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Sommer unseres Lebens

hier erhältlich:

Claire ist ganz hingerissen von ihrem neuen Patienten. Der alte George Bellamy ist ein Charmeur und Gentleman, wie er im Buche steht. Darum zögert sie auch nicht, als er sie bittet, ihn den Sommer über an den Willow Lake zu begleiten. Vielleicht wird sie hier in der Abgeschiedenheit der Berge endlich vergessen können, was ihr so schwer auf der Seele liegt.

Georges Enkel Ross ist die mysteriöse Claire nicht ganz geheuer - obwohl sein Herz jedes Mal in Flammen steht, wenn er in ihrer Nähe ist. Er beschließt, sie zu beschatten - nicht ahnend, dass er damit einen Mörder auf ihre Spur bringt, der sie bis in die idyllische Welt am Rande der Berge verfolgen wird.


  • Erscheinungstag: 10.04.2012
  • Aus der Serie: Lakeshore Chronicles
  • Bandnummer: 6
  • Seitenanzahl: 432
  • ISBN/Artikelnummer: 9783862784042
  • E-Book Format: ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Susan Wiggs

Sommer unseres Lebens

Roman

Aus dem Amerikanischen von

Ivonne Senn

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MIRA® TASCHENBÜCHER

erscheinen in der Harlequin Enterprises GmbH,

Valentinskamp 24, 20354 Hamburg

Geschäftsführer: Thomas Beckmann

Copyright © 2012 by MIRA Taschenbuch

in der Harlequin Enterprises GmbH

Titel der nordamerikanischen Originalausgabe:

The Summer Hideaway

Copyright © 2010 by Susan Wiggs

erschienen bei: MIRA Books, Toronto

Published by arrangement with

HARLEQUIN ENTERPRISES II B.V./S.àr.l

Konzeption/Reihengestaltung: fredebold&partner gmbh, Köln

Umschlaggestaltung: pecher und soiron, Köln

Redaktion: Daniela Peter

Titelabbildung: Getty Images, München

Autorenfoto: © by Harlequin Enterprises S.A., Schweiz

Satz: GGP Media GmbH, Pößneck

ISBN (eBook, PDF) 978-3-86278-405-9
ISBN (eBook, EPUB) 978-3-86278-404-2

www.mira-taschenbuch.de

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eBook-Herstellung und Auslieferung:
readbox publishing, Dortmund
www.readbox.net

PROLOG

Korengal-Tal, Provinz Kunar, Afghanistan

Sein Frühstück bestand aus Pommes frites, die schmeckten wie Schuhsohlen. Dazu servierte man Rührei aus Eierkonzentrat, das ihn aus dem in kleine Fächer unterteilten Tablett anstarrte. Sein Becher war mit einer kaffeeähnlichen Substanz gefüllt, die von einem weißlichen Pulver aufgehellt wurde. Um ihn herum herrschte der übliche Kantinen-Lärm.

Am Ende seines zweijährigen Einsatzes fiel es Ross Bellamy schwer, dieses Essen auch nur anzusehen. Er war an seine Grenzen gekommen. Zum Glück war heute sein letzter Tag. Er kam ihm allerdings vor wie jeder andere Tag auch: langweilig und doch angespannt aufgrund der ständig in der Luft liegenden Bedrohung. Das Knistern von Funkgeräten bildete das Hintergrundgeräusch zum Klappern des Bestecks; ein Geräusch, das ihm inzwischen so vertraut war, dass er es kaum noch hörte. Am Kommandostand wartete jemand aus der Dustoff-Einheit darauf, dass das nächste medizinische Evakuierungsteam angefordert wurde. Denn ein Sanitätstrupp wie der von Ross musste jeden Tag, jede Stunde damit rechnen, in den Helikopter zu springen, um zu einem Noteinsatz geflogen zu werden.

Als das Walkie-Talkie losging, das an seiner Hemdtasche klemmte, schob er sein unappetitliches Frühstück ohne einen Blick des Bedauerns zur Seite. Der Ruf war das Signal für die diensthabende Crew, sofort alles stehen und liegen zu lassen – auch die Gabel, mit der man gerade ein Stück undefinierbares Fleisch zum Mund führen wollte. Ein Pokerspiel, bei dem man gerade auf der Gewinnerstraße war. Einen Brief an seine Liebste, der mitten im Satz abgebrochen und vielleicht nie mehr vollendet würde. Ein Traum von zu Hause, wenn man schläft. Ein Mann mitten im Gebet oder erst zur Hälfte rasiert.

Die Rettungshubschraubereinheiten waren stolz auf ihre Reaktionszeiten – fünf bis sechs Minuten vom Alarm bis zum Abheben. Männer und Frauen setzten sich in Bewegung, einige kauten noch, andere trockneten sich nicht mal mehr zu Ende ab, während sie in die Rollen schlüpften, die so hart und ihnen vertraut waren wie ihre Stiefel mit den Stahlkappen.

Ross biss die Zähne zusammen und fragte sich, was der Tag wohl für ihn bereithielt. Er hoffte, dass er ihn überstehen würde, ohne getötet zu werden. Er brauchte seine Entlassung, und er brauchte sie jetzt. Sein Großvater war krank, schon eine ganze Weile. Ross vermutete, dass es wesentlich ernster um ihn stand, als die Familie zugab. Es war schwer, sich seinen Großvater krank vorzustellen. Granddad war immer ein überlebensgroßes Vorbild gewesen. Von seiner Leidenschaft fürs Reisen bis zu seinem herzhaften Lachen, das einen ganzen Saal voller Menschen zum Lächeln bringen konnte. Für Ross war er mehr als ein Großvater. Was während seiner Kindheit geschehen war, hatte ein besonderes Band zwischen ihnen geschaffen, das bis heute ihre Beziehung bestimmte.

