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Siena Carciofine und die Toten im Weinberg

Als Buch hier erhältlich:

Wenn du einen Schuss hörst, dann ist auch einer gefallen!
Italienische Lebensweisheit

Schon lange träumt Siena davon, Ermittlerin zu werden. Die zwei Toten, die unweit vom Haus ihrer Nonna in den Weinbergen der Toskana gefunden werden, kommen ihr da gerade recht. Endlich passiert mal etwas! Nicht ganz so gelegen kommt Siena hingegen, dass sie plötzlich selbst zu den Verdächtigen zählt. Und dann wird sie auch noch von einem Stalker verfolgt, der ihr überall Rosen hinterlässt – genau die Blumen, die auch am Tatort gefunden wurden. Aber die Polizei schenkt Sienas Theorie, wer der Mörder sein könnte, keinerlei Beachtung. Da hilft nur eins: Sie muss die Sache selbst in die Hand nehmen. Wäre doch gelacht, wenn sich Sienas selbst angeeignetes Spionage-Wissen hier nicht auszahlen würde …


»Wer Italien – besonders Florenz – und turbulente Unterhaltung liebt, wird die spaßig erzählte, action- und handlungsreiche Geschichte mögen.« HALLO München

»Ein Sommer-Krimi, so leicht wie Cappuccino-Schaum.« GONG


  • Erscheinungstag: 26.04.2022
  • Aus der Serie: Siena Carciofine
  • Bandnummer: 1
  • Seitenanzahl: 352
  • ISBN/Artikelnummer: 9783749903320

Leseprobe

Für alle, die auch jedes Mal
die ganze Tüte Rosmarinchips aufessen müssen

kap

ERKENNTNIS NUMMER 1:

Eine Brandblase
kommt selten allein

Es war Samstagmorgen, kurz nach halb elf, und Siena Carciofine hatte sich gerade den Daumen an der Espressomaschine verbrannt. Noch hatte sie keine Ahnung, dass dies der Tag war, der ihr Leben verändern sollte.

»Che cavolo«, fluchte Siena und steckte den schmerzenden Daumen in den Mund. Mit der anderen Hand riss sie das Kühlfach auf und tastete nach der Plastikform mit den Eiswürfeln. Sie zerrte daran, weil sie eingekeilt zwischen mehreren Tüten mit geschnittenem Gemüse war. Plötzlich flutschte die Form unerwartet aus dem Fach, und es regnete Eiswürfel in der Küche. »Cavolo, cavolo, cavolo«, fluchte Siena noch lauter.

»Gianni!«, brüllte sie in Richtung des kleinen Geräteschuppens. Keine Antwort. »Gianni?«, versuchte sie es erneut. Aber Gianni hörte sie nicht. In letzter Zeit war ihr schon einige Male aufgefallen, dass seine Ohren nicht mehr die besten waren. Egal. Er würde schon nichts dagegen haben, dass sie sich sein altes Mofa auslieh.

Siena schwang sich in den Sattel. Wie immer startete das Mofa erst beim dritten Anlauf und machte dabei Geräusche irgendwo zwischen einem Stottern und einem Rülpsen. Das Tor zum Hof stand offen, und Siena brauste an Zypressen und Olivenbäumen vorbei den kleinen Abhang hinunter. Es war ein sonniger Tag, nur kleine weiße Schleierwolken waren vereinzelt am hellblauen toskanischen Himmel zu sehen.

Zwischen dem Haus der Nonna und der nächsten größeren Straße lagen etwa zwei Kilometer unbefestigten Kieswegs. Es staubte nur so, als Siena den Weg entlangbretterte. Von der Schönheit der sanften Chianti-Weinberge ringsum sah sie in der dichten weißen Wolke, die sie umhüllte, nichts. Sie musste die Augen ziemlich fest zusammenkneifen, um überhaupt etwas zu sehen und dem Verlauf des Kieswegs einigermaßen geradlinig zu folgen. Zum Glück war sie mit dem Problem vertraut und hatte deshalb extra auf ihre Kontaktlinsen verzichtet. Ob ihre alte Jeans staubig wurde, war ihr egal. Und auf dem weißen T-Shirt sah man den Staub sowieso nicht. Perfekt.

Als sie rasant um die nächste Kurve bog, entfuhr ihr ein Schrei: Beinahe wäre sie mit einem Auto kollidiert, das dort völlig unerwartet am Straßenrand parkte. Genauer gesagt wäre sie fast mit dem Fahrer des Autos kollidiert, der an seinem Wagen lehnte, ein Tramezzino aß und seine langen Beine ziemlich weit in den Kiesweg streckte.

»Madonna mia« rief Siena und bremste scharf. »Hätten Sie sich nicht einen noch blöderen Platz für Ihr Picknick aussuchen können?«

Erst als die Worte bereits ihren Mund verlassen hatten, registrierten ihre Gehirnzellen, dass der Mann eine Uniform trug. Und dass es sich bei dem Auto um ein Polizeiauto handelte. »Cazzo«, fluchte sie leise.

Der Polizist legte langsam sein Tramezzino aufs Autodach und trat zu ihr. Er musterte erst das Motorino und dann Siena. Eindringlich. Und aus sehr, sehr blauen Augen. Jetzt, wo sich die Staubwolken langsam legten, musste Siena zugeben, dass der Polizist eine ziemlich schmucke Erscheinung war. Groß, breitschultrig, mit dunklen Locken und blitzblauen Augen …

»Führerschein?«

Das Wort riss Siena aus ihrer wohlwollenden Betrachtung des Beamten wie das unliebsame Klingeln eines Weckers aus süßen Träumen.

»Führerschein?«, wiederholte sie ungläubig.

»Führerschein!«, bestätigte der Polizist und klang jetzt ein wenig ungeduldig. »Sie wissen schon, dieses Dokument, auf dem Ihr Name steht und …«

»Ich weiß sehr wohl, was ein Führerschein ist«, unterbrach Siena ihn. »Aber mich hat auf dieser Straße noch nie jemand danach gefragt, deshalb bin ich ein wenig überrascht.«

»Na gut, dann gebe ich Ihnen jetzt ein paar Sekunden Zeit, damit Sie die Überraschung verarbeiten können, und dann zeigen Sie mir bitte Ihren Führerschein. Einverstanden?«

Siena tat so, als würde sie in Ihrer knallgelben Umhängetasche nach dem Führerschein suchen, obwohl sie natürlich wusste, dass sie ihn nicht dabeihatte. Er lag im Handschuhfach ihres Autos. Sie wühlte immer weiter und fluchte leise, weil ihr die vielen Armreife, die an ihrem Handgelenk klapperten, dabei im Weg waren. Sie liebte die Armreife, weil sie jeden Einzelnen von einer anderen Reise mit nach Hause gebracht hatte. Den senfgelben aus Marokko, den roten aus Thailand, den …

»Und wenn ich mir Ihr Motorino so anschaue, dann frage ich mich, ob da nicht längst mal wieder eine Revisione fällig wäre?«, hörte sie plötzlich die Stimme des Polizisten. »Ach ja … und nach einem Helm hat Sie auf dieser Straße vermutlich auch noch nie jemand gefragt, oder?«

Langsam schaute Siena auf. War das denn zu fassen? Konnte sich hinter einer so ansehnlichen Fassade tatsächlich ein so nervtötender Erbsenzähler verbergen?

Der Polizist beobachtete sie amüsiert, während sie wieder nervös in der Tasche wühlte. Siena blickte auf und starrte zurück. Irgendwie sah der Kerl ziemlich zufrieden aus.

»Träumen Sie gerade von Ihrer Beförderung?«, entfuhr es ihr genervt.

Der Polizist grinste.

