×

Ihre Vorbestellung zum Buch »Sie haben die Liebe erreicht«

Wir benachrichtigen Sie, sobald »Sie haben die Liebe erreicht« erhältlich ist. Hinterlegen Sie einfach Ihre E-Mail-Adresse. Ihren Kauf können Sie mit Erhalt der E-Mail am Erscheinungstag des Buches abschließen.

Sie haben die Liebe erreicht

Als Buch hier erhältlich:

Viele Wege führen zum Happy End

"Wer sind Sie und wieso haben Sie das Telefon meines Freundes?" – "Er hat es in meinem Auto vergessen – Sie sind sicher die Blonde im roten Kleid? Ich bin der Taxifahrer, der Sie beide vorhin am Hotel abgesetzt hat."
Mit diesen Worten verändert sich das Leben der braunhaarigen und T-Shirt-tragenden Maya nachhaltig – eigentlich wollte sie durch einen Überraschungsbesuch in San Francisco wieder frischen Wind in ihre eingefahrene Beziehung bringen, doch es scheint, als hätte das Leben andere Pläne. Der Fahrer, Max, versucht, sie aufzumuntern, und schickt sie mit einem personalisierten Reiseplan ins Ungewisse. Die beiden scheinen sich näherzukommen, doch ist Max wirklich, wer er zu sein vorgibt?


  • Erscheinungstag: 27.06.2023
  • Seitenanzahl: 432
  • ISBN/Artikelnummer: 9783365002803

Leseprobe

Für meinen Dad, der Bücher und den Ozean so sehr liebt und der mich, als ich noch ganz jung war, dazu gebracht hat, beides ebenfalls zu lieben!

1

Die Geschichte geht folgendermaßen:

Der dreißigjährige Bartholomew von Coffenberg kommt in seiner roten Corvette aus der Tiefgarage des Madison Square Park Tower. Bartholomew, das einzige Kind eines Investmentmagnaten, hat seinen Studienabschluss in Harvard gemacht und arbeitet jetzt in einem Eckbüro bei Goldman Sachs. Er ist auf dem Weg zu Elio’s, wo er sich mit seiner Verlobten Charlotte Astor zum Brunch treffen will, und sehr in Eile. Charlotte ist groß, schlank, elegant und eine erfolgreiche Anwältin bei einer Top-Kanzlei in NYC, kurz: Sie passt perfekt zu ihm. Dessen haben ihrer beider Eltern sich vergewissert, ebenso wie sie sich auch vergewissert haben, dass die ganze Beziehung perfekt durchgeplant wird, bis hin zur Hochzeit, die diesen Sommer im luxuriösen Reethi Resort stattfinden soll, gefolgt von Flitterwochen auf den Malediven.

Doch was Bartholomew noch nicht weiß: Seine Verlobte wird nicht bei Elio’s auftauchen. Stattdessen sitzt sie in einem Flugzeug nach Italien, um sich zum ersten Mal mit einem Mann zu treffen, in den sie sich online verliebt hat.

Ein paar Straßen weiter betritt die vierunddreißigjährige Natalie Bechamel eine Starbucks-Filiale in der Park Avenue South. Jeden Morgen ist sie dort, und sie bestellt immer das Gleiche – einen Grande Vanilla Latte, mit Eis und Sojamilch, ohne Zucker. Natalie ist Witwe und hat zwei Söhne, einer ist acht, der andere dreizehn. Sie arbeitet schon seit Jahren als persönliche Assistentin des Besitzers von IMG Modeling, und der Kaffee ist nicht für sie, sondern für ihren Chef. Den täglichen 6-Dollar-Kaffee könnte sie sich genauso wenig leisten wie den vegetarischen Lunch für 35 Dollar und die Öko-Wäscherei, in der sie auf dem Heimweg die Klamotten ihres Chefs abgibt. Montag bis Freitag holt Natalie um 19 Uhr ihre Jungs von der Nachbarin ab, die im Stockwerk über ihr wohnt, und beginnt mit der Zubereitung des Abendessens, während sie dem Kleinen bei den Hausaufgaben hilft und sich mit dem Großen streitet, der seinen Vater vermisst und sie hasst. So hat sie sich ihr Leben nicht vorgestellt. Sie hat nicht damit gerechnet, dass der nette, liebevolle Mann, den sie geheiratet hat, sich zu Tode trinken und sie ganz allein zurücklassen würde.

Natalie weiß noch nicht, dass sie eines Abends beim Überqueren der Straße fast von einem Auto – einer roten Corvette – überfahren werden wird. Der Abend wird enden mit einem lädierten Knie und einem Mann, der sie heimfährt und dessen Augen ein bisschen zu lange auf ihr ruhen. Zu Weihnachten wird Natalie mit ihren beiden Jungs auf die Malediven fliegen, wo ein glücklicher und verliebter Bartholomew zu ihr und den Jungs »Ja, ich will« sagen wird.

Ich heiße Maya Maas, und ich schreibe Liebesgeschichten. Ständig, seit ich denken kann.

Bartholomew und Natalie sind Leute, denen ich auf der Straße begegnet bin. Ich kenne ihre wahren Namen nicht und weiß auch sonst nichts über ihr Leben. Aber sie scheinen beide einsam zu sein, und nichts macht mich glücklicher, als mir auszumalen, dass Menschen glücklich und verliebt sind. Und glücklich und zufrieden leben bis ans Ende ihrer Tage.

Mein »albernes Gekritzel«, wie mein Freund David es nennt, macht mich froh und hat mir noch in jeder schwierigen Lebenslage geholfen, mich nicht unterkriegen zu lassen – bei Familienproblemen oder Schulsorgen, wenn ich Freunde suchte oder verlor, mich Liebeskummer quälte, ich mit dem Alleinleben nicht zurechtkam oder Frust im Job hatte. Weil ich mich schon als Kind in meinen Büchern verkroch, hatte ich nie viele Freunde, aber reichlich Fantasie, und das reichte mir. Tut es immer noch. Außerdem liefert das Schreiben mir einen guten Grund, Leute zu beobachten – meine Lieblingsbeschäftigung. Jemand auf der Straße, eine Barista oder ein Busfahrer – alle bringen sie mich auf Ideen. Ich liebe es, mir Geschichten über diese Menschen auszudenken, wie sie heißen, woher sie kommen, was sie tun. Meist bringe ich sie zuerst in schwierige Situationen, rette sie dann und schenke ihnen zu guter Letzt all das Lachen und die Liebe, nach denen sie sich so gesehnt haben.

Früher habe ich davon geträumt, etwas zu veröffentlichen. Vor Jahren schrieb ich einen Roman, kurz darauf den zweiten und schickte beide an diverse Literaturagenturen. Aber ­alles, was ich zurückbekam, war Schweigen, höfliche Absagen oder schmerzende Kritik, auf die ich nicht vorbereitet war. »Zu kitschig, zu unrealistisch, zu sehr sechziger Jahre. Warum suchen alle weiblichen Figuren nach der großen Liebe? Nicht alle Frauen brauchen einen Mann, um sich vollständig zu fühlen.«

Ich habe immer gedacht, man könnte beides haben. Und beides auch leben. Verliebt zu sein macht einen Menschen doch nicht automatisch schwach oder abhängig. Zusammen in den Abendhimmel starren, Händchen halten, sich in die Augen schauen, das verleiht doch Flügel. Es füllt Herz und Körper mit der nötigen Energie, alles andere zu bewältigen. Glaube ich zumindest. Hoffe ich. Ja, meine Charaktere haben alle ein glückliches Leben bis ans Ende ihrer Tage vor sich, aber was ist daran auszusetzen? Es gibt schon genug Traurigkeit auf der Welt.

Zuerst war ich entschlossen, hinter meinen Geschichten zu stehen und es trotzdem weiter zu versuchen. Aber sogar die Selbstbewusstesten unter uns brauchen hin und wieder Bestätigung, und ich bekam nie welche. Stattdessen haufenweise negative Kritiken. »Es gibt zu viel Konkurrenz auf dem Buchmarkt, Ihre Bücher haben einfach nicht das Zeug dazu, sich dort durchzusetzen – flache, schablonenhafte Figuren, unrealistischer Plot. Das deutet auf Unreife hin, auf einen Mangel an Erfahrung.«

Diese Ablehnung entmutigte mich endgültig, und ich begrub meinen Traum, eine Vollzeit-Autorin sein zu können – mein größter Traum, schon seit ich ein kleines Mädchen war. Allerdings musste ich ja auch meinen Lebensunterhalt verdienen, da war Journalismus das Nächstbeste. Nun habe ich sechs Jahre als Journalistin hinter mir, und alles, was ich vorzuweisen habe, ist eine Stelle als Juniorreporterin bei einer Zeitschrift mit Sitz in Brooklyn.