Aus einem Impuls heraus schnappte er sich den letzten Brief seines Großvaters und steckte ihn in die Brusttasche seiner Fliegerjacke, sodass er ihn nah am Herzen trug. Dass er diesen Drang verspürte, sah Ross nicht gerade als gutes Omen.

„Gehen wir, Leroy!“, sagte Nemo, der Crew Chief der Einheit. Dann sang er wie immer die ersten Zeilen von Get up Offa That Thing von James Brown.

Die Wege in der Army waren genauso unergründlich, wie man es von Gottes Wegen sagte, und so hatte Ross hier den Spitznamen Leroy verpasst bekommen. Es hatte angefangen, als sein Platoon ein wenig – viel zu wenig – über seinen familiären Hintergrund erfahren hatte. Die hochtrabenden Schulen, die Ivy League, die berühmte Familie – das alles hatte ihn zum perfekten Ziel für ihren Spott gemacht. Nemo hatte ihn „Little Lord Fauntleroy“ genannt, nach Der kleine Lord. Daraus war dann Leroy geworden und bis heute geblieben.

„Ich bin dabei.“ Ross ging mit großen Schritten in Richtung Helipad. Ranger und er würden den Vogel heute fliegen.

„Viel Glück mit dem FNG!“

FNG stand für „Fucking New Guy“ und bedeutete, dass Ross einen Neuling an Bord haben würde. Er schwor sich, nett zu ihm zu sein. Denn wenn es die neuen Jungs nicht gäbe, würde er hier für immer festsitzen. Doch laut dem Befehl, den er bekommen hatte, stand er kurz davor, sein „für immer“ endlich zu beenden. In wenigen Tagen war er wieder in den Staaten, vorausgesetzt, er ließ sich heute nicht umbringen.

Der FNG stellte sich als Frau heraus, eine Sanitäterin namens Florence Kennedy aus Newark, New Jersey. Sie hatte den entschlossenen Gesichtsausdruck, der typisch für die Neuen war – eine hauchdünne Maske, die die erbärmliche, die Eingeweide schmelzende Angst überdecken sollte.

„Worauf warten Sie verdammt noch mal?“, wollte Nemo wissen, als er an ihr vorbeiging. „Schaffen Sie Ihren Hintern in die Landezone!“

Sie schien wie erstarrt, ihr Gesicht war ganz blass. Sie machte keinerlei Anstalten, Nemo zu folgen.

Ross durchbohrte sie mit einem Blick. „Nun? Was zum Teufel ist los?“

„Sir, ich … Mir gefällt der Ton nicht, Sir.“

Ross stieß ein kurzes Lachen aus. „Sie stehen kurz davor, in ein Kampfgebiet zu fliegen, und machen sich darüber Gedanken? Soldaten fluchen nun mal, gewöhnen Sie sich dran. Niemand auf der Welt flucht so viel wie ein Soldat – und niemand betet so inbrünstig. Ich weiß nicht, wie Sie das sehen, aber für mich ist das kein Widerspruch. Und für Sie bald auch nicht mehr, glauben Sie mir.“

Sie sah aus, als würde sie gleich anfangen zu weinen. Er wollte etwas sagen, um sie aufzumuntern, aber ihm fiel nichts ein. Seit wann wusste er nicht mehr, wie man nett war?

Seit er zu abgestumpft geworden war, um überhaupt noch etwas zu fühlen.

„Gehen wir“, sagte er also nur und eilte ohne einen Blick zurück weiter.

Der Hauptmann der Bodencrew ratterte die Checkliste runter. Alle kletterten an Bord. Schutzwesten und Helme wurden während des Fluges angelegt, um Zeit zu sparen.

Ross erhielt die Einsatzdetails über den Kopfhörer, während er seine Tabellen durchging. Es war einer der Aufträge, vor denen sie sich am meisten fürchteten – militärische sowie zivile Opfer, und der Feind befand sich immer noch in der Gegend. Apache-Kampfhubschrauber würden die Rettungshubschrauber begleiten, weil das rote Kreuz auf Nase, Tür und Unterseite den Feind nicht im Geringsten interessierte. Die Crew durfte sich davon aber nicht abhalten lassen; sie mussten sich beeilen. Wenn ein Soldat verwundet war, musste er den Schlüsselsatz hören: Dustoff ist unterwegs. Für jemanden, der blutend auf dem Schlachtfeld lag, war das die einzige Hoffnung aufs Überleben.

Innerhalb weniger Minuten waren sie unterwegs in nördlicher Richtung und hielten auf die grünen Berge der Provinz Kunar zu. Als er so mit Höchstgeschwindigkeit über die Landschaft aus zerklüfteten Gipfeln, majestätischen Wäldern und silbern schimmernden Flüssen jagte, fühlte Ross sich angespannt und nervös. Wegen des steten Lärms der Rotorblätter und der strengen Regeln, die während eines Einsatzes galten, beschränkten sie die Unterhaltungen über die Headsets auf das Notwendigste. Sich in unbekannte Gefahren zu stürzen gehörte zu ihrer Routine, doch Ross hatte sich nie richtig daran gewöhnt. Das ist deine letzte Mission, sagte er sich. Vermassel es nicht!

Das Korengal-Tal war einer der schönsten Plätze der Erde. Und einer der gefährlichsten. Manchmal trafen die Helikopter auf Boden-Luft-Raketen, Kanonenfeuer oder zwischen den Berggipfeln gespannte Stolperdrähte, die sie aus der Luft holten. In diesem Moment brach in der wunderschönen Landschaft ein wahres Gewitter an Maschinengewehrfeuer und Unheil verkündenden Rauchwolken aus. Jede von ihnen stand für eine auf die Hubschrauber gerichtete tödliche Waffe.