»Was gibt es denn da zu grinsen?«, fragte Siena energisch. »Und können Sie sich eigentlich ausweisen? Vielleicht sind Sie gar kein echter Polizist. Soll ja vorkommen.«

Sie verschränkte die Arme vor der Brust und sah ihn auffordernd an. »Außerdem sind Sie doch noch nicht mal von der Verkehrspolizei und überhaupt …« Plötzlich begann Sienas Herz, schneller zu schlagen. Jetzt, wo sie darüber nachdachte, kam ihr die ganze Situation tatsächlich etwas seltsam vor. Der Polizist war, dem Auto und der Uniform nach zu urteilen, von der Staatspolizei. Aber warum lungerte er hier auf dieser abgelegenen Straße herum, und das auch noch ganz alleine? Waren Polizisten nicht normalerweise immer zu zweit unterwegs? Unwillkürlich wich sie einen Schritt zurück und packte das Lenkrad des Mofas. Erst vor Kurzem hatte sie einen langen Artikel darüber gelesen, wie falsche Polizisten immer wieder Verbrechen begingen und warum ihre ahnungslosen Opfer dabei so leichte Beute waren …

Ein Ausweis tauchte plötzlich direkt vor ihrem Gesicht auf. »Hier, mein Dienstausweis«, sagte der Polizist und hielt ihn ihr mit seinem ausgestreckten Arm vor die Nase. Täuschte sie sich, oder lachte er dabei ein wenig? Es fiel ihr schwer, etwas zu entziffern, sie hatte ja extra ihre Kontaktlinsen nicht eingelegt. Gut, dass der Polizist wenigstens nicht wusste, dass sie nicht nur zu schnell, ohne Helm und ohne Führerschein und auf einem Motorino ohne gültige Revisione, sondern auch noch halb blind durch die Gegend fuhr. Sie kniff die Augen zusammen.

»Sind Sie kurzsichtig?«, fragte der nervtötende Polizist prompt.

»Nein, ich habe Staub in den Augen«, erwiderte Siena bestimmt. Sie schob seine Hand mit dem Ausweis zur Seite. »Und außerdem: Was beweist das schon, so ein Ausweis. Kann man doch alles fälschen.«

»Völlig richtig«, sagte der Beamte gelassen. Er musterte sie aus seinen blauen Augen. Und jetzt war sich Siena fast sicher, ein schelmisches Grinsen darin zu entdecken.

»Fassen wir zusammen«, sagte er. »Überhöhte Geschwindigkeit, Fahren ohne Führerschein …«

»Moment! Ich habe einen Führerschein, ich habe ihn nur nicht dabei!«, warf Siena ein. Sie kramte hastig ihr Portemonnaie aus der Umhängetasche hervor. Ihr Daumen tat dabei verflixt weh. Egal: Sie hatte sich gerade daran erinnert, dass zumindest ihr Personalausweis immer im Geldbeutel steckte. Vielleicht würde das den Erbsenzähler ein wenig besänftigen, wenn sie sich wenigstens ordentlich ausweisen konnte. Sie streckte dem Polizisten den Ausweis entgegen und rang sich dazu noch ein Lächeln ab. »Hier, bitte schön. Ich kann mich ausweisen«, sagte sie bemüht freundlich.

Der Polizist nahm den Ausweis, studierte ihn eine Weile und musterte Siena dann eindringlich. Einen Tick zu lange für ihren Geschmack. Sie starrte zurück und lächelte nicht mehr.

»Fahren ohne Führerschein«, wiederholte der Polizist unbeirrt. »Fahren ohne Helm, Fahrzeug ohne gültige Revisione.« Er ging zu seinem Auto, nahm einen Block heraus und fing an, etwas darauf zu kritzeln. Dabei betrachtete er immer wieder den Personalausweis – vermutlich, um ihre Daten auf dem Strafzettel korrekt anzugeben.

Siena schwitzte in ihren Stiefeletten in der warmen Spätsommersonne. Der verbrannte Daumen pulsierte und schmerzte. Und auch der Gedanke an ihr Konto schmerzte. Endlich befand es sich einmal in den schwarzen Zahlen, aber damit war es bestimmt wieder vorbei, wenn sie erst einmal diese fette Strafe zu bezahlen hatte. Oder noch schlimmer – konnte der Erbsenzähler ihr den Führerschein entziehen? Wie sollte sie dann die Wochenenden bei der Nonna verbringen? Unter der Woche lebte und arbeitete sie in Florenz, das waren fast vierzig Kilometer Entfernung und ohne Auto kaum machbar: Ein Bus hielt an der staubigen Straße hier genau einmal am Tag. Wenn überhaupt. Neben ihrem Daumen begann jetzt auch ihr Kopf zu pochen. Plötzlich fühlte sich der Pferdeschwanz, mit dem sie ihre Haare schnell noch zusammengebunden hatte, damit sie ihr auf dem Motorino nicht ins Gesicht wehten, viel zu straff an. Ihre Schläfen zwickten.

»Hören Sie«, versuchte sie es noch einmal in versöhnlichem Tonfall. Sogar ein kleines Lächeln rang sie sich ein zweites Mal ab. »Ich weiß, ich war zu schnell unterwegs, aber ich habe mich am Daumen verletzt und …«

Der Polizist hörte ihr offensichtlich gar nicht zu, sondern drückte ihr ohne Umschweife den Ausweis wieder in die Hand. »Wie ich sehe, haben Sie den Führerschein ja nicht erst seit gestern. In Ihrem Alter sollte man eigentlich wissen, dass man immer gültige Papiere bei sich tragen sollte«, bemerkte er. Sienas Gesicht wurde noch heißer. In Ihrem Alter? Was wollte der unverschämte Kerl denn damit sagen? »Ob Sie es glauben oder nicht, ich bin sehr froh, dass ich nicht mehr Anfang zwanzig bin«, zischte sie. Im nächsten Moment ärgerte sie sich, dass sie überhaupt auf den blöden Kommentar reagiert hatte. Das klang ja fast so, als wollte sie sich für ihr Alter entschuldigen! Der Polizist betrachtete sie einen Moment lang und fragte dann: »Ach ja? Was ist denn mit 33 besser als mit Anfang zwanzig?«

»Die Menschenkenntnis zum Beispiel«, erwiderte Siena und starrte ihn feindselig an. Erst dann dämmerte ihr, dass er sich ihr Alter nicht nur sofort ausgerechnet, sondern es sich auch gemerkt hatte. Sie setzte noch einmal zu einem bissigen Kommentar an, aber in diesem Moment drückte der Polizist ihr den Strafzettel in die Hand und schnappte sich dann sein angebissenes Tramezzino vom Autodach.

Siena starrte auf den Zettel. Sie konnte nicht glauben, was dort stand: Neben die ziemlich hohe Strafgebühr, die er ihr aufgedonnert hatte, hatte er doch tatsächlich eine Nummer geschrieben. Eine Handynummer.

Fassungslos schaute sie den Polizisten an. »Ist das Ihr Ernst …«, begann sie, doch er unterbrach sie mit einem Schulterzucken. »Natürlich ist das mein Ernst. Es ist eine gute Möglichkeit, aus einer unangenehmen Situation noch etwas Gutes zu machen. Wenn nicht sogar die einzige Möglichkeit.« Er grinste. Ziemlich frech, aber auch ziemlich charmant, das musste Siena zugeben.

»Aha«, erwiderte sie und musste gegen ihren Willen auch ein bisschen grinsen. »Und wie sollte ausgerechnet eine Handynummer diesen Tag besser machen?«

»Es gibt da eine nette Osteria mit sehr leckeren Tagesgerichten«, antwortete er. »Leider ist sie so nett und das Essen dort ist so lecker, dass es sehr schwer ist, einen Platz zu bekommen. Fast aussichtslos! Gerade an einem Samstag. Aber wenn sie diese Handynummer wählen, dann wird wie durch Zauberei für heute Abend ein Tisch dort reserviert sein. Für zwei Personen.«

Er stieg in sein Auto ein.

»Wie heißt der Zauberer, der das möglich macht?«, rief Siena ihm hinterher.