Ich habe nicht wieder versucht, einen Roman zu schreiben, aber mit meinen Geschichten habe ich weitergemacht. Ist mir egal, wenn sie außer mir niemand liest. Ich schreibe nicht für ein Publikum, sondern für mich selbst. Weil ich es einfach muss. Meistens, wenn ich Leuten begegne, denen ich ein glücklicheres Leben wünschen würde. Letzte Woche zum Beispiel habe ich eine Seniorreporterin »beschattet« – das bedeutet, Interviewfragen vorbereiten und Notizen machen –, als mir vor dem Stadion der Yankees jemand auffiel – offenbar ein Hausmeister –, der einem ausgebüxten Hund nachlief und ihn seiner Besitzerin, einer elegant gekleideten Geschäftsfrau, zurückbrachte. Elizabeth passt gut zu ihr, dachte ich. Wenige Minuten später ließ ich das Interview Interview sein und schrieb meine bisher beste Liebesgeschichte – die von Ian und Elizabeth.

Das bin ich. Glücklich in meinen erfundenen Welten, in denen alles möglich ist. Wo jemand wie ich, wie sie, wie er alles haben kann. Zuckersüß und so weiter.

2

Schließlich bin ich ganz vorn angekommen in der Schlange in der Starbucks-Filiale, in der ich gerade »Natalie Bechamel« gesehen habe.

»Guten Morgen, Maya. Was darf es heute sein?«, fragt die Barista lächelnd.

»Hi, Kay.« Sie hat bereits ihr eigenes Und-sie-lebten-glücklich-bis-ans-Ende-ihrer-Tage, das ich voriges Jahr geschrieben habe. Noch wartet sie darauf, dass es Realität wird.

»Das Übliche«, antworte ich. »Einen Venti Frappuccino mit extra Schlagsahne und Schokosoße; einen Grande Latte, vier Shots, fettfreie Milch, einen Pump Mokka; einen Tall Chai Latte, drei Pumps, fettarme Milch, ohne Schaum, extra heiß; einen Iced Ristretto, Venti, vier Pumpstöße zuckerfreien Zimtsirup, Dolce Skinny Latte und einen Venti Iced Skinny Hazelnut Macchiato, extra Shot.«

Immer fünf Bestellungen, damit ich sie nicht in einem Getränkehalter tragen kann. Warum sollte man sich das Leben auch leicht machen?

In der Redaktion beginne ich meine Runde. Janice – meine Chefin – bekommt den Frappuccino, der Rest verteilt sich auf unser Team. Ich bin immer noch die Nachwuchskraft der Gruppe, obwohl ich inzwischen schon fast vier Jahre bei der Zeitschrift bin.

Gleich beginnt unser Morgenmeeting, und ich ahne schon jetzt, was ich zugeteilt kriege. Entweder wieder eine Beschattung oder einen Nachbarschaftsstreit, ein Briefing eines unbedeutenden lokalen Würdenträgers oder eine Sportveranstaltung des Schulteams. Wenn ich darauf bestehe – beziehungsweise darum bettle –, darf ich auch mal über eine Buchpräsentation berichten, aber irgendwie überzeugen meine Artikel nie. Heute allerdings ärgere ich mich nicht darüber. Ich hoffe, dass ich meinen Auftrag schnell erledigen und rechtzeitig Schluss machen kann. Ich habe nämlich große Pläne für heute Abend.

Kaum habe ich mich an meinen Schreibtisch gesetzt, ruft – brüllt – Janice meinen Namen durch den Korridor.

Sofort greife ich mir meinen Notizblock und eile mit gespitzten Ohren zu ihr.

»Ich hab dir doch erzählt, dass wir die Story über den NY-Times-Bestsellerautor Nakamura, der in Vermont wohnt und vor Kurzem für einen Pulitzer nominiert wurde, nicht gekriegt haben – erinnerst du dich?«

Ich nicke.

»Tja, wir haben noch mal eine Chance. Eine Last-minute-Geschichte, eine super Sache für uns, da ihn noch nie jemand interviewt hat.«

»Ich kann gleich einen Flug für dich buchen …«, sage ich, weil ich davon ausgehe, dass sie nach Vermont fliegen will.

»Das ist es ja – du bettelst doch seit Jahren um deine große Story.«

Inzwischen erscheint mir fast alles ziemlich groß. Aber das jetzt – das wäre mehr als groß, das wäre gigantisch.

»Wie? Du gibst mir den Auftrag?«

Da ist er, der Augenblick, auf den ich so lange gewartet habe – ausgerechnet zur ungünstigsten Zeit. David und ich sind schon seit einer Ewigkeit nicht mehr über ein Wochenende zusammen weggefahren, oder wenn, dann nach Connecticut oder Rhode Island, und das auch nur, um dort Freunde zu besuchen. Wir brauchen Zeit für uns, um uns klar zu werden, wo wir in unserer Beziehung stehen und wie wir das verloren gegangene Prickeln des Anfangs zurückbringen können.

»Ich dachte, du würdest dich freuen«, sagt Janice und zieht eine Augenbraue hoch.

»Aber das tu ich! Sehr sogar. Es ist nur so, ich habe dieses Wochenende Geburtstag und Pläne dafür.«

Jetzt sind beide Augenbrauen hochgezogen und bilden eine aufdringlich gerade Linie. Höchst unerfreulich.

»Natürlich übernehme ich den Auftrag. Das ist eine große Chance für mich. Danke.«

»Vor allem eine Chance für unsere Zeitschrift. So ein Exklusivinterview könnte uns im Nu aus der Anonymität herauskatapultieren.«

Ich stehe immer noch unter Schock. Endlich ist Janice bereit, mir die Möglichkeit zu geben, mich zu beweisen. Mir ist völlig klar, dass ich sie, wenn ich jemals als Journalistin ernst genommen werden und es mit meiner Schreiberei zu etwas bringen will, nicht vermasseln darf.

»Mason wird dich begleiten«, sagt Janice noch, dann macht sie auf dem Absatz kehrt und verschwindet.

Mason ist unser Fotograf, gelegentlich auch unser Fahrer und insgesamt ein Hansdampf in allen Gassen. Nicht mein Lieblingskollege, vor allem, nachdem ich neulich zufällig eine unglückliche Szene zwischen ihm, seiner Freundin und deren Demnächst-Exmann mitbekommen habe. Am Ende versteckte Mason sich auf der Toilette, wo er wartete, bis der andere Typ gegangen war. Natürlich habe ich gleich eine Geschichte über ihn geschrieben. Ihm eine Menge Lektionen erteilt – wie man freundlich, mutig und großzügig ist. Anschließend habe ich ihn sogar rehabilitiert, und von Stund an lebte er glücklich zusammen mit seiner neuen Frau und bald auch mit dem gemeinsamen Baby. So weit meine Geschichte. Im wahren Leben kam ein paar Monate später eine Frau ins Büro, die behauptete, von Mason schwanger zu sein, der sich weigere, das Baby anzuerkennen oder ihr sonst irgendwie zu helfen. Die Ähnlichkeit zwischen dieser Frau und der Frau in meiner Geschichte war echt unheimlich, aber das war auch das Einzige, womit ich in meiner Geschichte richtiglag.

Mason findet mich in der Küche.

»Bist du fertig? Wir müssen los, es ist eine lange Fahrt«, sagt er und klingt verärgert.

