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Selbst in dunkelster Nacht

Als Buch hier erhältlich:

Wenn die dunkelste Nacht über uns hereinbricht, hältst du mich?

Viel zu früh hat Liora einen einschneidenden Verlust durchlebt, der ihr Leben auf den Kopf gestellt hat. Aber statt sich der Trauer hinzugeben, versucht sie, positiv zu bleiben und das Gute in ihrem Leben zu sehen. Und dazu gehört ihre Arbeit an einem der buntesten Orte, die man sich vorstellen kann: einem Blumenladen. Doch so fröhlich dieser auch ist, umso stiller und abweisender ist Lioras neuer Arbeitskollege und Nachbar. Kieran hat es nicht so mit Worten und arbeitet lieber still für sich. Das macht ihre Zusammenarbeit zu Beginn nicht gerade einfach, dennoch entwickelt sich bald eine zarte Freundschaft zwischen den beiden grundverschiedenen Menschen. Aber schon bald wirft Kierans Vergangenheit ihre Schatten auf sein neues Leben und Liora muss sich entscheiden, ob sie bereit dazu ist, mit ihm seine finstersten Nächte zu durchstehen, immer in der Gefahr, von diesen verschluckt zu werden …


  • Erscheinungstag: 26.09.2023
  • Aus der Serie: Liora & Kieran
  • Bandnummer: 1
  • Seitenanzahl: 320
  • ISBN/Artikelnummer: 9783745704129
  • E-Book Format: ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Liebe Leser: innen,

dieses Buch enthält potenziell triggernde Inhalte.

Deshalb findet ihr am Romanende eine Themenübersicht,

die demzufolge Spoiler enthalten kann.

Wir wünschen euch das bestmögliche Erlebnis

beim Lesen dieser Geschichte.

Euer Team von reverie

Was man tief in seinem Herzen besitzt,
kann man nicht durch den Tod verlieren.

Johann Wolfgang von Goethe

Für alle,
die einen geliebten Menschen verloren haben.

PLAYLIST

Ed Sheeran – Supermarket Flowers

Lewis Capaldi – Before You Go

Benson Boone – In The Stars

Michael Schulte – The Love You Left Behind

Zoe Wees – Hold Me Like You Used To

LEA, 01099, Zachi & Gustav – Eigentlich

Zoe Wees – Girls Like Us

Benson Boone – GHOST TOWN

Lewis Capaldi – Hold Me While You Wait

Alessia Cara – Scars To Your Beautiful

Andra Day – Rise Up

Ruth B. – Dandelions

PROLOG

Kieran

Sekunden.

Manchmal brauchte es nicht länger, um ein Leben auf den Kopf zu stellen. Während in einem Moment noch alles gut war, stand im nächsten die Welt in Flammen. Alles brach in sich zusammen, und man konnte nichts tun, als dem Feuer dabei zuzusehen, wie es sich ausbreitete, bis man spürte, dass es sich in die tiefsten Winkel der Seele fraß.

Ich versuchte, dieses quälende Gefühl zu verdrängen, während ich an einer ruhigen Stelle am Ufer des Lake Beverly saß. An meinem Lieblingsort, weit abseits von Northlake City und Creekwood Hill, weil ich hier immer ein wenig abschalten konnte, wenn das Leben in der Stadt zu viel für mich wurde.

Ich starrte auf den See hinaus und sah das Mondlicht und die Sterne, die sich auf der Wasseroberfläche reflektierten und sie zum Schimmern brachten. Dieser Ort hatte etwas seltsam Friedliches an sich, und wie von selbst schossen die Erinnerungen an Avery und mich an diesem See an die Oberfläche meines Bewusstseins.

Ich dachte an all die unzähligen Male, die ich mit meiner besten Freundin an diesem See gesessen und einfach nur geredet hatte. Oder an die warmen Tage, an denen wir uns bis auf die Unterwäsche ausgezogen hatten, um nachts in diesem See zu schwimmen.

Es waren kostbare Erinnerungen, die ich immer hüten würde, doch auch sie verblassten, als ich mit einem Mal wieder das Brennen der Flammen in mir spürte.

Aus dem Nichts überrollten mich all die Gefühle, die ich seit Tagen zurückzuhalten versucht hatte. Die Schuldgefühle, der Kummer – und so verdammt viel Schmerz. Ich wusste, dass ich ihn verdient hatte, weil ich Unverzeihliches getan hatte, doch je länger ich ihm ausgesetzt war, desto unerträglicher wurde es.

Mein Blick schweifte zur rechten Seite des Lake Beverly und blieb an den fernen Lichtern hängen, die noch vereinzelt in Creekwood Hill brannten. Diese Stadt hatte mir so viel gegeben, aber in diesem Moment spürte ich, dass sie mir vermutlich noch viel mehr genommen hatte.

Ich konnte nicht dahin zurückkehren. Ich wusste, dass es feige von mir war. Dass ich wegrannte, statt mich den Konsequenzen meiner Handlungen zu stellen, aber es ging nicht anders. Meine Gefühle überwältigten mich, und in diesem Moment gewann der Fluchtinstinkt.

Mochte sein, dass es nicht richtig war, aber mein kaputtes Herz ließ mir keine andere Wahl.

Auf dem Weg nach Hause schrieb ich Avery eine Nachricht. Vielleicht die letzte, die sie je von mir bekommen würde.

Dann packte ich meine Sachen und ging.

KAPITEL 1

Liora

Bald würde ich wahnsinnig werden. Es war nur noch eine Frage der Zeit.

Ich zog die Handbremse an. Dann umklammerte ich das Lenkrad mit beiden Händen und lehnte meine Stirn mit einem erschöpften Seufzen dagegen. »Ich weiß nicht, wie lange ich das noch aushalte, Jo.«

Im nächsten Moment spürte ich, wie Jo sich mir auf dem Beifahrersitz entgegenlehnte, die Hand auf meinen Rücken legte und vorsichtig Kreise zog. »Ich fürchte, du hast keine andere Wahl.«

Als ich meinen Blick wieder nach vorne richtete, sah ich, wie die Möbelpacker eine riesige Couch durch unsere Haustür quetschten. So, wie sie es seit zwei Tagen mit allen erdenklichen Möbeln taten. Von Beginn an hatte mich der Lärm, den sie verursacht hatten, kaum zur Ruhe kommen lassen.

»Ich hoffe, sie sind bald fertig.«

Jo verzog das Gesicht. Dann nickte sie. »Lange kann es nicht mehr dauern.«

Ich atmete laut aus, weil es offensichtlich war, dass sie nicht einmal selbst an ihre Worte glaubte.