Er ließ den Motor an und streckte den Kopf noch einmal zum Fenster heraus. »Luca!«, brüllte er, um das Motorengeräusch zu übertönen. »Luca Bruni.«

Dann brauste er über den Kiesweg davon, und zwar garantiert nicht mit der vorgeschriebenen Geschwindigkeit.

kap

ERKENNTNIS NUMMER 2:

Viele Wege führen nach Rom.
Und zur Polizei

Eine ganze Weile stand Siena da und starrte abwechselnd auf den Zettel und auf die Staubwolke, die der Polizist hinterlassen hatte. Sie hörte das Summen einer Biene an ihrem Ohr und in einiger Entfernung das Brummen eines Traktors. Jetzt im Spätsommer waren die Landwirte in der Toskana überall mit dem Mähen und dem Einbringen der Ernte beschäftigt, und die Geräusche ihrer Maschinen waren ein beinahe ständiges Hintergrundgeräusch auf dem Land.

Die Sonne brannte auf Sienas Kopf, der Daumen pochte. Langsam stieg sie aufs Motorino und fuhr in gemäßigtem Tempo zum nächstgelegenen kleinen Einkaufszentrum an der Hauptstraße, das aus einem Supermarkt, einem Friseur, einem Waschsalon und einer Apotheke bestand.

Als sie eine halbe Stunde später wieder das Haus ihrer Großmutter betrat, atmete sie tief durch. Hier war es auch im Sommer immer angenehm kühl. Und hier fühlte sie sich geborgen. Was immer das Leben ihr auch bescherte.

Siena trug die Salbe auf den brennenden Daumen auf und setzte sich auf einen der uralten und klapprigen Holzstühle in der Küche. Ihre Großmutter kam herein und stellte einen Korb auf dem Tisch ab. Er war randvoll mit frischem Gemüse, das sie offenbar gerade im Garten geerntet hatte. Sie warf Siena einen scharfen Blick zu: »Tut dir etwas weh?«, fragte sie.

Siena grinste. Es gab niemanden, der sie so gut kannte wie ihre Großmutter. Niemanden, der sich so um sie sorgte. Und mit ziemlicher Sicherheit niemanden, der sie so liebte.

»Ich habe mir nur den Daumen verbrannt. Nicht schlimm«, antwortete sie.

»Nicht schlimm?« Die Nonna nahm Sienas Hand und musterte den Daumen mit der großen Brandblase. Sie drückte einen schmatzenden Kuss darauf und nickte: »Ist wirklich nicht so schlimm.« Dann leerte sie den Korb auf dem Küchentisch aus und hängte ihn sich wieder über den Arm. »Jetzt hole ich noch die Tomaten«, verkündete sie und verließ mit ihrem typischen energischen Gang die Küche. Ihre etwas ausladenden Hüften schwangen dabei entschlossen hin und her, genau wie ihr dichter Pferdeschwanz. Siena und ihre Großmutter hatten die gleichen üppigen schwarzen Haare. Die der Nonna waren inzwischen von sehr vielen weißen Strähnen durchzogen, aber immer noch so füllig wie früher.

Siena lächelte. Die Nonna war eine wahre Naturgewalt. Von klein auf hatte Siena über sie immer nur als LA Nonna gesprochen. Die Nonna. Die einzig Wahre. Die Einzige. Die Nonna.

Siena betrachtete das Gemüse auf dem Tisch, das ein schönes, buntes Stillleben bildete, und dann wieder ihren Daumen. Sie holte den Zettel aus ihrer Hosentasche und strich ihn glatt.

Es war wirklich eine Unverschämtheit, dass dieser Luca die Situation dermaßen ausnutzte und ihr gewissermaßen seine Handynummer aufdrängte. Überhaupt auf die Idee zu kommen! Wütend schlug Siena mit der Hand auf den Tisch und zuckte zusammen. »Aua«, entfuhr es ihr. Sie hatte den verbrannten Daumen kurzzeitig vergessen.

Durfte man das überhaupt? War das nicht Amtsmissbrauch oder so etwas? Sie starrte auf den Strafzettel mit der Handynummer. Na gut, wenn man mal ehrlich war: Sie musste ja nicht anrufen. Die Strafe hatte sie sowieso schon. Sie würde also das Geld bezahlen und die Nummer ignorieren.

Luca Bruni.

Ein unverschämter Kerl.

Siena betrachtete ihren Daumen mit der Brandblase. Unverschämt … und unverschämt gut aussehend. Sie blickte nachdenklich aus dem Fenster und auf den großen Olivenbaum mit seinen grünsilbrigen Blättern.

Immerhin war er ein Polizist. Vielleicht war das ein Zeichen? Und das Essen in der Osteria war sehr lecker, hatte er behauptet. Das war doch eigentlich das beste Argument überhaupt.

Siena stand entschlossen auf. Sie würde diese Begegnung, diesen Tag als Startschuss sehen. Als Startschuss, doch noch dorthin zu kommen, wo sie eigentlich hinwollte: zur Polizei. Als Möglichkeit, bei der Polizei doch noch einen Fuß in die Tür zu bekommen. Wenn auch anders als erwartet …

Sie schnappte sich ihr Handy und tippte die Telefonnummer vom Strafzettel ab. Sie presste das Telefon an ihr Ohr. Freizeichen, dann ein schnelles »Pronto?« Lucas Stimme klang am Telefon ziemlich gut. Fast schon einladend. Siena holte Luft. »Ciao, hier ist Siena«, sagte sie schnell, um dem Impuls, einfach wieder aufzulegen, zuvorzukommen.

Langsam ging sie die Treppe nach oben in das kleine Zimmer, in dem sie gelebt hatte, seit sie mit zwei Jahren bei ihrer Großmutter eingezogen war. Sie setzte sich aufs Bett und strich mit den Händen über die Tagesdecke mit den gelben Blumen, die die Nonna ihr zu einem ihrer Geburtstage selbst genäht hatte. Seit Siena nach der Schule ausgezogen war, um in Florenz zu studieren, hatte sich in dem Zimmer so gut wie nichts verändert.

Siena ließ den Blick über die schon etwas verblassten Fotos an den Wänden schweifen: Klassenfahrten, Geburtstagspartys, ihre Erstkommunion. Eine neunjährige Siena mit dicker Brille strahlte auf dem Foto vor der Kirche in ihrem weißen Kleid stolz in die Kamera. Anschließend hatte sie so viel von Nonnas Kuchenbuffet gegessen, dass sie sich am Ende der Feier übergeben hatte. Aber davon war auf dem Foto zum Glück nichts zu sehen. Siena lächelte. Hier hatte sie ihre Kindheit und Jugend verbracht, hier hatte sie den ersten Liebeskummer überlebt und für die Abschlussprüfung gelernt.

Zu ihrem 13. Geburtstag hatte die Nonna ihr eine Verwandlung des Kinderzimmers in ein Jugendzimmer geschenkt. Siena hatte sich in einem Möbelladen, der ihr damals riesig erschienen war, ein neues Bett, einen Schrank und einen Schreibtisch ausgesucht. Und Gianni, der Untermieter der Nonna, hatte die Wände in Sonnengelb gestrichen. Siena setzte sich aufs Bett und betrachtete den Kleiderschrank, den sie schon als Jugendliche genutzt hatte. Überlegst du dir gerade ernsthaft, was du anziehen sollst?, fragte eine strenge Stimme in ihrem Kopf. »Nein!«, sagte Siena laut. Natürlich nicht.

Sie würde sich doch nicht extra umziehen. Jeans und T-Shirt waren vollkommen in Ordnung, wenn sie sich den Staub des Kieswegs noch ein bisschen abklopfte. Und bloß nicht auch noch schminken! Nach kurzem Überlegen zog sie den Haargummi vom Pferdeschwanz und schüttelte ihre langen dunklen Haare. Der Pferdeschwanz war ja sowieso viel zu straff und unbequem gewesen.

Im Halbdunkel ihres stillen Zimmers wurde Siena ein wenig rot. Es war ihr wirklich unangenehm, aber sie musste zugeben, dass ein ganz kleiner Teil von ihr sich geschmeichelt fühlte, dass dieser extrem attraktive Polizist sie wiedersehen wollte. Und dass sie ihn trotz seiner unmöglichen Art irgendwie charmant fand. »Sei nicht albern«, sagte Siena laut. »Das hat nichts mit dir zu tun. Nur mit Jagdinstinkt. Und Arroganz. Und Selbstgefälligkeit.«

Sie ließ sich zurück aufs Bett fallen und starrte an die Decke, die von den alten Holzbalken des Häuschens durchzogen war.