»Nehmen wir das Auto? Das sind hin und zurück jeweils sechs Stunden! Mindestens.«

Er schnaubt verächtlich. »Was du nicht sagst. Du hast doch nicht etwa erwartet, dass sie Flugtickets für uns bezahlt, oder?«

»Das wird ganz schön eng. Wir müssen sofort zurückfahren, sobald das Interview erledigt ist.«

Mason fängt an zu lachen. »Warum?«

»Ich fliege heute Abend nach San Francisco.«

»Nicht, wenn du deinen Job behalten willst. Das Interview ist erst für morgen Nachmittag geplant. Bis wir fertig sind, ist es Abend – vor Sonntag sind wir nicht zurück.«

Mir rutscht das Herz in die Hose. »Sonntag? O nein.«

Seit Wochen plane ich diesen Ausflug akribisch. Damit angefangen habe ich, als David mir erzählte, dass er um meinen Geburtstag herum geschäftlich nach Kalifornien muss. Da kam mir die Idee, ihn zu überraschen und das Wochenende mit ihm in San Francisco zu verbringen. Nur wir beide. Sogar einen schicken Jumpsuit und tolle Schuhe habe ich mir zugelegt, um ihm zu zeigen, wie viel mir an der Beziehung liegt.

Mason winkt ab. »Kommst du mit oder nicht?«

»Ich muss nach Hause und meinen Rucksack holen. Aber der ist ja schon gepackt.«

»Dann mal los. Gib mir deine Adresse, dann hole ich dich ab.«

Meine Überraschung ist gestorben! Kein perfektes Wochenende und kein perfekter Geburtstag. Es wäre der erste seit langer Zeit gewesen. Aus und vorbei.

3

Die Fahrt nach Vermont ist lang und vor allem langweilig. Doch wir überleben sie beide, obwohl wir irgendwo in Massachusetts haltmachen und uns ein bisschen Fast Food genehmigen, was sich als kolossal schlechte Idee herausstellt, denn ich bekomme davon scheußliche Magenschmerzen. Außerdem wäre es mir recht, wenn Mason mich auch mal ans Steuer ließe. Ich hatte ganz vergessen, wie aggressiv er fährt, was dazu führt, dass ich mich den größten Teil der sechs Stunden panisch an meinem Sitz festkralle. Das einzig Positive an der ganzen Reise ist, dass ich vor dem Schnellimbiss eine Lastwagenfahrerin sehe und mir eine nette kleine Geschichte über sie einfällt.

Am nächsten Morgen sitze ich in der Lobby der Pension und gebe der Geschichte der Lastwagenfahrerin den letzten Schliff. Für gewöhnlich schreibe ich von Hand in mein Notizbuch und übertrage dann alles auf meinen Laptop.

Wo Mason ist, weiß ich nicht. Bestimmt versucht er gerade, eine arme, ahnungslose Frau zu betören. Als mein Handy klingelt und mir eine lokale Nummer anzeigt, drängt sich mir sofort der Verdacht auf, dass er sich Ärger eingefangen hat. Hoffentlich muss ich ihn nicht gegen Kaution aus dem Gefängnis befreien oder so. »Ms. Maas?« Es ist Nakamuras Presseagentin. »Mr. Nakamura hat leider heute Nachmittag keine Zeit für das Interview, aber wenn Sie um halb elf hierherkämen, könnte es klappen.«

Perfekt! Ich schreibe Mason eine Nachricht mit der Terminänderung, und zwanzig Minuten später halten wir vor dem Eisentor, das das gewaltige Anwesen des Autors in Stowe schützt.

»Wir sind früh dran, ich telefonier noch schnell«, sage ich, wähle die Nummer einer Freundin, während Mason aussteigt.

Als sie drangeht, komme ich sofort zur Sache: »Alisa, ich brauche deine Hilfe.«

Alisa ist meine beste Freundin. Wir waren im College Zimmernachbarn und haben uns angefreundet, weil wir beide im Hauptfach Englisch studierten und die Leidenschaft für alte Bücher teilen. So kamen wir auf Anhieb gut miteinander aus, aber erst, als wir uns nach dem Studium in New York wiedertrafen, entwickelte sich unsere Freundschaft zu dem, was sie heute ist.

Ich hatte gerade meine Beziehung mit David begonnen, und sie lebte mit Sebastian – jetzt ihr Exfreund – zusammen, den ich ebenfalls von der Uni kannte. Sie sah furchtbar verheult aus, als wir uns über den Weg liefen, deshalb lud ich sie zu einem Kaffee ein und ließ nicht locker, bis sie mir endlich erzählte, was los war: Sebastian missbrauchte sie, nicht körperlich, aber emotional, und er manipulierte sie so, dass sie immer mehr den Bezug zur Realität verlor. Ich nötigte sie förmlich, ihn zu verlassen, ließ sie bei mir einziehen und überzeugte sie davon, nicht zu ihm zurückzugehen – obwohl sie es ein paarmal versuchte. Damals arbeitete Alisa als Juniorlektorin bei einem Verlag in der City. Als sie mir erzählte, dass man ihr eine Stelle in London angeboten hatte, redete ich ihr gut zu, oder besser gesagt, ich nervte sie so lange, bis sie das Angebot annahm. Ein Neuanfang, den sie brauchte und den sie sich redlich verdient hatte.

Seit dieser Zeit verbindet uns noch wesentlich mehr als nur unsere Liebe zu Geschichten und Büchern. Die Entfernung zerstörte unsere Beziehung nicht, sondern machte sie sogar stärker. Das einzige Problem war anfangs der Zeitunterschied, aber auch den meistern wir inzwischen.

Seit Neuestem ist Alisa leitende Redakteurin, und sie hat sich in einen wundervollen Mann verliebt, der sie anbetet und auf Händen trägt. Ich würde sagen, dass für sie alles gut läuft – genau so, wie ich es mir damals erhofft habe, als ich die Geschichte von Alisas sensationellen Abenteuern in London schrieb. Genau genommen sogar noch besser als in meiner Geschichte.

»Wie ist Kalifornien? Hell und sonnig?«, fragt sie. »Schick mir ein Foto.«

»Ich bin nicht in Kalifornien. Sorry, ich wollte dich schon gestern Abend anrufen, aber es war zu chaotisch. Ich bin in Vermont, ein Last-minute-Auftrag von Janice.«

»Was ist mit deinen Plänen? Warum lässt du dich von dieser Frau herumschubsen, Maya?«

»Es ist eine große Sache, Alisa. Ich werde mit Nakamura sprechen.«

»Wow! Wurde ja auch Zeit, dass du endlich was Gutes kriegst«, sagt sie, und ich bin dankbar, dass sie sofort weiß, wovon ich spreche, und ich ihr nichts erklären muss.

»Ja. Ich steh vor seinem Haus. Deshalb brauche ich dich, und ich habe nicht viel Zeit.«

»Oh, sorry. Ja. Was kann ich tun?«

»Bitte buch mir für heute Abend einen Flug von New York nach San Francisco. Ich hab keine Zeit, es selbst zu tun, und ich fürchte, wenn ich hier fertig bin, ist es zu spät.«

»Dann willst du also trotzdem fliegen?«

»Ja, unbedingt.«

Alisa gehört nicht zu Davids größten Fans, und ich weiß, dass sie findet, ich gebe mir mit ihm viel zu viel Mühe.

»Okay. Mach ich. Ich schick dir die Details.«

»Tausend Dank. Du bist die Beste!«

»Pass auf dich auf, und viel Glück mit Nakamura. Ich hab gehört, er soll schwierig sein.«

»Ich hoffe nicht«, sage ich, und sie lacht.

Als ich auflege, erscheint Mason am Autofenster, hämmert dagegen und hält mir seine Uhr vor die Nase. Es ist halb elf.

Ich steige aus, gehe zum Tor und drücke auf den Klingelknopf. Nichts. Ich drücke noch einmal. Keine Reaktion.

»Ich glaube, er ist nicht da«, sage ich, als Mason schon seine Ausrüstung aus dem Auto anschleppt.

»Dann warten wir eben«, grummelt er.

Und das tun wir. Eine Stunde. Zwei Stunden. Drei Stunden. Jetzt ist es schon halb zwei.

Weil uns von der Rumsteherei die Füße wehtun, gehen wir zurück zum Auto, und ich versuche ein paarmal, die Presseagentin anzurufen, aber sie geht nicht ran, und ich hinterlasse mehrere Voicemails.

»Was machen wir jetzt?«, frage ich etwas panisch. Es ist schon zwei Uhr.

Mason zuckt die Achseln. Neben uns könnte eine Bombe explodieren, es würde ihn kaltlassen.

»Keine Ahnung, aber du solltest dir etwas einfallen lassen, und zwar schnell. Wenn wir ohne Interview zurückkommen, verlieren wir beide unseren Job.«

»Unsinn«, widerspreche ich entschieden. »Das ist lächerlich. Wir können doch nichts dafür.«

»Es überrascht mich nicht mal. Der Kerl ist unmöglich. Angeblich hat er bei dem Gespräch mit Janice einfach aufgelegt.«

Also hatte Alisa recht. »Du glaubst, sie wusste, was uns erwartet?«, frage ich, einigermaßen entsetzt.

