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Skandar und der Zorn der Einhörner

hier erhältlich:

Einhörner gehören nicht in Märchen. Sie gehören in eure Albträume.

Wie jedes Jahr verfolgen alle das große Einhornrennen im Fernsehen und sind fasziniert von den monströsen und blutrünstigen Wesen, die gebändigt von ihren Reiterinnen und Reitern durch die Lüfte jagen und sich mit elementarer Magie aus Wasser, Luft, Erde und Feuer bekämpfen. Skandars Favorit siegt, wird aber kurz nach dem Rennen von einem mysteriösen Reiter auf einem wilden Einhorn entführt. Skandar nimmt kurz darauf selbst an der Aufnahmeprüfung auf der Einhorn-Insel teil und wird als Reiter ausgewählt. Doch sein Einhorn trägt die Markierung des verbotenen fünften Elements. Was, wenn Skandar gar nicht der Held in seiner Geschichte ist, sondern der Bösewicht?

So hat es Einhörner noch nicht gegeben: A. F. Steadmans wilde Kreaturen sorgen für mysteriöse Spannung

Allerbeste Fantasy: sympathische Helden, rasante Einhornrennen, düstere Geheimnisse und elementare Magie

Für Fans von Percy Jackson und Eragon


  • Erscheinungstag: 24.05.2022
  • Aus der Serie: Skandar
  • Bandnummer: 1
  • Seitenanzahl: 448
  • Altersempfehlung: 11
  • Format: E-Book (ePub)
  • ISBN/Artikelnummer: 9783505150159

Leseprobe

Für Joseph
– dessen Selbstlosigkeit,
Liebe und unendliche Güte
diesen Einhörnern Flügel verliehen

PROLOG

Der Kameramann hörte die Einhörner, bevor er sie sah.

Ihr kreischendes Wiehern, ihr mörderisches Knurren, das Knirschen ihrer blutigen Zähne.

Der Kameramann roch die Einhörner, bevor er sie sah.

Ihren fauligen Atem, ihr verwesendes Fleisch, den Gestank unsterblichen Todes.

Und der Kameramann spürte die Einhörner, bevor er sie sah.

Tief in seinen Knochen donnerten ihre todbringenden Hufe, und Panik stieg in ihm auf – bis jeder Nerv, jede Zelle seines Körpers ihn drängte zu fliehen. Aber er musste seine Aufgabe erfüllen.

Der Kameramann sah die Einhörner hinter der Kuppe des Hügels auftauchen.

Es waren acht. Die heimtückischen Monster galoppierten über das Grasland, breiteten ihre skelettartigen Flügel aus und erhoben sich in die Luft.

Wie das Auge eines düsteren Sturms wirbelte schwarzer Rauch um sie herum, Donner grollte hinter ihnen her, Blitze schossen in den Boden unter ihren zerstörerischen Hufen.

Acht gespenstische Hörner durchbohrten die Luft, während die Untiere ihren Kriegsschrei ausstießen.

Die Dorfbewohner kreischten, einige versuchten zu fliehen. Doch dafür war es längst zu spät.

Der Kameramann stand auf dem Dorfplatz, als das erste Einhorn landete.

Es blies Funken aus den Nüstern und scharrte mit den Hufen. Mit jedem keuchenden Atemzug verströmte es Chaos und Verwüstung.

Der Kameramann filmte weiter, obwohl seine Hände zitterten. Er musste seine Aufgabe erfüllen.

Das Einhorn senkte sein riesiges Haupt, bis das messerscharfe Horn direkt auf die Linse der Kamera zeigte.

Der Kameramann blickte in seine blutunterlaufenen Augen und sah darin nichts als Zerstörung.

Es gab keine Hoffnung mehr für sein Dorf. Keine Hoffnung für ihn.

Er hatte immer gewusst, dass er einen Angriff wilder Einhörner nicht überleben würde.

Wer ein wildes Einhorn sah, war so gut wie tot.

Der Mann ließ die Kamera sinken und hoffte, dass er seine Arbeit getan hatte.

Denn Einhörner stammen nicht aus Märchen. Sie sind der Stoff, aus dem Albträume sind.

ERSTES KAPITEL

DER DIEB

Skandar Smith betrachtete das Einhornposter am Fußende seines Betts. Mittlerweile war es draußen so hell, dass er die im Flug ausgebreiteten Flügel des Tiers sehen konnte, die glänzende silberne Rüstung, die einen Großteil seines Körpers bedeckte und nur die wilden roten Augen frei ließ, den gewaltigen Kiefer und das spitze graue Horn. Nachtfrost war Skandars Liebling, seit seine Reiterin Aspen McGrath sich vor drei Jahren für den Chaos-Pokal qualifiziert hatte. Skandar hoffte, dass sie heute – im diesjährigen Rennen – vielleicht wirklich die Chance hatten, zu gewinnen.

Skandar hatte das Poster vor drei Monaten zu seinem dreizehnten Geburtstag bekommen. Davor hatte er es sich unzählige Male im Fenster des Buchladens angeschaut und sich vorgestellt, er wäre Nachtfrosts Reiter und stände direkt neben ihm, bereit für das Rennen. Skandar hatte ein schlechtes Gewissen gehabt, als er es sich von seinem Dad gewünscht hatte. Seit er denken konnte, hatten sie kaum Geld, und normalerweise bat er ihn nie um etwas. Doch diesmal war sein Wunsch einfach zu stark gewesen …

Aus der Küche ertönte ein Klirren. An jedem anderen Tag wäre Skandar aus Angst, dass ein Fremder in der Wohnung war, panisch aus dem Bett gesprungen. Denn normalerweise übernahmen er oder seine Schwester Kenna, die im Bett auf der anderen Seite des Zimmers schlief, das Frühstückmachen. Es war nicht so, dass Skandars Dad faul war – bestimmt nicht –, es fiel ihm nur schwer, morgens aus dem Bett zu kommen, besonders wenn er keine Arbeit hatte, bei der er erscheinen musste. Und er hatte schon eine ganze Weile keine mehr gehabt. Aber heute war kein normaler Tag. Heute war der Tag des Rennens. Und für Dad war der Chaos-Pokal besser als Geburtstag, ja, sogar noch besser als Weihnachten.

„Wirst du jemals damit aufhören, dieses blöde Poster anzustarren?“, stöhnte Kenna.

„Dad macht Frühstück“, erwiderte Skandar statt einer Antwort und hoffte, seine Schwester damit aufzumuntern.

„Ich hab keinen Hunger.“ Sie drehte sich zur Wand, nur ihr braunes Haar lugte noch unter der Decke hervor. „Und übrigens ist es völlig unmöglich, dass Aspen und Nachtfrost heute gewinnen.“

„Ich dachte, das interessiert dich nicht.“

„Es interessiert mich auch nicht. Aber …“ – Kenna drehte sich zurück und blinzelte ins Morgenlicht – „… du musst dir nur die Statistiken anschauen, Skar! Frosts Flügelschläge pro Minute sind gerade mal Mittelmaß. Und außerdem haben sie das Problem, dass ihr verbündetes Element Wasser ist.“

„Warum soll das ein Problem sein?“ Skandars Stimmung hob sich trotz Kennas Behauptung, Aspen und Frost hätten keine Chance. Sie hatten schon so lange nicht mehr über Einhörner miteinander geredet, dass er beinahe vergessen hatte, wie es war. Früher hatten sie ständig diskutiert, welches Element sie hätten, wenn sie Einhornreiter wären. Kenna war überzeugt gewesen, sie wäre eine Feuerkämpferin, Skandar dagegen hatte sich nie entscheiden können.

„Hast du alles vergessen, was du in Einhornkunde gelernt hast? Aspen und Nachtfrost sind Wasserverbündete. Und unter den Favoriten sind zwei Luftkämpfer: Ema Templeton und Tom Nazari. Wir wissen doch beide, dass Luft Wasser überlegen ist!“ Skandars Schwester hatte sich auf die Ellbogen gestützt, ihr schmales Gesicht glühte vor Eifer, ihre braunen Haare waren zerzaust, und ihre Augen blitzten. Kenna war ein Jahr älter als Skandar, aber sie sahen einander so ähnlich, dass sie oft für Zwillinge gehalten wurden.

„Du wirst schon sehen“, entgegnete Skandar grinsend. „Aspen hat aus den letzten Rennen gelernt. Sie wird nicht nur mit Wasser kämpfen, dafür ist sie zu schlau. Letztes Jahr hat sie mehrere Elemente kombiniert. Wenn ich Nachtfrost reiten würde, würde ich auf Blitzschläge und Wirbelstromangriffe setzen …“

Mit einem Mal war Kennas aufgeregte Miene wie weggeblasen. Ihr Blick wurde finster, das Lächeln verschwand. Sie drehte sich wortlos zur Wand und zog sich ihre korallenrote Decke über den Kopf.

„Kenn, bitte entschuldige. Ich wollte dich nicht …“

Der Duft von gebratenem Speck und leicht verbranntem Toast drang unter der Tür durch. Skandars Magen knurrte in die Stille.