Startschuss, wiederholte sie in ihrem Kopf. Wenn ich es bisher nicht als Ermittlerin zur Polizei geschafft habe, dann muss die Polizei jetzt eben auf anderem Weg in mein Leben kommen.

Siena erinnerte sich an eine der vielen unangenehmen Unterhaltungen, die sie in ihrem Leben bereits mit ihrer Mutter geführt hatte. Damals, als sie beschlossen hatte, nicht weiter als Lehrerin arbeiten zu wollen.

»Gerade mal drei Jahre, und dir geht schon die Puste aus?«, hatte Graziella gefragt. Siena konnte im Nachhinein nicht mehr sagen, ob sie sich den spöttischen Unterton vielleicht nur eingebildet hatte, aber es war auch egal. Alleine die Wortwahl reichte aus, um sie an die Decke gehen zu lassen.

»Du musst es ja wissen, du mit deiner jahrzehntelangen Erfahrung als fleißige Arbeitnehmerin«, hatte Siena geantwortet und war selbst ein wenig erschrocken, wie hasserfüllt ihre Stimme klang.

Doch ihre Mutter hatte den Satz einfach an sich abperlen lassen. Sie hatte nichts erwidert, sondern den Blick über die Piazza schweifen lassen.

Siena war extra mit ihr zum Eisessen ins etwa zehn Kilometer entfernte Monteriggioni gefahren – ein weiterer ihrer Versuche, doch noch irgendeine Art von Mutter-Tochter-Beziehung aufzubauen. Graziella war zu Besuch aus Apulien gekommen, wo sie mit einem unbekannten, aber sehr begabten Künstler in einem Trullo lebte. Sie wohnte während ihrer Stippvisiten grundsätzlich nicht bei ihrer Mutter Marcella, Sienas Nonna, sondern bei irgendwelchen Bekannten. Siena sah ihre Mutter nur ein- oder zweimal im Jahr. Das war schon so, seit sie zwei Jahre alt gewesen war. Damals hatte Graziella befunden, dass es für ihre Tochter (das Ergebnis eines One-Night-Stands auf dem Sommerfest für Austauschstudenten in Perugia; Vater unbekannt, vermutlich Amerikaner) das Beste wäre, bei der Großmutter aufzuwachsen. Sie hatte die kleine Siena mit einem Koffer und einem Plüschhasen bei der Nonna abgegeben und sich mit ihrem damaligen Lover nach Ibiza abgesetzt.

Jedes Mal wenn ihre Mutter einen Besuch ankündigte, wurde Siena schon Tage vorher nervös. Sie fühlte sich vor diesen Treffen immer wie vor einer Prüfung, auf die sie schlecht vorbereitet war. Und obwohl sie das wusste, hatte sie noch keine Methode gefunden, wie sie sich endlich besser darauf vorbereiten könnte.

Graziella schob sich einen großen Löffel Erdbeereis in den Mund und sagte trocken: »Manchmal kann man im Leben eben nicht so, wie man möchte. Aber du hast doch noch alle Freiheiten.«

Siena blieb vor Wut fast die Luft weg. Schon wieder wagte es ihre Mutter, ihr die Schuld an der verpassten Karriere zuzuschieben. Sie sah rot: »Und du hattest im Jahr 1988 die Freiheit, nicht ungewollt schwanger zu werden! Oder die Typen, mit denen du ins Bett gehst, wenigstens nach ihrem Namen zu fragen, damit sie Alimente zahlen.« Siena beobachtete Graziella aus zusammengekniffenen Augen. Sie hoffte, dass dieser Hieb gesessen hatte, dass ihre Mutter endlich einmal mit irgendeiner sinnvollen Antwort kontern würde. Aber Graziella zuckte nur leicht mit den Schultern und löffelte weiter ihr Eis. Ihre dunklen Locken glänzten in der Sonne, sie war braun gebrannt, ihr geblümtes Hippiekleid schmeichelte ihrer Figur, und jedes Mal, wenn sie sich bewegte, klimperten die silbernen Fußkettchen an ihren Knöcheln. Sie sah auch mit Mitte fünfzig immer noch verdammt gut aus. Und verdammt zufrieden. Verdammt selbstzufrieden.

Siena kochte innerlich vor Wut, aber sie wollte ihre Fassung wahren. Sie wollte souverän und selbstsicher wirken. Sie hatte sich vorgenommen, ihre Mutter zum Eisessen einzuladen und ihr ganz in Ruhe die Gründe darzulegen, warum sie sich nicht für den Lehrerberuf geeignet fühlte. Um dann vielleicht gemeinsam nach Alternativen zu suchen. Wie es Mütter und Töchter eben in anderen Familien taten. Sie dachte an die Nonna. »Erwarte nicht zu viel, sonst bist du hinterher wieder enttäuscht«, warnte die ihre Enkelin vor jedem Treffen mit Graziella. Und jedes Mal wenn Siena dann enttäuscht und traurig nach Hause kam, tröstete die Nonna sie aufs Neue: »Deine Mutter kann nicht anders. Sie ist einfach, wie sie ist – aber das ist nicht böse gemeint.«

Nicht böse gemeint? Da war Siena sich nicht sicher. Und was sie in ihrem ganzen Leben nicht verstehen würde, war, wie so ein herzensguter Mensch wie die Nonna eine so egoistische Tochter haben konnte …

Graziellas Stimme riss sie aus ihren Gedanken. »Und was willst du sonst machen? Was kannst du denn?« Sie bemerkte wohl selbst, dass ihre Frage so klang, als solle sie rein rhetorisch sein und als wüssten sie beide, dass die Antwort natürlich »Nichts« lauten würde. »Was kannst du am besten, meine ich«, bemühte sie sich daher schnell noch hinterherzuschieben.

Siena atmete tief durch. Irgendwo ganz tief in ihrem Bauch fing ein kleiner, messerscharfer Schmerz an, zu pulsieren, aber sie ignorierte ihn. Sie würde dieses Gespräch jetzt wieder in geordnete Bahnen lenken. Sie räusperte sich. »Menschen beobachten«, antwortete sie dann. »Fragen stellen, Antworten suchen«, fuhr sie fort. Graziella sagte nichts. Hörte sie überhaupt zu? »Mir Details einprägen, Informationen und Gespräche im Kopf behalten, Schlüsse ziehen«, ergänzte Siena.

Graziella sah sie mit einem Lächeln an, das Siena nicht einordnen konnte. Wie auch, sie kannte ihre Mutter ja kaum. War das ein interessiertes, ermunterndes Lächeln? Oder ein herablassendes Lächeln? Bevor Graziella irgendeinen Kommentar abgeben konnte, nahm Siena ihren Mut zusammen und sagte schnell: »Ich wollte schon immer Polizistin werden. Ich habe mich schon nach Möglichkeiten zum Quereinstieg erkundigt …«

In diesem Augenblick prustete Graziella los. Sie lachte herzhaft und laut, und Siena erkannte, dass dieses Lachen nicht bösartig oder verletzend sein sollte: Ihre Mutter fand die Idee so absurd, dass sie annahm, dass das nur ein Scherz sein konnte, den sie tatsächlich lustig fand. Siena spürte Tränen in ihren Augen. Ihre Mutter hatte es wieder einmal geschafft: Sie fühlte sich klein, wertlos, machtlos. Hastig legte sie zehn Euro auf den Tisch. »Muss los«, murmelte sie.

Am nächsten Tag hatte Siena ihren alten Studienfreund Enzo angerufen, der gerade ein Onlineportal namens Toscana in Diretta gegründet hatte, in dem alle Termine und Neuigkeiten aus der Region topaktuell präsentiert werden sollten, und hatte gefragt, ob sie ein Praktikum bekommen könnte.