»Garantiert. Was glaubst du denn, warum Janice ausgerechnet dir den Auftrag gegeben hat? Aus Herzensgüte? Nein, sie hat nicht gern mit schwierigen Menschen zu tun.«

»Wenn Janice weiß, wie Nakamura ist, dann kann sie uns das hier umso weniger zum Vorwurf machen.«

»Träum weiter«, sagt Mason und spielt an seinem Telefon herum.

Noch einmal dreißig Minuten vergehen.

Dann fährt eine schwarze Limousine an uns vorbei, und das Eisentor öffnet sich. Ich springe aus dem Auto und laufe ihr bis zum Tor nach, Mason mir hinterher, aber die Limousine fährt unbeirrt weiter die Einfahrt hinauf, und das Tor schließt sich wieder.

Ein Mann steigt aus, und ich erkenne ihn sofort.

»Mr. Nakamura! Mr. Nakamura!«, rufe ich und steigere beim zweiten Mal erheblich meine Lautstärke.

Er dreht sich nicht einmal um, um zu sehen, wer ihn ruft.

»Wir kommen von der Brooklyn Times. Wir hatten heute einen Termin für ein Interview mit Ihnen.«

Jetzt dreht er sich doch um. »Kein Kommentar.«

»Kein Kommentar?«, wiederhole ich leise. Was soll das denn heißen? »Wir sind den ganzen Weg von New York hierhergefahren. Bitte, es wird nicht lange dauern!«

»Kein Kommentar«, sagt er noch einmal und öffnet die Haustür.

Ich wünschte, ich könnte forscher sein, und wende mich an Mason. »Sag doch was.«

»Was soll ich denn sagen? Ich bin bloß der Mann mit der Kamera, du bist die Reporterin.«

Nakamura verschwindet im Haus, und im gleichen Moment klingelt mein Handy. Es ist die Presseagentin, und ich erzähle ihr, was passiert ist. »Oh, das tut mir leid. Ich rede mit ihm«, antwortet sie freundlich. Anscheinend ist sie eine nette Frau, und ich überlege, wie ihr Leben wohl aussieht, wenn sie regelmäßig mit diesem Mann zu tun hat. Ich finde, auch ein brillanter Schriftsteller hat nicht das Recht, andere Menschen so zu behandeln.

Eine Stunde später ruft sie wieder an. Inzwischen bin ich hungrig, mir ist kalt, und ich bin am Verzweifeln.

»Tut mir leid«, sagt sie. »Ich habe eben erfahren, dass er einer anderen Publikation ein Interview gegeben hat.«

Mir fällt die Kinnlade herunter.

»Wem denn? Und wann?«

»Heute Vormittag offenbar. Der New York Lifestyle

Mason wirft mir einen »Ich hab es dir ja gesagt«-Blick zu und murmelt: »Ich kann dir nur raten, deinen Lebenslauf aufzupeppen.«

»Janice wird bestimmt Verständnis haben«, beharre ich in dem Versuch, zuversichtlich zu bleiben.

Aber Janice hat natürlich kein Verständnis. Als wir anrufen, reagiert sie mit einem der brutalsten, vulgärsten Monologe, die ich je das Missvergnügen hatte, mir anhören zu müssen. Sie nennt uns unfähig, faul und so weit von fähigen Journalisten entfernt, wie man es sich nur vorstellen kann. Dann erklärt sie uns für gefeuert und fügt noch hinzu, sie wolle das Geld von uns wiederhaben, das dieser »nutzlose« Trip gekostet hat.

Ein bisschen benommen von dieser Entwicklung steige ich ins Auto, und wir fahren zurück nach New York. Als Mason mir von seinen Freiberufler-Plänen erzählt und mir allen Ernstes weismachen will, der Vorfall werde sich am Ende als Segen erweisen, stelle ich das Radio an. Nicht jetzt, Mason.

Kurz bevor wir mein Haus erreichen, lese ich Alisas Nachricht. Sie hat für mich den letzten Flug des Abends gebucht, und ich werde nicht zulassen, dass jetzt auch noch mein Plan ruiniert wird. Die Überraschung. Mein Geburtstag. Kalifornien.

4

Bei wunderbarem Wetter treffe ich in San Francisco ein. Strahlender Sonnenschein, Kurzärmel-Temperaturen. Einfach perfekt.

Ich versuche, David anzurufen, und schicke ihm, weil er nicht rangeht, eine SMS. Hoffentlich freut er sich, wenn er mich sieht. Bestimmt sagt er mir, dass alles gut werden wird und ich schnell einen anderen Job finde. Ich werde lächeln, wohl wissend, dass es nicht stimmt. Es ist schwierig, einen anderen Job zu finden, wenn die bisherige Chefin dich hasst und dir aller Wahrscheinlichkeit nach kein Empfehlungsschreiben ausstellt. Und wenn David nicht so fürsorglich reagiert, wie ich es mir erhoffe? Unsere Beziehung war in letzter Zeit alles andere als einfach. Aber Schluss mit den negativen Gedanken, ich will jetzt nur gute Vibes. Also male ich mir den wunderschönen Tag aus, der uns bevorsteht, wie herrlich romantisch alles sein und wie gut uns das tun wird.

Ich setze mich auf eine Bank vor dem Flughafengebäude, gratuliere mir noch einmal zu meiner Idee und warte darauf, dass David mich zurückruft, sobald er meine Nachricht sieht. Ich habe ihm nicht verraten, dass ich hier bin, nur, dass ich eine Überraschung für ihn habe und er sich schnellstmöglich melden soll.

Um mich herum wimmelt es von Menschen, alle in Eile, zielstrebig auf dem Weg irgendwohin. Wenn ich hierbleiben würde, hätte ich garantiert im Handumdrehen Material für fünfzig Geschichten. Ich hole meine Kladde aus der Tasche und mache mir ein paar Notizen.

Deshalb merke ich auch gar nicht, wie die Zeit vergeht, und als ich mein Telefon wieder checke, sehe ich, dass schon fast zwanzig Minuten vorbei sind und David sich immer noch nicht gemeldet hat.

Klopfklopf, schreibe ich ihm.

Keine Reaktion. Wieder verstreichen fünf Minuten. Zehn. Fünfzehn. Jetzt warte ich schon über vierzig Minuten. Ich schreibe noch eine Nachricht.

Endlich piept das Handy. David.

Wen suchst du denn?

Er macht Witze. Ich antworte im gleichen Ton.

Ich suche eine Liebesbeziehung.

Klar, okay. Kannst du bitte den Eigentümer des Telefons beschreiben und mir einen Namen nennen?

Blond. Groß. Muskulös. Surfer-Typ. David, der tollste Freund der ganzen Ostküste.

Ein paar Sekunden vergehen.

Jetzt weiß ich, wer es ist. Seid ihr noch im Embarcadero?

Manchmal neigt David dazu, den Bogen zu überspannen. Es gibt Grenzen, David.

Hör auf, antworte ich. Aber ehe ich auf Senden drücken kann, kommt schon die nächste Nachricht.

Möchte er sein Telefon wiederhaben oder nicht?

Meine Finger krallen sich um das Handy. Ich weiß nicht, wie ich reagieren soll, bin wie betäubt.

Wer bist du und warum hast du Davids Telefon? Ich versteh das nicht.

Langsam werde ich panisch, und mich beschleicht ein ganz schlechtes Gefühl. Mir kommen Zweifel, ob das da am anderen Ende tatsächlich David ist, der versucht, witzig zu sein.

Er hat es in meinem Auto liegen lassen. Du bist bestimmt die Blondine in dem roten Kleid, richtig? Ich bin der Lyft-Fahrer, der euch beide vorhin abgesetzt hat. Ihr seid ja auf dem Rücksitz praktisch übereinander hergefallen – kein Wunder, dass er dabei sein Handy verloren hat.

Die Blondine? Was denn für eine Blondine? Das ist ent­weder ein übler Scherz oder ein schreckliches Missverständnis.

Ich bin nicht blond und hab seit Jahren kein Kleid mehr getragen, schreibe ich zurück. David war zusammen mit einer blonden Frau in deinem Auto?