Der Abstand zwischen dem Aufblitzen des Mündungsfeuers und dem Einschlag war Ross inzwischen in Fleisch und Blut übergegangen. Ein, zwei, drei Herzschläge, und man konnte getroffen werden.

Die Kampfhubschrauber drehten ab, um die Gegenden zu beschießen, aus denen das Mündungsfeuer aufblitzte. Das sorgte für ausreichend Ablenkung, damit die Rettungshubschrauber langsam herunterkommen konnten.

Ross und Ranger, der andere Pilot, konzentrierten sich darauf, die Entfernung zwischen sich und dem Ziel dieses Notrufs zu überwinden. Trotz aller Informationen, die ihnen gegeben worden waren, wussten sie nie, was sie wirklich erwartete. Die Hälfte ihrer Einsätze diente dazu, afghanische Zivilisten und Sicherheitspersonal zu evakuieren. Das Land besaß eine lausige medizinische Infrastruktur, und so kam es, dass sie mal für einen Krankentransport, mal für im Kampf zugezogene Verletzungen, mal für Unfälle und sogar für Hundebisse eingesetzt wurden. Die Einheit von Ross hatte alles gesehen, was es an Pech und Grauen gab. Aber von ihrem Ziel her zu urteilen würde es heute nicht um einen einfachen Krankentransport zur Bagram Air Base gehen. Diese Region war die tödlichste im Land der Taliban und wurde auch „Tal des Todes“ genannt.

Der Helikopter näherte sich dem Aufnahmepunkt und setzte zur Landung an. Die Wipfel der majestätischen Kiefern wankten unter dem Wind des Rotors vor und zurück und boten somit kurze Ausblicke auf das Terrain. Zwischen den Wänden des Tals lag eine Ansammlung von Hütten, deren Dächer aus getrockneter Erde bestanden. Ross sah hin und her eilende Zivilisten und Truppen, einige schwärmten auf der Suche nach dem Feind aus, andere bewachten die Verwundeten und warteten darauf, dass Hilfe eintraf.

Mündungsfeuer blitzte in den Bergen um das Tal herum auf. Ross wusste sofort, dass es unten zu viel Beschuss aus Handfeuerwaffen gab. Sie hatten zu wenige Kampfhubschrauber dabei.

Das Risiko, unter feindlichen Beschuss zu geraten, war groß, und als Pilot musste er eine Entscheidung treffen. Sich zurückziehen und die Crew schützen – oder landen und das Leben der Menschen dort unten retten. Wie immer war es eine quälende Entscheidung, die er aber schnell traf und dann mit eiserner Entschlossenheit durchsetzte. Hier war keine Zeit für lange Überlegungen.

Er lenkte den Hubschrauber nach unten und schwebte so nah er konnte über der Landemarke, doch er konnte nicht landen. Der andere Pilot schüttelte energisch den Kopf. Das Gelände war zu uneben. Sie würden eine Trage hinunterlassen müssen.

Nemo hing an der Lastentür und ließ das Kabel durch seine behandschuhten Hände gleiten. Eine Trage wurde hinuntergelassen, und der erste Soldat – derjenige, der am schlimmsten verwundet war – wurde hineingelegt. Ross hob ab und ließ die Winde die Trage hinaufziehen.

Der Korb war beinahe im Helikopter, als Ross eine frische Rauchwolke entdeckte – ein Raketenwerfer. In einer Höhe von gerade einmal fünfzig Fuß hatte er keine Zeit, ein Ausweichmanöver zu starten. Die Flugabwehrrakete schlug direkt in seinen Helikopter ein.

Ein weißer Blitz schoss durch den Innenraum. Alles regnete auf sie herab – Granatsplitter, Ausrüstung, abgeplatzte Farbe und ein gruseliges Gestöber aus getrocknetem Blut von vorangegangenen Einsätzen. Dann brach ein Feuer aus und schüttelte den Heli durch. Weitere Schüsse durchschlugen die Außenhaut. Der Hubschrauber buckelte und vibrierte, warf Aluminiumteile, Gurte, zerbrochenes Equipment inklusive einiger Funkgeräte von sich, während Ross seinen ersten Notruf an die Jungs im Kommandostand absetzte, die die Mission überwachten.

Er spürte, wie Kugeln in seinen gepanzerten Sitz einschlugen, in die Schutzscheibe vor seinem Gesicht und das obere Fenster. Irgendwas traf ihn im Rücken und ließ ihm den Atem stocken. Stirb nicht, befahl er sich. Wag es ja nicht, zu sterben! Er blieb am Leben, denn wenn er sich töten ließ, würde er alle mit in den Tod reißen. Einen besseren Grund, um am Leben zu bleiben, konnte es im Moment nicht geben.

Er hatte schon mal einen getroffenen Helikopter gelandet, aber nicht unter diesen Bedingungen. Es gab kein Wasser in der Nähe, auf dem er heruntergehen konnte. Er hoffte inbrünstig, dass er ihn auf den Boden bekam, ohne dass noch jemand zu Schaden käme. Er wusste nicht, ob die Crew den Korb inzwischen reingeholt hatte. Doch darüber durfte er nicht mal nachdenken – dass womöglich ein verwundeter Soldat unter seinem sich wild hin- und herwerfenden Heli baumelte.