Über die Idee, Polizistin zu werden, hatte sie seitdem mit niemandem mehr gesprochen. Sie hasste ihre Mutter dafür, dass sie ihr – wenn auch unwissentlich – diesen großen Traum kaputt gemacht hatte. Und sie hasste sich selbst noch viel mehr dafür, dass sie sich diesen Traum durch ein einfaches Lachen ihrer Mutter hatte zerstören lassen. Ausgerechnet durch die Reaktion ihrer Mutter – eines Menschen, dessen Meinung ihr doch eigentlich nichts bedeutete.

Sienas Handy vibrierte und holte sie zurück in die Gegenwart. Es war eine Nachricht von Luca. Er hatte ihr noch einmal die genaue Adresse des Lokals geschickt und es sich nicht nehmen lassen, noch hinzuzufügen: Und bitte pünktlich sein – die Tische werden sonst neu vergeben.

Siena schnaubte verächtlich. Wie kam der Kerl denn bitte schön darauf, dass ausgerechnet sie der unpünktliche Typ war?!

kap

ERKENNTNIS NUMMER 3:

Augen auf,
wenn du dich wegschleichst!

Der Abend in der Osteria del Poderino war etwas anders verlaufen als geplant. Als Siena am nächsten Morgen wach wurde und den Geruch der Bettwäsche einatmete, die nicht nach dem vertrauten Waschmittel der Nonna duftete, wusste sie nicht, ob sie irritiert oder amüsiert sein sollte. Sie öffnete die Augen und betrachtete Lucas braun gebrannten Arm, der sie fest umschlungen hielt. Der Rest der Umgebung war für sie nur unscharf zu erkennen. Sie tastete nach ihrer Brille, die auf dem Nachtkästchen lag.

Das Zimmer war klein und mit dunklen Holzmöbeln ausgestattet. Ein Schrank, eine Kommode, ein Bett, zwei Nachtkästchen, ein kleiner Tisch mit zwei Stühlen. Es sah aus wie in einem Hotelzimmer. Wie in einem hässlichen Hotelzimmer. Durch einen Spalt zwischen den dunklen Vorhängen fiel Sonnenlicht herein, aber der dünne Lichtstrahl betonte die Düsternis rundherum nur noch mehr. Nirgendwo war ein persönlicher Gegenstand erkennbar, der das Zimmer schmückte – kein Bild an der Wand, keine Tasse auf dem Tisch, kein Buch auf dem Nachtkästchen. Ich bin nur noch dieses Wochenende hier, dann werde ich nach Florenz versetzt, hatte Luca ihr gestern erzählt. Er war aber insgesamt ein Jahr lang hier in Monteriggioni gewesen – eigentlich lange genug, um sich das Zimmer, das er als Untermieter bei einer alten Signora bewohnte, ein wenig wohnlich einzurichten.

Was hat das zu bedeuten, überlegte Siena, wenn ein Mensch nicht das geringste Bedürfnis verspürte, sich seine Umgebung ein wenig schön zu gestalten? War es Desinteresse, Nachlässigkeit? Oder der Widerwille, sesshaft zu werden? Sie dachte an ihr Gespräch gestern in der Osteria zurück, überlegte, welche Hinweise auf Lucas Persönlichkeit sie darin erhalten hatte.

Ma tu pensi troppo! hörte sie die Stimme der Nonna in ihrem Kopf. Du denkst zu viel. Tu sei una macchina di pensieri. Du bist eine Gedankenmaschine.

La mia macchina, hatte die Nonna sie schon seit ihrer Kindheit manchmal liebevoll genannt. Meine Maschine. Siena hatte das erstaunt. Ihr erschienen die eigenen Gedankengänge absolut logisch, und sie wäre davon ausgegangen, dass jeder Mensch auf diese Weise dachte, wenn die Nonna es nicht so kommentiert hätte. Wenn die Lehrerin Siena angewiesen hatte, die Geranien auf dem Bild doch rot zu malen, hatte Siena zu Hause stundenlang gegrübelt, was das wohl zu bedeuten hatte. Mochte die Lehrerin keine lila Blumen? Hatte ihr vielleicht einmal jemand lila Blumen geschenkt, den sie nicht leiden konnte? Wenn die Nonna sie zur Nachbarin schickte, um Eier zu holen, betrachtete Siena die Eier im Korb eine lange Zeit nachdenklich. Warum waren sie unterschiedlich groß? Hatte ein Huhn mehr gefressen? Legten die Hühner kleinere Eier, wenn sie unglücklich waren? Würde aus einem großen Ei auch ein großes Küken schlüpfen?

Luca bewegte sich leicht im Schlaf. Siena verspürte plötzlich den Drang, sich schnell anzuziehen und wegzulaufen, um nicht mehr da zu sein, wenn er aufwachte. Der Abend in der Osteria war wirklich nicht schlecht gewesen, die Nacht in dem hässlichen Zimmer auch nicht. Luca war netter und witziger gewesen, als sie erwartet hatte, und sein Interesse an ihr war wirklich äußerst schmeichelhaft. Auf der anderen Seite … Er hatte sie auf eine ziemlich unverfrorene Art und Weise angeflirtet – im Dienst! –, und Siena war sicher, dass er das nicht zum ersten Mal so gemacht hatte.

»Ich war nicht im Dienst, ich hatte Mittagspause«, hatte Luca sich grinsend gerechtfertigt, als Siena ihm gleich als Erstes Vorwürfe gemacht hatte. »Mittagspause ist auch Dienstzeit«, hatte sie gefaucht, und Luca hatte ihr ein Glas Chianti gereicht. »Das spielt jetzt keine Rolle mehr«, hatte er geantwortet und sie mit seinen blauen Augen angeblitzt. »Es hat uns beide hierhergebracht. Nur das zählt.«

Der Wein, die köstlichen Gnocchi, die blauen Augen, die warme Sommernacht – das alles hatte Siena doch sehr stark besänftigt. Und sie wollte der Polizei durch Luca ja einen Schritt näher kommen … Sie betrachtete den Arm, der sie festhielt. Das war ihr auf jeden Fall gelungen.

Trotzdem, das Unbehagen blieb, dass sie so einfach auf seine plumpe Masche eingegangen war. Und der Zweifel, ob er sie tatsächlich so sehr interessierte oder eher die Tatsache, dass er Polizist war. Und dass sie nach dem Desaster vor zwei Jahren dringend Balsam für ihr Ego brauchte …

Wenn sie ganz ehrlich war: Einen echten Plan, wie Luca ihr dabei helfen konnte, doch noch Polizistin zu werden, hatte sie nicht. Er konnte ihr ja kaum einen Ausbildungsplatz anbieten. Oder vielleicht doch? Vielleicht hatte er wenigstens ein paar Tipps? Oder konnte sie wichtigen Leuten vorstellen? Oder ihr Interna über die Polizeiarbeit erzählen, die sie nicht im Internet nachlesen konnte?

Siena schloss die Augen. Nein, wahrscheinlich war das alles Quatsch. Wahrscheinlich hatten ihr einfach seine Augen zu gut gefallen. Und seine Stimme.

Vorsichtig versuchte sie, seinen Griff ein wenig zu lockern. Langsam, ganz langsam wand sie sich aus seiner Umarmung und wagte es kaum, zu atmen. Luca drehte sich zur Seite. Täuschte sie sich, oder klang seine Atmung jetzt weniger tief? War er etwa wach? Siena drehte sich zu ihm um und musterte ihn. Nein, die Augen waren zu. Kein Flackern der Lider, gleichmäßiger Atem. Siena schlüpfte aus dem Bett und zog sich so geräuschlos wie möglich an. Geschafft! Und immer noch schlief Luca tief und fest. Siena packt ihre Tasche und schlich zur Tür …

Rrrrrums!

Mit einem Krachen, das in der Stille des Morgens klang wie die Sprengung eines Hochhauses, fiel einer der Stühle um. »Cazzo«, fluchte Siena. Wenn es jemand schaffen konnte, in einem weitgehend leeren Zimmer einen der beiden Stühle, die man überhaupt umwerfen konnte, umzuwerfen, dann sie. Und das, obwohl sie ihre Brille aufhatte. Sienas Alltag war gepflastert von solchen Ungeschicklichkeiten und Unfällen. Sosehr sie sich auch bemühte, sie stieß sich ständig irgendwo an, ließ Dinge fallen oder verbrannte sich an Kaffeemaschinen. Vermutlich, weil sie im Kopf dauernd mit zu vielen anderen Sachen beschäftigt war.