»Wir könnten natürlich auch versuchen, die Wartezeit mit ein paar Pizzen zu überbrücken.« Sie lächelte mich an und wackelte verlockend mit den Pizzakartons in ihrer Hand, wodurch sich der verführerische Duft immer weiter im Auto ausbreitete. »Na? Was sagst du?«

Ich grinste. Jo schaffte es jedes Mal, mich auf andere Gedanken zu bringen. Ich betrachtete sie, sah die braunen Augen, das blonde Haar, in das sie wie immer Blumen eingeflochten hatte, und die Sommersprossen, die in einem perfekten Durcheinander ihr Gesicht besprenkelten.

Sie erinnerte mich so sehr an Eliza.

Gott, ich vermisste sie!

Eliza war vermutlich der einzige Mensch gewesen, der mich ohne Worte verstanden hatte. Der mich in meine höchsten Höhen katapultiert und mich aus meinen tiefsten Tiefen gezogen hatte. Und jetzt war sie weg. An manchen Tagen fühlte ich mich deswegen unfassbar allein.

Aber solange Jo da war, war ich es nicht.

Ich wusste nicht, woher sie die Kraft nahm, für uns beide stark zu sein. Schließlich war Eliza ihre Tochter gewesen. Andere Mütter wären an diesem Verlust zerbrochen, doch sie hatte sich an meine Seite gestellt und beschützte mich seitdem genauso, wie sie Eliza beschützt hatte. Sie war wie eine zweite Mutter für mich geworden. Besonders seit ich von zu Hause ausgezogen war und nun die halbe Stadt zwischen mir und meinen Eltern lag.

»Okay.«

Wir schlängelten uns im Treppenhaus an den Möbelpackern vorbei, bis wir vor meiner Wohnungstür im zweiten Stock standen. Ich schloss die Tür auf, und noch bevor sie hinter uns wieder zugefallen war, hörte ich, wie Jo sich mit den Pizzen auf das Sofa setzte.

»Ich bin so was von erledigt«, seufzte sie in ein Kissen, als ich durch die Tür schritt. »Die letzten Tage waren unfassbar anstrengend. Mir tut einfach jeder einzelne Knochen im Körper weh.«

Ich schenkte ihr ein aufmunterndes Lächeln. »Morgen fängt der neue Florist bei uns an. Es kann nur besser werden.«

»Du hast recht.«

Ich setzte mich neben sie auf das Sofa, öffnete den ersten Karton und nahm mir ein Stück Pizza heraus. »Ich hoffe nur, dass du ihn nicht nach zwei Wochen feuerst.«

»Ich denke nicht, dass so was wie mit Hannah noch mal passieren wird.«

»Du kannst sie immer noch anrufen und bitten, wieder zurückzukommen. Sie war wirklich gut …«

»Und total unhöflich«, schnitt Jo mir das Wort ab. »Du bist manchmal einfach zu gut für diese Welt, Liora. Ich weiß es wirklich zu schätzen, dass du Hannah nicht verraten wolltest, aber du hättest direkt zu mir kommen sollen. Sie hatte kein Recht dazu, so mit dir zu reden.«

»Ich weiß. Aber du warst in den letzten Wochen so gestresst, weil wir einfach zu wenig Unterstützung im Laden hatten. Da wollte ich nicht, dass wir meinetwegen noch weniger werden.«

»Du hast nichts getan, Liora! Es lag an Hannah und ihrem vorlauten Mundwerk. Sie hätte niemals so mit dir umgehen dürfen.«

Ich wollte Jo widersprechen, doch ihr Blick brachte mich zum Schweigen. Und eigentlich hatte sie recht. Ich hatte es Hannah durchgehen lassen, mich verbal zu attackieren, weil ich es gewohnt war, ausgegrenzt und verletzt zu werden. Die Highschool konnte ein grausamer Ort sein, wenn man von der Norm abwich. Ich war als Außenseiterin abgestempelt worden, nur weil mein Körper nicht dem Schönheitsideal entsprochen hatte. Weil ich – der Meinung anderer zufolge – etwas zu viel gewogen hatte. Doch ich hatte dieselben Gefühle, die jeder andere auch hatte. Ich spürte Freude und Trauer. Liebe. Und den Schmerz, wenn Menschen mich aufgrund meines Übergewichts verurteilt oder mit abschätzigen Blicken betrachtet hatten.

Es war traurig, wie solche Erfahrungen einen für den Rest des Lebens prägten.

»Danke, Jo.«

»Jederzeit.« Sie lächelte.

Wir aßen unsere Pizzen auf und sahen fern. Und wie jedes Mal war der Fernseher nur ein leises Hintergrundgeräusch, das zwischen unseren Unterhaltungen und unserem lauten Lachen unterging. Ich liebte es, dass wir uns auch außerhalb der Arbeit hin und wieder sahen. Und dass wir die Dinge taten, die Eliza und ich ebenfalls getan hatten.

Irgendwann schlief Jo auf meinem Sofa ein. Sie hatte eine Decke um ihren Körper geschlungen, was bedeutete, dass ich sie vor morgen früh nicht würde aufwecken können, aber das war okay. Seit Elizas Tod übernachteten wir hin und wieder beieinander, und ich hatte gelernt, dass ich ihr einfach ein Kissen unter den Kopf schieben und sie schlafen lassen musste.

Ich ging zum Fenster und ließ die Jalousien herunter, damit das ins Zimmer fallende Licht Jo nicht weckte.

Vollmond.

Es war wunderschön, fast schon geheimnisvoll, wie das Licht durchs Fenster schien und den Raum flutete. Ein paar Sekunden lang hielt ich inne und sah nach draußen. Dann lief ich zur Tür.

Manchmal, wenn die Nächte besonders schön waren, setzte ich mich unten auf die kleine Stufe vor der Haustür und schaute in den Himmel. Und jedes Mal liebte ich es, denn der Nachthimmel sah nie gleich aus. Es gab immer etwas Neues zu entdecken, und ich wollte alles sehen, was er zu bieten hatte.

Im Vorbeigehen schlang ich eine Decke um meinen Körper und schlüpfte in meine Pantoffeln – es war mittlerweile so spät, dass mich ohnehin niemand sehen würde. Dann eilte ich die Treppen hinab und drückte die Haustür auf.

Wo jemand auf meiner Stufe saß.

Er drehte sich um. Das blasse Licht der Straßenlaterne legte sich auf sein Gesicht, und ich schaute in Augen, die finsterer waren als die dunkelste Nacht. Schwarze Locken lugten unter der Kapuze des breiten Hoodies hervor. Ein säuberlich gestutzter Dreitagebart betonte die markanten Gesichtszüge des Fremden, und als sich sein Blick mit meinem verfing, legte sich seine Stirn in Falten. Etwas Hartes umspielte seine Züge. Er musterte mich wortlos, und ich konnte nicht anders, als zurückzustarren.

Es war komisch, irgendwie unangenehm, doch gleichzeitig fiel es mir schwer, meinen Blick von ihm zu lösen.

»Kann ich dir helfen?«, fragte ich irgendwann, weil er nicht aufhörte, mich anzusehen.