„Kenna?“

„Lass mich in Ruhe, Skar.“

„Willst du nicht mit uns den Pokal schauen?“

Keine Antwort. Skandar zog sich im Halbdunkel an, während Enttäuschung und Schuldgefühle ihm die Kehle zuschnürten. Er hätte nicht sagen sollen: „Wenn ich Nachtfrost reiten würde …“ Er hatte so geredet wie früher – bevor Kenna durch die Einhornprüfung gefallen war und alle ihre Träume zerplatzt waren.

Als Skandar in die Küche kam, drangen ihm das Brutzeln der Eier und die lärmende Berichterstattung vor dem Rennen in die Ohren. Dad summte vor sich hin und beugte sich über die Pfanne. Als er Skandar bemerkte, schenkte er ihm ein breites Grinsen. Skandar konnte sich nicht erinnern, wann er ihn das letzte Mal hatte lächeln sehen.

Dads Grinsen wurde ein bisschen schmaler. „Was ist mit Kenna?“

„Die schläft noch“, flunkerte Skandar, um seinem Vater nicht die Laune zu verderben. „Ich glaube, das wird heute nicht ganz leicht für sie. Es ist das erste Rennen seit …“

Er musste den Satz nicht beenden. Es war der erste Chaos-Pokal, seit Kenna vor einem Jahr durch die Einhornprüfung gefallen war und jede Möglichkeit verloren hatte, eine Einhornreiterin zu werden.

Besonders schlimm daran war, dass Dad immer so getan hatte, als wäre es ein Kinderspiel, die Prüfung zu bestehen. Er liebte Einhörner so sehr, dass er sich nichts sehnlicher wünschte, als dass eins seiner Kinder ein Einhornreiter wurde. Er behauptete immer, dann hätten all ihre Sorgen ein Ende – die Geldprobleme, die Sorgen um die Zukunft, sogar die Tage, an denen er nicht aus dem Bett kam. Schließlich waren Einhörner magisch. Ihr Leben lang hatte er davon geredet, dass Kenna die Prüfung bestehen und die Tür zur Brutkammer auf der Insel öffnen würde. Dass sie für eins der Einhorneier bestimmt war, die dahinter verborgen waren. Dass ihre Mum so stolz auf sie gewesen wäre.

Schon immer war Kenna in Einhornkunde die Beste ihrer Klasse an der Christchurch-Gesamtschule gewesen. Wenn es irgendjemand zur Insel schaffen würde, hatten die Lehrer gesagt, dann Kenna Smith. Und trotzdem war sie durchgefallen.

Nun redete Dad Skandar seit Monaten dasselbe ein. Dass es möglich war, wahrscheinlich, geradezu unausweichlich, dass er ein Reiter wurde. Und obwohl er wusste, wie außergewöhnlich das war – obwohl er gesehen hatte, wie schwer Kenna letztes Jahr enttäuscht worden war –, wollte Skandar mehr als alles in der Welt daran glauben.

„Aber dieses Jahr bist du dran, hm?“ Dad zerzauste Skandar mit der fettigen Hand die Haare. „Schau mal, am besten röstest du das Brot so, dass es …“ Während Dad ihm Anweisungen gab, nickte Skandar und tat so, als wüsste er nicht längst, wie man Brot röstete. Andere Kinder wären genervt gewesen, Skandar dagegen freute sich, wenn sein Dad ihm auf die Schulter klopfte, weil er das Brot gerade richtig knusprig hinbekommen hatte.

Kenna erschien nicht zum Frühstück, doch es schien Dad nicht allzu viel auszumachen. Skandar und er ließen sich Würstchen, Speck, Eier, Bohnen und das geröstete Brot schmecken. Skandar verdrängte die Frage, woher das Geld für dieses üppige Frühstück kam. Heute war das Rennen. Dad wollte die Sorgen offenbar vergessen, und Skandar ging es nicht anders. Wenigstens für diesen Tag. Also schnappte er sich die nagelneue Flasche Mayonnaise, presste einen ordentlichen Spritzer auf seinen Teller und grinste, als die Flasche ein verheißungsvolles Schmatzgeräusch von sich gab.

„Sind Aspen McGrath und Nachtfrost immer noch deine Favoriten?“, fragte Dad mit vollem Mund. „Oh, ich hab ganz vergessen zu sagen, dass du gerne Freunde einladen darfst. Das machen die anderen doch auch so, oder? Du sollst es nicht schlechter haben.“

Skandar blickte auf seinen Teller. Wie sollte er seinem Dad erklären, dass er keine Freunde hatte, die er einladen konnte? Und, schlimmer noch, dass sein Dad nicht ganz unschuldig daran war?

Das Problem war: Wenn er sich um seinen Dad kümmerte, weil es ihm nicht gut ging – weil er unglücklich war –, verpasste er einen Großteil der „normalen“ Dinge, bei denen man Freundschaften schloss. Nie konnte er nach der Schule im Park abhängen, und er hatte kein Taschengeld, um ins Einkaufszentrum zu gehen oder für eine Portion Fish and Chips an den Strand. Skandar war das lange Zeit gar nicht klar gewesen, aber genau das waren die Gelegenheiten, bei denen sich Freundschaften entwickelten – nicht im Englischunterricht oder bei faden Broten in der Frühstückspause. Dass er sich um seinen Dad kümmerte, bedeutete manchmal auch, dass er keine saubere Kleidung oder Zeit zum Zähneputzen hatte. Und das merkten die anderen. Sie merkten es – und vergaßen es nicht.

Aus irgendeinem Grund war es für Kenna nicht ganz so schlimm. Skandar glaubte, weil sie selbstbewusster war als er. Immer wenn Skandar versuchte, etwas Cleveres oder Witziges zu sagen, machte sein Hirn dicht. Ein paar Minuten später fiel ihm die passende Bemerkung ein, aber im Gespräch mit einem Mitschüler war da nur ein komisches Summen in seinem Kopf, eine Leere. Das Problem hatte Kenna nicht. Einmal hatte Skandar erlebt, wie sie einer Gruppe Mädchen die Meinung gesagt hatte, die über ihren Dad getuschelt hatten. „Mein Dad ist meine Sache“, hatte sie sehr ruhig erklärt. „Haltet euch da raus, sonst wird es euch leidtun.“

„Meine Freunde schauen das Rennen auch mit ihren Familien, Dad“, murmelte Skandar und spürte, dass er rot wurde, wie immer, wenn er nicht die Wahrheit sagte. Aber Dad merkte es nicht – er war dabei, die benutzten Teller zu stapeln, was so selten vorkam, dass Skandar kurz die Augen zukneifen musste, um sich zu vergewissern, dass er richtig gesehen hatte.

„Was ist mit Owen? Mit dem verstehst du dich doch so gut, oder?“

Owen war der Schlimmste. Dad hielt ihn für Skandars Freund, weil er einmal eine Menge Nachrichten von ihm auf Skandars Handy gesehen hatte. Skandar hatte nicht erwähnt, dass die Nachrichten alles andere als freundlich waren.

„Oh … ja, der liebt den Chaos-Pokal.“ Skandar stand auf, um beim Abräumen zu helfen. „Aber er schaut ihn bei seinen Großeltern, und die wohnen ziemlich weit weg.“ Das war nicht mal gelogen, Skandar hatte zufällig gehört, wie Owen sich bei seinen Kumpanen darüber beklagt hatte. Kurz bevor er drei Seiten aus Skandars Mathebuch gerissen, sie zusammengeknüllt und ihm an den Kopf geworfen hatte.

„Kenna!“, brüllte Dad. „Es geht gleich los!“ Als keine Antwort kam, verschwand er in ihrem Zimmer. Skandar setzte sich aufs Sofa und verfolgte den Vorbericht, der jetzt richtig spannend wurde.

Ein Reporter interviewte einen ehemaligen Chaos-Pokal-Gewinner direkt vor den Startboxen. Skandar stellte den Ton lauter.

„Glauben Sie, dass wir heute ein paar starke Elementarkämpfe sehen werden?“ Die Wangen des Reporters waren vor Aufregung gerötet.

„Oh, ganz bestimmt“, erwiderte der Reiter und nickte bekräftigend. „Die Fähigkeiten der Teilnehmer sind wirklich bunt gemischt, Tim. Viele Leute richten ihre Erwartungen auf die Feuerkräfte von Federico Jones und Abendrot, aber was ist mit Ema Templeton und Gipfelsturm? Sie sind zwar luftverbündet, verfügen aber über viele Talente. Die Zuschauer vergessen oft, dass die besten Chaos-Pokal-Reiter in allen vier Elementen glänzen – nicht nur in ihrem verbündeten Element.“

Die vier Elemente. Sie bildeten den Kern der Einhornprüfung. Skandar hatte viele Stunden lang gebüffelt, welche berühmten Einhörner und Reiter mit Feuer, Wasser, Luft oder Erde verbündet waren und welche Angriffs- und Verteidigungsstrategien sie in Luftschlachten bevorzugten. Plötzlich spürte Skandar ein nervöses Kribbeln im Bauch. Die Prüfung war schon übermorgen.

Dad kehrte mit gerunzelter Stirn zurück. „Sie kommt gleich“, murmelte er und setzte sich neben Skandar auf das abgewetzte Sofa.

