünen Augen blitzten. »Schenkst du mir was Schönes?«

Maggie lächelte. »Bleib einfach lange genug am Leben, um es herauszufinden!«

»Das hab ich vor! Also? Galoppieren wir jetzt zusammen den Strand runter, oder nicht?«

Maggie war oben angekommen und setzte sich auf den sonnenwarmen Stein. Jetzt war sie auf Augenhöhe mit ihrer kleinen Schwester und dem Hengst, der freundlich an ihrer Hose schnoberte. Sie hielt ihm ihre Hand hin, damit er sie beschnuppern konnte. »Einverstanden! Wenn ich ehrlich bin, wollte ich schon immer mal einen Clydesdale reiten. Wie heißt er eigentlich? Und du bist sicher, dass er niemandem gehört? Er sieht gepflegt aus. Und er ist wunderschön.«

Mhairi schnalzte vergnügt und streichelte dem jungen Hengst über den muskulösen Hals. Sofort hatte sie seine Aufmerksamkeit. »Ich habe ihn Dandelion getauft, Löwenzahn. Den frisst er so gerne.« Dann beugte sie sich vor und flüsterte ihm etwas ins Ohr. Das Pferd schien ihren Worten konzentriert zu lauschen. Mhairi bewegte den Arm und ihren ganzen Körper, als würde sie das Tier an unsichtbaren Zügeln in einem kleinen Bogen dichter an den Felsen lenken, auf dem ihre Schwester stand.

Der Hengst kam direkt neben Maggie zum Stehen. Sie brauchte nur ihr Bein über seine Kruppe zu heben und sich hinter Mhairi auf seinen Rücken gleiten zu lassen. Nervös schlang sie ihre Arme um die Taille der Jüngeren. Mhairi war einen ganzen Kopf kleiner als sie und so dünn, dass Maggie mit ihren Händen die eigenen Ellbogen zu fassen bekam. Sie spürte ihr Herz wild gegen Mhairis Rücken wummern und nahm wahr, wie die warmen Muskeln des Hengstes unter ihren Beinen tanzten.

»Bereit?«, fragte Mhairi.

Maggie kniff ergeben die Augen zusammen und rutschte noch dichter an ihre Schwester heran. »Frag lieber nicht.«

Mhairi schnalzte noch einmal mit der Zunge, und der Hengst galoppierte mit einem kraftvollen Satz aus dem Stand an.

Ein erstickter Schrei rutschte Maggie aus der Kehle. Das war wirklich etwas anderes als die kurzen Trippelbewegungen der wesentlich kleineren Highlandponys. Doch der Galopp des majestätischen Tiers war so weich und federnd, dass Mhairi und sie selbst wie angegossen auf seinem Rücken saßen, wie in einem warmen lebendigen Schaukelstuhl, eins mit dem Dreitakt der raumgreifenden Bewegung. Sand spritzte unter den Hufen des Clydesdales auf. Sie hörte sein rhythmisches Schnauben, fühlte die Sonnenwärme, den Wind und ein paar Gischtspritzer auf dem Gesicht und ihren Armen.

Über ihnen kreischten Möwen, der Himmel war strahlend blau, und die Sonne tupfte gleißend helle Lichtpunkte auf die Wellen. Sie waren die einzigen Menschen weit und breit. Die Stadt rückte mit jedem Galoppsprung in weitere Ferne. Ein seliges Lächeln breitete sich auf Maggies Gesicht aus. Der ganze Stress der letzten Monate fiel von ihr ab. Wie hatte sie es nur so lange ohne Pferde aushalten können? Sie juchzte vor Glück, legte den Kopf in den Nacken und sah in den blauen Himmel.

Mhairi ließ die Mähne los und breitete die Arme aus. »Es ist wie fliegen, findest du nicht?«

»Ja! Wie fliegen!« Maggie streckte wie ihre kleine Schwester die Arme in den Wind. Mhairi hatte recht. So fühlte sich Sommer an. Sommer in Schottland.

Freiheit.

Leben.

Sutherlandshire, schottische Highlands, heute

Das Meer stinkt bis zu uns herauf. Nach Fisch. Möwengekreisch zerrt an meinen Nerven, der Wind an meinen Haaren. Ich habe Kopfschmerzen. Ich will nicht hier sein. Ich gehöre hier nicht her. Aber nach London will ich auch nicht zurück. Ich hasse Fische, ich hasse Möwen, meine Lehrer, Dad, London, Schottland. Einfach die ganze Welt.

Vielleicht wäre es besser, wenn ich tot wäre. Ich könnte die Klippen hinunterspringen, als Begrenzung der Steilküste ist auf Oberschenkelhöhe nur ein dünnes Seil gespannt. Das ignoriert man wohl ebenso wie die Warnschilder, wenn man lebensmüde ist. Vorsichtig luge ich nach unten. Nein. Keine gute Idee. Außerdem habe ich Höhenangst – und Hunger. Wenn mir nur nicht so übel wäre.

Die Bucht dort unten sieht wunderschön aus. Unberührt. Keine Menschenseele weit und breit. Was für ein krasser Gegensatz zu den grünen Hügeln mit den braunvioletten Heideteppichen, durch die wir seit Stunden gekurvt sind. Der Nordatlantik scheint genauso wütend zu sein wie ich. Mannshohe Wellen brechen sich krachend an den Felsen und sprühen die Gischt weit an Land. Zwischen den Schaumkronen, die auf den Wogen tanzen, könnte man mit ein bisschen Fantasie alles Mögliche erahnen. Meeresungeheuer … Wale … Aber in Wirklichkeit fährt am Horizont nur ein Tanker und durchbricht die Illusion. Aus dem Augenwinkel nehme ich jetzt unten am Strand eine Bewegung wahr. Mein Blick gleitet suchend über den schmalen Streifen Sand, der so aussieht, als würde das Meer mit ihm Katz und Maus spielen. Mal gewinnt die Brandung und begräbt weite Teile unter einer riesigen Welle, mal siegt das Land und erobert sich den Sand zurück. Da unten ist etwas. Am Saum entlang galoppiert ein Reiter auf einem Schimmel.