Siena hob den Stuhl auf und schloss die Augen. Sie überlegte blitzschnell. Sollte sie einfach gehen? Oder sich umdrehen und etwas zu Luca sagen?

Er nahm ihr die Entscheidung ab. »Es bringt nichts, wenn du hier rausschleichst. Ich habe deine Handynummer.«, sagte er. Siena fuhr herum. Luca saß im Bett und sah sehr wach und sehr vergnügt aus. Er konnte sich ein breites Grinsen kaum verkneifen. Sie rollte innerlich mit den Augen. Bestimmt war er schon die ganze Zeit wach gewesen und hatte sich schlafend gestellt, um sich über ihren plumpen Versuch, möglichst unbemerkt zu verschwinden, zu amüsieren.

»Ich wüsste nicht, woher du meine Handynummer haben solltest«, erwiderte sie möglichst kühl und hochnäsig. »Es sei denn, du hast sie dir verbotenerweise über irgendeine Datenbank der Polizei und das Kennzeichen meines Motorinos verschafft«, fügte sie noch hinzu.

So. Das hatte hoffentlich gesessen. Sie drehte sich auf dem Absatz um.

»Das hätte ich versucht, aber das Motorino ist nicht auf dich zugelassen, sondern auf einen Gianni Berluzzi«, hörte sie Luca völlig ungerührt sagen. »War aber zum Glück nicht nötig«, fuhr er fort, bevor sie etwas sagen konnte. »Du hast mich gestern schließlich angerufen und ich habe dir geschrieben – schon vergessen?«

Siena spürte wieder die Röte in ihrem Gesicht. Wie dumm von ihr.

»Und außerdem«, fuhr Luca fort. »Ich bin sicher, du hättest sie mir gestern auch ganz legal gegeben. Nach dem dritten Chianti, nachdem wir uns auf dem Parkplatz geküsst …«

»Jaja, schon gut«, unterbrach Siena ihn. Langsam kam die Erinnerung an die Szene zurück und damit auch die Erinnerung an ihr Auto, das jetzt einsam und verlassen auf dem Parkplatz der Osteria stand, nachdem sie mit Lucas Auto zu ihm gefahren waren. So ein Mist, dachte sie, als ihr klar wurde, dass sie hier gar nicht wegkam. Luca schlug das Laken zurück und schwang die Beine aus dem Bett. »Ich fahre dich zu deinem Auto«, sagte er, als hätte er ihre Gedanken gelesen. »Aber unterwegs trinken wir noch einen Kaffee.«

Siena antwortete nicht. Sie spürte plötzlich einen inneren Widerstand gegen den gemeinsamen Kaffee, der ihr von ihm aufgezwungen wurde. Kein Wunder, dass dieser Typ Polizist geworden war! Es schien ihm wirklich Spaß zu machen, Leute nach seiner Pfeife tanzen zu lassen. Und jetzt, bei Tageslicht betrachtet, ärgerte sie sich darüber, dass sie selbst so widerstandslos nach seiner Pfeife getanzt hatte. Vom Kiesweg direkt in die Osteria. Von der Osteria direkt in sein Bett. Ohne Umwege. So war er es bestimmt gewohnt. Siena atmete tief ein und aus, um die aufsteigende Wut zu unterdrücken. Sie brauchte ihn noch, damit er sie zu diesem verdammten Parkplatz und zu ihrem Auto brachte, mit dem sie dann endlich wieder in die Freiheit davonbrausen konnte.

kap

ERKENNTNIS NUMMER 4:

Wer will schon einen zu kleinen Hintern?

Siena stellte sich einen Stuhl vor die Tür des kleinen Häuschens und schaute in die Landschaft. Es war Abend geworden. Und obwohl sie doch froh gewesen war, sich von diesem aufdringlichen Polizisten auf dem menschenleeren Parkplatz der Osteria zu verabschieden – er hatte sie küssen wollen, aber sie hatte den Kopf zur Seite gedreht und nur die Wange hingehalten –, war sie den ganzen Tag über seltsam unruhig gewesen. Und das ausgerechnet am Sonntag. Ihrem Tag für Ruhe und Frieden.

Die Nonna hatte mittags extra eine Lasagne gemacht. Ein Blick auf Siena hatte genügt, und sie hatte gewusst, dass ihre Enkelin ein wenig aus dem Gleichgewicht war. Und eine Lasagne brachte normalerweise die Dinge ganz von selbst wieder ins Lot.

Heute nicht. Siena spürte einen eigenartigen Mix aus Gefühlen, der sie nervös machte. Da war ihr Ärger, dass sie auf Lucas Masche eingegangen war. Da war auch ein bisschen Verlegenheit, weil sie sich in seiner Gegenwart unsicher gefühlt hatte. Aber da war eben auch ein warmes, flirrendes Gefühl, wenn sie an seine blauen Augen dachte …

Siena atmete die abendliche Sommerluft ein und verbot sich, schon wieder zu ihrem Handy zu schielen, das neben dem Stuhl auf dem Boden lag. Im Lautlos-Modus natürlich. Sie dachte an den witzigen Spruch, den sie einmal gelesen hatte: Bitte schreib mir, damit ich nicht zurückschreiben kann!

Sooo witzig fand sie ihn bei genauerer Betrachtung eigentlich gar nicht mehr.

Sie wusste nicht, wie oft sie schon so dagesessen hatte, hier auf dem Hügel in den Weinbergen. Unzählige Male. Mit einem Kaffee, mit einem Wein, mit leeren Händen. Mit schwerem Herzen, mit leichten Gedanken, mit hochfliegenden Plänen, mit herben Enttäuschungen. In schweren Fällen mit selbst gebranntem Schnaps von Gianni. Und natürlich mit oder ohne Zigarette – je nachdem, in welcher Phase der Entwöhnung, Wieder-Angewöhnung oder des Gar-nicht-abgewöhnen-Wollens sie sich gerade befand.

Heute saß sie mit einer Zigarette da. Und mit einer Packung Rosmarin-Chips. Die Nonna wusste, wie sehr sie diese Chips liebte, und kaufte sie immer wieder, obwohl Siena sie schon mehrfach gebeten hatte, das nicht mehr zu tun. »Nonna, wenn ich eine Packung öffne, muss ich sie leer essen. Weißt du, was das für meinen Hintern bedeutet?« Und sie klopfte sich auf den Po, während ihre Nonna nur lächelte und jedes Mal sagte: »Wer will schon einen zu kleinen Hintern?« Und beim nächsten Besuch fand Siena unweigerlich die nächste Packung Rosmarin-Chips in der Vorratskammer. Jetzt riss sie die Packung mit den Zähnen auf, weil sie in einer Hand bereits die brennende Zigarette hielt. Sie inhalierte und atmete den Rauch aus, dann stopfte sie sich eine Hand voll Chips in den Mund. Während sie sich am Knuspergeräusch erfreute und den Geschmack von Salz und Rosmarin auf der Zunge genoss, betrachtete sie die Landschaft. Nebenan krähte unermüdlich ein Hahn von La Gallina.

La Gallina, die Henne, war der Spitzname ihrer Nachbarin Marta. Seit Siena denken konnte, beherbergte Marta ganze Heerscharen von Hühnern und einige dazugehörige Hähne. Die Hühner waren nicht nur auffallend hübsch mit ihrem seidigen braunen Gefieder, und sie legten nicht nur die besten Eier nördlich von Monteriggioni. Die Hühner waren Martas Familienmitglieder. Mit stolzer Selbstverständlichkeit gingen sie im Wohnhaus ein und aus, und manche von ihnen verfolgten zufrieden glucksend abends um neun vom Sofa aus mit Marta die Nachrichten im Fernsehen. Als Kind hatte Siena daher vermutet, dass Marta selbst in Wahrheit ein Huhn sein musste, das von einem Zauberer dazu verdammt worden war, sein Dasein in menschlicher Gestalt zu fristen. Und seitdem war Marta La Gallina. An ihren echten Namen erinnerte sich in Sienas Familie kaum noch jemand.