Ranger versuchte es mit einem anderen Funkgerät. Die rote Spur einer Rauchgranate blühte auf und wurde dann vom Wind fortgetragen. Ross erblickte genau in dem Moment ein Stück flaches Land, als sie von einer weiteren Salve getroffen wurden. Die Verkleidung platzte ab, Stücke trafen ihn an der Schulter, am Helm. Der Helikopter wirbelte herum, als wäre er in einen gigantischen Mixer geworfen worden. Er hatte jegliche Kontrolle über ihn verloren. Sie hatten keinen Auftrieb mehr, nichts. Das Pfeifen und Weinen des sterbenden Choppers erfüllte seinen Kopf.

Als die Erde ihnen entgegenraste, fielen Ross die seltsamsten Dinge auf. Ein ramponiertes Werbeplakat für Babymilch. Ein kaputtes Fußballtor. Der Hubschrauber kreischte auf, als er auf dem Boden aufschlug. Noch mehr der Stahlverkleidung platzte ab. Der Aufprall fuhr Ross in jeden Knochen seines Körpers. Seine Backenzähne schlugen aufeinander. Ein Rotorblatt hatte sich gelöst und mähte alles ab, was ihm in den Weg kam. Ross war auf den Beinen, bevor der Hubschrauber gänzlich zur Ruhe gekommen war. Der Geruch nach JP4-Treibstoff drohte ihn zu ersticken. Er streckte eine Hand aus und packte Rangers Schulter, froh, dass der andere Pilot noch lebte.

Nemo kämpfte mit seinem Gurt, der ihn während der Manöver im Hubschrauber sicherte. Die Gurte hatten sich verheddert, und er hing an einem Hebel fest, der an der aufgerissenen Verkleidung festgemacht war. Ranger kroch zu ihm, um ihm zu helfen. Gemeinsam zogen sie dann den verwundeten Soldaten auf der Trage fort, die zum Glück noch rechtzeitig vor dem Absturz ins Innere des Hubschraubers gezogen worden war.

„Kennedy!“ Ross ließ sich neben ihr auf die Knie fallen. Sie lag seltsam still auf der Seite. „Hey, Kennedy“, sagte er. „Bewegen Sie Ihren Arsch. Bewegen Sie Ihren verfluchten Arsch! Wir müssen hier raus!“

Sei nicht tot, dachte er. Bitte, nicht tot sein! Verdammt, er hasste das! Zu viele Male hatte er einen Soldaten umgedreht, um festzustellen, dass er oder sie nicht mehr zu retten war.

„Ken…“

„Fuck!“ Die FNG schob seine Hand von sich und rappelte sich auf, wobei sie eine ganze Serie an Flüchen ausstieß. Dann konzentrierte sie sich für eine Sekunde auf Ross. Der Ausdruck der Neuen war bereits von ihrem Gesicht verschwunden und durch ein entschlossenes Funkeln in den Augen ersetzt worden. „Hören Sie auf, Zeit zu vergeuden, Chief“, sagte sie. „Sehen wir zu, dass wir hier rauskommen.“

Alle vier krochen geduckt an der Außenwand des zerstörten Helikopters entlang. Einschusslöcher hatten das aufgemalte rote Kreuz und den Heckflügel durchsiebt. Der Boden war übersät von AK-47-Patronen.

Die Apache-Kampfhubschrauber waren in den Jagdmodus übergegangen. Sie suchten den Feind am Boden und erwiderten mit unbarmherziger Härte das Feuer. Damit sorgten sie für eine lang ersehnte Ruhepause für das Rettungsteam. Der andere Hubschrauber hatte entkommen können und setzte derzeit zweifelsohne Notrufe an die Zentrale ab. Überall erhoben sich Säulen aus schwarzem Rauch vom Mörserfeuer.

Ohne Aussicht auf schnelle Evakuierung musste die Crew Deckung suchen, wo sie nur konnte. Mit gesenkten Köpfen trugen sie die Trage im Laufschritt durch den Trümmerhagel zu einem nahe stehenden Haus. Durch eine Wolke aus Rauch und Staub erblickte Ross einen feindlichen Soldaten. In geduckter Haltung und mit einer AK-47 bewaffnet näherte er sich aus der anderen Richtung dem gleichen Haus.

„Ich hab ihn“, bedeutete Ross Nemo und stieß ihn an.

Er wusste, dass er unbewaffnet nur eine Chance gegen einen bewaffneten Gegner hatte: Er musste das Überraschungsmoment nutzen. Das war der Augenblick, wo seine Ausbildung einsetzte. Er näherte sich dem Feind von hinten, ging tief in die Hocke, packte den Kerl an beiden Fußgelenken und zog ihn daran zurück, sodass der Bewaffnete flach aufs Gesicht fiel. Bevor er wusste, wie ihm geschah, hatte Ross seine Handgelenke mit Kabelbindern zusammengebunden, die Waffe konfisziert, und zog ihn mit ins Haus.

Dort fand er eine Gruppe angeschlagener US- und afghanischer Soldaten vor. „Dustoff 91“, stellte Ranger sich vor. „Und leider müsst ihr auf einen anderen Transport warten.“

Der gefangene Soldat stöhnte und wand sich auf dem Fußboden.

„Jesus Christus, wo hast du denn diesen Zug gelernt?“, wollte einer der US-Soldaten wissen.

„Unbewaffneter Kampf – eine Spezialität der Rettungssanitäter“, sagte Nemo, während er Ross zur Hand ging.

Eine wütende Mischung aus Paschtu und Englisch erhob sich. „Wir sind geliefert“, murmelte ein benommener und erschöpfter Soldat. Wie seine Kameraden sah auch er aus, als hätte er seit Wochen nicht gebadet, und um seine Leibesmitte trug er ein Flohhalsband von einem Hund. Das Leben hier an den Außenposten war die reinste Hölle. Der Junge – immer noch mit den runden Wangen der Jugend, aber schrecklich leeren Augen – erzählte mit tonloser Stimme, was geschehen war. Ein Teil von ihm war schon gar nicht mehr hier. Wenn Ross einen Soldaten in diesem Zustand vorfand, fragte er sich oft, ob der fehlende Teil jemals wiederhergestellt werden würde.