Ich kneife die Augen zusammen und wische mir eine Haarsträhne aus dem Gesicht. Nein, es ist ein ungesatteltes Pferd, ganz allein. Von hier oben kann ich nicht einmal Zaumzeug erkennen. Seine helle Mähne und der üppige Schweif wehen im Wind und etwas tief in mir drin nimmt fasziniert den Rhythmus seiner kräftigen Galoppsprünge auf. Ich spüre die Schwingungen in meinem Magen. Die riesigen Hufe mit dem langen Behang trommeln im Einklang mit meinem Herzschlag, sie hallen in mir nach, und ich schließe einen Moment lang ergriffen die Augen. Als ich sie wieder öffne, ist das Pferd weg, aus meinem Sichtfeld verschwunden. Ich beuge mich vorsichtig nach vorn über die Felsnase, so weit ich es trotz der steilen Klippen wage. Doch der Strand ist leer. Die Abdrücke der Hufe werden von der Gischt bereits ausradiert, als sollte verborgen bleiben, woher das Pferd kam oder dass es jemals da war. Und schon frage ich mich tatsächlich, ob ich mir den reiterlosen Schimmel am Strand nur eingebildet habe.

»Geht’s wieder?«

»Hmm?«

Ich fahre zusammen, merke, wie abwesend ich war und dass ich die ätzende Realität um mich herum einen Moment lang vergessen habe. Einen wunderschönen Moment lang. Widerstrebend drehe ich mich zu Onkel Matthew um und hebe langsam die Schultern. Mir ist immer noch flau im Magen. Vom Fahrstil meines Onkels auf den serpentinenartigen einspurigen Straßen hier in den nördlichen Highlands und weil ich seit einem hastigen Frühstück vor Stunden nichts mehr gegessen habe. Außer einem Apfel und ein paar abgelaufenen Shortbreads. ›Mindesthaltbarkeitsdatum überschritten‹ ist nicht gleichzusetzen mit ›Verfallsdatum abgelaufen‹, Shona. Die sind noch gut, hallt die Stimme meines Vaters in meinem Kopf nach. Und jetzt gib Gas, der Zug wartet nicht. – Berühmte letzte Worte, sozusagen. Er hatte es verdammt eilig, mich loszuwerden.

Onkel Matthew hat den Motor laufen lassen und lehnt lässig in der Fahrertür. Ich frage mich, ob er keine Angst hat, dass ihm die unvermeidliche karierte Tweedkappe vom Kopf geweht wird. Die Schöße seiner offenen Barbourjacke flattern im Wind. Darunter trägt er einen dieser typischen, gestrickten Wollpullover und eine braune Cordhose.

Sein Gesicht zeigt die Spuren eines Lebens an frischer Luft, vom Wetter gegerbt, mit tiefen Furchen um Augen, Mund und Nase und einem rötlichen Bartschatten. Dieser Mann ist ein Fremder für mich – und doch ist er mir auch dunkel vertraut Familie.

Er mustert mich aus wachsamen grauen Augen, zieht kurz die buschigen Augenbrauen zusammen, als unsere Blicke sich begegnen und wir feststellen, dass wir uns gegenseitig beobachtet haben. Mir schießt die Röte ins Gesicht, Onkel Matthew kramt amüsiert in einer Jackentasche.

»Brauchst du ein Taschentuch?«

Ich schüttele stumm den Kopf.

»Dann komm wieder ins Auto. Der Wind ist ja eiskalt. Es ist auch nicht mehr weit. Erinnerst du dich?«

Ich zucke noch einmal mit den Schultern. Gleichgültig. Onkel Matthew steigt wieder ein. Ich bleibe stehen, steif und festgefroren.

Als ich klein war, sind wir ein paarmal hier gewesen, in dem kleinen Kaff, das versteckt zwischen Tongue und Durness liegt, Hope, am Loch Hope. Genau genommen ist es nicht mal ein Dorf. Es besteht eigentlich nur aus ein paar zusammengewürfelten Höfen, die am Nordufer eines der vielen, während der Eiszeit im schottischen Hochland entstandenen Seen liegen.

Aber ob ich mich erinnere oder nicht – ganz zu schweigen davon, ob es mir gefällt, wo sie mich hinstecken: Was macht es für einen Unterschied? Ich bin hier, weil mein Vater es so wollte und es einfach über meinen Kopf hinweg entschieden hat. Als wäre ich ein Kleinkind und nicht schon fünfzehn Jahre alt! Angeblich ist es nur für den Rest des Schuljahres und über den Sommer. Ich soll die Zeit nutzen, um zur Ruhe zu kommen, wieder zu mir selbst zu finden. Der Abstand täte uns beiden gut. Wenn ich mich danach nicht wieder eingekriegt habe, muss ich ins Internat. Es liegt ganz bei dir – bla, bla, bla …

Er hat mich einfach weggeschickt.

Dad und ich – wir beide gegen den Rest der Welt. Tja, ich schätze, das war mal. Seit ein paar Monaten versteht er mich einfach nicht mehr. Es kracht ständig. Wegen Kleinigkeiten. Er tut so, als ob ich mit Absicht in solche Situationen geraten würde. Und er hört mir nie zu.

Ich weiß, dass er gestresst ist und wenig Zeit hat. Das war schon immer so. Er ist viel unterwegs, und früher war es sicher auch nicht leicht, nachdem Mum fort war. Aber hey – für mich auch nicht, und ich habe mich nie beschwert. Ich wasche meine eigene Wäsche, und kochen kann ich auch. Ich komme wunderbar allein klar. Ich brauche keine Verwandten, an die ich mich kaum erinnern kann. Ich brauche keine fremden Leute, ich brauche meinen Dad. Aber offenbar beruht das nicht mehr auf Gegenseitigkeit. Wegen eines kleinen Ausrasters. Wütend blinzele ich die Tränen weg, die sich über meinen Lidrand stehlen wollen.