Er führte die Hand an seinen Mund, nahm einen Zug von einer Zigarette und blies den Rauch Richtung Himmel. »Schon gut.« Seine Stimme klang tief, ein wenig rau und doch warm.

»Suchst du jemanden?«

Er schüttelte langsam den Kopf, ohne den Blick von mir abzuwenden. Er beobachtete mich, als würde er sich auf jede einzelne meiner Bewegungen vorbereiten wollen.

Und dann kam mir ein ganz anderer Gedanke. »Du bist der neue Nachbar, stimmt’s?«

Er kniff die Augen zusammen. Ein paar Sekunden lang sagte er nichts, also setzte ich mich neben ihn. Ich hatte damit gerechnet, dass er zur Seite rücken würde, doch er tat es nicht. Stattdessen blieb er reglos sitzen und heftete seinen Blick auf die Straße vor uns.

»Ja, bin ich«, antwortete er irgendwann.

Ich lächelte ihn an, doch er schien es nicht zu registrieren. »Ich wohne im Stockwerk über dir.«

»Schön für dich.«

Es breitete sich eine unbehagliche Stille zwischen uns aus, also fing ich an zu reden. Ich erzählte von meinem Umzug hierher, der tatsächlich auch noch gar nicht so lange zurücklag, von den Nachbarn, die ich mochte, und von denen, die mir das Leben schwer machten, doch ich fragte mich, ob er mir überhaupt zuhörte. Er saß nur wortlos auf der Stufe, zog an seiner Zigarette und schien mit seinen Gedanken ganz woanders zu sein.

»Ich bin übrigens Liora.«

»Freut mich«, sagte er, doch ich war nicht sicher, ob er es wirklich so meinte. Er sah zur Seite, und wieder war da dieser finstere Blick, der mich unerwartet traf. Die Traurigkeit in seinen Augen raubte mir für den Bruchteil einer Sekunde den Atem.

»Wieso habe ich dich in diesem Stadtviertel noch nie gesehen?«

Er seufzte schwer. »Ich komme nicht aus dieser Gegend, Liora.«

»Wo kommst du dann her?«, hakte ich nach.

»Aus einer anderen Stadt.«

»Und wieso hast du diese andere Stadt verlassen?«

»Du bist ganz schön neugierig.« Seine Hände ballten sich zu Fäusten. Ein Muskel in seinem Kiefer zuckte.

»Du musst es mir natürlich nicht erzählen«, schob ich schnell hinterher.

»Schon klar.«

Er sah mir in die Augen, und mit einem Mal schienen die Sekunden viel zu langsam zu vergehen. Sein Blick war intensiv, und ich traute mich kaum zu atmen. Ich schluckte schwer, als er sich zu mir vorbeugte, doch im nächsten Moment stand er auf und schob sich durch die Haustür.

Ich atmete tief durch, doch mein Körper spannte sich sofort wieder an, als ich bemerkte, dass er in der Tür stehen blieb und mir über seine Schulter hinweg einen knappen Blick zuwarf.

»Ich bin übrigens Kieran.«

Kieran … »Okay«, antwortete ich mit einem leichten Lächeln auf den Lippen.

Er nickte. Dann stieg er die Stufen empor, ohne sich noch einmal umzudrehen.

Und aus irgendeinem Grund konnte ich nicht damit aufhören, ihm nachzusehen.

KAPITEL 2

Liora

Der Duft von Rosen hüllte mich ein, als ich die letzten Schnittblumen in die Vasen stellte und die Tür für die Kunden aufschloss.

»Sehr gut, Snowflake«, lobte Jo mich. Sie warf einen Blick auf ihre Armbanduhr. »Pünktlich wie immer.«

Ich ließ meinen Blick durch das Golden Flower schweifen, um mich zu vergewissern, dass wirklich alles in Ordnung war.

Ich liebte diesen Ort, seit ich ihn das erste Mal zusammen mit Eliza betreten hatte. Wir waren damals sieben Jahre alt gewesen, und weil Jo sich als Angestellte nicht hatte freinehmen können, hatte sie uns nach der Schule einfach hierhergebracht. Wir hatten zwischen Blumen und Pflanzen gespielt. Hatten Erinnerungen gesammelt, die jetzt, wo Eliza weg war, noch kostbarer geworden waren. Und nun, vierzehn Jahre später, hatte Jo den Laden endlich übernommen, und ich durfte für sie arbeiten.

Manchmal jagte mir diese Tatsache ein wenig Angst ein. Wir befanden uns noch ganz am Anfang und hatten in den letzten beiden Monaten, seit sie die Inhaberin war, oft genug gespürt, wie hart Neuanfänge sein konnten. Nichts fiel einem in den Schoß. Aber das war okay. Schließlich war das hier immer unser Wunsch gewesen, und ich wusste, dass wir zusammen auch diesen Neuanfang bewältigen würden.

Seit wir den Laden vor zwei Monaten zur Neueröffnung renoviert hatten, war er zum beliebtesten Blumenladen in Northlake City geworden.

Neben der gläsernen Eingangstür prangten riesige Schaufenster, in denen unsere Schnittblumen auf verschiedenen Podesten ausgestellt waren. Ich hatte sie farblich sortiert. Ganz links befanden sich Rosen und Gladiolen, die in einem kräftigen Rot erstrahlten. Direkt daneben zarte orangefarbene Tulpen, welche immer weiter zu einem weichen Gelb verblassten. Auf der rechten Seiten hatte ich lilafarbene und blaue Blumen positioniert. Ich mochte es, wie sich die kleinen und feinen Blüten des Flieders mit dem ähnlich geformten Rittersporn zu einem violett-blauen Meer zusammenschlossen.

In der Mitte der Verkaufsfläche befand sich ein langer Tisch aus Holz, auf dem wir größere Topfpflanzen, leere Vasen und andere Dekoartikel positionierten. An den Wänden reihten sich deckenhohe Regale, die bis auf den letzten Zentimeter mit weiteren Topfpflanzen vollgestellt waren. Da das Golden Flower nicht sonderlich groß war, standen die Blumen so eng beieinander, dass es war, als würde man in einer Blumenwiese versinken, wann immer man durch den Laden lief.

Rose schob den Vorhang zum Aufenthaltsraum beiseite und trat in den Verkaufsraum. In ihren blonden Locken hingen Weidenzweige, und ihre Augenringe verrieten, dass sie in der letzten Nacht vermutlich nicht allzu viel geschlafen hatte.

»Hinten ist auch alles klar. Ich habe das ganze Equipment aufgeräumt und die Blumen in der Kühlung sortiert, falls euch vorne die Schnittblumen ausgehen.«

»Danke, Rose.«

»Ich bin dann im Aufenthaltsraum, wenn ihr mich braucht.«

Jo erwiderte nichts, woraufhin Rose sich zurückzog.

Ich trat hinter die Theke, wo Jo gerade an einem kleinen Zweig herumspielte.