„Werfen wir mal einen Blick auf die Verletzten“, schlug Kennedy vor. Sie schien begierig darauf, etwas zu tun, egal was. Ein Soldat brachte sie zu einer Reihe auf dem Boden liegender Menschen. Ein afghanischer Teenager hielt ein iPhone in der Hand und hatte etwas angestimmt, das wie eine Totenklage klang. Ein Mann stöhnte und hielt sich sein verletztes Bein. Einige waren bewusstlos. Kennedy überprüfte ihre Vitalfunktionen und schaute sich verloren um. „Ich brauch etwas, worauf ich schreiben kann.“

Ross nahm einen Stift aus seiner Tasche. „Hier“, sagte er und zeigte auf die nackte Brust des Teenagers.

Sie zögerte, dann fing sie an, auf die Haut des Jungen zu schreiben. Weiteres Gewehrfeuer schlug draußen auf dem Boden ein. Nach einer Zeit, die ihnen wie eine Ewigkeit vorkam, obwohl vermutlich nur zwanzig Minuten vergangen waren, traf eine weitere Dustoff-Einheit ein, ließ einen Sanitäter über die Winde hinunter und flog dann weiter, um einen sicheren Landeplatz zu suchen. In der Hütte ging die Sichtung der Verletzten weiter, wobei alle den Sanitätern halfen, so gut sie konnten.

Ross ging an ein paar Soldaten vorbei, die offensichtlich tot waren. Er empfand nichts. Er ließ es einfach nicht zu. Die Albträume würden später kommen.

„Seht zu, ob ihr die Blutung da gestoppt kriegt“, sagte die neue Sanitäterin und zeigte auf ein weiteres Opfer. „Haltet einfach irgendwas darauf.“

Ross riss einen Ärmel seines Hemdes ab, um eine blutende Wunde zu stillen. Erst als er den Stoff auf den Arm drückte, sah er, dass dieser zu einem alten Mann gehörte, der in den Armen eines Jungen lag, der ihm leise etwas vorsang. Es schien den Verwundeten zu beruhigen, wie Ross bemerkte.

Er musste den Teil von sich finden, der noch etwas fühlen konnte. Er brauchte das, was er in der Art sah, wie die Hand des Jungen die Wange des alten Mannes streichelte. Familie. Sie gab dem Leben einen Sinn. Familie war das Einzige, was zählte, das Einzige, was einen die Bodenhaftung nicht verlieren ließ. Doch außer seinem Großvater hatte Ross auf diesem Gebiet nichts vorzuweisen. Er hasste es, sich so leer und taub zu fühlen.

Das Feuer der Aufständischen klang ab. Zwei weitere Hubschraubercrews trafen mit Tragen ein und liefen über das offene Feld, um zu den anderen zu gelangen. Alle machten sich an die Arbeit und nutzten die kurze Feuerpause, um so viele Verwundete wie möglich zu retten. Sie wurden auf die Tragen geschnallt, auf Ponchos über den Boden gezogen oder in müden Armen getragen. Die, die noch selber gehen konnten, machten sich selber auf den Weg und verursachten Chaos. Der erste Vogel hob schwer beladen ab und taumelte einen Moment wie ein Jahrmarktkarussell in der Luft.

Ross ging im zweiten Heli als Letzter an Bord. Er griff nach einer Klampe, um sich festzuhalten. Das Feuer setzte wieder ein, und die Patronen prallten von den Kufen ab. Der Flug verging in einem Nebel aus Lärm und Staub und Rauch, aber endlich – Gott sei Dank – sah er, wie die Lippen des Piloten die Worte bildeten, auf die sie alle gehofft, für die sie gebetet hatten: Dustoff ist bereit zur Landung.

Sie erreichten den Stützpunkt mit dem letzten Tropfen Treibstoff. Hier übernahm das Bodenpersonal. Ross fand jemanden, der ihm ein wenig Betaisodona und einige Binden gab. Dann ging er hinaus auf das Gelände. Die Sonne brannte ihm auf den nackten Arm, wo er den Ärmel abgerissen hatte. Er war ganz benommen von dem Wissen, einen Ausflug zur Hölle und zurück hinter sich zu haben.

Und es war noch nicht mal Mittag.

Seine Dustoff-Einheit war bekannt für ihre Schnelligkeit und Effizienz, und sie hatten schon viele Leben gerettet. Fünfundzwanzig Minuten vom Schlachtfeld ins Traumazentrum waren der Schnitt. Das war etwas, worauf er mit Stolz zurückschaute, aber jetzt war es an der Zeit, weiterzuziehen. Und er war mehr als bereit dafür.

Die Jungs hatten sich in der Messe versammelt. Zwei weitere Lufteinheiten bereiteten sich darauf vor, wieder auszufliegen.

„Hey, Leroy, Weihnachten kommt für dich dieses Jahr ein bisschen früher!“ Nemo schlang ein zusammengeklapptes Stück Pizza hinunter. „Ich höre, deine Entlassungspapiere sind gekommen.“

Ross nickte. Eine Welle der … nicht wirklich Erleichterung … durchlief ihn. Es passierte wirklich. Er würde endlich nach Hause fliegen.

„Was wirst du mit dir anfangen, wenn du zurück in den Staaten bist?“, fragte Nemo.

Neu anfangen, dachte Ross. Es dieses Mal richtig machen. „Ich habe große Pläne“, sagte er.