Onkel Matthew hupt.

Ich atme tief aus, marschiere zurück zu dem rostigen Land Rover und steige ein. Dann schlage ich die Autotür so heftig zu, wie ich kann.

Mein Onkel setzt den Blinker, aber er fährt nicht los. Seit wir angehalten haben, ist kein einziges Fahrzeug hier vorbeigekommen. Wozu blinkt er dann? Und worauf warten wir jetzt?

»Anschnallen bitte«, kommentiert er nach einer Weile, in der wir beide geradeaus starren.

Ich presse die Lippen zusammen und reiße an dem Gurt, bis das Klicken der Schnalle meinen Onkel endlich dazu motiviert, weiterzufahren.

Meinen blöden Cousins entgegen.

»Und erinnerst du dich noch an Brodie und Hunter?«, nimmt er unbewusst meinen Gedanken auf. Wahrscheinlich will er nur nett sein und ein Gespräch in Gang bringen. Aber mir ist jetzt absolut nicht nach Reden zumute.

»Nein«, lüge ich. »Zu lange her.« Bei meinem letzten Besuch haben mich die beiden irgendwo eingesperrt. Aus Spaß. Ich weiß nur noch, dass es eng und dunkel war und komisch roch und dass ich entsetzliche Angst hatte. Wie alt war ich da? Vier? Fünf? Es hat ewig gedauert, bis ich kapiert habe, dass die Tür nicht abgeschlossen war, sondern nur klemmte.

»Tante Meghan freut sich jedenfalls schon riesig auf dich.«

»Mhm.«

»Bist du immer so gesprächig?« Er widmet mir einen kurzen Seitenblick, bevor er sich wieder auf die schmale Straße konzentrieren muss.

»Mir ist schlecht«, knurre ich.

»Schon wieder?« Mein Onkel zieht die Augenbrauen hoch. »Soll ich noch mal anhalten?«

»Nein. Immer noch. Es geht schon. Das sollte nur eine halbwegs politisch korrekte Erklärung dafür sein, weshalb ich nicht drauflos plappere wie Anne auf Green Gables.«

Mist. Das wollte ich eigentlich gar nicht laut sagen.

»Du bist witzig!« Er lacht. »Wir werden schon gut miteinander auskommen. Warte nur ab, bis du alles wiedersiehst.«

Hinter der nächsten Kurve flattert uns beinahe ein Rebhuhn vors Auto, oder Fasan, oder wie auch immer diese bunten Laufvögel heißen. Matthew flucht und reißt das Lenkrad derart abrupt nach rechts und links, dass die Reifen quietschen, mein Gepäck durch den Kofferraum poltert und ich mir schmerzhaft Ellbogen und Kopf an der Autotür stoße. Ein Wunder, dass die Scheibe heil geblieben ist – aber das ist mir in diesem Moment total egal.

»Halt an!«, rufe ich. Nach einem Blick in den Rückspiegel habe ich mich in einer fliegenden Bewegung abgeschnallt und bereits den Türgriff in der Hand.

»Alles okay?« Mein Onkel sieht mich erschrocken an.

»Halt bitte einfach an«, sage ich noch einmal, und endlich steht der Wagen. Als ich das Klicken des Warnblinkers höre, bin ich schon drei Yards vom Auto entfernt. So schnell ich kann, renne ich zurück.

Der Vogel liegt hilflos flatternd auf dem groben Asphalt. Ich bremse ab, um ihn nicht noch mehr zu erschrecken. Er hat den Schnabel aufgesperrt und hechelt, ich kann die kleine spitze Zunge sehen. Sein Gesicht ist knallrot. Okay, das liegt am Gefieder, glaube ich. Und auch diese Hängebäckchen gehören da hin. Aber wie schwer ist er verletzt? Oder steht er nur unter Schock? Wir sind ganz sicher nicht drübergefahren, aber vielleicht haben wir ihn gestreift. Oder der Windstoß hat genügt … Was machen wir denn nun? Toll, natürlich fängt es jetzt auch noch an zu regnen.

Hinter mir höre ich Schritte rasch näher kommen.

»Was machst du?«

»Wir müssen ihm helfen!«

»Das ist ein Wildvogel, Shona. Die werden im Winterhalbjahr zu Hunderten hier oben geschossen.«

»Das ist mir egal.« Entschlossen knie ich mich hin und beuge mich über das verletzte Tier, um es hochzuheben. »Jetzt ist Sommer! Gibt es hier in der Nähe einen Tierarzt?«

Mein Onkel kratzt sich am Kopf. »Klar, den alten Joe. Aber der macht eigentlich nur Kühe und …«

»Super. Dann fahren wir da hin.«

Matthew starrt mich skeptisch an.

»Bitte.« Ich spüre das Herz des Vogels heftig gegen meine Hand pochen.

Mein Onkel seufzt, nickt dann aber und kramt ein riesengroßes Stofftaschentuch aus der Jackentasche. Er zeigt damit auf das etwas zerfledderte Federbündel in meinen Armen, das inzwischen erstaunlich kräftig zappelt und sich windet.

»Du musst ihm die Augen bedecken. Dann beruhigt er sich. Kannst du äußere Verletzungen erkennen?«

Ich schüttele den Kopf. »Ich glaube, sein Bein ist vielleicht gebrochen, das hält er ganz komisch.«

Matthew grunzt, aber er ist klug genug, mir keinen Vortrag darüber zu halten, welche Überlebenschancen ein Vogel mit Handicap in freier Wildbahn hat. Das kann ich mir selbst ausrechnen, vor allem, wenn die Jagdsaison in ein paar Monaten beginnt.