Ich hole tief Luft und versuche, mich zu beruhigen. Was ist hier los? Das kann doch alles gar nicht sein.

Uups. Sorry, kommt als Antwort.

Uuups, sorry? Echt jetzt? Ich möchte gerade gleichzeitig weinen und schreien. Ist das alles real?

Wenn du nicht die Frau bist, der ich vorhin begegnet bin, wer bist du dann?

Ach, nur seit fünf Jahren Davids Freundin! Keine große Sache.

Langsam werde ich sauer und fühle mich gedemütigt. Ich muss tief durchatmen, meine Hände zittern.

Vielleicht waren sie bloß Freunde, schreibt er.

Hast du nicht gerade gesagt, sie sind praktisch übereinander hergefallen? Das klingt nicht nach Freunden.

Das Telefon schweigt.

Wie naiv ich doch bin. Da fliege ich Tausende von Meilen, um ihn auf seiner »Geschäftsreise« zu überraschen. Wie blöd kann man sein? Geschäftsreise, so nennt man das jetzt also?

Dann schreibt der Lyft-Mensch doch noch mal. Ich will nicht unsensibel sein, aber was soll ich denn jetzt mit dem Telefon machen? Es dir bringen?

Klar. Meinetwegen.

Wo bist du?

Am Flughafen, wie die letzte Idiotin. Bin gerade aus New York gekommen, um ihn zu überraschen.

Tut mir echt leid, schreibt er. Jetzt hab ich ein schlechtes Gewissen.

Eine Minute später folgt: Wie erkenne ich dich?

Grün-blauer Rucksack, Guns-N’-Roses-T-Shirt, Jeans. Schulterlange Haare, dunkel – NICHT BLOND, OKAY? Sonnenbrille. Sitze direkt vor der Ankunftshalle.

5

Wenn der heutige Tag eine Geschichte wäre, wäre sie nicht von mir. Nicht mal, wenn ich die Hauptperson hassen würde.

Noch vor einer Stunde habe ich fröhlich und aufgeregt darauf gewartet, dass David mich zurückruft und ich ihm die große Überraschung eröffnen kann. Seit einer halben Stunde bemühe ich mich, nicht in der Öffentlichkeit zu weinen – oder auch zu schreien, das ändert sich von einer Sekunde zur nächsten. Mein Herz ist gebrochen, ich bin wütend und fühle mich gedemütigt. Und gleich steige ich in ein Flughafen-Shuttle nach Carmel-by- the-Sea. Das ist eine kleine Stadt am Meer. Irgendwo da draußen.

Wie bin ich nur hierhergekommen? Was ist passiert, dass ich erst Davids Handy zurückholen wollte und jetzt nichts mehr mit ihm zu tun haben will? Und warum habe ich Ja gesagt, als der Lyft-Fahrer vorschlug, ich solle einfach in einen Bus klettern, der mich drei Stunden lang in eine Stadt fährt, von der ich noch nie gehört habe?

Vermutlich fing es mit der Erkenntnis an, dass ich erbärmlich bin. Warum wollte ich Davids Telefon überhaupt haben? Wozu? Er ist irgendwo da draußen damit beschäftigt, mich zu betrügen, und ich kümmere mich um seine Habseligkeiten? Ich schrieb dem Lyft-Fahrer, dass er mit dem Handy machen könnte, was er wollte. Von mir aus wegschmeißen. Und dann verriet ich ihm seltsamerweise noch, dass ich heute Geburtstag habe, wie ich mir den Tag eigentlich ausgemalt hatte und wie maßlos enttäuscht ich bin.

Ich kenne einen Ort, der genau so ist, wie du dir Kalifornien anscheinend immer vorgestellt hast. Meer, Strand. Wenn du für deinen Geburtstag von etwas Derartigem geträumt hast, solltest du unbedingt hinfahren und den Tag dort verbringen, schrieb er zurück.

Ich glaube, ich tat ihm leid, und ehrlich gesagt tat ich mir auch selbst leid. Was für ein beschissenes Ende von echt beschissenen vierundzwanzig Stunden. Alles um mich herum ist in sich zusammengestürzt, ein einziger Scherbenhaufen: meine Karriere, mein Liebesleben und nicht zu vergessen mein Dach über dem Kopf – das Apartment läuft auf Davids Namen.

Der Vorschlag des Lyft-Fahrers war nett gemeint, aber auch merkwürdig, weshalb ich zunächst zögerte. Andererseits ist ja schon alles schiefgegangen, was schiefgehen konnte. Was soll jetzt noch kommen? Dass der Bus liegen bleibt? Ein Überfall von Autobahnpiraten? Das wäre bestenfalls das zweitschlimmste Szenario gegenüber der Alternative, noch einen Tag und eine Nacht auf einer Bank vor dem Terminal zu sitzen und einer ungewissen Zukunft ins Gesicht zu blicken. Und es ist ja nicht so, als hätte ich zugesagt, den Tag mit einem Wildfremden zu verbringen. Er wird mich lediglich aus der Ferne herumführen. Als Idee vielleicht verrückt, aber allem Anschein nach zumindest sicher.

Wenn du in Carmel ankommst, habe ich eine Route für dich fertig.

Warum bist du so nett zu mir?, antwortete ich.

Weil niemand es verdient hat, an seinem Geburtstag unglücklich zu sein.

Er scheint ein guter Mensch zu sein, wenn er sich so viel Zeit nimmt, um mir Gesellschaft zu leisten, selbst wenn sie nur virtuell ist. Und das nur, weil ich ihm erzählt habe, dass heute mein Geburtstag ist. Anscheinend gibt es doch noch nette Menschen. Bin ich auch nett? Würde ich das Gleiche für jemand anderes tun? Keine Ahnung. Ich war bisher so in meinem Leben gefangen, dass ich mich nicht mal erinnern kann, wann ich das letzte Mal etwas wirklich Selbstloses getan habe. Das ist doch traurig.

In der Schlange vor dem Bus sehe ich Paare und Familien. Ich bin die Einzige, die allein hier steht. Hoffentlich wird dieser Tag nicht zu einer dieser Geschichten, die man später seinen Kindern als warnendes Beispiel erzählt.

Unwillkürlich denke ich darüber nach, dass nichts von all dem passiert wäre, wenn ich zu Hause geblieben wäre und auf David gewartet hätte. Was bedeutet das? Wäre es mir etwa lieber, betrogen zu werden, ohne etwas davon zu wissen? Was für ein Mensch bin ich denn? Würde ich das wirklich wollen? Das ist doch keine Liebe. Bei Licht betrachtet, weiß ich nicht einmal, ob ich jemals wirklich Liebe erlebt habe. Natürlich lagen mir bestimmte Leute am Herzen, meistens aber leider die falschen. Ich habe mich an sie und unser gemeinsames Leben gewöhnt, aber Liebe … Liebe ist ein großes Wort.

An der ersten Haltestelle steigt eine junge Frau ein. Sie trägt etwas, das aussieht wie ein Brautjungfernkleid. Sie ist barfuß, setzt sich auf den Platz hinter mir und beginnt eine Unterhaltung mit dem Mann neben ihr. Ohne es zu wollen, höre ich Bruchstücke mit. Sie ist sehr gesprächig, und innerhalb weniger Minuten hat sie ihm alles über ihren Ex, der unerwartet aufgetaucht ist, erzählt, und dass sie deshalb gehen musste. Ist sie eine durchgebrannte Brautjungfer? Ich hole mein Notizbuch heraus und notiere mir gerade eine Idee für eine Geschichte mit, wie ich finde, großartigem Potenzial, als ich wieder einen Gesprächsfetzen mitbekomme. Jetzt fragt die junge Frau ihren Nachbarn nach seinem Leben, und dann reden sie über ihre Kindheit. Das ging echt schnell. So offen war ich noch nie zu Leuten, die ich gerade erst kennengelernt habe. Die beiden spielen eine Art »20 Fragen«, und ich lache leise, denn ich habe das Gefühl, dass diese zwei keine von mir ausgedachte Geschichte brauchen, um zu finden, was sie suchen.

Ich rufe Alisa an, um ihr zu erzählen, was passiert ist, und ich wette, dass sie nicht glauben wird, was ich im Moment tue. Wie sie wohl reagiert? Wird sie sagen, dass ich jetzt endgültig den Verstand verliere, oder eher: »Gut gemacht, Süße!« Ich neige zu Letzterem. Leider geht sie nicht ans Telefon, und ich checke die Zeit – in London ist es halb vier nachmittags. Bestimmt sitzt sie in einem Meeting.