»Wann kommt der Neue?«

»Ich habe ihn gebeten, um zehn hier zu sein. Dann können wir beide vorher noch die Aufträge und Vorbestellungen abarbeiten.«

»Klingt gut.«

Jo seufzte. »Ich hoffe, es wird alles laufen. Die Überstunden häufen sich schon jetzt.«

»Hin und wieder würden wir es auch allein hier schaffen«, erwiderte ich, doch Jo schüttelte den Kopf.

»Ich weiß. Schließlich habt ihr bei der Besten gelernt.« Sie zwinkerte mir zu. »Trotzdem wäre es sehr viel Verantwortung für euch. Nicht dass ich euch das nicht zutrauen würde. Aber ich glaube, es wird mir leichter fallen, euch mit der Arbeit alleinzulassen, sobald der Neue hier ist und wir ihn vernünftig angelernt haben, damit ihr in meiner Abwesenheit zumindest zu dritt seid.«

Ich nickte. »Dann lass uns mal schauen, wie es mit ihm wird.«

Die erste Stunde verging relativ stressfrei. Jo kümmerte sich um den anstehenden Papierkram, während ich mich mit dem Blumenarrangement für eine bevorstehende Hochzeit auseinandersetzte. Da nicht viel los war, ließ Rose sich kaum blicken.

Ich lief unzählige Male im Kreis, kombinierte verschiedene Blumen, verwarf meine Ideen und drehte beinahe durch, bis ich auf das perfekte Arrangement stieß: eine Kombination aus rosafarbenen Tulpen, pinken Pfingstrosen und schneeweißen Maiglöckchen. Aufgrund der verschiedenen Blüten hatte ich nicht gedacht, dass sie zusammenpassen würden, doch die vergleichsweise kleinen Maiglöckchen umspielten die auffälligeren und größeren Tulpen und Pfingstrosen perfekt.

Ich versuchte oft, Blumen, die auf den ersten Blick total unterschiedlich wirkten, miteinander zu kombinieren, und meistens war ich selbst davon überrascht, wie stimmig das Ergebnis ausfiel. Vermutlich lag es einfach an meinem Gespür für diese Dinge. Ich konnte selbst nicht genau sagen, woher es kam, aber die Inspiration überfiel mich in manchen Momenten aus dem Nichts.

»Das ist wirklich gut.«

Ich fuhr zusammen, weil ich Jo nicht hatte kommen sehen. »Schleich dich bitte nicht so an«, sagte ich, während ich meine Hand gegen mein pochendes Herz drückte.

»Tut mir leid, aber ich wollte unbedingt sehen, woran du gerade arbeitest. Und ich muss sagen, bisher sieht es wunderschön aus.«

»Danke.« Ich warf einen zufriedenen Blick auf die Notizen, die ich mir gemacht hatte. »Es waren nur ein paar erste Ideen. Aber mir gefallen sie bisher auch sehr gut.«

»Das freut mich. Ich hoffe wirklich, dass er die gleiche kreative Ader hat wie du.« Jo nickte Richtung Eingangstür.

Ich drehte mich um … und erstarrte.

Diese Augen, die schwarzen Locken, der perfekte Dreitagebart.

Was macht Kieran hier?

Eine tiefe Falte grub sich in seine Stirn, als er die Eingangstür aufdrückte und mich bemerkte.

»Moment mal. Du bist mein neuer Arbeitskollege?«, fragte ich perplex.

Er zuckte mit den Schultern und sah sich um. »Ich kann zumindest keinen anderen entdecken.«

Jos verwirrter Blick huschte zwischen uns hin und her.

Mein neuer Nachbar war also gleichzeitig mein neuer Arbeitskollege. Ich wusste nicht, was ich davon halten sollte. Bis gestern hatte ich diesen Mann noch nicht einmal gekannt, und nun würde ich ihm sowohl beruflich als auch privat andauernd begegnen.

»Ihr kennt euch bereits?«, platzte es nach ein paar Sekunden aus Jo heraus.

»Kann man so sagen, ja«, antwortete ich. Und dann erzählte ich ihr kurz von unserem Zusammentreffen letzte Nacht, während Kieran sich flüchtig im Golden Flower umsah.

Wieder huschte Jos Blick zwischen uns hin und her. Dann räusperte sie sich. »Das ist doch schön, dass ihr euch schon kennt. Das macht die Zusammenarbeit sicherlich leichter. Würdest du ihm dann kurz den Laden zeigen?«

Ich führte Kieran auf der Verkaufsfläche herum und erklärte ihm unseren Arbeitsalltag. Er sprach kein Wort, doch ich erkannte am Funkeln seiner Augen, dass es ihm hier gefiel.

»Gibt es noch etwas, was du wissen möchtest?«, fragte ich, nachdem wir uns einmal durch den Laden gearbeitet hatten.

»Ich glaube nicht.«

»Dann zeige ich dir jetzt unseren Aufenthaltsraum.«

Wir liefen an der Theke vorbei und schoben den dahinterliegenden Vorhang beiseite.

Der Raum – den wir sowohl für unsere Pausen als auch hin und wieder zum Binden von Blumensträußen verwendeten – war nicht sonderlich groß und nur spärlich möbliert. An der hinteren Wand stand ein großer Arbeitstisch, auf dem wir unzählige Boxen mit verschiedenen Arbeitswerkzeugen positioniert hatten. Durch das darüberliegende Fenster fiel Sonnenlicht in den Raum. Die linke Raumseite beherbergte lediglich einen Kühlschrank und eine kleine Herdplatte sowie eine weitere Tür, die zu unserer Kühlung führte, in der wir überschüssige Schnittblumen lagerten. Rechts stand eine alte Couch, die Rose gerade in Beschlag nahm.

Als sie uns bemerkte, richtete sie sich auf. Sie ließ ihren Blick über Kieran wandern, und mit einem Mal war da diese Entschlossenheit in ihrem Blick, die ich nur zu gut kannte. Dieser Ausdruck, der verriet, dass sie ein neues Ziel gefunden hatte.

Im nächsten Moment stand sie bereits vor Kieran und hielt ihm die Hand hin. »Ich bin Rose«, stellte sie sich vor.

»Kieran«, antwortete er, ohne ihr die Hand zu reichen.

Wieder musterte sie ihn, und ich konnte es ihr nicht verübeln. Er trug ein eng anliegendes schwarzes T-Shirt, das seine breiten Schultern betonte. Eine Silberkette hing ihm um den Hals, und an seiner rechten Hand erkannte ich zwei Ringe. An seinem rechten Handgelenk prangte ein Tattoo, doch ich konnte den Schriftzug nicht entziffern.