Der Duft von Rosmarin und Lavendel wurde mit jedem kleinen Windhauch direkt in ihre Nase geweht. Siena atmete tief ein und aus. Sie fühlte sich schon viel ruhiger. Viel besser. Es wurde langsam dunkel, doch noch zeichneten sich die hellen Stoppelfelder vor den Olivenbäumen an den Hügeln deutlich ab. Die Zypressen sahen in der Dämmerung schwarz aus. Still und stumm standen die sieben Bäume neben dem Tor zur Auffahrt in ihrer Reihe. Falli silenziosi nannte Gianni sie. Die schweigenden Penisse. Siena zog es vor, sie »die Wächter« zu nennen. Für sie hatte ihr Anblick etwas Beruhigendes. Es war ihr immer so erschienen, als bildeten sie eine Art Schwelle zur realen Welt da draußen, während sie hier drinnen im Schutzraum der Liebe und Fürsorge ihrer Großmutter saß.

Siena schlug sich auf den Arm, um eine Mücke zu erledigen. Die Insekten umschwirrten sie jetzt in der Dämmerung besonders hartnäckig. Von hinten näherte sich die Nonna und legte ihr eine Decke um die Schultern. »Es ist schon ein bisschen kühl heute«, sagte sie. »Und gegen die Mücken hilft sie auch.«

Siena griff nach der Hand ihrer Großmutter. Sie war weich und wie immer angenehm warm. Siena hatte ihre Nonna noch nie mit kalten Händen erlebt. »Wieso weißt du eigentlich immer, was ich gerade brauche?«, fragte Siena und presste die Hand der Nonna an ihre Wange. »Questo è il segreto delle nonne.«, lachte die Großmutter und ging zurück ins Haus. Das ist das Geheimnis der Großmütter, dachte Siena und kuschelte sich in die Decke, die nach dem Waschmittel roch, das die Nonna seit Jahrzehnten benutzte. Sie rauchte ihre Zigarette, aß die Chipstüte bis zum letzten Krümel leer und beobachtete, wie die Wächter langsam mit der Dunkelheit verschmolzen.

Aus dem Augenwinkel sah sie, dass ihr Handy kurz aufleuchtete. Eine Nachricht. Siena ärgerte sich, dass ihr Herz schneller klopfte. Betont langsam und desinteressiert hob sie das Telefon vom Boden auf und starrte auf das Display. Sie konnte kaum etwas entziffern ohne Brille. Es war ein kurzer Name, vier Buchstaben, ein a am Ende …

Noch mehr Herzklopfen.

Nein.

Die Nachricht war von Sara.

Morgen Kaffee auf dem Weg nach Florenz? Du fährst doch morgen zurück, oder?

Sara war Sienas beste Freundin und lebte mit ihrem Mann und zwei Kindern in einem kleinen Kaff direkt an der Autobahn, die Siena vom Haus der Nonna aus nach Florenz nehmen musste. Sie überlegte kurz. Sara würde ihr sofort an der Nasenspitze ansehen, dass irgendetwas passiert war. Aber wollte sie ihr die Sache mit diesem lästigen, aufdringlichen Polizisten wirklich erzählen? Sollte sie nicht lieber Gras darüber wachsen lassen?

Siena nahm ihr Handy, die Decke und die leere Chipstüte. Sie würde erst einmal eine Nacht darüber schlafen. Über alles.

kap

ERKENNTNIS NUMMER 5:

Wenn du einen Schuss hörst, dann ist auch einer gefallen

Der Taucheranzug saß wie angegossen. Zufrieden blickte Siena an sich herunter und strich sich über die Hüften. Wie gut, dass sie in letzter Zeit keine Packung mit Rosmarin-Chips mehr geöffnet hatte.

»Nummer 4, hören Sie mich? Numero Quattro?«, ertönte die harsche Stimme des Comandante direkt in ihrem Ohr. Siena zuckte zusammen und fasste unwillkürlich an den kleinen Knopf im Ohr. Doch sofort hatte sie sich wieder gefangen: »Ich höre«, sprach sie in das Mikrofon, das an einem Kabel vor ihrer Brust hing.

»Die Operation beginnt in drei Minuten«, knarzte der Comandante in ihr Ohr. »Sind Sie bereit?«

Siena ließ den Blick über das dunkelgraue Wasser schweifen. In der Dämmerung konnte man nicht mehr weit sehen. Adrenalin rauschte durch ihren Körper und versetzte sie in eine eigenartige Euphorie. Ja, sie war bereit. Sie atmete tief durch.

»Siena!«, ertönte es in diesem Augenblick an ihrem Ohr.

Siena? Seit wann nannte der Comandante sie Siena? Sie war Numero Quattro, Geheimagentin im Auftrag des … »Siena.« Sie fasste sich ans Ohr. Etwas stimmte wohl mit dem Lautsprecher nicht. Wie gesagt, sie war Numero Quattro und ihre Mission war …

PENG! Ein Schuss hallte durch die Nacht.

PENG! Noch einer.

Siena setzte sich kerzengerade im Bett auf. Was war passiert? Sie tastete nach dem Knopf in ihrem Ohr. Wo war die Stimme des Comandante?

Nur langsam kam sie zu sich und erkannte im fahlen Licht die Umrisse der Möbel in ihrem vertrauten, alten Jugendzimmer.

Nur ein Traum. Schade.

Siena ließ sich zurück auf ihr Kissen fallen. Jetzt würde sie nie erfahren, was ihre Mission gewesen war …

Die Schüsse, die sie geweckt hatten, waren zwar echt gewesen, aber sie beunruhigten Siena nicht weiter. Es kam häufiger vor, dass nachts in den Hügeln jemand verbotenerweise ein Wildkaninchen oder einen anderen Festtagsbraten schoss. Auch Gianni hatte sie schon dabei ertappt.

»Ma, Siena, dai.«, hatte er treuherzig gefleht und ihr das soeben erlegte Kaninchen direkt vor die Nase gehalten. »Komm schon, Siena. Die Pappardelle al Ragú deiner Nonna sind jede Sünde wert.«

Und da war durchaus was dran. Die hausgemachten breiten Nudeln mit Kaninchenragout waren einfach köstlich …

Ein bisschen eigenartig war allerdings, dass vor den Schüssen jemand ihren Namen gerufen hatte. Oder? Oder doch nicht?

Im nächsten Moment war Siena wieder eingeschlafen. Ein lautes Poltern riss sie erneut aus dem Schlaf, noch bevor der Comandante sie auf eine neue Mission hatte schicken können. Ein Klirren folgte – etwas war direkt unter ihrem Fenster zu Bruch gegangen.

Dieses Mal war Siena sofort hellwach. Sie sprang auf, lief zum Fenster und spähte hinunter. Die Morgendämmerung setzte bereits ein, anscheinend hatte sie doch noch einmal tief und fest geschlafen. Auf der Terrasse, die zu Giannis Seite des Hauses führte, kauerte eine Gestalt in dunkler Jacke. Nur ganz kurz pochte Sienas Herz schneller, dann hatte sie es geschafft, sich die Brille auf die Nase zu setzen: Es war Gianni selbst, und er versuchte, die Scherben der Weinflasche aufzusammeln, die er gerade umgeworfen hatte. Leise, um die Nonna nicht unnötig früh zu wecken, schlüpfte Siena aus ihrem Zimmer und schlich nach unten.

Das Haus der Nonna war eine ehemalige Scheune auf einem kleinen Hügel, mitten in den Weinbergen des Chianti. Ihr verstorbener Ehemann, Sienas Großvater, hatte ihr die Scheune samt Grundstück vererbt. Sie stammte aus dem Besitz seiner Eltern, die Landwirte gewesen waren. »Das Haus ist das Beste, was mir dein Großvater hinterlassen hat«, hatte Marcella, die Nonna, einmal gesagt. Siena fand diese Aussage ein wenig merkwürdig und hatte darüber nachgedacht, was das wohl für ihre Mutter Graziella, immerhin das gemeinsame Kind der beiden und somit in gewisser Hinsicht auch eine Hinterlassenschaft des Großvaters, zu bedeuten hatte.