Die Fahrt dauert erst zwanzig Minuten, aber die fühlen sich schon an wie eine Ewigkeit. Die beiden hinter mir haben einen Heidenspaß und sind inzwischen in der Spielkategorie »Die peinlichsten Momente meines Lebens« angekommen.

Als mein Handy piept, gehe ich fest davon aus, dass es Alisa ist, aber es ist der Lyft-Fahrer.

Hoffentlich hast du ein Buch dabei. Die Fahrt ist ziemlich langweilig. Sorry!

Ist ganz okay, ich werde von zwei Leuten unterhalten, die sich gerade kennengelernt haben und »20 Fragen« spielen.

Ist das nicht das Spiel, in dem man seine ganzen Geheimnisse einem Wildfremden erzählen muss? Warum fahren manche Leute so darauf ab? Ich hab mich immer gefragt, ob es ein Mythos ist oder ob es stimmt, schreibt er.

Was?

Man sagt doch, es ist leichter, mit jemandem zu reden, den man im wirklichen Leben nicht kennt.

Keine Ahnung. Hab ich nie ausprobiert.

Ich auch nicht, antwortet er. Außerdem bin ich mehr der Typ für zwei Lügen und eine Wahrheit.

Ich dachte, es heißt zwei Wahrheiten und eine Lüge, kontere ich.

Dann hab ich es wohl mein Leben lang falsch gespielt. Haha.

Ist sowieso nicht mein Lieblingsspiel, schreibe ich zurück.

Mir fällt ein, dass wir es im College gespielt haben, als ­David und ich uns noch nicht lange kannten. Er hat sich geweigert mitzumachen und gesagt, er fände es doof. Also hab ich auch angefangen, es doof zu finden, und bin dabei geblieben.

Ups. Klingt, als gehen uns die Spiele aus. Wie wäre es, wenn du mir eine Zahl sagst?

Was?

Ich bin verwirrt. Fragt er mich nach meiner Nummer? Die hat er doch schon.

Es ist ein Spiel für Leute, die sich nicht kennen, und ziemlich einfach. Du schreibst 50 Fragen auf. Ich schreibe 50 Fragen auf, und dann sagst du mir eine Zahl, und ich stelle dir die dazugehörige Frage. Und dann andersrum. Nichts Identifizierendes wie Namen oder wie man aussieht, denn es geht darum, dass man einander kennenlernt, und nicht darum, dass man sich aneinander ranpirscht.

Ich muss lachen, dann werde ich nervös, beruhige mich aber schnell wieder. Schon dafür, dass er daran gedacht hat, wie das vielleicht klingt, kriegt er von mir Punkte.

Scheint ganz nett zu sein. Hab ich noch nie gehört, schreibe ich.

Hab ich gerade erst erfunden.

Ich muss lachen. Ich mag diesen Lyft-Fahrer. Also … es gefällt mir, dass er mich zum Lachen bringt. Ich habe keine neuen Geschichten zu schreiben, keine Bücher zu lesen, aber noch über zwei Stunden totzuschlagen, und momentan ist die Aussicht auch nicht so prickelnd. Felder. So weit das Auge reicht. Daher antworte ich: Klar, bin dabei. Machen wir Kategorien oder einfach frei Schnauze?

Kategorien – warum nicht? Machen wir es ganz traditionell. Hast du jemals/Würdest du jemals? Dieses oder jenes? Lieblingsirgendwas? Wie würdest du …?

Gib mir 15 Minuten, schreibe ich.

Okay. Und du fängst an, schreibt er zurück.

6

Warum zerbreche ich mir so den Kopf darüber? Es ist ein Spiel, Maya. Wen kümmert es, was du fragst? Anscheinend mich selbst, denn ich brauche eine ganze Weile, um mir fünfzig Fragen auszudenken. Meine Fantasie arbeitet einfach genau andersherum. Normalerweise sehe ich eine Person und erfinde eine Geschichte um sie herum. Es fällt mir schwer, mir vorzustellen, was für ein Mensch der Lyft-Fahrer ist und was ich ihn fragen könnte, um ihn kennenzulernen – ohne ihn jemals zu Gesicht bekommen zu haben. Bisher weiß ich, dass er Lyft-Fahrer ist, irgendwo in Nordkalifornien wohnt und nett zu sein scheint. Das ist auch schon alles.

Die Aufgabe erinnert mich an Alisa und ihre Online-­Dating-Abenteuer. Nicht dass ich den Lyft-Fahrer für ein Online-Date halte. Überhaupt nicht. Von meiner Seite ist ­keinerlei romantisches Interesse im Spiel. Ich bin neugierig, mehr nicht. Es ist eine neue Erfahrung, und ich erlaube mir … neugierig zu sein. Das ist das richtige Wort. Ich bin neugierig.

Nummer 7, schreibe ich.

Hast du schon mal was gegessen, das auf den Boden gefallen war?, schreibt er zurück.

Ich lache leise. So was will er wissen? Okay …

Innerhalb der Fünf-Sekunden-Regel?

Außerhalb.

Dann nein.

Ich schon. Nummer 3.

Hast du deine Eltern beim Weggehen jemals angelogen, wo du hingehst?

Ist das eine Fangfrage? Selbstverständlich! Aber das ist lange her.

Ein Hinweis! Lange her, hat er gesagt. Das klingt, als wäre er älter als ich. Obwohl – wenn ich es mir recht überlege, ist die Highschool für mich auch schon ganz schön lange her. Ich nicht, antworte ich.

Dann bist du ein viel besserer Mensch als ich.

Ich verdrehe die Augen und kontere: Wahrscheinlich war ich einfach ein stinklangweiliger Teenager. Nummer 13.

Hast du jemals etwas getan, was du später bereut hast?, fragt er.

Das ist schwierig. Und irgendwie seltsam ironisch. Oft sogar. Heute zum Beispiel.

Ich hoffe, du meinst nicht diesen Ausflug, schreibt er.

Nein.

In meinem Bauch zwickt etwas, nur ein kleines bisschen, aber ich erwische mich dabei, wie ich mein Handy anlächle.

Gut. Nummer 10, kommt von ihm zurück.

Endlich ein bisschen was aus der Kategorie Dieses oder Jenes. Tee oder Kaffee?, schreibe ich.

Das ist leicht. Kaffee.

Bei mir auch. Hast du eine Lieblingssorte?

Stark. Und viel, schreibt er zurück und schickt ein paar Lach-Emojis.

Da sind wir ganz auf einer Wellenlänge.

Ich bin dran. Nummer 21, schreibe ich.

Bist du je fremdgegangen?, fragt er.

Nein. Nie, antworte ich.

Und es ist wahr. Ich habe keinen meiner Freunde jemals betrogen.

Das war eine unsensible Frage. Sorry. Und ich bin wütend auf ihn, weil er dir das angetan hat. Das ist einfach inakzeptabel. Vollkommen inakzeptabel, textet er zurück, und trotz der Entfernung – wer weiß, wie groß sie ist – wünsche ich mir, ich könnte ihn in den Arm nehmen.

Sekunden später kommt die nächste Nachricht. Ich hab auch nie jemanden betrogen. Und werde es auch nie tun.

Ich lese die Nachricht, und sie gibt mir zu denken. Ich fange an, zurückzuschreiben, halte dann aber inne. Es ist ähnlich wie die peinliche Stille zwischen zwei Menschen, die sich gegenüberstehen. Auch wenn das bei uns nicht der Fall ist.

Dann eine dritte Nachricht von ihm. Nummer 15.

Ich nehme eine kleine Korrektur vor, hoffentlich gilt das jetzt nicht als Schummelei. Die richtige Nummer 15 ist: »Würdest du jemals mit Haien schwimmen?« Aber ich frage stattdessen: Würdest du jemals heiraten?

Sobald ich auf Senden klicke, bereue ich es auch schon. Jetzt denkt er bestimmt, ich will ihn anbaggern. Blöder Fehler, ich weiß selbst nicht, woher das kam. Vermutlich möchte ich einfach … einfach herausfinden, ob er verheiratet ist. Warum ist das wichtig? Es ist doch nicht so, als ob … na ja, jetzt ist es zu spät, ich kann meine Nachricht nicht zurückholen.