»Wir können ihn doch nicht einfach hier liegen lassen«, sage ich und ärgere mich, weil meine Stimme so erstickt klingt, als ob ich jeden Moment in Tränen ausbrechen würde. Was tatsächlich passieren könnte. Wütend blinzele ich das Brennen aus meinen Augen.

»Warte, ich helfe dir.« Plötzlich klingt Matthews Stimme viel sanfter. Geschickt wickelt er den grauen Stoff um den Kopf des Tieres. »Soll ich ihn nehmen?«

Wieder dieser Seitenblick, der kurz auf mir ruht und den ich nicht einordnen kann. Der Herzschlag des Vogels beruhigt sich etwas.

Ich schüttele den Kopf. »Geht schon.«

Nebeneinander gehen wir zurück zum Wagen. Die Beifahrertür steht immer noch offen. Die Warnblinkanlage klackert, als ich einsteige. Der Vogel hat seinen Widerstand aufgegeben und liegt schwer und warm in meinen Armen. Seine hornigen Füße haben sich um meinen Unterarm gekrallt. Ich nehme es als gutes Zeichen, dass er sich aktiv festhält.

»Wir kommen sowieso gleich durch Tongue. Dann können wir da auch kurz anhalten.«

Onkel Matthew setzt den Wagen im Zeitlupentempo in Bewegung, angelt mit einer Hand nach seinem Handy und klemmt es ans Ohr, sobald er gewählt hat. Eine Freisprecheinrichtung hat er nicht. Ich verstehe trotzdem das meiste von dem, was am anderen Ende der Leitung gesprochen wird.

Der Tierarzt scheint nicht begeistert zu sein, dass er einen angefahrenen Fasan behandeln soll. »Wieso kochst du ihn nicht einfach? Bist du jetzt unter die Häschenkuschler gegangen?«, schnappe ich auf und presse die Lippen aufeinander.

Tolle Einstellung. Matthew bellt irgendwas zurück, das ich nicht verstehe, weil er dabei in den breiten schottischen Dialekt der nördlichen Highlands verfällt. Knurrend legt er auf. »Wir sind gleich da.«

Ich nicke und streichele dem Wildvogel über das seidige Gefieder.

»Ich will mal Tierärztin werden«, erkläre ich kleinlaut.

»Dann solltest du dich vor allem in der Schule ein bisschen mehr anstrengen«, brummt Matthew, aber es klingt freundlich.

Was für ein grandioser Start in meinen neuen Lebensabschnitt.

Tongue ist ein winziger Ort, in dem die Zeit stehen geblieben zu sein scheint. Wir rumpeln durch schmale, regennasse Kopfsteinpflastergassen. Wasser sprudelt im Schwall aus Fallrohren in den überlaufenden Rinnstein und spritzt aus Pfützen, die sich in zahlreichen Schlaglöchern auf der Straße gebildet haben. Die Scheibenwischer des alten Land Rovers versuchen quietschend, die Sicht auf die niedrigen, alten Häuschen freizuhalten, vor denen bepflanzte Bottiche stehen und Blumenampeln im Wind baumeln.

Vor einem unscheinbaren Haus mit grau verputzter Fassade halten wir an. Das Klingelschild kann ich durch die Regenschlieren auf der Seitenscheibe nicht erkennen, aber ich nehme an, dass es das Praxisschild des Tierarztes ist. Der Vogel wird wieder unruhig, er zappelt auf meinem Schoß herum, und in der Sekunde, als ich aussteige, steigt mir ein ziemlich übler Geruch in die Nase. Ich halte den Fasan von mir weg, aber es ist schon zu spät. Die Wärme eines ordentlichen Mistkleckses breitet sich auf meiner Jeans aus.

»Lecker«, murmele ich.

Onkel Matthew hebt nur die Brauen. Selbst schuld, heißt das eindeutig. Immerhin geht er mir voraus ins Haus und öffnet die Tür.

Ein älterer Mann in Cordhosen und offenem weißen Kittel kommt uns entgegen. »Eileen hat Haggis gekocht, ich müsste dir eigentlich das Vierfache berechnen, dass du mich davon wegholst und dann noch für so einen … uhhh, wonach riecht es hier, Matt? Hast du Probleme, mit denen du dich nicht zu Doc Williams traust?«

»Nein, das bin ich«, erkläre ich trotzig.

Onkel Matthew macht einen Schritt zur Seite und gibt dadurch den Blick auf mich und den Übeltäter frei, der sich jetzt wieder tadellos benimmt.

»Joe, das ist meine Nichte Shona«, sagt er. »Sie will Tierärztin werden.«

»Und bringt ihre Patienten gleich mit, wie ich sehe.« Joe mustert mich über die Gläser seiner runden Metallbrille hinweg. Sein Blick streift kurz mein Gesicht, den Vogel und verweilt am längsten an dem Fleck auf meiner Hose. »Fasanendreck«, stellt er ganz richtig fest. »Na, zumindest ist kein Blut drin. Mit der Verdauung ist also schon mal alles in Ordnung.« Er drückt die Türklinke links neben sich herunter und öffnet damit einen kleinen Raum, der direkt vom Flur abgeht und sich als Sprechzimmer herausstellt. Die Einrichtung ist erstaunlich modern. Der Behandlungstisch lässt sich mit einem elektrischen Fußpedal stufenlos in der Höhe verstellen. Leise surrend fährt er mir fast bis zur Brust. Ich bin nicht besonders groß, das habe ich von meiner Mutter, sagt Dad. Keine Ahnung, ob es stimmt. Ich kann mich kaum an sie erinnern, eigentlich kenne ich meine Mum nur durch Fotos.

Behutsam setze ich den Fasan ab. »Soll ich ihm die Haube abnehmen?«

»Nein, lass mal, so ist er weniger nervös.« Joe sieht skeptisch von mir zu dem Vogel.