„Für euch Kinder ist es schwer, das richtig zu verstehen.“ Er seufzte und starrte auf den Bildschirm. „Aber vor dreizehn Jahren, als meine Generation zum ersten Mal den Chaos-Pokal gesehen hat, war es eine unglaubliche Sensation, dass die Insel überhaupt existiert. Ich war damals schon zu alt, um ein Reiter zu werden. Aber das Rennen, die Einhörner, die Elemente … für uns war das einfach magisch – für mich und für eure Mum.“

Skandar hielt ganz still und wagte nicht, den Blick vom Fernseher zu lösen, als die Einhörner in die Arena trabten. Nur am Tag des Chaos-Pokals sprach Dad von ihrer Mutter. An seinem siebten Geburtstag hatte Skandar es aufgegeben, ihn nach ihr zu fragen – damals hatte er begriffen, dass es seinen Dad nur aus der Fassung brachte und aufwühlte und er anschließend tagelang in seinem Zimmer verschwand.

„Ich habe eure Mum nie so aufgeregt erlebt wie am Tag des ersten Chaos-Pokals“, fuhr Dad fort. „Sie saß genau da, wo du jetzt sitzt, hat gelacht und geweint und dich in ihren Armen gewiegt. Da warst du gerade mal ein paar Monate alt.“

Skandar kannte die Geschichte, aber das machte nichts. Kenna und er konnten nie genug davon bekommen, etwas über ihre Mum zu hören. Früher hatte Grandma – Dads Mutter – ihnen manchmal von ihr erzählt, aber am liebsten mochten sie die Geschichten von Dad, der sie am meisten geliebt hatte. Ab und zu erfuhren sie dabei sogar ein paar neue Details, zum Beispiel, dass Rosemary Smith ihn Bertie genannt hatte und nicht Robert. Dass sie gerne in der Badewanne gesungen hatte, dass ihre Lieblingsblumen Stiefmütterchen waren oder dass ihr das Element Wasser am besten gefallen hatte – im ersten und letzten Chaos-Pokal, den sie je gesehen hatte.

„Ich werde nie vergessen“, fuhr Dad fort und sah Skandar in die Augen, „wie deine Mum nach dem ersten Chaos-Pokal deine kleine Hand genommen, ein Muster auf die Handfläche gezeichnet und geflüstert hat, so leise wie ein Gebet: ‚Ich verspreche dir ein Einhorn, mein Kleiner.‘“

Skandar schluckte mühsam. Diese Geschichte hatte Dad noch nie erzählt. Vielleicht hatte er sie für das Jahr seiner Einhornprüfung aufgehoben. Vielleicht stimmte sie nicht mal. Skandar würde nie erfahren, ob Rosemary Smith ihm wirklich ein Einhorn versprochen hatte, denn drei Tage nachdem das Festland zum ersten Mal ein Einhornrennen gesehen hatte, war seine Mutter ohne jede Vorwarnung gestorben.

Skandar hätte es seinem Dad – und nicht mal Kenna – nie verraten, aber er mochte den Chaos-Pokal auch deshalb so gerne, weil er sich seiner Mum dann nahe fühlte. Er stellte sich vor, wie sie die Einhörner bestaunt hatte, wie die Aufregung in ihrer Brust gekribbelt hatte – genau wie gerade in seiner –, und es war, als wäre sie bei ihm.

Kenna kam mit einer Schale Cornflakes in der Hand ins Zimmer geschlurft.

„Echt jetzt, Skar? Mayo zum Frühstück?“ Sie zeigte auf Skandars verschmierten Teller oben auf dem Geschirrstapel. „Ich hab’s doch schon hundertmal gesagt: Mayonnaise gilt nicht als Lieblingsessen.“

Skandar zuckte mit den Schultern, und Kenna kicherte und quetschte sich neben ihn aufs Sofa.

„Schaut euch mal an, wie viel Platz ihr zwei braucht“, sagte Dad lachend. „Nächstes Jahr sitze ich auf dem Fußboden!“

Skandars Herz zog sich zusammen. Wenn er die Prüfung bestand, würde er nächstes Jahr gar nicht hier sein. Er würde den Chaos-Pokal vor Ort sehen, auf der Insel. Und er hätte ein eigenes Einhorn.

„Na los, Kenna, Karten auf den Tisch! Für wen bist du?“, fragte Dad und beugte sich vor.

Kenna starrte zum Fernseher und kaute missmutig.

„Vorhin hat sie jedenfalls behauptet, Aspen und Nachtfrost hätten keine Chance“, bemerkte Skandar, um seine Schwester aus der Reserve zu locken.

Es klappte. „Nächstes Jahr vielleicht, aber diesmal sieht es für die Wasserkämpfer nicht gut aus.“ Kenna strich sich eine Strähne hinters Ohr, eine Geste, die Skandar so vertraut war, dass sie ihm ein Gefühl der Sicherheit gab. Als würde Kenna es überstehen, wenn Skandar sie nächstes Jahr mit Dad auf dem Sofa alleinließ.

Skandar schüttelte den Kopf. „Ich hab doch gesagt, dass Aspen sich nicht nur aufs Wasser konzentrieren wird! Sie ist schlau – sie wird garantiert auch Luft, Feuer und Erde für ihre Angriffe nutzen.“

„Aber ein Reiter ist nun mal am stärksten in seinem verbündeten Element, Skar. Deshalb heißt es ja so! Wenn Aspen einen Feuerangriff nutzt, ist das kein Vergleich mit dem, was ein echter Feuerkämpfer schaffen könnte!“

„Na schön, was glaubst du denn, wer gewinnt?“ Skandar setzte sich aufrechter hin, während Dad den Ton noch etwas lauter stellte. Die Stimme des Kommentators überschlug sich fast, als die Reiter sich in ihren schimmernden Rüstungen hinter der Startschranke in Position brachten.

„Ema Templeton mit Gipfelsturm“, erwiderte Kenna leise. „Letztes Jahr Zehnte, Luftkämpferin, unglaublich ausdauernd, mutig und intelligent. Sie ist die Art Reiterin, die ich geworden wäre.“

Es war das erste Mal, dass Kenna zugab, dass sie nie eine Reiterin sein würde. Skandar hätte gerne etwas gesagt, aber er wusste nicht, was, und dann war es zu spät. Also lauschte er den Worten, mit denen der Kommentator die Sekunden bis zum Start des Rennens füllte.

„Für alle, die heute zum ersten Mal dabei sind, wir berichten live aus Fourpoint, der Hauptstadt der Insel. Schon in wenigen Augenblicken werden diese Einhörner aus der berühmten Arena herausfliegen und sich auf die Luftrennbahn begeben – einem überaus aufreibenden, sechzehn Kilometer langen Härtetest von Ausdauer und Luftkampffähigkeiten. Die Reiterinnen und Reiter müssen dabei innerhalb der schwebenden Markierungen bleiben, sonst sind sie ausgeschieden – und das ist alles andere als einfach mit vierundzwanzig Konkurrenten, die einen mit Elementarmagie angreifen und bei jeder Wende zu verlangsamen versuchen … Oh, da läuft auch schon der Countdown! Fünf, vier, drei, zwei und … Los geht’s!“

Skandar beobachtete gebannt, wie die fünfundzwanzig Einhörner, jedes von ihnen doppelt so groß wie ein Pferd, vorwärts schossen, sobald sich die Startschranke über ihre Köpfe hob. Die Reiter stießen in den glänzenden Rüstungen klirrend mit ihren Beinen gegen die ihrer Mitstreiter, während sie ihre Einhörner vorwärtstrieben, um einen frühen Vorsprung zu gewinnen, sich tief in den Sattel beugten und Geschwindigkeit aufnahmen. Und dann kam Skandars Lieblingsmoment. Die Einhörner breiteten ihre großen gefiederten Flügel aus, erhoben sich in die Luft und ließen den Sand der Arena weit unter sich zurück. Die Mikrofone nahmen auf, wie die Reiter sie durch ihre Helme anspornten. Und sie nahmen noch etwas anderes auf – ein Geräusch, bei dem es Skandar noch immer kalt über den Rücken lief, obwohl er es jedes Jahr beim Rennen hörte. Das kehlige Bellen tief aus der Brust der Einhörner – furchterregender als das Brüllen eines Löwen, älter und ursprünglicher als alles, was er je auf dem Festland gehört hatte. Ein Geräusch, vor dem man eigentlich nur weglaufen wollte.

Die Einhörner rangen in der Luft um die beste Position, ihre eisernen Rüstungen klirrten und quietschten. Die Spitzen ihrer Hörner blitzten im Sonnenlicht, während sie versuchten, ihre Rivalen zu durchbohren. Schaum trat ihnen vor die malmenden Zähne, und ihre Nüstern leuchteten rot. Nun, da sie in der Luft waren, füllte Elementarmagie den Himmel: Feuerbälle, Staubstürme, Blitze, Wasserwände. Die Luftschlacht tobte vor einem Hintergrund aus flaumig weißen Wolken. Die rechten Handflächen der Reiter glühten vor Elementarmagie, während sie sich verbissen auf der Rennstrecke vorankämpften.