„Natürlich.“ Nemo lachte und machte sich auf in Richtung Duschen. „Haben wir die nicht alle?“

Wenn man sich in der Mitte von so etwas wie dem hier befindet, dachte Ross, plant man gar nichts, außer in den nächsten paar Minuten nicht zu sterben. Es war ein unfassbares Gefühl, zu wissen, dass er jetzt weiter denken durfte.

Er erblickte Florence Kennedy im Schatten sitzend. Sie trank aus einer Feldflasche und weinte leise vor sich hin.

„Hey, tut mir leid, wie ich Sie da draußen angeschrien habe“, sagte er.

Sie schaute ihn aus roten Augen an, in denen Tränen schwammen. „Sie haben mir heute den Arsch gerettet.“

„Das ist ja auch ein recht hübscher Arsch.“

„Vorsichtig, wie Sie mit mir reden, Chief! Ihr Mundwerk könnte Sie noch ganz schön in Schwierigkeiten bringen.“ Sie grinste unter ihren Tränen. „Ich bin Ihnen was schuldig.“

„Ich tue nur meinen Job, Ma’am.“

„Klingt so, als dürften Sie nach Hause.“

„Jupp.“

Sie wühlte in ihrer Tasche, zog eine Visitenkarte heraus und kritzelte eine E-Mail-Adresse darauf. „Vielleicht bleiben wir in Verbindung.“

„Vielleicht.“ So funktionierte es nicht, aber sie war noch zu neu, um das zu wissen.

Er drehte die Karte um und betrachtete die gedruckte Seite. „Tyrone Kennedy. Büro des Staatsanwalts von New Jersey“, las er. „Heißt das, ich stecke in Schwierigkeiten?“

„Nein. Aber sollten Sie jemals in New Jersey in Schwierigkeiten stecken, rufen Sie meinen Dad an. Er hat gute Verbindungen.“

„Und doch sind Sie hier.“ Er deutete auf das staubige Gelände. Vielleicht war sie, wie er gewesen war – ziellos, getrieben von dem Wunsch, etwas Bedeutungsvolles zu tun.

Sie zuckte mit den Schultern. „Ich mein ja nur, Sir. Wann immer und wo immer Sie was von mir brauchen, Sie kriegen es.“ Sie schraubte die Feldflasche zu, erhob sich und ging in Richtung Messe. Eine ganz andere Person als die Neue, die er noch vor wenigen Stunden kennengelernt hatte.

Überrascht bemerkte er, dass seine Hände zitterten, als er die Visitenkarte in die Hemdtasche steckte. Außer ein paar Kratzern und blauen Flecken war er nicht verletzt, doch ihm tat alles weh. Seine Nerven lagen blank. Nach dreiundzwanzig Monaten, in denen er sich gegen alle Arten von Schmerzen taub gestellt hatte, fing er jetzt an, wieder alles zu spüren.

1. KAPITEL

Ulster County, New York

G eorge Bellamy kam Claire für einen sterbenden Mann ziemlich fröhlich vor. Im Radio lief gerade die dümmste Sendung, die sie je gehört hatte, eine Plauderstunde namens Hootenanny, und George fand es zum Schreien. Er hatte ein markantes, ansteckendes Lachen, das tief in seinem Inneren zu entstehen schien und sich in alle Richtungen ausdehnte. Es fing als sanfte Vibration an und steigerte sich dann zu einem Ausbruch purer Heiterkeit. Und nicht nur bei der Radiosendung. George hatte vor Kurzem die Nachricht erhalten, dass sein Enkel aus dem Kriegseinsatz in Afghanistan zurückkehren würde, und das steigerte seine Fröhlichkeit noch mehr. Jeden Tag konnte es so weit sein.

Claire hoffte für beide Seiten, dass es nicht mehr lange dauerte.

„Ich kann es kaum erwarten, Ross wiederzusehen!“, sagte George. „Er ist mein Enkel. Er ist gerade aus der Army entlassen worden und soll schon auf dem Rückweg sein.“

„Ich bin sicher, dass er sofort zu Ihnen kommt“, versicherte sie ihm und tat so, als hätten sie das gleiche Gespräch nicht schon vor einer Stunde geführt.

Das Frühlingslaub der Bäume zog in einem verschwommenen Farbrausch an ihr vorbei – das zarte Grün der gerade sprießenden Blätter, die gelben Blüten der Osterglocken, das verschwenderische Lila und Pink der Wildblumen am Straßenrand.

Sie fragte sich, ob er darüber nachdachte, dass das sein letzter Frühling war. Manchmal war die Traurigkeit ihrer Patienten über solche Sachen, die Endlichkeit von allem, unerträglich. Doch im Moment zeigte George keinerlei Anzeichen von Schmerz oder Stress. Auch wenn sie sich gerade erst kennengelernt hatten, spürte sie, dass er einer ihrer angenehmeren Patienten werden würde.

In seinen stilvollen, gebügelten Hosen und dem Golfshirt sah er aus wie jeder gut situierte Gentleman, der ein paar Wochen der Hektik der Großstadt entflieht. Jetzt, wo er alle Behandlungen abgebrochen hatte, wuchs sein Haar glänzend und schneeweiß nach. Er hatte im Moment auch eine sehr gesunde Gesichtsfarbe.

Claire war Privatschwester, die sich auf die palliative Pflege unheilbar Kranker spezialisiert hatte. Durch diesen Beruf lernte sie alle möglichen Menschen kennen – und deren Familien. Auch wenn sie sich hauptsächlich auf den Patienten konzentrierte, kam sie doch nicht umhin, sich auch mit der meist umfangreichen Verwandtschaft zu beschäftigen. Von Georges Familie hatte sie bisher noch niemanden kennengelernt. Seine Söhne lebten mit ihren Familien weit weg. Im Moment gab es also nur sie und George.