Rose ließ ihre Hand sinken und räusperte sich. Dann wandte sie sich mir zu. »Ich kann ab hier übernehmen. Du solltest dich nicht überarbeiten, Liora.«

Ich runzelte die Stirn, weil ich mir ziemlich sicher war, dass dahinter mehr steckte als ihre Sorge um mein Wohlergehen. Aber ich widersprach ihr nicht. Ich war schon schuld daran, dass Hannah nicht mehr hier arbeitete. Ich wollte nicht schon wieder in einen Konflikt mit einer Arbeitskollegin geraten und Jo damit Probleme machen.

Fast schon beiläufig legte Rose ihre Hand auf Kierans Schulter. Er zuckte unter ihrer Berührung zusammen. »Soll ich dir den Rest zeigen?«

»Nein.«

»Nein?«, wiederholte Rose unsicher.

»Liora macht das schon.«

Ich unterdrückte ein Grinsen. Rose war es nicht gewohnt, dass ihr ein Wunsch ausgeschlagen wurde. Mit ihren perfekten blonden Locken und den stechend blauen Augen bekam sie von Männern immer das, was sie wollte. Aber anscheinend nicht von Kieran.

Rose warf mir einen Blick aus zusammengekniffenen Augen zu, doch sie holte tief Luft und atmete betont laut wieder aus. »In Ordnung.«

Ich wollte etwas sagen, um die Situation zu entschärfen, doch ich wusste nicht, was. Und bevor ich einen klaren Gedanken hätte fassen können, war sie auch schon nach vorn in den Laden verschwunden.

»Komisches Mädchen«, merkte Kieran fast schon beiläufig an, ehe er sich wieder mir zuwandte.

Ich lächelte. »Sie ist eigentlich ganz nett … glaube ich. Zumindest solange sie ihren Willen bekommt.«

Kieran nickte. Dann sah er sich im Raum um.

»Würdest du mir zeigen, wie du Blumensträuße bindest?«, fragte ich, als wir an der Arbeitsplatte standen. Vielleicht wirkte diese Frage komisch, doch jeder Florist hatte seine ganz eigene Technik. Und ich wollte wissen, welche seine war.

Er sah mich skeptisch an. »Klar, kann ich machen.«

Ich öffnete die Tür zur Kühlung, und er wählte die Blumen aus, die er benötigte. Ich war erstaunt, als er nach blauen und weißen Rosen griff.

»Ein Rosenstrauß?«

»Meine Lieblingsblumen.«

Meine auch.

»Weißt du, was mir besonders gut an ihnen gefällt?«, fragte er und fokussierte sich auf die zarten Blütenblätter, über die er vorsichtig mit seinen Fingern fuhr.

»Was denn?«

»Es ist zwar streng genommen die gleiche Blume, aber je nach Farbe kann sie eine ganz unterschiedliche Bedeutung haben. Weiße Rosen stehen für die Unschuld, cremefarbene für Wertschätzung und gelbe wiederum für die Freundschaft. Ich finde das irgendwie faszinierend. Und ich glaube auch, dass Rosen deswegen die wahrscheinlich beliebtesten Blumen sind. Man kann praktisch alles mit ihnen ausdrücken, was man vielleicht nicht so gut in Worte fassen kann.« Während er von den Blumen erzählte, hatte ich das Gefühl, dass er sich selbst wie eine Blüte im Sonnenlicht öffnete. Etwas an seiner Haltung veränderte sich – auf eine gute Art und Weise.

»Stimmt, du hast recht«, antwortete ich ein wenig erstaunt über sein Fachwissen.

Kurz noch musterte er fast schon verträumt die Rosen in seinen Händen. Dann setzte er sich in Bewegung, und wir stellten uns wieder an die Arbeitsplatte im Aufenthaltsraum. Ich beobachtete jeden einzelnen seiner Schritte. Er griff nach einer blauen Rose, die er als Mittelpunkt auswählte. Die anderen Rosen ordnete er dann im farblichen Wechsel spiralförmig an, wobei er jede Blume mit ein wenig Blattwerk von der nächsten trennte. Dabei spannten sich die sehnigen Muskeln seines Unterarms bei jeder seiner Bewegungen an. Seine Adern traten hervor, und ich schluckte schwer. Kieran griff nach dem Pflanzenband und umwickelte den Strauß, um ihn zu stabilisieren. Dann reichte er mir das fertige Endprodukt.

»Wow, bei dir sitzt wirklich jeder Handgriff«, stellte ich fest.

»Ja. Ich bin schon seit einigen Jahren Florist.«

»Wieso hast du dich dazu entschieden, den Arbeitsplatz zu wechseln?«

Er zuckte mit den Schultern, statt mir zu antworten, und ich fragte mich, wieso er verstummte, wenn ich ihn auf seine Vergangenheit ansprach. Ich wusste weder, wo er herkam, noch weswegen er seine Heimatstadt verlassen hatte.

»In welchem Blumenladen genau hast du denn vorher gearbeitet?«, versuchte ich mein Glück erneut.

Er seufzte laut auf. »Ich glaube kaum, dass du die einzelnen Blumenläden in Creekwood Hill kennst.«

Überrascht zog ich die Augenbrauen in die Höhe. »Du kommst aus Creekwood Hill?«

»Ja.«

Ich kannte nicht viele Menschen, die von dort kamen, obwohl die Stadt nur wenige Meilen südlich von Northlake City lag. Vielleicht lag es daran, dass der weitläufige Lake Beverly sie voneinander trennte, doch eigentlich stellte der kein Hindernis dar. Jede Stunde fuhr eine Fähre zwischen den Städten hin und her.

Ich warf Kieran einen Seitenblick zu und sah, wie sich seine Muskeln anspannten. Seine Hände hatten sich zu Fäusten geballt, und ich bemerkte ein Zucken an seinem Kiefer – genauso wie gestern Nacht.

Ich beschloss, das Thema fallen zu lassen und mich wieder seinem Blumenstrauß zuzuwenden. »Nicht schlecht. Also wirklich gut«, lobte ich ihn.

»Danke, Liora.«

»Wie es aussieht, hat Jo mit deiner Anstellung die richtige Entscheidung getroffen.«

»Das wird sich noch zeigen.« Mit einem Mal verfinsterte sich seine Miene. Ich kannte diesen Ausdruck. Genauso sah ich mich im Spiegel, wenn die Zweifel mich an meinen schlechten Tagen plagten.

Aber Kieran … Er konnte doch unmöglich dieselben Zweifel haben.

Oder?

KAPITEL 3

Liora

Als mein Wecker am nächsten Morgen zum dritten Mal klingelte, überwand ich mich endlich dazu aufzustehen, um ihn auszuschalten. Verschlafen rieb ich mir die Augen, doch es half nichts. Ich hatte letzte Nacht viel zu wenig geschlafen, denn ich war erst gegen ein Uhr wieder zu Hause gewesen.

Nach der Schicht im Golden Flower waren Jo und ich noch zusammen zu ihr gefahren. Da sie nicht so viel Zeit gehabt hatte, mit Kieran zu arbeiten, hatte sie meine ehrliche Meinung über ihn und seine Arbeitsweise wissen wollen. Und ich hatte ihr gesagt, dass ich wirklich beeindruckt war.