Und das war alles andere als schön. Die Einhörner traten aus, rissen einander mit den Zähnen Fleisch aus den Flanken und schossen auf die Rivalen in ihrer Nähe. Bereits in der dritten Minute fing die Kamera ein Einhorn und seine Reiterin ein, die spiralförmig abwärts taumelten. Ein Arm hing schlaff an ihrem Körper, und die Flammen ihrer Haare loderten, während sie eine Bruchlandung machten. Von einem der Flügel des Einhorns und dem blonden Schopf der Reiterin stieg Rauch auf.

Der Kommentator stöhnte. „Oh je, Hilary Winter und Schwertlilie sind für dieses Jahr aus dem Chaos-Pokal ausgeschieden. Das sieht nach einem gebrochenen Arm aus, ein paar üblen Verbrennungen und einem verletzten Flügel.“

Die Kamera schwenkte zurück auf die Reiter an der Spitze. Federico Jones und Abendrot lieferten sich eine unerbittliche Luftschlacht mit Aspen McGrath und Nachtfrost. Aspen hatte einen Eisbogen heraufbeschworen und feuerte Pfeil um Pfeil gegen Federicos gepanzerten Rücken, um ihn aufzuhalten. Federico brachte die Pfeile mit einem Flammenschild zum Schmelzen, doch Aspen zielte gut, und Nachtfrost holte auf. Während Aspen mit Frost immer näher rückte, explodierten plötzlich Flammen in der Luft über ihrem Kopf.

„Eine Wildfeuerattacke von Federico!“ Der Kommentator klang beeindruckt. „Eine enorme Leistung bei der Höhe und Geschwindigkeit. Aber – oh, wow! Sehen Sie sich das an!“

Eine Wolke aus Eiskristallen fügte sich zu einem Netz um Nachtfrost und Aspen, bis sie sich in einem gefrorenen Kokon befanden, so dick, dass das Wildfeuer ihnen nichts anhaben konnte. Skandar hörte Federicos enttäuschten Schrei, als er mit Abendrot nach der kräftezehrenden Attacke zurückfiel und Aspen aus ihrer Eishülle brach und sie überholte.

„Vorne an der Spitze jetzt Tom Nazari auf Teufelsträne, gefolgt von Ema Templeton auf Gipfelsturm. Auf Platz drei Alodie Birch mit Schilfspringer und dahinter das unglaubliche Luft-Wasser-Gespann Nachtfrost und Aspen McGrath auf Platz vier … Aber es sieht so aus, als hätte Aspen noch etwas vor“, unterbrach sich der Kommentator mit erhobener Stimme. „Sie wird schneller!“

Aspens rotes Haar flatterte im Wind, während Nachtfrost einen unglaublichen Sprint hinlegte und mit wirbelnden Flügeln Schilfspringer zur Seite drängte. Ein Blitz verfehlte Aspen nur um Zentimeter. Dann rauschten Frosts graue Flügel an Kennas Liebling Gipfelsturm vorbei und dann an Tom Nazaris schwarzem Einhorn Teufelsträne. Aspen war in Führung!

„Yeah!“ Skandar boxte in die Luft – eine für ihn völlig untypische Geste, aber das hier war einfach unglaublich – unfassbar!

„So was habe ich noch nie gesehen!“, jubelte der Kommentator. „Sehen Sie, wie weit sie vorne liegt!“

Kenna japste und starrte die Einhörner an, die sich der Ziellinie näherten. „Ich fass es nicht!“

„Sie gewinnt mit einem Vorsprung von über einhundert Metern!“, quiekte der Co-Kommentator.

Mit offenem Mund sah Skandar zu, wie Nachtfrosts Hufe im Sand der Arena landeten. Aspen trieb ihn mit wildem Blick weiter bis durch den Zielbogen.

Skandar sprang glücklich auf und ab. „Sie haben gewonnen. Sie haben gewonnen! Siehst du, Kenna, ich hab’s doch gesagt. Ich hab’s gesagt!“

Kenna lachte, und ihre Augen glänzten, was den Triumph sogar noch besser machte. „Ist ja gut, Skar. Die zwei waren echt beeindruckend, das muss ich zugeben. Die Nummer mit den Eiskristallen war so was von clever! Ich habe noch nie gesehen, wie …“

„Pscht, seid mal still.“ Dad beugte sich näher zum Bildschirm. „Irgendwas stimmt da nicht.“

Skandar rückte links neben ihn, Kenna rechts. Skandar konnte die Menge schreien hören, aber nicht mehr vor Aufregung. Sondern vor Angst. Es kamen keine weiteren Einhörner mehr durch den Zielbogen. Die Kommentatoren schwiegen, die Kamera hielt still – es gab nur ein Standbild der Arena, als hätten die Kameraleute ihre Posten verlassen.

Ein einzelnes Einhorn landete in der Mitte der Arena. Es sah anders aus als die anderen – nicht wie Abendrot oder Nachtfrost oder Gipfelsturm –, deren Siegesparade es unterbrochen hatte. Seine Flügel waren beinahe federlos – fledermausartig –, und es war halb verhungert und abgemagert bis auf die Knochen. Seine Augen waren unheimliche rote Schlitze. Sein Kiefer war blutverkrustet, und es zeigte den Reitern die gebleckten Zähne, als wollte es sie zum Angriff herausfordern.

Doch erst als Skandar das durchsichtige Horn bemerkte, begriff er.

„Das ist ein wildes Einhorn“, flüsterte er. „Wie in dem alten Video, das die Insel dem Festland gezeigt hat. Das, mit dem die Festländer vor Jahren überzeugt wurden, dass es Einhörner wirklich gibt. Das, in dem das Dorf angegriffen wurde …“

„Irgendwas stimmt da nicht“, wiederholte Dad.

„Es kann kein wildes Einhorn sein“, widersprach Kenna. „Es hat einen Reiter.“

Den Menschen auf seinem Rücken – es musste ein Mensch sein – hatte Skandar noch gar nicht bemerkt. Der Reiter trug einen wehenden schwarzen Umhang mit zerfleddertem Saum, der in der Brise flatterte. Ein breiter weißer Streifen lief von seinem Hals bis hoch zum Scheitel und endete in kurzen dunklen Haaren.

Das Einhorn bäumte sich auf, schlug die Hufe in die Luft und schnaubte dichten schwarzen Rauch aus. Sein Phantomreiter brüllte triumphierend, das Einhorn wieherte, und die Arena füllte sich mit Qualm. Skandar sah, dass das Einhorn auf die Teilnehmer des Chaos-Pokals zutänzelte, Funken stoben um seine Hufe, und ein weißer Strahl stieg von der Handfläche des Reiters auf und erhellte den Bildschirm. Einen Moment, bevor das Bild in schwarzem Rauch versank, drehte sich der Reiter um und reckte langsam und entschieden einen langen knochigen Finger direkt in die Kamera.

Dann gab es kein Bild mehr, nur noch Ton. Explosionen von Elementarmagie, wiehernde Einhörner, das Geschrei der Menge und unverkennbar das Getrappel der Inselbewohner, die versuchten, aus der Arena zu fliehen. Während sie an der Kamera vorbeirannten, vermischten sich ihre Stimmen, und Skandar fing einen Ausruf auf, der immer wieder panisch wiederholt wurde.

„Der Weber …“

Skandar hatte noch nie vom Weber gehört, doch je öfter sein Name geflüstert, geschrien, gekreischt wurde, desto mehr Angst jagte er ihm ein.

Er drehte sich zu Dad um, der immer noch ungläubig den wirbelnden schwarzen Rauch auf dem Bildschirm anstarrte. Kenna kam Skandar mit der Frage zuvor. „Dad“, begann sie eindringlich, „wer ist der Weber?“

„Schh.“ Er machte eine abwehrende Handbewegung. „Es passiert was.“

Die Sicht wurde klarer, der Rauch lichtete sich. Eine im Sand kniende Gestalt gab einen Laut von sich, der halb Schrei, halb Schluchzen war. Sie trug noch ihre Rüstung, McGrath stand in blauer Schrift auf ihrem Rücken, und sie war umgeben von den anderen Reiterinnen und Reitern.

„Bitte!“, kreischte Aspen durch die Arena. „Bitte, bring ihn zurück!“

Federico Jones – der den erbitterten Wettkampf längst vergessen zu haben schien – half Aspen auf die Beine, doch sie schrie weiter: „Der Weber hat ihn geholt. Er ist weg! Wir haben gewonnen, und der Weber …“ Dann versagte ihr die Stimme. Tränen liefen ihr über das rußige Gesicht.

Eine scharfe Stimme ertönte wie ein Peitschenhieb. „Kameras aus, auf der Stelle! Das Festland darf das nicht sehen. Abschalten, sofort!“

Die Einhörner stimmten ein ohrenbetäubendes Gekreisch und Gebrüll an. Ihre Reiter schwangen sich in die Sättel und versuchten, sie zu beruhigen, während die Tiere sich aufbäumten und ihnen Schaum vor die Mäuler trat – so monströs hatte Skandar die Einhörner noch nie wahrgenommen.

Von den fünfundzwanzig Teilnehmern stand nur eine einzige Reiterin noch im Sand – die siegreiche Wasserkämpferin Aspen McGrath. Doch ihr Einhorn, Nachtfrost, war nirgends zu sehen.

„Wer ist der Weber?“, fragte Kenna noch einmal.