Ich hoffe, dass ich heiraten werde. Irgendwann. Falls und wenn ich die richtige Person finde, antwortet er zwei Minuten später, aber diese zwei Minuten fühlen sich an wie zwei Stunden.

Ich weiß nicht, was ich zurückschreiben soll. Eigentlich möchte ich gern »dito« antworten, aber er fragt nicht, also lasse ich es bleiben und tippe stattdessen eine neue Zahl: 31.

Was ist deine größte Angst?, fragt er.

Wie viel Zeit hast du?, frage ich fast augenblicklich zurück.

Genauso viel wie du, antwortet er.

Meine Träume nicht verwirklichen zu können, vergessen zu werden, kein guter Mensch zu sein, Fehler zu machen, nicht gut genug zu sein, überhaupt nicht genug zu sein, einsam und allein zu enden. Das Unbekannte, texte ich.

Dann sind wir Angst-Zwillinge, witzig. Ich bezweifle ernsthaft, dass du einsam und allein endest, und niemand kann deinen Wert ermessen außer dir selbst. Vergleiche dich nicht mit anderen. Was das Unbekannte angeht – nichts, was sich zu erreichen lohnt, ist erreicht worden, indem man in der eigenen Komfortzone bleibt. Jetzt machst du einen Schritt. Einen Schritt ins Unbekannte. Allein, schreibt er.

Nicht wirklich allein. Hab ich mich schon bei dir bedankt? Ohne dich hätte ich den Flughafen nicht verlassen.

Du brauchst mir nicht zu danken. Garantiert hättest du das Gleiche getan. Nummer 32.

Hätte ich tatsächlich das Gleiche getan? Schon das zweite Mal in kurzer Zeit frage ich mich das, dabei ist es mir vorher noch nie in den Sinn gekommen. Vielleicht, weil ich wusste, dass mir die Antwort nicht gefallen würde: Ich hätte es nämlich nicht getan. Aber ich glaube, das wird sich ändern.

Wie würdest du dich selbst in drei Worten beschreiben, die alle mit demselben Buchstaben anfangen?

Megagrübler. Menschenfreundlich. Maximus.

Wie der Film-Maximus in Gladiator? Nicht schlecht.

Er schickt ein grinsendes Emoji. Sorry, ich hab eigentlich Maximum gemeint. Ich hasse die Autokorrektur.

Aber mir gefällt der Name. Maximus. Passt zu dir. Ich bilde mir etwas darauf ein, dass ich gut darin bin, den richtigen Namen für eine Person zu finden. Also, da ich deinen wirklichen Namen nicht kenne – darf ich dich Max nennen?

Möchtest du meinen Namen wissen?, fragt er, und ich schlucke nervös.

Will ich das? Ja … Warum auch nicht? Kann ja nicht schaden, oder? Ich kann ihn doch nicht Mr. Lyft-Fahrer nennen. Und ein Name wird mir zusammen mit all dem, was ich schon weiß, helfen, mir ein Bild von ihm zu machen.

Weißt du was? Lass uns bei Max bleiben. Nichts Persön­liches, haben wir gesagt, und ich möchte mich an unsere Regeln halten. Ich möchte unser Spiel nicht kaputtmachen«, schreibt er, ehe ich eine Chance habe zu antworten.

Schade. Ich hätte ihn wirklich gern gewusst. Aber vermutlich genügt Max. Fürs Erste.

Wir sind gleich in Carmel, schreibe ich.

Vielleicht machen wir dann lieber später weiter. Wenn du möchtest.

Ich grinse von einem Ohr zum anderen, denn ich habe gehofft, dass er das schreibt. Die letzten zwei Stunden sind wie im Flug vergangen.

7

Als ich aus dem Bus steige, wird mir sofort klar, dass dieses Städtchen anders ist als alles, was ich jemals gesehen habe.

Es erinnert mich an die Filmstädte, die vollständig im Studio aufgebaut werden. Die Häuser sehen aus, als hätte sie ein Künstler mit zu viel Fantasie und einer Schwäche für Märchen gemalt, winzig und skurril, und jedes hat vorn eine Plakette mit einem Namen: The Sailboat, Souvenirs, Seventh Heaven, Sans Souci, Casablanca, Sea Horse. Erstaunlich.

Mein Telefon piept. Der Lyft-Fahrer. Max, rufe ich mir ins Gedächtnis. Er heißt jetzt Max.

Als Erstes musst du dein Gepäck irgendwo unterstellen. Ich gehe doch recht in der Annahme, dass du welches hast?

Nur einen Rucksack. Den kann ich gut tragen, kein Problem.

Okay. Zweitens brauchst du ein gutes Frühstück, fährt er fort.

Ich hab im Flieger gegessen, erwidere ich.

Das ist kein Essen. Ich sage dir zwei Möglichkeiten: Bellini oder Café Azure. Deine Wahl.

Was würdest du nehmen?, frage ich. Ich weiß nicht, welches besser ist.

Intuition. Haben Frauen nicht diesen sechsten Sinn?

Haha. Ich bezweifle, dass der auch für Restaurants zutrifft. Aber ich wollte schon immer mal nach Paris, und das eine klingt französisch.

Gute Wahl. Ich schicke dir den Link auf Google Maps.

Dolores Ecke Seventh. Nicht weit von meinem Standort, und ich lasse mir Zeit, schlendere durch die Sonne und wärme mich wie eine Eidechse. Zu meiner Linken hübsche Häuser, rechts das Meer und ein weißsandiger Strand. Davon habe ich immer geträumt.

Die Versuchung ist zu stark. Ich ziehe die Schuhe aus und laufe barfuß durch den Sand.

Wenn du den Scenic Road Walkway nimmst, kannst du am Strand eine Pause einlegen, wenn du magst. Es ist schön da, und um diese Uhrzeit dürfte es auch nicht zu voll sein.

Ich schlucke schwer. Ja, genau da bin ich.

Rate mal, was ich gerade tue, fordere ich ihn auf.

Du rennst zur Haltestelle zurück, um den nächsten Bus nach San Francisco zu kriegen.

Warum sollte ich das tun? Es ist wunderschön hier. Nein!, erwidere ich.

Ich bin in Versuchung, ein Selfie zu machen, schicke Max stattdessen aber nur ein Foto vom Strand.

Hübsch! Das Frühstück kann warten, bis du bereit bist.

Ich setze mich in den warmen Sand. Außer mir sind nur wenige Leute hier, links führt ein Pärchen den Hund aus, rechts joggt ein Mann. Alles ist so heiter und gelassen.

Nummer 44, schreibe ich.

Oh, gut. Ich habe schon befürchtet, du hättest womöglich keine Lust mehr zu spielen. Was ist dein Lieblingsbuch?, will er wissen.

Ich habe furchtbar viele. Vor allem die, die ich als Kind gelesen habe. Ich denke, die ersten Plätze lauten: Der geheime Garten, Die Braut des Prinzen und Das Zeiträtsel.

Alles großartige Bücher. Meine sind auch Oldies, aber eher die aus meiner späten Teenagerzeit, wie Der große Gatsby, Wer die Nachtigall stört und Schöne neue Welt. Nummer 29.

Hast du schon mal einen Geist gesehen?, frage ich.

Ich weiß nicht, ob ich an Geister glaube, aber ich hoffe, es gibt ein Leben nach dem Tod. Allerdings finde ich die Aussicht, dann hier festzusitzen und Leute heimzusuchen, alles andere als erstrebenswert, LOL. Bist du schon mal einem Geist begegnet?

Ich weiß nicht. Vielleicht. Wenn ich morgens ungeschminkt in den Spiegel schaue.

Max schickt ein paar Lach-Emojis. Selbstironie ist liebenswert.

Mein Gesicht wird heiß. Hätte ich einen Spiegel, würde ich wahrscheinlich sehen, dass ich rot geworden bin.

Nach einer Weile ziehe ich meine Schuhe wieder an und gehe in Richtung des Cafés.

Das Azure ist sehr gemütlich – und bestimmt auch ruhig, wenn es nicht ganz so voll ist wie jetzt gerade. Da es auch ein paar Tische auf dem Gehweg gibt, bleibe ich draußen. Schließlich wollte ich schon immer mal frühstücken wie eine Pariserin.