Er kam ihr sehr konzentriert und entschlossen vor. Und bisher behauptete er auch, schmerzfrei zu sein.

Sie zeigte auf das Notizbuch in seinem Schoß. Die Seiten waren mit einer altmodischen Schrift bedeckt. „Sie waren sehr fleißig.“

„Ich habe eine Liste erstellt mit Dingen, die ich noch tun möchte. Halten Sie das für eine gute Idee?“, fragte er.

„Ich denke, das ist eine großartige Idee, George. Jeder hat so eine Liste mit Sachen, die er tun muss oder möchte, aber die meisten von uns haben sie hier.“ Sie tippte mit dem Finger an die Schläfe.

„Ich vertrau meinem Kopf dieser Tage nicht mehr“, gab er zu, ein indirekter Hinweis auf seinen Zustand – Glioblastoma multiforme, eine gnadenlos tödliche Krebsform. „Also habe ich angefangen, alles aufzuschreiben.“ Er blätterte durch die Seiten des Buchs. „Es ist eine ganz schön lange Liste“, sagte er beinahe entschuldigend. „Vielleicht schaffen wir nicht alles davon.“

„Wir können nicht mehr tun, als unser Bestes zu geben. Ich werde Ihnen dabei helfen“, sagte sie. „Dafür bin ich ja da.“ Sie ließ ihren Blick über die Straße vor ihnen schweifen. Mit Landstraßen war sie nicht vertraut. Auf ein Mädchen, das in den unruhigen Kleinstädten Jerseys und auf den überfüllten Straßen Manhattans aufgewachsen war, wirkten die waldbedeckten Hügel und felsigen Bergrücken des Ulster County wie eine außerirdische Landschaft. „Es ist gar nicht schlecht, viel zu tun zu haben“, fügte sie hinzu. „So vermeidet man, dass einem langweilig wird.“

Er lachte unterdrückt. „Wenn das so ist, haben wir einen geschäftigen Sommer vor uns.“

„Wir haben genau den Sommer vor uns, den Sie sich wünschen.“

Er seufzte und blätterte weiter. „Ich wünschte, ich hätte an diese Dinge gedacht, bevor ich wusste, dass ich sterben werde.“

„Wir sterben alle irgendwann“, rief sie ihm in Erinnerung.

„Wie bin ich nur an eine Krankenschwester mit einem so unglaublich sonnigen Gemüt geraten?“

„Ich wette, ein sonniges Gemüt würde Sie in den Wahnsinn treiben.“ Sie und George kannten einander zwar noch nicht lange, aber Claire hatte eine Gabe dafür, Menschen schnell zu erkennen. Für sie war das der Schlüssel zum Überleben. Einen Menschen falsch einzuschätzen hatte bereits einmal dazu geführt, dass sie ihr gesamtes Leben hatte ändern müssen.

George Bellamy machte auf sie einen besonnenen und belesenen Eindruck. Dennoch umgab ihn ein Hauch von Einsamkeit, und er schien etwas … zu suchen. Sie hatte noch nicht herausgefunden, was genau. Sie wusste sowieso noch nicht viel über ihn. Er war pensionierter Nachrichtenkorrespondent von einiger Berühmtheit. Er hatte die meisten Jahre seines Erwachsenenlebens in Paris verbracht und die Welt bereist. Doch jetzt, am Ende seines Lebens, wollte er an einen Ort reisen, der nichts gemein hatte mit den Hauptstädten dieser Welt.

Leben endeten in einer ebenso großen Vielfalt, wie sie gelebt wurden – manche still, manche mit Drama und Fanfaren, manche mit einem Gefühl des Abschlusses und viel zu viele mit großem Bedauern. Das war das schleichende Gift, das den Menschen die Freude stahl. Claire war immer wieder fasziniert davon, wie ein im Großen und Ganzen glückliches, erfolgreiches Leben von Reue zerstört werden konnte. Sie hoffte, dass Georges Suche ihn zu einem Ort führen würde, an dem Akzeptanz auf ihn wartete.

Diejenigen, die von ihrem Gebiet der Krankenpflege keine Ahnung hatten, dachten, dass die Sterbenden die Antworten auf die großen Fragen des Lebens hätten. Dass sie weiser oder spiritueller oder irgendwie tiefgründiger wären als die Lebenden. Das war jedoch ein Mythos, wie Claire gelernt hatte. Unheilbar kranke Menschen kamen in allen Sorten vor – weise, dumm, erfüllt von Glück oder Verzweiflung, logisch, verrückt, verängstigt … alles in allem waren die Sterbenden den Lebenden sehr ähnlich. Sie hatten nur ein kürzeres Haltbarkeitsdatum und sahen sich größeren körperlichen Herausforderungen gegenüber.

Die Landschaft wurde immer schöner und idyllischer, als sie sich in nordwestlicher Richtung den Catskills näherten, dem großen Naturschutzgebiet mit seinen reißenden Flüssen und dunklen Wäldern. Nach einer Weile sahen sie den ersten Hinweis auf ihr Ziel. Ein rustikales Schild, auf dem stand: Willkommen in Avalon– eine kleine Stadt mit großem Herzen.

Beinahe unmerklich fasste sie das Lenkrad fester. Sie hatte noch nie zuvor in einer kleinen Stadt gelebt. Bei dem Gedanken, Teil einer gewachsenen, eng zusammenhaltenden Gemeinde zu werden – und sei es noch so vorübergehend – fühlte sie sich ungeschützt und sehr verletzlich. Sie war nicht paranoid – Moment, doch, das war sie. Aber dafür gab es gute Gründe.