Sie bekam keine Antwort.

ZWEITES KAPITEL

AUSGESPERRT

Miss Buntress, können Sie uns sagen, wer der Weber ist?“

„Warum hat der Weber Nachtfrost entführt?“

„Warum konnte der Weber auf einem wilden Einhorn reiten?“

„Kann der Weber auch aufs Festland kommen?“

„Ruhe!“, brüllte Miss Buntress und massierte sich die Schläfen.

Die Klasse verstummte. Skandar hatte Miss Buntress nie zuvor schreien gehört.

„Ihr seid heute meine vierte Klasse in Einhornkunde“, sagte sie und verschränkte die Arme vor der Brust. „Ich kann euch nur sagen, was ich schon den anderen gesagt habe: Ich weiß nicht, wer der Weber ist. Ich weiß auch nicht, warum der Weber auf einem wilden Einhorn reiten konnte. Und ich habe absolut keine Ahnung, wo Nachtfrost ist.“

Den ganzen Tag hatte niemand über etwas anderes als den Chaos-Pokal gesprochen. Das war nicht ungewöhnlich – schließlich war er das größte Ereignis des Jahres. Diesmal jedoch war alles anders: Die Menschen hatten Angst, besonders die Kinder in Skandars Alter, die am nächsten Tag ihre Einhornprüfung hatten.

„Miss Buntress …“, Maria hob die Hand. „Meine Eltern wollen nicht, dass ich an der Prüfung teilnehme. Sie haben Angst, dass es auf der Insel zu gefährlich ist.“

Einige Kinder nickten bestätigend.

Miss Buntress straffte die Schultern und musterte ihre Schüler, die sandfarbenen Fransen ihres Ponys berührten dabei fast ihre Wimpern. „Abgesehen davon, dass es gesetzliche Vorschrift ist, an der Prüfung teilzunehmen – wer kann mir sagen, was passiert, wenn Maria für ein Einhorn in der Brutkammer bestimmt ist und sie dem Ruf auf die Insel nicht nachkommt?“

Jeder von ihnen hätte die Frage beantworten können, doch Sami meldete sich als Erster. „Wenn Maria nicht da wäre, wenn es schlüpft, könnte sich das Einhorn nicht mit seinem vorbestimmten Reiter verbinden. Es würde wild schlüpfen.“

„Exakt“, erwiderte Miss Buntress. „Und es würde so werden wie die schreckliche Kreatur, die ihr beim Chaos-Pokal gesehen habt.“

„Ich hab ja nicht gesagt, dass ich mit meinen Eltern einer Meinung bin!“, beteuerte Maria schnell. „Ich werde die Prüfung natürlich trotzdem …“

Miss Buntress ignorierte sie. „Vor fünfzehn Jahren haben uns die Inselbewohner um Hilfe gebeten, weil sie zu wenige Reiter hatten. Ich verstehe, dass ihr alle beunruhigt seid – das bin ich auch. Aber ich werde nicht zulassen, dass sich einer meiner Schüler aus der Verantwortung stiehlt. Gerade jetzt mit diesem … diesem Weber … ist es wichtiger denn je, dass ihr, falls ihr für ein Einhorn bestimmt seid, es beim Schlüpfen begleitet. Ihr habt nur eine Chance. Das ist euer Jahr.“

„Also, ich glaube ja, dass das Ganze nur ein Witz war“, verkündete Owen in der letzten Reihe. „Wenn ihr mich fragt, war das gar kein wildes Einhorn – da hat nur jemand so getan. Das habe ich im Internet gelesen, und ich …“

„Danke, Owen“, schnitt Miss Buntress ihm das Wort ab. „Das wäre eine Möglichkeit. Und jetzt machen wir mit den Wiederholungsfragen weiter, ja?“

Skandar starrte stirnrunzelnd in sein Lehrbuch. Das konnte doch nicht stimmen. Wenn es nur ein Scherz gewesen war, warum hatten die Inselbewohner dann so verängstigt reagiert? Wie hatte der schwarzgewandete Reiter es mit der Riege der mächtigsten Einhörner der Insel aufnehmen und Nachtfrost stehlen können? Und wer – oder was – war der Weber?

Skandar wünschte, er hätte einen Freund, mit dem er darüber flüsternd Mutmaßungen hätte anstellen können. Stattdessen zeichnete er das mysteriöse wilde Einhorn auf den Rand seines Hefts. Zeichnen war das Einzige, was Skandar wirklich begeisterte, abgesehen von Einhörnern. Für ihn war es ein Weg, sich auf die Insel zu träumen. Sein Skizzenbuch war voller Zeichnungen von kämpfenden Einhörnern und aufbrechenden Einhorneiern. Manchmal zeichnete er aber auch Meereslandschaften, alberne Cartoons über Kenna oder – ganz selten – seine Mum nach der Vorlage eines alten Fotos.

Nicht zum ersten Mal fragte er sich, was sie zu alldem gesagt hätte.

Nach der Schule wartete Skandar – wie üblich – allein am Schultor auf Kenna und blätterte in seinen Notizen aus Einhornkunde. Dann hörte er ein Geräusch, das er überall erkannt hätte: Owens Lachen. Er lachte sehr tief, weil er älter wirken wollte, männlicher. Skandar fand, er klang wie eine heisere Kuh mit Verstopfung.

„Ich hab sie gerade erst bekommen!“, protestierte eine hohe Stimme. „Und ich soll sie mit meinem kleinen Bruder teilen. Ihr dürft sie mir nicht …“

„Schnapp sie dir, Roy!“, bellte Owen.

Roy war einer von Owens Kumpanen.

Owen und Roy hatten einen schmächtigen Jungen aus der Fünften in eine Ecke an der Schulhofmauer gedrängt. Der Junge hatte helle Haut mit Sommersprossen und leuchtend rote Haare, die Skandar an Aspen McGrath erinnerten.

„He!“ Skandar rannte zu ihnen hinüber. Er wusste jetzt schon, dass er es bereuen würde – und vermutlich mit einem Schlag auf die Nase dafür bezahlen würde –, aber er konnte den Jungen nicht Owen überlassen. Außerdem hatte Owen Skandar schon oft auf die Nase geboxt. Er war es gewohnt.

Als er bei ihnen ankam, sah er, dass Roy dem Jungen eine Handvoll Chaos-Karten weggenommen hatte.

WAS hast du gesagt?“ Drohend trat Owen auf Skandar zu.

Skandar gab dem rothaarigen Jungen ein Zeichen, sich zu verstecken. Der Kopf des Jungen verschwand hinter der Mauer.

„Ich, äh, habe nur gedacht, dass du dir vielleicht meine Notizen ausleihen möchtest“, stammelte Skandar und verlor den Mut. Man konnte nicht „He!“ zu Owen sagen und damit davonkommen. Was hatte er sich nur dabei gedacht?

Owen schnaubte, riss Skandar das Heft aus der Hand und reichte es Roy. Sobald seine Hände wieder frei waren, versetzte er Skandar einen Stoß gegen die Schulter.

„Brutkram“, murmelte Roy beim Durchblättern.

„Genau. Also, äh, ich geh dann mal.“ Skandar wich zur Seite, doch Owen bekam das weiße Hemd seiner Schuluniform zu fassen. Skandar konnte das Haargel riechen, mit dem er sich die dunklen Haare absichtlich strubbelig frisierte.

„Du glaubst doch nicht etwa, dass du die Einhornprüfung bestehst, oder?“ Owen machte ein künstlich überraschtes Gesicht. „Oh, du glaubst es wirklich! Ach wie niedlich!“

Roy nickte dümmlich. „Er glaubt es. Hier sind seine Notizen zum Lernen.“

„Wie oft hab ich es dir schon gesagt?“ Owen baute sich dicht vor Skandar auf. „Typen wie du werden keine Reiter. Du bist zu schwach, zu mickrig, zu jämmerlich. Du könntest nie ein Einhorn führen … höchstens einen Pudel. Na los, Skandar, besorg dir einen Pudel, auf dem kannst du reiten. Dann haben wir alle was zu lachen!“

Owen holte gerade zu seinem Abschiedshieb aus, als ihn jemand von hinten packte und heftig zurückzerrte.

Die Schwerkraft konnte Owen offenbar noch weniger leiden als Skandar. Er fiel und landete – BUMMS – auf dem Asphalt.

Hinter Owen stand Kenna. „Verschwinde, oder dir tut gleich noch was anderes weh als der Hintern.“ Ihre braunen Augen blitzten gefährlich, und Skandar spürte Stolz in sich aufsteigen. Seine Schwester war einfach die Beste.

Owen rappelte sich auf, drehte sich um und rannte los. Roy folgte ihm, Skandars Heft in der Hand. Kenna merkte es – „He! Ist das Skandars Heft? Gib es her!“ – und jagte sie dann zum Schultor.

Skandar spähte über die Mauer. „Du kannst jetzt rauskommen.“

Der rothaarige Junge kam mit ängstlicher Miene hervor und setzte sich schüchtern neben Skandar.

„Wie heißt du?“, fragte Skandar freundlich.