»Wird das teuer?«, fragt mein Onkel.

»Kommt drauf an, ob du ihn hierlässt oder wieder mitnehmen willst«, brummt Joe, während er die schwenkbare Lampe anschaltet und zu sich heranzieht. »Eileen hat unglaublich gute Rezepte für …«

»Ich bezahle das«, unterbreche ich ihn. »Von meinem Taschengeld.«

Der Tierarzt sieht meinen Blick und räuspert sich. »Wo kommst du her, Shona?«

»Edinburgh«, sage ich wahrheitsgemäß. »Eigentlich London. Zumindest habe ich die letzten Jahre dort gelebt.«

»Christopher hat sie mitgenommen, in dem Jahr, nachdem Mhairi …«

»Verstehe«, unterbricht ihn Joe, während er die Füße des Vogels abtastet und vorsichtig bewegt. »Wir haben einen etwas raueren Ton hier oben, Shona. Das ist nicht immer alles ernst gemeint. Manchmal allerdings …« Er wirft Matthew einen Blick zu, der deutlich ausdrückt, dass er Fasane auch in Zukunft nicht zu seinen Stammkunden zählen möchte.

Ich zucke mit den Schultern und konzentriere mich darauf, den Fasan so zu halten, dass er nicht wieder wie wild mit den Flügeln um sich schlägt. Das gelingt mir allerdings nur halb, denn ich will ihm nicht wehtun und weiß nicht, wie fest und wo ich zupacken kann. Also fegt er beinahe die Brille des Docs von dessen Nase. Vielleicht als Retourkutsche für den Kommentar über die Rezepte seiner Frau.

»Die Flügel funktionieren also auch«, erklärt Joe gelassen und führt meine Hände zu den Schultern des Tieres. »Wenn du hier deine Finger drumlegst, kann ich besser arbeiten und sogar was sehen dabei. Siehst du? So.«

Ich nicke und verfolge jede seiner Bewegungen. Er geht auf die andere Seite des Raumes, holt zwei kleine und eine sehr große Glasflasche aus einem Schubfach und zieht mit deren Inhalt eine winzige und eine riesengroße Spritze auf.

»Sie schläfern ihn nicht ein, oder? Was bekommt er?« Meine Stimme klingt ein bisschen schrill.

»Keine Sorge, Shona. Er hat noch mal Glück gehabt. Nichts gebrochen, soweit ich das beurteilen kann. Nur Prellungen und vermutlich ein gewaltiger Schreck. In der Injektion sind etwas Entzündungshemmendes und ein leichtes Schmerzmittel. Und die andere Spritze …« Er verzieht die Mundwinkel zu einem belustigten Lächeln. »Das ist etwas, womit du deine Hose säubern kannst, damit deine Tante keinen Anfall bekommt, wenn sie dich …« Er stockt kurz. »… trifft.«

»Danke.«

»Mhm. Wie geht’s Meghan übrigens?« Die Frage ist an meinen Onkel gerichtet.

»Gut, danke. Ihr ist ein bisschen langweilig, glaube ich. Ich habe den Kopf voll, und die Jungs haben auch zu viel um die Ohren. Du weißt ja, wie das ist. Aber ich hoffe, dass sich das nun ein wenig ändert.« Der Blick meines Onkels streift mich kurz. Prüfend. Aber ich bin mit meiner Aufmerksamkeit noch immer bei der Spritze in Joes Hand.

»Sie würde sich sicher freuen, wenn Eileen mal wieder rumkommt.«

»Ich werde es ihr ausrichten. Grüß Meghan von mir.«

Ich hoffe, dass der Mann weiß, was er tut. Kann er sich bitte auf die Arbeit konzentrieren? Ziemlich dicht bei meinen Händen hebt er ein paar Federn des Fasans an, sodass er die Kanüle unter die hauchdünne Haut schieben kann, und versenkt sie anschließend in einem Eimer mit der Aufschrift Gebrauchte Nadeln – besser nicht reingreifen.

»Das wär’s.« Damit reicht er mir einen Stapel Papiertücher über den Behandlungstisch. Die dicke Spritze mit dem Reinigungszeug legt er obendrauf. »Übern Berg ist der Vogel trotzdem noch nicht. Der Schock kann ihn immer noch umhauen. Das ist nicht zu unterschätzen. Packt ihn über Nacht in eine Pferdebox oder in den alten Kaninchenstall und wartet ab. Wenn er morgen fit ist, lasst ihn frei.«

Er blickt zu meinem Onkel. »Man kann ihn nicht essen. Die Medizin hat eine Halbwertszeit von mindestens vier Wochen. Und bis dahin ist er hoffentlich über alle Berge.« Grinsend zwinkert er mir zu. »Wenn er schlau ist. Warte, ich hol dir einen Karton. Und mach dich draußen sauber, nicht hier drin, Kind. Bist du des Wahnsinns! Wenn Eileen das sieht, bringt sie mich um!«

Als wir die Praxis verlassen, hat es immerhin aufgehört zu regnen. Der Himmel hängt immer noch so tief, dass man meint, die dunkelgrauen Wolken berühren zu können, wenn man Anlauf nimmt und in die Luft springt. Aber mir ist nicht nach Hüpfen. Außerdem habe ich den Karton mit dem verletzten Fasan im Arm. Widerstrebend überlasse ich ihn Matthew für die Zeit, die ich brauche, um meine Hose mit den Tüchern und der Flüssigkeit notdürftig sauber zu machen.

»Neun Meilen noch«, brummt mein Onkel.

Während der letzten Minuten unserer Reise schweigen wir. Mein Blick irrt leer über die grünen Hügel. Ich höre kaum zu, als Onkel Matthew mir etwas über die Turmruine erzählt, die kurz hinter Tongue auf einem bewaldeten Hügel das Meer bewacht, Castle Varrich oder so. Ich bin damit beschäftigt, den Karton in einer steilen Kurve auszubalancieren, und denke an das verstörte Tier im Inneren.