Ja, Kieran hatte etwas Abweisendes an sich. Er hatte es nicht so mit vielen Worten. Aber wenn er im Golden Flower stand, umgeben von Blumen, und dabei Sträuße band, schien sich etwas an seiner Haltung zu verändern. Er blühte ein kleines bisschen auf. Das war etwas, was ich sowohl von Jo als auch von mir kannte. Das, und die Tatsache, dass ich diese Leidenschaft für den Job so schnell an ihm hatte erkennen können, war Beweis genug, dass es die richtige Entscheidung gewesen war, ihn einzustellen.

Ich blieb noch ein paar Sekunden im Bett liegen, doch als ich wieder einzuschlafen drohte, richtete ich mich auf und ging ins Bad. Ich putzte mir die Zähne, stellte mich unter die Dusche – eiskaltes Wasser, um besser wach zu werden – und zog mich anschließend in meinem Schlafzimmer an.

Ich probierte es mit einer lockeren Jeans und einem schwarzen Top, doch als ich mich im Spiegel betrachtete, fühlte ich mich unwohl. Ich hatte das Gefühl, dass der tiefe Ausschnitt und der nur knapp über dem Bund der Hose endende Saum zu viel von mir zeigten. Zu viel Körper. Zu viel Haut.

Unsicherheit stieg in mir auf.

Deswegen zog ich das Top wieder aus und entschied mich für ein etwas weiteres T-Shirt.

Nachdem ich mich fertig angezogen hatte, ging ich in die Küche, um zu frühstücken. Ich bekam kaum etwas runter, aber das war okay. Ich packte den restlichen Bagel ein, um ihn später auf der Arbeit zu essen. Dann ging ich zur Wohnungstür, zog mir Schuhe und Jacke über und verließ die Wohnung. Ich nahm die Stufen nach unten, und in dem Moment, als ich in dem Stockwerk unter mir ankam, hörte ich, wie eine Tür ins Schloss fiel.

Kieran.

Er sah mich an, murmelte ein leises »Hey« zur Begrüßung und wandte sich dann Richtung Treppe.

»Warte«, hielt ich ihn auf, bevor er gehen konnte.

Er blieb stehen und warf mir einen fragenden Blick über seine Schulter hinweg zu. »Ja?«

»Du hast jetzt mit mir zusammen Schicht, stimmt’s?«

Er drehte sich in meine Richtung. »Genau.«

»Dann lass uns doch zusammen hingehen.« Ich wusste nicht, ob das für ihn okay war, aber mir war es wichtig, ein gutes Verhältnis zu ihm zu haben. Er war mein Arbeitskollege und mein Nachbar. Ich wollte mich mit einem Menschen, den ich zukünftig vermutlich verdammt oft sehen würde, gut verstehen.

Doch er schien das anders zu sehen. »Ich würde lieber allein gehen.«

»Aber wir müssen doch in die gleiche Richtung«, versuchte ich es erneut, doch er schüttelte bloß den Kopf.

»Mir egal.«

Seine Worte trafen mich. Er schien unter keinen Umständen mit mir reden zu wollen, obwohl ich ihm doch nichts getan hatte. Aber ich wollte mich ihm auch nicht aufdrängen, weswegen mir wohl nichts anderes übrig blieb, als seine Entscheidung zu akzeptieren.

»Okay. Dann sehen wir uns auf der Arbeit?«

»Ist das eine Frage?«

»Nein, schon gut.« Ich hielt kurz inne. »Bis gleich.«

Ein paar Wimpernschläge lang war es still zwischen uns, während sein Blick über mich glitt. Etwas in seinen Augen ließ mich die Luft anhalten.

Irgendwie überkam mich das Bedürfnis, noch irgendetwas zu ihm zu sagen.

Doch dazu ließ er es nicht mehr kommen, denn im nächsten Moment drehte er sich um und ging.

Ich war froh, als ich endlich beim Laden ankam. Kieran war die ganze Zeit über vorgelaufen, und ich war ihm mit ein paar Metern Abstand gefolgt. Ich hatte mich gefühlt, als würde ich ihn verfolgen.

»Guten Morgen!«, rief Jo, als Kieran und ich mit ein paar Sekunden Verzögerung nacheinander das Golden Flower betraten.

Er brummte zur Antwort.

»Guten Morgen!«, antwortete ich.

Sie musterte mich kurz. »Müde?«

»Ein bisschen. Ich war gestern erst spät zu Hause.«

Sie grinste. »Es stand dir jederzeit frei zu gehen. Ich habe dich zu nichts gezwungen.«

Ich winkte ab. »Schon gut, ich werde es überleben.«

»Was kann ich machen?«, schaltete sich Kieran in diesem Moment ein.

Jo wandte sich ihm zu. »Heute Morgen kam eine neue Lieferung Schnittblumen. Ich habe sie erst einmal in die Kühlung gebracht. Kontrollier bitte, ob wir hinten welche haben, die vorne nicht mehr in den Vasen stehen.« Sie deutete Richtung Schaufenster, wo nach einem kurzen Kundenansturm gestern ein paar Blumen ausgegangen waren.

Kieran nickte ihr knapp zu, bevor er in den Aufenthaltsraum Richtung Kühlung ging.

»Und welche Aufgabe kann ich übernehmen?«

Jo dachte kurz nach. »Wir haben keine fertigen Rosensträuße mehr. Die laufen eigentlich immer ganz gut. Es kann nicht schaden, welche auf Vorrat zu haben. Vielleicht bindest du noch welche?«

»Klar. Welche Farben?«

»Vorzugsweise Rot-Weiß und Rosa-Weiß. Die kommen am besten an.«

Ich griff nach dem Haargummi, das ich um mein Handgelenk trug, und band mir meine Haare schnell zu einem hohen Zopf. »Ich leg dann mal los!«

»Danke, Snowflake.«

Ich ging nach hinten und steuerte ebenfalls die Kühlung an. Dort fand ich Kieran, der mitten im Raum stand und an einer Nelke roch. Unwillkürlich lächelte ich. »Gefällt sie dir?«

Kieran blickte auf. Es war komisch, doch hier drin wirkte sein Blick weicher als sonst. »Nelken riechen toll.«

»Sehe ich auch so. Wobei ich das, glaube ich, zu so ziemlich jeder Blume sagen würde.«

»Ja, genau.« Kieran schloss noch einmal kurz die Augen und sog den Duft der Nelke in sich auf. Dann sah er mich wieder an. »Kann ich dir helfen?«

»Ich soll für Jo ein paar Rosensträuße binden. Ich wollte mir nur ein paar Blumen nehmen.«

Kieran deutete wortlos auf die linke Raumseite, wo sich die Rosen in einem deckenhohen Regal stapelten.