„George Norris“, sagte der Junge und wischte sich eine Träne von der Wange. „Ich wünschte, er hätte mir meine Karten nicht weggenommen.“ Er ließ die Füße enttäuscht gegen die Wand rumsen.

„Tja, George Norris, heute ist dein Glückstag, denn …“ – Skandar griff in seinen Rucksack und holte seine eigenen Einhorn- und Reiter-Tauschkarten hervor – „… du darfst dir fünf Karten aussuchen für den fabelhaften Preis von … gar nichts!“

Georges Gesicht hellte sich auf.

Skandar breitete die Karten als Fächer vor ihm aus. „Na los, such dir welche aus.“ Ein glänzender Einhornflügel blinkte im Sonnenlicht.

George ließ sich Zeit. Skandar gab sich Mühe, nicht das Gesicht zu verziehen, als ein Teil seiner kostbaren Sammlung in der Tasche des Jungen verschwand.

„Oh, und falls Owen dich noch mal bedroht“ – Skandar stand auf – „sag ihm, dass du meine Schwester kennst, Kenna Smith.“

„War das die, die ihn geschubst hat?“, fragte George mit großen Augen. „Die war ganz schön unheimlich.“

„Furchterregend!“, brüllte Kenna, die plötzlich hinter Skandar auftauchte.

Skandar zuckte zusammen. „Argh … was sollte das denn?“

George winkte ihm fröhlich zu. „Mach’s gut, Skandar!“

Kenna reichte Skandar sein Heft. „Hat Owen dich schon wieder auf dem Kieker? Du musst es mir sagen, wenn es wieder so schlimm wird. Zwingt er dich, seine Hausaufgaben zu machen? Hatte er deshalb dein Heft?“

Im Gegensatz zu Dad wusste Kenna genau, dass Owen Skandar schon seit Jahren drangsalierte. Mittlerweile versuchte er, ohne ihre Hilfe damit klarzukommen. Owens Verhalten machte sie traurig, und traurig war sie auch so schon oft genug.

„Ich mach doch nicht seine Hausaufgaben, keine Sorge!“

„Lass uns gehen, zu Hause ist noch so viel zu tun. Dad ist seit dem Chaos-Pokal echt neben der Spur. Gestern hat er ständig gesagt, der Weber hätte ihm seinen einzigen glücklichen Tag gestohlen. Er ist hinterher ja immer schlecht drauf, aber diesmal ist es irgendwie …“

„Noch schlimmer“, beendete Skandar ihren Satz. „Ja, ich weiß, Kenn.“ Dad hatte sich gestern wieder und wieder die Aufnahmen vom Chaos-Pokal angeschaut, gestoppt, zurückgespult und sich immer weiter hineingesteigert. Dann war er aufgestanden und ins Bett gegangen, ohne etwas zu essen oder irgendetwas zu sagen.

„Ich weiß ja, dass du morgen …“ – sie holte kurz Luft, bevor sie es aussprach – „… deine Einhornprüfung hast, aber deshalb bleibt die Welt nicht stehen, weißt du? Wir …“

„Ich weiß.“ Skandar seufzte. Es war unerträglich, wenn Kenna ihm unter die Nase rieb, wie unwahrscheinlich es war, dass er es auf die Insel schaffte. Er konnte es einfach nicht mehr hören, nicht nach der Sache mit Owen und Roy. Die Hoffnung auf Veränderung, auf ein Leben anderswo, hatte das alles überhaupt erst erträglich gemacht. Einhörner bedeuteten ihm alles. Kenna hatte sie verloren, aber Skandar wollte den Traum nicht aufgeben, noch nicht. Nicht, solange …

„Alles okay, Skar?“ Kenna drehte sich zu ihm um. Er war mitten auf dem Bürgersteig stehen geblieben, und ein kleiner Junge mit einem Einhorn-T-Shirt wäre beinahe gegen ihn geprallt.

Skandar setzte sich wieder in Bewegung, doch Kenna ließ nicht locker. „Machst du dir Sorgen, weil die Leute sagen, dass die Insel im Moment nicht sicher ist?“

„Das wird mich bestimmt nicht davon abhalten, mein Glück an der Brutkammertür zu versuchen“, entgegnete Skandar stur.

Kenna pikte ihn in die Seite. „Oh, da ist ja jemand kämpferisch! Als die Spinne in deinem Bett saß, warst du nicht ganz so mutig.“

„Wenn ich ein Einhorn zum Schlüpfen bringe, werde ich dafür sorgen, dass es alle Krabbelviecher vertreibt“, entgegnete Skandar.

Er hatte es scherzhaft gemeint, doch Kennas Gesicht wurde lang, wie immer, wenn sie zu weit ins Einhornthema vordrangen.

Er konnte es immer noch nicht glauben, dass sie die Prüfung nicht bestanden hatte. Sie hatten geplant, es beide zu schaffen, Kenna zuerst und er ein Jahr später. Dad hätte das Geld bekommen, das alle Festlandfamilien erhielten, wenn ihre Kinder auf die Insel zogen, und sie hätten ihn stolz gemacht. Sie hätten ihn wieder gesund gemacht.

„Ich kann heute Abend kochen, wenn du willst“, bot Skandar aus schlechtem Gewissen an, als Kenna den Türcode für ihr Gebäude eingab. Sie nahmen die Treppe. Der Aufzug war schon seit Monaten kaputt, doch niemand reparierte ihn, obwohl Kenna sich mittlerweile zwölfmal bei der Hausverwaltung beschwert hatte.

In der zehnten Etage roch es wie immer nach abgestandenem Rauch und Essig, und eine der Leuchtstoffröhren vor Nummer 207 summte. Kenna schob den Schlüssel ins Schloss, doch die Tür ließ sich nicht öffnen. „Dad hat wieder den Riegel vorgeschoben!“

Kenna rief Dad auf dem Handy an. Einmal, ein zweites Mal. Nichts.

Sie klopfte – und klopfte. Skandar rief durch den Spalt unter der Tür, wobei seine Wange auf der pfützengrauen Fußmatte zu liegen kam. Keine Antwort.

„Es bringt nichts.“ Kenna ließ sich an der Tür zu Boden gleiten. „Wir müssen warten, bis er aufwacht und merkt, dass wir nicht da sind. Irgendwann wird es ihm schon auffallen. Ist ja nicht so, als wäre das noch nie vorgekommen.“

Skandar lehnte sich neben sie an die Tür.

„Willst du noch lernen?“, fragte Kenna. „Ich kann dich abfragen.“

Skandar zog die Augenbrauen hoch. „Bist du sicher …?“

Kenna strich sich eine lose Strähne hinters Ohr und wiederholte die Bewegung, bis die Strähne fest saß, dann drehte sie das Gesicht zu Skandar. Sie seufzte. „Hör zu … ich weiß, dass ich mich mies verhalten habe, seit ich durch die Prüfung gefallen bin.“

„Du hast dich nicht …“, begann Skandar.

„Doch, habe ich“, unterbrach Kenna ihn. „Ich war ein mieser, stinkender Mülleimer, ein richtiger Misthaufen, schlimmer als die stinkigste Kacke im Abflussrohr.“

Skandar musste lachen.

Kenna grinste ebenfalls. „Und das war nicht fair. Denn wenn es andersherum gewesen wäre, hättest du mir bei den Hausaufgaben geholfen und weiter mit mir über Einhörner geredet. Dad hat mal gesagt, dass Mum ein großes Herz hatte – und wenn das stimmt, bist du ihr viel ähnlicher als ich. Du bist ein besserer Mensch als ich, Skar.“

„Blödsinn!“

„Also, willst du jetzt meine Hilfe oder nicht?“ Sie griff nach seiner Tasche und kramte nach dem Lehrbuch mit den vier Elementarzeichen auf dem Einband. Wahllos schlug sie es irgendwo auf. „Beginnen wir mit ein paar kinderleichten Fragen. Warum hat die Insel dem Festland verraten, dass es Einhörner wirklich gibt?“

„Kenn, komm schon! Sei ernst.“

„Ich bin ernst, Skar. Du glaubst, du wüsstest alles, aber die Frage kann man leicht falsch beantworten.“ Die Leuchtstoffröhre über ihnen summte lauter. Skandar war es nicht gewohnt, dass Kenna so gute Laune hatte, schon gar nicht beim Thema Einhörner, also spielte er mit.

„Okay, okay. Es gab nicht genug Dreizehnjährige auf der Insel, die dafür bestimmt waren, ein Einhorn schlüpfen zu lassen, und somit auch die Tür zur Brutkammer öffnen konnten. Deshalb sind immer mehr Einhörner wild geschlüpft – ohne Bindung an einen Menschen –, und die Insel lief Gefahr, von wilden Einhörnern völlig überrannt zu werden. Sie brauchten Kinder vom Festland, die die Tür öffnen konnten.“

„Was war das größte Problem, das sich der Insel stellte, als sie das Festland informierten?“, fragte Kenna und blätterte weiter nach hinten.

„Der Premierminister und seine Berater hielten es für einen Witz, weil man auf dem Festland glaubte, Einhörner wären mythische, harmlose, knuddelige Ponys und …“

„Und?“, hakte Kenna nach.

„Und hätten regenbogenfarbene Kacke.“ Skandar und Kenna grinsten einander an.