Ich weiß auch nicht, wieso mir dieser Fasan plötzlich so wichtig ist. Aber er ist es. Er braucht jemanden, der sich um ihn kümmert, der ihn gesund pflegt und ihn als Lebewesen wertschätzt, nicht als Braten oder Jagdobjekt. Vielleicht gibt es eine Parallele zwischen dem Vogel und mir? Sind wir nicht beide durch einen blöden Unfall aus unserem natürlichen Lebensraum gerissen worden? Ich habe keine Ahnung, wo ich hingehöre. Oder zu wem.

Wir kommen an Schafweiden vorbei und nassen Wiesen, auf denen zottelige braune Hochlandrinder herumstehen oder im Matsch liegen. Der Rest sind Heide, Disteln und gelbe Wildblumen.

Idylle sagen die einen. Ich finde es trostlos.

Einmal müssen wir scharf bremsen, als ein Schaf unvermittelt vor uns auftaucht und danach eine ganze Weile gemächlich die schmale Straße für sich beansprucht. Mein Koffer knallt schon wieder von hinten gegen die Rückenlehne. Ich höre den Fasan durch den Karton rutschen, aber ich traue mich nicht, den Deckel zu heben und nachzusehen. Du musst Vertrauen haben. Keine Ahnung, wo dieser Satz auf einmal herkommt. Als Kind habe ich den öfter zu hören bekommen, glaube ich. Muss von meinem Vater stammen, es war ja sonst niemand da.

Es gibt keine Verwandten außer Mums Leuten hier oben. Zumindest niemanden, von dem ich wüsste. Da sind nur ihr Bruder Matthew und ihre Schwester Meghan. Meghan ist die Älteste, dann kommt Matthew und zum Schluss meine Mum. Matthews Frau ist bei Brodies Geburt gestorben. Ich glaube, damals zog Meghan wieder zurück in ihr Elternhaus, um ihrem Bruder zu helfen.

Seit ich ein Kleinkind war, sind wir nicht mehr hier gewesen. Rückblickend nehme ich an, dass damals irgendwas passiert sein muss. Aber ich glaube nicht, dass es mit meinen Cousins und ihren blöden Streichen zu tun hatte. Nicht nur jedenfalls. Es muss nach Mums Tod gewesen sein. Ich kann mich daran erinnern, dass Dad wegen irgendwas furchtbar wütend war. Matthew und er haben sich draußen angeschrien, als ich schon in meinem Kindersitz auf der Rückbank des Autos saß. Tante Meghan hat geweint, die Jungs haben durchs Fenster heimlich Grimassen geschnitten – dann sind wir gefahren, und ich habe Dads Erleichterung gespürt, von dort wegzukommen. »Das ist kein guter Ort«, hat er mir eingeschärft. Diese diffuse Szene habe ich abgespeichert. Danach sind wir nie mehr zu Mums Familie gefahren.

Ich habe Dad in den Jahren danach manchmal nach ihnen gefragt. Aber er mochte nicht über sie reden. Er wollte sogar Mamas altes Fotoalbum verbrennen, aber bis auf ein paar angekokelte Stellen konnte ich es gerade noch aus den Flammen retten. Dad war wütend darüber. Die Bilder der Strände, der Pferde und der Farm täten ihm zu sehr weh, hat er gesagt. Ich habe das damals nicht verstanden. Die Erinnerung an sie, an das, was meine Mutter geliebt hatte, war doch alles, was wir noch hatten? Aber er wollte die Highlands, die Farm und unsere Verwandten nie wiedersehen.

Dad hat mir beigebracht, dass der Schein oft trügerisch ist. Und gesagt, dass ich für die Zusammenhänge, den Streit der Großen, zu klein sei. Irgendwann habe ich dann nicht mehr nachgefragt, und auch das Fotoalbum geriet in Vergessenheit. Allmählich wurde die Fitzgibbons Farm in Hope in meiner Erinnerung zu dem düsteren Ort, der mir meine Mutter geraubt hat. Dieser Teil meiner Familie ist nahezu vollständig aus meinem Bewusstsein gerutscht.

Ich habe also bestimmt nicht an Nord-Schottland gedacht, als ich während unseres letzten großen Streits vor zwei Wochen gebrüllt habe, dass ich London hasse und am liebsten ganz weit weg wäre. Dumm nur, dass Dad ein paar Sekunden später beim Türenknallen das blöde, angekokelte Fotoalbum aus dem alten Versteck hinterm Schrank buchstäblich vor die Füße gepurzelt ist. Seinen Blick werde ich nie vergessen.

»Na, das passt ja«, hat er ganz ruhig gesagt, das Album aufgehoben und einen Brief von Onkel Matthew aus seiner Jackentasche gezogen. »Wenn du meinst, dass bei uns alles so furchtbar ist, dann kommt das hier ja vielleicht gerade richtig.«

Dann hat ein Wort das andere ergeben und plötzlich hatte ich ein Zugticket in der Hand. Nach all den Jahren hat Dad sich entschieden, mich ausgerechnet hierher, ans Ende der Welt abzuschieben.

Ich habe drei Stunden in meinem Zimmer gesessen und geheult. Als ich rauskam, saß Dad mit roten Augen über dem Fotoalbum. Wir haben uns in den Armen gelegen und uns gestanden, wie sehr wir Mama immer noch vermissen. Da hat er mit mir ein paar Fotos angesehen und dasselbe gefragt, wie Onkel Matthew jetzt.