Ich ging hinüber, griff nach dem kleinen geflochtenen Korb, der neben dem Regal stand, und legte vorsichtig die Blumen hinein, um sie ja nicht zu beschädigen. Als ich gerade wieder die Kühlung verlassen wollte, hörte ich Kierans Stimme hinter mir.

»Darf ich dir zusehen?«

Ich drehte mich überrascht um. »Du willst mir zusehen?«

Er zuckte mit den Schultern, als wäre es eine Kleinigkeit. Dabei hatte ich nicht erwartet, dass er sich für meine Arbeit interessieren würde. »Gleiches Recht für alle. Ich will sehen, wie du Sträuße bindest.«

Ich hielt noch kurz inne und ließ seine Bitte auf mich wirken. Dann stimmte ich ihm mit einem Nicken zu. Wir verließen die Kühlung, und ich stellte mich an die Arbeitsplatte.

Ich nahm die erste rote Rose aus dem Korb und wählte sie als Mittelpunkt des Straußes aus. Doch anders als Kieran fuhr ich nicht in einem spiralförmigen Muster fort. Ich bevorzugte es, dem Strauß kein festes System zugrunde zu legen. Ich ordnete die restlichen roten und weißen Rosen in einem Durcheinander an und trennte sie mit ein wenig Schleierkraut voneinander.

Mir fiel auf, dass Kieran jeden meiner Schritte genau beobachtete. Und als ich kurz zur Seite sah und sich unsere Blicke kreuzten, war da wieder dieses Funkeln in seinen Augen. Seine Züge wirkten weicher als sonst, und ich fragte mich, woran das lag. Doch bevor ich genauer darüber nachdenken konnte, senkte ich den Blick wieder.

Ich stabilisierte den Strauß und band ihn mit einem Pflanzenband fest. Dann reichte ich ihn Kieran. »Und, was sagst du?«

Kieran nahm den Strauß entgegen und betrachtete ihn prüfend. Er drehte ihn leicht, sah ihn von allen Seiten an, und dann glaubte ich, einen seiner Mundwinkel zucken zu sehen. »Deine Sträuße tragen auf jeden Fall eine andere Handschrift als meine.«

»Ist das gut oder schlecht?«

Ein paar Sekunden lang schwieg er und drehte den Strauß weiter in seinen Händen. Dann sah er auf, und es gefiel mir, dass er diesmal nicht so verschlossen und abweisend wirkte. »Gut. Mir gefällt deine Technik.«

»Danke. Das hab ich alles von Jo.«

»Okay.« Einen kurzen Moment lang blieb er unschlüssig vor mir stehen. Dann deutete er über seine Schulter hinweg Richtung Kühlung. »Ich mache dann mal weiter.«

Bevor ich etwas erwidern konnte, drehte er sich um und ging. Aber das war okay. Es fühlte sich wie ein kleiner Erfolg an, diese Unterhaltung mit ihm geführt zu haben. Mochte sein, dass Kieran abweisend war, aber es war schön, dass zumindest die Blumen ihm halfen, sich hin und wieder ein wenig zu öffnen.

KAPITEL 4

Kieran

Avery; 07:15 Uhr

Guten Morgen, Kieran.

Bitte sag mir, wo du steckst.

Avery; 09:34 Uhr

Kieran? Langsam mache ich mir Sorgen.

Avery; 13:27 Uhr

Es ist langsam nicht mehr witzig, Kieran.
Melde dich!

Avery; 18:49 Uhr

Fuck! Dann halt nicht! Aber bete zu Gott, dass ich dich nicht in die Finger kriege! Kannst du dir überhaupt vorstellen, wie ich mich fühle? Ich vermisse dich, und ich mache mir Sorgen. Von meiner Wut auf dich mal ganz zu schweigen. Aber ich befürchte, dass ich an der Situation gerade nichts ändern kann, wenn du mich nicht lässt. Du wirst schon wissen, was du tust – hoffe ich.

Ich hab dich lieb.

Happy Birthday.

Ich schaltete mein Handy aus und legte es beiseite, weil ich es nicht mehr ertragen konnte, Averys Nachrichten zu lesen.

Glaubte sie wirklich, ich wüsste nicht, wie sie sich gerade fühlte? Seit Tagen fraß das schlechte Gewissen mich auf. Gleichzeitig war mir klar, dass ich es verdient hatte.

Nachdem ich Avery eine Abschiedsnachricht geschrieben hatte, hatte ich einfach meinen Koffer gepackt und war verschwunden. Meine restlichen Möbel hatte ich von Möbelpackern abholen lassen, um ihr ja nicht noch einmal über den Weg zu laufen.

Mein Plan war aufgegangen, doch ich hatte nicht mit dem stechenden Gefühl in meiner Brust gerechnet, das sich seit meinem abrupten Aufbruch in mir ausbreitete. Ich vermisste Avery mindestens genauso sehr, wie sie mich zu vermissen schien. Und ich hatte das Gefühl, dass etwas fehlte. Vielleicht würde es mir jetzt besser gehen, wenn ich mich angemessen von ihr verabschiedet hätte, doch ich wusste, dass ich dann niemals hätte gehen können. Ich liebte Avery wie eine Schwester. Sie war alles, was ich noch hatte, und ich hätte nicht in ihre Augen sehen und ihr Lebewohl sagen können. Also hatte ich sie einfach feige zurückgelassen.

Am liebsten würde ich in meinem Bett versinken und mich tagelang nicht mehr blicken lassen. Aber dafür war es noch zu früh. Ich musste vorher noch etwas erledigen.

Ich kniete mich vor mein Bett, um eine kleine Holzkiste darunter hervorzuziehen. An dreihundertvierundsechzig Tagen im Jahr sperrte ich sie aus meinem Bewusstsein aus. Doch heute war der eine Tag im Jahr, an dem ich es mir erlaubte, sie zu öffnen.

Ich setzte mich auf mein Bett und griff mit zitternden Fingern nach dem Deckel. Dann atmete ich tief durch. Es würde wehtun, aber ich wollte sie unter keinen Umständen vergessen. Ich musste an sie denken, weil es sonst niemand tat. Das war ich ihnen schuldig, denn sie hatten es nicht verdient, in Vergessenheit zu geraten.

Bevor ich es mir anders überlegen konnte, öffnete ich die Kiste. Ich spürte einen Stich in meiner Brust, als ich auf die Fotos blickte. Fotos, die ein Leben zeigten, das mir längst nicht mehr gehörte. Ein Leben, das mit der Zeit zu einer verblassten Erinnerung geworden war.

Ich griff nach dem ersten und zog es aus der Kiste. Augenblicklich trat ein vorsichtiges Lächeln auf meine Lippen, als meine Eltern und ich mir entgegensahen. Es zeigte den Tag meines fünften Geburtstages. Meine Eltern trugen kleine Partyhüte und das breiteste Grinsen, das ich je gesehen hatte. Ich stand vor unserem Esstisch und führte gemeinsam mit meinem Dad ein Kuchenmesser an die Torte. Es war eine meiner kostbarsten Erinnerungen, weil es der erste Geburtstag war, der mir wirklich im Gedächtnis geblieben war.