Wie alle Festlandkinder kannten sie die Geschichten aus der Zeit, in der man Einhörner noch für Geschöpfe aus Märchen gehalten hatte. Miss Buntress hatte gesagt, damals hätte man sie ausgelacht, wenn sie behauptet hätten, Einhörner gäbe es wirklich. In ihrer allerersten Stunde Einhornkunde hatte sie Beispiele von Gegenständen mit Einhörnern herumgehen lassen: ein rosafarbenes Kuscheleinhorn mit langen Wimpern und einem breiten Grinsen, einen funkelnden Haarreif mit einem silbernen Horn und eine glitzernde Geburtstagskarte mit der Aufschrift: Sei immer du selbst – es sei denn, du bist ein Einhorn. Dann sei immer ein Einhorn.

Und dann hatte sich vor fünfzehn Jahren alles verändert. Kaum waren die Aufnahmen der blutrünstigen wilden Einhörner über die Fernsehschirme der Festländer geflackert, war alles, was mit Einhörnern zu tun hatte, aus den Geschäften verschwunden. Dad sagte, alle hätten Angst gehabt, die wilden Geschöpfe könnten in einem düsteren Schwarm zum Festland fliegen und alle umbringen, die ihnen in den Weg kamen – mit ihren Zähnen und Hufen und Hörnern. In ihrer Panik hatten die Menschen alles aus ihren Häusern verbannt, was mit Einhörnern zu tun hatte – Bilderbücher, Kuscheltiere, Schlüsselanhänger, Partydekoration –, und in riesigen Feuern im Park verbrannt.

Es war keine Überraschung, dass die Eltern nicht gerade begeistert waren, ihre Kinder an einen Ort zu schicken, wo diese Ungetüme frei herumliefen. Skandar hatte alte Zeitungsartikel über Proteste in London und Debatten im Parlament gesehen. Aber die Antwort auf alle Beschwerden war stets dieselbe gewesen: „Wenn wir nicht helfen, werden noch mehr wilde Einhörner zur Welt kommen und uns alle töten.“ Die Menschen forderten, das Festland solle gemeinsam mit den Inselbewohnern kämpfen und die Einhörner töten, doch der Premierminister erklärte, dass kein Einhorn – weder gebunden noch wild – mit einem Gewehr getötet werden konnte.

Er hatte beteuert, wenn das Festland bereit sei zu helfen, sei das für beide Seiten von Vorteil. „Gebundene Einhörner sind anders“, hatte er den Zweiflern versichert. „Denkt an den Ruhm. Wollt ihr nicht, dass eure Kinder Helden werden?“

Dad hatte erzählt, dass die Leute sich nach einer Weile beruhigt hatten. Die Familien vom Festland vermissten ihre Kinder, aber kein Kind kam zu Tode, und niemand wurde mehr von wilden Einhörnern angegriffen. Einmal im Jahr besuchten die Eltern der Einhornreiter die Insel und verbrachten einen Tag mit ihren Kindern, und kein Reiter bat je darum, nach Hause zurückkehren zu dürfen. Die Reiter, die es in den Chaos-Pokal schafften, wurden von Jung und Alt verehrt, sie waren sogar noch berühmter als die Königsfamilie. Ein Reiter zu werden war das, was die meisten Kinder sich wünschten, wenn sie ihre Geburtstagskerzen auspusteten. Langsam, aber sicher waren Einhörner ein Teil des Alltags geworden, und wilde Einhörner wurden kaum noch erwähnt.

Bis jetzt. Bis zum Weber.

„Glaubst du, in der Prüfung kommt auch was über den Weber dran?“, fragte Skandar Kenna, die nun nervös auf und ab lief. „Glaubst du, der Weber war mit dem wilden Einhorn verbunden? Das wäre unmöglich, oder? Ich meine, ein wildes Einhorn ist schließlich wild, weil es sich nicht mit seinem vorbestimmten Reiter verbinden konnte und allein geschlüpft ist …“

Kenna blieb vor ihm stehen, sodass er ihre grauen Kniestrümpfe vor sich sah. „Hör auf, dir Sorgen zu machen. Es wird schon alles gut gehen.“

„Glaubst du wirklich, dass ich ein Reiter werden könnte?“, fragte Skandar, und seine Stimme war kaum mehr als ein Flüstern. Natürlich hatte Kenna keinen Einfluss darauf, ob er bestand, und schon gar nicht darauf, ob es ihm gelang, die Tür zur Brutkammer zu öffnen, wenn er auf der Insel war. Trotzdem war es ihm wichtig, dass sie an ihn glaubte.

„Natürlich!“ Sie lächelte, doch er spürte Tränen hinter den Augen. Er glaubte ihr nicht.

Skandar senkte den Blick. „Ich weiß. Ich bin nichts Besonderes. Ich sehe nicht mal so aus wie die Reiter im Fernsehen. Die sehen alle toll und interessant aus. Ich dagegen … ich hab ja nicht mal eine richtige Haarfarbe!“

„Red keinen Unsinn! Deine Haare sind braun, genau wie meine.“

„Ach ja?“ Skandar seufzte mutlos. „Sind sie nicht eher schlammfarben? Und meine Augen können sich nicht mal entscheiden, ob sie blau oder grün oder braun sind. Und ich habe wirklich Angst vor Spinnen und Wespen und manchmal auch vor der Dunkelheit – nur dann, wenn man nicht die Hand vor Augen sehen kann, aber trotzdem. Welches Einhorn würde sich schon mit mir verbinden wollen?“

„Skandar.“ Kenna kniete sich neben ihn wie früher, wenn sie ihn trösten wollte, als er noch klein gewesen war. Sie waren nur ein Jahr auseinander, aber es hatte sich immer so angefühlt, als wäre Kenna um Jahre älter – bis sie letztes Jahr durch die Prüfung gefallen war. Da hatte er stark sein müssen, und sie war geschrumpft und hatte sich monatelang in den Schlaf geweint. Manchmal hörte er sie nachts noch immer schluchzen. Das Geräusch fand er unheimlicher als tausend blutrünstige Einhörner.

„Skandar“, sagte sie wieder. „Jeder kann ein Reiter werden! Das ist ja das Unglaubliche daran, ein Einhorn schlüpfen zu lassen. Es ist egal, woher du kommst oder wie mies deine Eltern sind oder wie viele Freunde du hast oder wovor du dich fürchtest. Wenn die Insel ruft, musst du ihr antworten. Du brütest eine neue Chance aus. Ein neues Leben.“

„Du klingst schon wie Miss Buntress“, murmelte Skandar und erwiderte ihr Lächeln.

Doch als sie sich gemeinsam durch das Fenster am Ende des Gangs den Sonnenuntergang anschauten, konnte Skandar an nichts anderes denken als daran, dass am nächsten Tag um diese Zeit seine Einhornprüfung vorbei sein würde – und seine Zukunft entschieden.

DRITTES KAPITEL

DIE EINHORNPRÜFUNG

Skandar wurde von einem leisen Rascheln geweckt. Er öffnete ein Auge und sah Kenna im Schneidersitz auf ihrem Bett, einen alten Schuhkarton auf den Knien. Es war nicht irgendein Karton – darin bewahrten sie die Dinge auf, die sie von ihrer Mutter hatten: eine braune Haarspange, eine kleine Einhornfigur, ein Foto von Mum und Dad, die sich schick gemacht hatten, um den Chaos-Pokal zu schauen, eine Geburtstagskarte an Kenna, ein Perlmuttarmband mit fehlendem Verschluss, einen schwarzen Schal mit weißen Streifen an den Enden, einen Schlüsselanhänger aus dem Baumarkt, ein Lesezeichen aus dem Buchladen. Kenna stöberte gerne in der Kiste herum – besonders, wenn sie nervös war. Sie behauptete, die Dinge gäben ihr das Gefühl, sie könne sich an ihre Mum erinnern – an ihr Lächeln, ihren Duft, ihr Lachen.

Skandar hatte keine Erinnerungen an ihre Mum. Er versuchte zu verstecken, dass ihn das traurig machte – die meiste Zeit war Dads Trauer einfach so groß, dass sie die ganze Wohnung einzunehmen schien, die ganze Stadt, die ganze Welt. Und manchmal war auch Kenna traurig, sodass es einfach keinen Platz für Skandars Trauer gab. Vielleicht war es einfacher, seine Gefühle in der Kiste bei ihren Sachen zu lassen und zu versuchen, sie zu vergessen. Aber manchmal, wenn Kenna schlief, nahm er die Sachen heraus, so wie Kenna jetzt. Dann schaffte er ein bisschen Raum für sich, um traurig zu sein. Um sie zu vermissen. Und um sich zu wünschen, dass seine Mum ihn vor dem wichtigsten Tag seines Lebens ganz fest umarmte.

„Kenn?“ Skandar flüsterte, um sie nicht zu erschrecken.

Kennas Wangen wurden rot, und sie schloss hastig den Karton und schob ihn unter ihr Bett. „Was?“

„Heute ist es so weit …“

Kenna lachte, doch ihre Augen waren traurig. „Ja, Skar.“ Sie legte die Hände vor den Mund und trötete wie eine Trompete. „Einhornprüfungstag für Skandar Smith!“

„Kenna! Hilf mit beim Überraschungsfrühstück für Skandar!“, dröhnte Dads Stimme durch die Wand.