»Erkennst du es wieder?«

Ich bin immer noch wütend auf Dad. Stinkwütend. Obwohl er nichts so sehr hasst wie die Gegend, in der seine Frau gestorben ist, hat er wirklich ernst damit gemacht, dass uns beiden »ein bisschen Abstand sicher guttut« und ich außerdem auch alt genug sei, mir eine eigene Meinung über meine bescheuerte Familie zu bilden. Ach, plötzlich bin ich für etwas alt genug?

»Nicht wirklich«, presse ich zwischen den Lippen hervor.

Das ist schon wieder gelogen. Das Häuschen und der Hof sehen haargenau so aus wie auf den verblichenen Bildern. Hübsch eigentlich, mit den vielen Stockrosen und Sommerblumen in dem kleinen Vorgarten. Der gepflasterte Weg vom Haus zu den Gemüsebeeten glänzt durch die Feuchtigkeit und reflektiert die blau gestrichenen Fensterrahmen und den weißen, bröckelnden Putz.

Hier hat sich auf den ersten Blick offenbar nichts verändert in den letzten zehn Jahren. Um die Ecke liegen die Stallungen, die Scheune und ein Geräteschuppen nebst Matthews kleiner Werkstatt und der Garage für den Trecker, erzählt mein Onkel gerade. Überrascht atme ich ein. Ich mag den Geruch, der mir durch die Lüftung in die Nase springt. Eine Mischung aus Motorenöl, feuchter Erde und Wiesenkräutern. Und ich mochte die Scheune: Auf dem Heuboden habe ich mit den Jungs Verstecken gespielt. Ich erinnere mich dunkel, dass man durch eine Luke in den darunterliegenden Berg aus lose zusammengerechtem Heu springen konnte. Wenn man sich traute. Ich habe mich nicht getraut, und sie haben mich da oben stehen lassen. Mein stilles Lächeln erlischt. Ich war vier oder fünf und sie ein, zwei Jahre älter. Plötzlich habe ich wieder ihr gemeines Lachen im Ohr – und mein eigenes Geheule. Als wäre es gestern gewesen. Dabei ist es so lange her.

Tja. Nun bin ich also zurück. Der Fremdkörper. Der Klotz am Bein. Überall bin ich ein klotziger Fremdkörper. Dad fühlt sich überfordert mit mir? Was soll ich denn da sagen! Ich lebe hier drin! Vierundzwanzig sieben!

Der Wagen bleibt mit einem Ruck stehen. Onkel Matthew zieht die Handbremse an und den Zündschlüssel ab. Wir stehen vor dem Wohnhaus der kleinen Hofanlage. Ein wuscheliger Hofhund mit grauer Schnauze kommt aus irgendeiner Ecke angeschossen und fängt lautstark an zu bellen.

»Boomer! Aus!«, brüllt Matthew durch die geschlossene Wagentür, und ich spüre, wie der Fasan in meinem Karton zu zittern anfängt.

Nein, ich will nicht reden, und ich will auch nicht so tun, als ob ich freiwillig hier wäre, voller Vorfreude auf wunderbar idyllische Sommerferien im Kreise meiner Verwandten.

Ich habe andere Probleme. Zum Beispiel, dass meine Hose immer noch stinkt. Jetzt ist sie obendrein nass, und der Vogeldreck hat sich mit dem chemischen Duft nach Desinfektionsmittel zu etwas ganz Sonderbarem vermischt. Ich mache mir Sorgen um den Fasan in seinem dunklen Gefängnis. Und ich kann erkennen, dass mich durch ein Fenster im Erdgeschoss des Hauses zwei Gesichter anglotzen – meine Cousins Brodie und Hunter, die sich bestimmt genauso auf mich freuen wie ich mich auf sie. Nämlich gar nicht. Aber inzwischen weiß ich, wie man Leitern wieder herunterkommt und sich gegen größere Jungs wehrt. Und vielleicht ist es ja tatsächlich auch eine Chance, mir meine eigene Meinung über all das hier zu bilden.

»Bereit?«

Erstaunt sehe ich Onkel Matthew ins Gesicht. Zum ersten Mal vielleicht, seit er mich am Bahnhof in Thurso eingesammelt hat.

»Nicht so richtig«, murmele ich.

»Das wird schon.« Er zwinkert mir zu und hält einen Moment inne. Es sieht so aus, als müsste er sich ebenfalls einen Ruck geben, bevor er aussteigt. Er kommt auf meine Wagenseite herum und öffnet die Tür, damit ich den Karton nicht absetzen muss. Dann holt er meine Koffer und ein paar Einkaufstaschen aus dem Fond, während der Hund schwanzwedelnd an meinen Beinen herumschnüffelt.

»Brodie, Hunter, wir sind da!«, ruft Matthew die drei Stufen zur Haustür hinauf. »Jetzt kommt schon raus, ich habe euch gesehen.«

Die Tür geht auf, und meine beiden Cousins schlendern betont cool heraus, die Hände in den Hosentaschen. Der eine groß, dunkelblond, blass und schlaksig – Hunter. Der andere einen halben Kopf kleiner, ein bisschen untersetzt, mit hellroten Haaren und so dicken Sommersprossen, dass sie wie aufgemalt wirken. Das ist Brodie.

Ich lehne an der Wagentür und umklammere den Karton.

»Hi«, sagt Brodie, verzieht den Mund zu einem unsicheren Begrüßungslächeln und nickt mit dem Kinn in meine Richtung. Hunter grunzt etwas, die Geste ist dieselbe, aber bei ihm fehlt die neugierige Wärme im Blick. Dann zieht er die Augenbrauen zusammen und stößt seinem Bruder den Ellbogen in die Seite, um ihn auf den Fleck an meinem Oberschenkel aufmerksam zu machen.

»Hat sie sich eingepie …?«, platzt Brodie prompt heraus.

»Iiieh«, unterbricht Hunter und schneidet eine Grimasse. »Sie stinkt.«

»Cuir stad! Hört auf mit dem albernen Quatsch«, sagt Matthew scharf.