Das zweite Foto war einige Jahre später entstanden. Ich war darauf ungefähr zehn Jahre alt. Es zeigte meine Eltern und mich vor der Tür unseres neuen Hauses. Das war der Tag unseres Umzugs gewesen, und ich hatte noch zu gut im Kopf, wie aufgeregt ich gewesen war. Ich hatte mich so sehr auf alles Neue gefreut. Doch da hatte ich noch nicht wissen können, was mich noch alles erwarten würde.

Und dann war da noch ein Foto. Ich blickte in die leuchtenden Augen meiner Eltern, nachdem ich meinen Highschoolabschluss geschafft hatte.

Ich bin so stolz auf dich, Kieran, hallte die Stimme meines Vaters in meinem Kopf nach.

Und mit einem Mal spürte ich ein Brennen in meinen Augen. Ich versuchte, es wegzublinzeln, doch ich scheiterte. Warme Tränen flossen über mein Gesicht und verfingen sich in meinem Bart. Mir war alles entrissen worden, was mir je wichtig gewesen war. Und ich hatte nichts tun können, um es zu verhindern. Ich war vollkommen machtlos gewesen.

Es war fünf Jahre her. Wieso tat es immer noch so weh? An manchen Tagen fragte ich mich, ob der Schmerz jemals nachlassen würde. Doch vielleicht war es gut, dass er nicht nachließ. Vielleicht erinnerte er mich an die Fehler, die meine Eltern gemacht hatten, um mich davon abzuhalten, dieselben zu begehen.

Ich sah mir die restlichen Fotos an. Ich weinte und lachte, ich fühlte, und ich litt. Denn heute war der einzige Abend, an dem ich alles fühlen wollte. Es waren Tage wie diese, an denen ich mich besonders einsam fühlte. An denen ich realisierte, wie sehr mir die beiden wirklich fehlten. Die Sehnsucht fraß mich auf, aber war die Sehnsucht nach einem Menschen nicht nur deshalb so groß, weil man ihn so sehr geliebt hatte? Und obwohl es wehtat, war ich dankbar, denn es waren diese Momente, die mich daran erinnerten, wie sorglos und schön mein Leben einmal gewesen war. Dass auch ich einmal geliebt worden war. Und manchmal musste man genau das wissen, wenn man das Gefühl hatte, sich in der Dunkelheit zu verlieren.

Ich hatte keine Ahnung, wie viel Zeit vergangen war, als ich die kleine Kiste wieder schloss.

»Wir sehen uns nächstes Jahr, Mom und Dad. Ihr fehlt mir. Ich hab euch lieb«, flüsterte ich beinahe lautlos.

Dann schob ich die Kiste wieder unters Bett.

Ich ging in die Küche, öffnete den Kühlschrank und zog einen kleinen Cupcake heraus, auf dem ich eine Geburtstagskerze positionierte. Dann stellte ich mich vor einen Spiegel und sah mir selbst in die Augen.

Waren meine Augen schon immer so traurig gewesen?

Ich zündete die Kerze an.

Ich wünsche mir …

Dann pustete ich sie aus und beobachtete die aufsteigenden Rauchschwaden.

»Happy Birthday, Kieran«, flüsterte ich in die einsame Stille.

KAPITEL 5

Kieran

Ich war froh, dass der nächste Arbeitstag halbwegs erträglich vorbeiging. Es war so viel los, dass ich mich ganz und gar in meinem Tun verlieren konnte. Ich band Sträuße, beriet Kunden, bewässerte ein paar der Pflanzen und war so beschäftigt, dass ich weder mit Liora noch mit Jo oder Rose in Gespräche verwickelt wurde.

Ich hatte nichts gegen sie. Eigentlich glaubte ich sogar, dass sie ganz nett waren. Aber ich war nicht nach Northlake City gekommen, um Freunde zu finden. Ich wollte einfach nur meinen Job machen. Und Tage, an denen ich mich voll und ganz darauf konzentrieren konnte und so beschäftigt war, dass mir nicht einmal die Zeit zum Nachdenken blieb, waren mir die liebsten.

Am Abend kam ich vollkommen erledigt zu Hause an. Ich zog mir die Schuhe aus und legte mich erst mal ein paar Minuten hin, um mich zu entspannen. Dann ging ich in die Küche, um mir ein Sandwich zu machen, als es an der Tür klopfte.

Ich ging in den Flur, und als ich die Tür öffnete, sah ich in die eisblauen Augen von Liora.

»Hey, ich hoffe, ich störe dich nicht?«

Ich sah sie stirnrunzelnd an. »Was ist los?«

»Ich brauche deine Hilfe.«

»Meine Hilfe?«

Sie nickte und deutete auf eine kleine Mappe, die sie in der Hand hielt. »Es geht um einen Auftrag für eine Hochzeit, der heute reinkam. Es ist ziemlich eilig, und ich komme damit irgendwie nicht weiter. Ich dachte, vielleicht könntest du mir dabei helfen?«

Wenn ich ehrlich war, dann hatte ich nicht gerade das Bedürfnis, mit ihr zu reden. Doch gleichzeitig war da das Interesse an dem Auftrag. Ich wollte sehen, welche Wünsche die Kundin geäußert hatte und weshalb Liora damit derart überfordert zu sein schien.

Ich trat einen Schritt zur Seite und machte eine einladende Geste mit dem Arm. »Komm rein.«

Sie betrat den Flur, zog sich die Schuhe aus und ließ sich dann von mir direkt in die Küche führen. Dann sah sie sich mit großen Augen um.

Meine Küche war schlicht eingerichtet. Heller Holzboden, dunkle Küchenzeile. An der Wand stand ein kleiner Tisch mit zwei Stühlen. Ich gab nicht viel auf ausgefallene Dekoration und bunte Farben. Das Einzige, was mir dennoch wichtig war, waren die Pflanzen, die ich im ganzen Raum verteilt hatte.

Sowohl auf der Fensterbank als auch auf dem kleinen Regalbrett über der Küchenzeile standen kleine Töpfe mit roten Strauchrosen, und von der Decke hingen zwei Ketten, an deren Enden ich Töpfe mit blauen Mauritiusblumen befestigt hatte.

Blumen waren für mich weit mehr als Deko. Sie waren ein kleines Stück meiner Vergangenheit. Sie erinnerten mich an meine Mom. Daran, wie wir zusammen im Garten gearbeitet hatten. Wie sie mir verschiedene Blumen gezeigt und mich in ihrer Sprache unterrichtet hatte. Jede Blume hatte ihre eigene Bedeutung, und ich hatte nichts mehr geliebt, als sie gemeinsam mit meiner Mom zu erkunden.

»Es ist wirklich schön hier«, bemerkte Liora, die sich noch immer umsah.

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