Kenna grinste. „Unglaublich, dass er sich daran erinnert.“

„Unglaublich, dass er wach ist!“ Irgendwann hatte Dad sie gestern doch noch hereingelassen, war aber kaum in der Lage gewesen, ihnen ins Gesicht zu sehen.

Kenna zog sich in Windeseile an. „Tu überrascht, okay?“ Ihre Augen leuchteten wie immer, wenn Dad unerwartet einen guten Tag hatte.

Skandar lächelte und spürte die leise Hoffnung, dass der Prüfungstag vielleicht doch nach seinen Wünschen verlaufen könnte. „Na klar.“

Eine Stunde später, nach einem Frühstück aus hartgekochten Eiern und verbranntem Toast, von dem Skandar behauptet hatte, dass es einfach himmlisch sei, begleitete Dad ihn den ganzen Weg vom zehnten Stock hinunter zur Haustür. Skandar konnte sich nicht erinnern, dass er das je getan hatte – nicht mal am Tag von Kennas Prüfung. Allerdings hatte Dad sich schon den ganzen Morgen ziemlich merkwürdig verhalten. Glücklich, aufgeregt, aber irgendwie auch … angespannt. Er hatte drei Eier fallen lassen und einen halben Liter Milch verschüttet. Auf dem Weg nach unten war er auf der letzten Stufe gestolpert und wäre beinahe auf der Nase gelandet.

„Ist alles in Ordnung, Dad?“ Kenna legte ihm besorgt eine Hand auf den Arm.

„Ich bin ein bisschen ungeschickt heute Morgen, was?“ Dad versuchte zu lachen und wischte sich den Schweiß von der Stirn. Dann zog er Skandar fest an sich. „Du schaffst das, Skandar“, murmelte er in die Haare über seinem Ohr. „Und wenn irgendjemand versucht, dich von der Prüfung abzuhalten …“

Skandar zog ruckartig den Kopf zurück. „Warum sollte das jemand tun?“

„Na … nur für den Fall. Du musst die Prüfung durchziehen, Skandar. Für deine Mum, das hätte sie sich gewünscht, ganz egal, was passiert. Es war ihr großer Traum, dass du ein Reiter wirst.“ Skandar spürte Dads zitternde Hand an der Schulter.

„Ich weiß.“ Skandar starrte Dad ins Gesicht und suchte nach einem Anhaltspunkt. „Natürlich ziehe ich die Prüfung durch, Dad. Was denkst du denn? Du bist so hibbelig – du machst mich ganz nervös!“

„Viel Glück, mein Sohn.“ Sein Dad klang gar nicht wie er selbst, als er sich verabschiedete. „Ich bin mir sicher, dass das Reiterverbindungsamt um Mitternacht bei uns klopfen wird.“

Verstört warf Skandar einen Blick über die Schulter und sah ein letztes Mal den erhobenen Daumen seines Vaters. Er versuchte, sich auf Dads Worte zu konzentrieren. Heute um Mitternacht würden die aussichtsreichsten Kandidaten abgeholt werden, damit sie morgen, am Tag der Sommersonnenwende, pünktlich zum Sonnenaufgang an der Tür der Brutkammer waren.

In der warmen Junisonne gingen Skandar und Kenna nebeneinander auf das Schultor zu. Kenna setzte gerade dazu an, Skandar alles Gute zu wünschen, als er plötzlich Panik bekam. Er hatte sie noch nicht gefragt, was er sie schon seit Tagen fragen wollte.

„Kenna …“ Er umklammerte ihren Arm und starrte zu Boden. „Du wirst mich doch nicht hassen, oder? Du wirst mich nicht hassen, wenn ich ein Reiter werde?“

Noch bevor er seiner Schwester ins Gesicht sehen konnte, hatte sie schon den Arm um ihn geschlungen, wobei ihre Tasche zur Seite schaukelte und sie beinahe aus dem Gleichgewicht kam. „Ich könnte dich niemals hassen, Skar. Du bist mein Bruder.“ Sie wuschelte ihm durchs Haar. „Ich hatte meine Chance, und es hat nicht geklappt. Ich wünsche es dir von Herzen. Und außerdem“ – sie ließ ihn los – „wenn du berühmt wirst, werde ich auch berühmt und lerne dein Einhorn kennen. Also hab ich auch was davon, stimmt’s?“

Skandar erwiderte ihr Lächeln, dann reihte er sich in die Schlange vor der Turnhalle ein, wo die Einhornprüfung stattfinden sollte. Seine Mitschüler hielten Lernkarten in den Händen und murmelten Namen einstiger Chaos-Pokal-Sieger oder Feuerattacken vor sich hin. Andere unterhielten sich nervös, während sie darauf warteten, dass Miss Buntress die große Metalltür öffnete.

„Ich kann immer noch nicht glauben, dass wir gleich einen echten Reiter sehen!“, rief Mike seiner Freundin Farah zu, die ein Stück hinter Skandar stand. „So richtig in echt!“

„Ich wette, die Christchurch-Gesamtschule bekommt mal wieder keinen anständigen Reiter ab“, gab Farah seufzend zurück. „Es gibt so viele Schulen, und bei unserem Glück kriegen wir irgendeinen Reiter im Rentenalter oder einen, der nie über das Training hinausgekommen ist.“

Ob im Rentenalter oder nicht, die Besucher von der Insel sorgten jedes Jahr für Wirbel in der Christchurch-Gesamtschule. Es war einfach unvorstellbar, dass ein Mensch, der auf einem Einhorn reiten und Elementarzauber ausüben konnte, eben erst – vor wenigen Minuten – über diesen Flur gegangen war, genau zwischen den grässlichen Gemälden der Siebtklässler von Van Goghs Sonnenblumen an der einen Wand und der Liste für die Trompeten-AG an der anderen.

„Viel Glück, Skandar!“, rief George, der kleine Rothaarige, auf dem Weg zu seiner Klasse. Skandar schenkte ihm ein schwaches Lächeln und bemühte sich, den Knoten in seinem Magen zu ignorieren.

Ein aufgeregtes Tuscheln erfasste die Schlange, während sie weiter vorrückten. Miss Buntress ließ alle einzeln in die Turnhalle eintreten und hakte ihre Namen ab. Als Skandar bei ihr ankam, starrte sie ihn erschrocken an, wenn nicht gar entsetzt.

„Was machst du denn hier, Skandar?“, zischte sie, und ihre Brille rutschte ihr auf die Nasenspitze.

Skandar erwiderte ihren Blick sprachlos.

„Du solltest heute gar nicht kommen.“

„Aber heute ist doch die Einhornprüfung!“ Beinahe musste er lachen. Er wusste, dass Miss Buntress ihn mochte, sie gab ihm immer gute Noten und hatte in seinem letzten Zeugnis geschrieben, dass er beste Chancen habe, es auf die Insel zu schaffen. Das musste ein Witz sein.

„Geh nach Hause, Skandar“, drängte sie. „Du solltest nicht hier sein.“

„Ich bin aber hier“, entgegnete Skandar. „So steht es im Abkommen.“ Für den Fall, dass das hier eine Art Test war, um in den Prüfungsraum zu kommen, zitierte er: „Das Festland verpflichtet sich, alle Dreizehnjährigen der durch einen Reiter überwachten Einhornprüfung zu unterziehen und erfolgreiche Kandidaten am Tag der Sommersonnenwende an die Insel zu übergeben.“

Miss Buntress schüttelte den Kopf.

Plötzlich fielen Skandar Dads Worte wieder ein: „Und wenn irgendjemand versucht, dich von der Prüfung abzuhalten …“ Er hatte ein seltsames Gefühl in der Brust, als wäre etwas in ihm, das seine Lunge bei jedem Atemzug nach unten riss. Skandar drehte sich zur Turnhalle. Der Reiter, der zur Überwachung der Prüfung geschickt worden war, musste schon da sein. Wenn Miss Buntress sich weigerte, Skandar hereinzulassen, verstieß sie gegen das Gesetz. Er könnte versuchen …

Doch Miss Buntress war schneller als er. Sie baute sich vor ihm auf und stemmte die Hände gegen den Türrahmen. Skandar merkte, dass die Schüler hinter ihm ungeduldig wurden.

„Ich kann dich nicht an der Prüfung teilnehmen lassen, Skandar.“ Er hatte den Eindruck, dass es ihr leidtat, doch sie wich seinem Blick aus.

„Warum nicht?“, war das Einzige, was er herausbrachte. Sein Kopf war leer und wirr.

„Anweisung vom Reiterverbindungsamt. Von ganz oben. Ich weiß nicht, warum – sie haben es nicht gesagt –, aber ich darf dich nicht reinlassen, sonst verliere ich meinen Job. Sie haben auch deinen Vater angerufen. Er sollte eigentlich dafür sorgen, dass du zu Hause bleibst.“

Die ungeduldigen Stimmen von Skandars Mitschülern wurden lauter. „Es ist gleich halb neun, Miss Buntress!“

„Sollen wir nicht alle gleichzeitig anfangen?“

„Was ist denn los?“

„Wer hält die Schlange auf?“

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