Hunter will abhauen, aber sein Vater hält ihn am Ärmel fest. »Nimm die Koffer deiner Cousine mit rein und zeig ihr das Zimmer. Sie wird sich frisch machen wollen. Weg da, Boomer. Und es sind noch mehr Einkäufe hinten im Wagen.«

Sie reden, als ob ich nicht da wäre, also beschließe ich, die beiden ebenfalls zu ignorieren. Brodie grinst wieder verstohlen, als Hunter mit dem Oberkörper im Kofferraum verschwindet. Ich nehme das mal als Entschuldigung. Die allermeisten Mädchen in meinem Alter nerven mich total. Aber pubertäre Jungs? Nervfaktor: hundertfünfzig Prozent.

»Ich würde erst gern den Vogel …?« Ich drehe mich mit dem Karton zu Matthew, kralle mich daran fest, als könnte dieser verletzte Vogel mir Halt geben, nicht umgekehrt.

»Ach ja.« Matthew schiebt sich die Tweedkappe in den Nacken und kratzt sich verlegen an der Schläfe. Dann wendet er sich wieder an Hunter. »Geh mit ihr in den Stall rüber. Die alte Quarantänebox steht leer. Da kannst du den Fasan lassen. Stellt ihm ein bisschen Hafer und Wasser hin. Hunter gibt dir alles, was du brauchst. Und dann kommt rein. Es gibt Essen. Brodie, du hilfst mir mit dem Gepäck.«

»Warum ich?«

»Weil ich es sage.« Matthew tut so, als würde er seinem Sohn eine Kopfnuss geben, und nimmt Hunter die ersten beiden Taschen ab.

Naserümpfend macht Hunter auf dem Absatz kehrt und geht mir voraus. »Na, dann komm, Stinki, ich habe Hunger.«

Kapitel 2

Loch Eriboll, Schottische Highlands, Juli 1983

Der stichelhaarige Hengst schnaubte entsetzt und wich rückwärts aus.

Menschen. Auf einmal waren da überall Menschen. Sie schrien durcheinander, fuchtelten mit erhobenen Armen vor ihm herum. Andere kümmerten sich um das reglose Bündel Mensch, das zwischen ihnen im Sand lag.

Jemand hob einen seltsam aussehenden Eisenstab von der Ladefläche eines offenen Pick-ups und hielt ihn sich vors Gesicht, als wollte er hindurchsehen. Der Eisenstab knallte, dabei sprühten Funken aus einem Rohr. Etwas zischte an seinem Kopf vorbei.

Erschrocken machte der junge Rotschimmel auf der Hinterhand kehrt. Aus dem Stand galoppierte er an. Weg von den Männern. Von dem Lärm. Vom Geruch nach Blut und Angst und Hass.

Doch nach vielleicht fünfzig Yards hielt er an. Zitternd. Schnaubend. Drehte sich um und suchte sie mit den Augen in dem aufgeregten Gewusel aus Menschen.

Mhairi.

Er durfte nicht fliehen. Nicht ohne sie. Er wollte zu ihr. Aber die Männer machten ihm fürchterliche Angst. Ging es ihr gut?

Er hörte sie weinen. Dann endlich entdeckte er sie. Sie sprang aus dem Auto, in das man sie gezerrt hatte, und warf sich dem Mann in den Arm, der erneut das Feuerrohr gehoben hatte und damit auf ihn zielte.

Es war alles so schnell gegangen. Eben noch hatten beide Mädchen lachend auf seinem Rücken gesessen. Dann war aus dem Nichts ein Wagen am Strand aufgetaucht und hatte versucht, ihnen den Weg abzuschneiden. Menschen!

Menschen bedeuteten immer Gefahr. Seine Instinkte hatten ihn auch vor dem älteren Mädchen gewarnt. Sie hatte nach Angst gerochen. Nach Stress. Aber er fühlte die Zuneigung der beiden Mädchen zueinander. Sie war wahr und aufrichtig.

Und er vertraute Mhairi. Dann war das zweite Fahrzeug gekommen. Sie hatten ihn gejagt, und die Mädchen hatten geschrien.

Und dann war es passiert.

Wieder pfiff ein Schuss dicht an seinem Kopf vorbei. Der Hengst wich mit aufgesperrten Nüstern zurück. Er wieherte.

»Nein! Bitte nicht. Lasst ihn in Ruhe. Ihr dürft ihm nicht wehtun«, schrie Mhairi so laut, dass ihre Stimme bis zu ihm getragen wurde.

Das ältere Mädchen bewegte sich endlich. Es kam zu sich.

Zwei Männer nahmen Maggie hoch und trugen sie in das größere Fahrzeug.

»Es war ein Unfall. Er konnte nichts dafür. Maggie, sag es ihnen doch! Maggie! Mach um Himmels willen den Mund auf und sag ihnen die Wahrheit! Dad, nein!«

Der Mann mit dem Feuerrohr schüttelte Mhairi ab, hob die Waffe erneut an sein Kinn und ließ sie noch einmal explodieren.

Diesmal spürte der Hengst einen stechenden Schmerz an seinem Ohr. Sein Instinkt zwang ihn zu fliehen. Panisch jagte er davon. Über den Strand, hinunter ans Wasser, in die Brandung. Er galoppierte hinein, stürzte sich in die Wellen, und als seine Hufe keinen Grund mehr fanden, schwamm er. Er schwamm so lange, bis die Nebel ihn verschlangen.

Am Strand gab es ein Handgemenge. Jemand entriss Maggies Vater das Gewehr. Arme legten sich um Mhairis Schulter. Sie strampelte sich frei und schlug hysterisch um sich. Tränen strömten über ihr Gesicht. »Lasst mich in Ruhe. Lasst mich los!« Sie rannte ans Ufer, watete in die Wellen und blieb dort stehen, zitternd vor Kälte und vor Schmerz.

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