Eine junge Frau begrüßt mich lächelnd. »Willkommen im Café Azure. Was darf ich dir bringen?«

»Guten Morgen«, sage ich und merke, dass ihr Lächeln sofort auf mich abfärbt. »Ich weiß noch nicht, was hier besonders gut ist. Jemand hat mir euer Café empfohlen. Bekomme ich noch Frühstück?«

»Na sicher. Wie hungrig bist du denn?«

»Halb verhungert«, antworte ich. »Ich hab nur im Flugzeug was gegessen.«

»Alles klar. Magst du lieber Eier oder Müsli und Obst?«

»Klingt alles gut«, antworte ich, und jetzt knurrt auch noch mein Magen.

»Dann überlass es doch einfach mir«, sagt sie und geht wieder hinein.

Wenige Minuten später kommt sie mit einem Glas zurück, das eine rote Flüssigkeit enthält. »Compote de Saison«, erklärt sie. »Kirsch. Meine Lieblingssorte.«

Ein leckeres Getränk, ein Platz in der Sonne, Leute, die auf der Straße flanieren. Alle mit einer eigenen Geschichte. Seit ich hier sitze, habe ich mir schon Ideen für drei Geschichten notiert, und sie sprudeln weiter. Normalerweise habe ich nur eine Idee, nicht zwanzig. Aber jetzt komme ich kaum mit dem Aufschreiben hinterher. Ich bin so beschäftigt mit Schreiben, dass ich es nicht mal mitkriege, als meine Kellnerin mit einem großen Teller vor mir erscheint.

»Frühstück ist fertig!«, verkündet sie mit dem gleichen warmen Lächeln wie vorhin.

Zwei Eier, Baguette, Butter, zwei Sorten Käse und Schinken, Obst. Meine Güte! Und es ist alles so lecker, dass ich nichts übrig lasse. Ich esse, ohne eine einzige Pause einzulegen.

Ich kann mich nicht erinnern, wann ich das letzte Mal allein an einem Tisch gesessen habe, ohne mich unbehaglich zu fühlen. Aber hier scheint es niemandem aufzufallen. Es gibt jede Menge Singles, die Menschen wirken entspannt und unvoreingenommen, und es geht mir schon viel besser mit meiner neuen Situation, obwohl ich nicht verhindern kann, dass ich immer wieder daran denke. Ich trinke einen großen Schluck von meinem roten Saft und flüstere: »Happy Birthday, Maya.«

Und ich bin ja auch gar nicht allein, richtig? Ich schreibe Max und sehe, dass er mir im selben Moment schreibt.

Meine Nachricht lautet: Danke dir, du hattest recht. Dieses Café ist etwas ganz Besonderes.

Seine: Was meinst du? Hast du eine gute Entscheidung getroffen?

Dann schicken wir uns beide lächelnde Emojis, und ich lächle auch in Wirklichkeit.

Wenn du bereit bist – dein zweiter Halt erwartet dich schon, schreibt er.

Bin bereit.

Mission San Carlos Borromeo de Carmelo. Fünfzehn Minuten zu Fuß.

Als ich mein Telefon in die Tasche stecke, fängt es an zu klingeln, und ich erschrecke so, dass ich einen leisen Schrei ausstoße. Warum ruft er an? Ich bin noch nicht bereit, seine Stimme zu hören. Was soll ich ihm denn überhaupt sagen? Meine Hände sind schwitzig, und ich bin so nervös, dass ich nicht einmal nachsehe, ob er es überhaupt ist.

»Tut mir leid, ich habe deinen Anruf verpasst.«

Ich hole tief Luft und bin sehr erleichtert, Alisas Stimme zu hören.

»Ich war in einer Redaktionssitzung, und dann musste ich noch einen Klienten besuchen. Wie geht es Mr. Fancy Pants? Ich hoffe, er küsst den Boden, über den du schreitest – nach allem, was du dafür getan hast, ihn zu überraschen«, sagt sie.

»Na ja, dass er mit Küssen beschäftigt ist, glaube ich schon, aber mit mir hat das nichts zu tun«, erwidere ich.

»Wie meinst du das? Was ist los?«

»Um ehrlich zu sein – ich bin noch dabei, das alles zu verarbeiten. Er ist mit einer anderen hier.«

»O mein Gott! Du hast ihn mit einer anderen Frau erwischt? Maya, das tut mir so leid. Ich werde ihn umbringen!«

»Könnte sein, dass ich dir zuvorkomme«, sage ich. Inzwischen bin ich hauptsächlich wütend, das merke ich jetzt. Ich fühle mich hintergangen und für dumm verkauft. So viel Lebenszeit habe ich an ihn verschwendet, und wozu? »Ich habe ihn nicht erwischt, aber jemand anderes hat ihn gesehen.«

»Mir bricht das Herz«, sagt sie mitfühlend. »Was machst du jetzt? Bleibst du noch bis morgen in San Francisco, oder kommst du früher zurück? Das ist ja furchtbar. Es tut mir so leid, dass du jetzt ganz allein bist.«

»Ich bin nicht ganz allein.«

»Ach ja?«

»Ich habe jemanden kennengelernt«, erkläre ich und lache leise. »Ich bin ihm nicht wirklich begegnet. Aber das ist eine lange Geschichte, die erzähle ich dir, wenn wir das nächste Mal skypen.«

»Ich wollte schon was sagen, hatte aber Angst, dich zu verletzen.«

»Was denn?«

»Du klingst gar nicht, als wärst du fix und fertig wegen David. Sondern eher ziemlich aufgekratzt.«

»Aufgekratzt? Ich?«

»Ich will alles wissen. Warum kannst du es mir nicht jetzt gleich erzählen?«, drängelt sie.

»Weil ich gerade bei der Kirche angekommen bin, und an der Tür hängt ein Schild, auf dem steht ›Bitte Handys ausschalten‹.«

»An einer Kirche? Heiratest du jemanden, den du gerade erst kennengelernt hast?«

Ich muss lachen. »Klar, weil mir das total ähnlich sehen würde. Nein, Heiraten ist momentan keine Option, entspann dich. Ich schau mir die Kirche nur an, sie ist so eine Art Museum.«

Sie seufzt laut. »Und du bist okay? In Sicherheit? Hast alles, was du brauchst?«

»Ich bin absolut in Sicherheit, und ich rufe dich an, sobald ich morgen wieder in New York bin.«

»Ich hab dich lieb«, sagt sie zum Abschied.

8

Die Missionskirche ist wunderschön. Ich mache eine Führung mit und kann nur staunen, wie viel Geschichte in diesem Gebäude aus dem 18. Jahrhundert steckt.

Eine Stunde später trete ich aus der dunklen Kirche wieder hinaus in die Sonne, wo ich mein Handy einschalte. Ob Max mir wohl geschrieben hat? In meinem Bauch verspüre ich eine kleine Unruhe, und als ich das Gefühl erkenne, muss ich lächeln, weil ich es ewig nicht hatte – zuletzt, als ich als Teenie am Telefon hockte und sehnsüchtig auf den Anruf meines Schwarms wartete.

Tatsächlich ist da eine Nachricht von ihm. Fährst du gern Fahrrad?

Das Lächeln auf meinem Gesicht wird noch breiter.

Im Allgemeinen?

Nein. Im Besonderen. Haha.

Ich bin als Kind zuletzt geradelt. Keine Ahnung, ob ich es noch kann.

Aber den Ausdruck, etwas ist »wie Fahrradfahren«, kennst du, oder nicht?

Ja. Aber ich glaube nicht, dass das auf mich zutrifft.

Du schaffst das schon. Außerdem ist es ein E-Bike, also ist es noch leichter. 201 Mission Street.

Wie du willst, schreibe ich zurück. Hoffentlich mache ich mich nicht lächerlich.

Und wenn schon, Hauptsache, du hast Spaß!, antwortet er.

Ich stehe an der Ecke Ocean Avenue und Mission Street, vor einem Geschäft an der Red Eagle Lane, gegenüber von Tiffanys. Diese Stadt hat ungeheuer viele Facetten. Insgesamt sind wir vielleicht acht oder neun Leute, die sie auf Rädern erkunden wollen, ein Mann in einem knallroten T-Shirt hebt die Arme über den Kopf und winkt. »Alle bereit?«

Ein älteres Paar jubelt ihm zu. Die beiden halten Händchen. Ein wunderbarer Anblick. Ob es seltsam wirkt, wenn ich mein Notizbuch aus meinem Rucksack hole und et...

Autor