Marcella hatte beschlossen, die alte Scheune in ein Wohnhaus umzubauen. Gianni, der in allen handwerklichen Belangen unglaublich geschickt war, hatte den Großteil selbst gemacht und für alles, was er nicht konnte – hauptsächlich Wasser- und Stromleitungen und die Heizung –, irgendwelche Schwager von Freunden von Cousins zweiten Grades organisiert. Woher Gianni eigentlich gekommen war und warum er den kompletten Ausbau übernommen hatte, hatte Siena nie hinterfragt. Als sie bei der Nonna einzog, war er längst als fester Bestandteil dort gewesen, und er war für sie ganz einfach ein Familienmitglied, dessen Existenz man nicht klären musste. Sienas Mutter hatte nie in dem kleinen Haus auf dem Hügel gelebt. Sie war gerade 18 geworden, als die Scheune endlich bezugsfertig war, und sie hatte die Gelegenheit ergriffen, um in ein internationales Studentenwohnheim nach Perugia zu ziehen. Bis zum heutigen Tag konnte Graziella das einsam gelegene Häuschen nicht leiden. Das war auch der Grund, aus dem sie bei ihren seltenen Besuchen immer bei irgendwelchen Bekannten in den umliegenden, größeren Orten schlief. Siena hatte es als Kind immer als Zurückweisung ihrer Mutter empfunden, dass sie nicht einmal ihr Zimmer oder ihre Spielsachen sehen wollte. Dass Graziella gar nicht mit eigenen Augen sehen wollte, wo ihre Tochter ihr Leben verbrachte. Inzwischen war sie froh darüber: Ihre Mutter wäre ihr hier wie ein Eindringling vorgekommen. Und auch wenn Siena nicht genau wusste, was zwischen ihrer Nonna und ihrer Mutter in der Vergangenheit vorgefallen war, so hatte sie als kleines Kind schon begriffen, dass die beiden sich nicht unnötig oft begegnen wollten.

Gianni Berluzzi bewohnte als Untermieter der Nonna den vorderen Teil der ehemaligen Scheune. Das alte Scheunentor hatte er zu einem großen Fenster umgebaut, das den Blick freigab auf die Hügel mit ihren Zypressen, Pinien und Olivenbäumen. Dahinter hatte Gianni ein großes Zimmer als Schlaf- und Wohnraum eingerichtet, direkt nebenan gab es ein kleines Badezimmer. In der Ecke des großen Raumes befand sich eine voll funktionsfähige Küchenzeile, aber Siena hatte den Eindruck, dass Gianni sie noch kein einziges Mal benutzt hatte, sondern grundsätzlich immer drüben bei der Nonna aß. Es gab eine Verbindungstür, die von seinem Teil des Hauses in den der Nonna führte, und Siena kannte es gar nicht anders, als dass Gianni abends durch diese Tür erschien und sich mit an den gedeckten Essentisch setzte.

Der Teil der Scheune, den die Nonna und später dann auch Siena bewohnt hatte, bestand unten aus einem Wohnzimmer, einer Küche, einer Vorratskammer und einer Abstellkammer. Wenn man das Haus betrat, stand man zunächst in einem kleinen, düsteren Gang, von dem aus zwei Türen ins Wohnzimmer und in die Küche abgingen. In die Vorratskammer gelangte man von der Küche aus. Sie war immer prall gefüllt, denn die Nonna war eine leidenschaftliche Köchin. Neben Vorräten an Mehl, Zucker und Salz befanden sich auch immer Eier von der Nachbarin, lange haltbare, luftgetrocknete Salami und viele Gläser mit selbst eingelegten Oliven, getrockneten Tomaten, Artischocken in Öl und hausgemachter Marmelade darin. Und natürlich das Gemüse aus dem eigenen Garten. In der kleinen Abstellkammer lagerte die Nonna eine bunte Mischung aus Putzutensilien, Weihnachtsschmuck, Geschenkpapier, Gummistiefeln und zwei Koffern, die sie nie benutzte, weil sie nie verreiste.

Die Küche war klein und immer perfekt aufgeräumt. Die Nonna und ihr Gasherd, die schweren Pfannen, die glänzenden Töpfe, die Holzkochlöffel und die unzähligen Gläser mit Kräutern und Gewürzen waren eine Einheit, zwischen die nichts und niemand passte. Der Nonna beim Kochen zu helfen war streng verboten. Aber man durfte sich gerne mit einem Glas Chianti an den kleinen Esstisch, an dem drei Stühle standen, setzen und mit ihr plaudern, denn die Nonna musste sich beim Kochen nicht konzentrieren. Mit schlafwandlerischer Sicherheit schnitt, brutzelte, rührte und würzte sie und schien dabei kein einziges Mal nachdenken zu müssen. Die Nonna verachtete Kochbücher.

Der Boden der Küche war wie im ganzen Haus mit Terrakottakacheln gefliest. Der Trauzeuge eines ehemaligen Kollegen des Großonkels von Gianni hatte sie als Restposten quasi geschenkt bekommen. Daher waren sie alle unterschiedlich groß, aber Gianni hatte sie geduldig wie beim Zusammensetzen eines Riesenpuzzles im Haus verlegt und ordentlich verfugt. Siena liebte das eigenartige Muster, das die Fliesen überall ergaben, und fand gleich große Fliesen in anderen Häusern jedes Mal irritierend. Die Wände aus Stein waren verputzt und geweißelt, und vor dem einzigen Fenster des Raumes stand ein alter Olivenbaum. Deshalb war es in der Küche zu jeder Tageszeit ein wenig düster, und man musste immer das Licht anschalten.

Siena liebte das Wohnzimmer. Die Decke war hoch, und oben sah man noch die Balken der ehemaligen Scheune. Die Steinwände waren unverputzt. In einer Ecke des Raumes hatte Gianni einen Kamin eingebaut, davor standen sich zwei alte Zweisitzersofas gegenüber, zwischen ihnen befand sich ein Couchtisch. Die Sofas waren einmal rot gewesen, aber sie waren stark verblichen, und Siena hatte zwei sonnengelbe Überwürfe besorgt, die dem Raum eine fröhliche Ausstrahlung verliehen.

An der Rückwand des Zimmers stand ein Buffet mit dem Porzellangeschirr von Nonnas eigener Nonna. Es war weiß und mit grünen Blättern bemalt und stammte aus einer der vielen toskanischen Keramikwerkstätten. Daneben befand sich ein Bücherregal, das ausschließlich mit Sienas Büchern vollgestopft war, denn die Nonna hatte kein Interesse am Lesen. Sie verachtete Belletristik zwar nicht auf die gleiche Weise, auf die sie Kochbücher verachtete. Aber sie betrachtete sie ganz einfach als nutzlos.

Siena verließ das Haus und lief zur Terrasse. »Gianni! Es ist noch nicht einmal halb sechs, was machst du hier?«, fragte sie leise. Gianni zuckte zusammen und fuhr herum. Sein Gesicht war aschfahl, aber vielleicht ließ auch nur das Dämmerlicht es so wirken. Siena lächelte ihn an. »Ich bin’s nur, Gianni. Seit wann bist du denn so schreckhaft?« Ihr Blick fiel auf einen länglichen Gegenstand, der neben Gianni auf dem Boden lag. Seine alte Schrotflinte.

»Aha, jetzt verstehe ich.«, sagte Siena und bemühte sich um einen strengen Tonfall. »Du hast etwas zu verbergen.«

Der Schreck fuhr Gianni jetzt so offensichtlich in die Glieder, dass Siena stutzig wurde. »Was ist denn los mit dir? Alles in Ordnung?« Gianni murmelte etwas Unverständliches und wandte sich wieder den Glasscherben zu. Siena bemerkte, dass seine Hände zitterten, und erschrak. So kannte sie Gianni wirklich nicht. Sie ging in die Hocke und legte ihre Hand auf seine.

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