Es gab keinen Ort, an dem sie sich wirklich jemals sicher fühlte. Die frühen Tage mit ihrer Mutter, noch bevor der ganze Ärger angefangen hatte, waren schon von Unwägbarkeiten und Unsicherheiten erfüllt gewesen. Ihre Mutter war eine jugendliche Ausreißerin gewesen. Sie war kein schlechter Mensch, aber sie war abhängig. Während eines Drogendeals, der schiefging, war sie auf der South Orange Avenue in Newark erschossen worden und hatte eine stille, zehnjährige Tochter zurückgelassen.

Das Jugendamt veränderte Claires ganzes Leben. Es gibt nicht viele, die das von sich sagen können, aber in diesem Fall war es die Wahrheit. Ihre Sachbearbeiterin, Sherri Burke, stellte sicher, dass sie bei den besten Pflegefamilien des Landes untergebracht wurde. Hier erfuhr sie das erste Mal die Bedeutung von Familienleben, und sie saugte die Lektionen der Leute, die sich aufrichtig um sie kümmerten, auf wie ein Schwamm. Sie lernte, wie es war, Teil von etwas Größerem und Tieferem als nur sich allein zu sein.

Um die Segnungen einer Familie würdigen zu können, musste sie einfach nur zusehen. Sie waren überall – in dem Blick einer Frau, wenn ihr Ehemann abends zur Haustür hiereinkam. In der Berührung einer mütterlichen Hand auf der fiebrig heißen Stirn ihres Kindes. In dem Lachen von Schwestern, die sich einen Witz erzählen, oder dem beschützenden Verhalten eines Bruders, der auf seine Geschwister aufpasste. Eine Familie war ein Sicherheitsnetz, ein weiches Kissen, falls man mal stürzte. Ein unsichtbarer Schild, der die Schläge des Lebens abfing.

Claire wagte es, von einem besseren Leben zu träumen – von der Liebe, von einer Familie. Kindern. Von einem Leben angefüllt mit all den Dingen, die Menschen lächeln ließen und ihnen ein Gefühl der Geborgenheit vermittelten, wenn sie traurig oder verletzt oder verängstigt waren.

Das kann alles dir gehören, versprach das System, solange alles so lief, wie es sollte.

Doch im Alter von siebzehn Jahren änderte sich alles. Sie wurde Zeugin eines Verbrechens und wurde gezwungen, unterzutauchen. Sie musste sich vor jemandem verstecken, dem sie einst ihr Leben anvertraut hatte. Wenn das kein Grund zur Paranoia war …

Eine kleine Stadt wie diese konnte ein gefährlicher Ort sein, vor allem für jemanden, der etwas zu verbergen hatte. Das wusste jeder, der Stephen-King-Romane las.

Nun, im schlimmsten Fall würde sie einfach wieder verschwinden. Darin war sie gut.

Vor langer Zeit schon hatte sie gelernt, dass die Zeugenschutzprogramme, wie man sie aus dem Fernsehen kannte, reine Fiktion waren. Ein einfacher Mord war kein Fall fürs FBI. Und somit kam sie auch nicht für das Zeugenschutzprogramm WITSEC infrage. Was unglücklich war, denn WITSEC war dafür bekannt, ausreichend Mittel zu haben, um seine Zeugen effektiv untertauchen zu lassen und zu schützen.

Die von den einzelnen Bundesstaaten geleiteten Programme hingegen waren eine ganz andere Geschichte. Sie waren komplett unterfinanziert. Den Steuerzahlern gefiel es nicht, ihr Geld für so etwas hinauszuwerfen. Die Mehrzahl der Informanten und Zeugen waren selber Kriminelle, die im Austausch für ihre Immunität vor den Strafverfolgungsbehörden Insiderwissen ausplauderten. Die wirklich Unschuldigen, so wie Claire, waren rar gesät. Oftmals bestand das Zeugenschutzprogramm aus einer Busfahrkarte für eine einfache Fahrt und ein paar Wochen in einem Trailerpark. Danach war der Zeuge auf sich allein gestellt. Und für eine Zeugin wie Claire, deren Situation so gefährlich war, dass sie nicht einmal der Polizei trauen konnte, beruhte das weitere Überleben ganz allein auf Glück.

Inzwischen erschienen ihr die Familien, von denen sie kurze Zeit ein Teil hatte sein dürfen, wie ein ferner Traum oder wie ein Leben, das einer anderen geschehen war. Sie hatte immer geglaubt, eines Tages eine eigene Familie zu haben, aber dieser Traum war in unerreichbare Ferne gerückt. Ja, sie könnte sich verlieben, eine Beziehung haben, sogar Kinder. Aber warum sollte sie? Warum sollte sie etwas in ihrem Leben erschaffen, dass sie lieben würde, nur um es der Gefahr auszusetzen, dass man sie doch irgendwann aufspürte? Da blieb sie lieber eine Randfigur in den Familien anderer Leute. Sie strengte sich so sehr an, damit zufrieden zu sein, und manchmal war sie es auch. Manchmal aber hatte sie das Gefühl, davonzutreiben wie ein Blatt im Wind.

„Gleich haben wir es geschafft“, sagte sie zu George, nachdem sie einen Blick auf das Navi geworfen hatte.

„Sehr gut. Die Reise ist so viel kürzer, als sie mir früher als Junge vorkam. Damals hat jeder den Zug genommen.“

George hatte ihr nicht erklärt, warum genau er sich entschieden hatte, sein Lebensende an diesem speziellen Ort zu verbringen. Genauso wenig hatte er gesagt, warum er die Reise allein antrat. Sie wusste jedoch, dass er es ihr im Laufe der Zeit noch enthüllen würde.

Viele Menschen unternahmen am Ende ihres Lebens noch einmal eine Reise. Normalerweise führte sie an einen Ort, mit dem sie sich eng verbunden fühlten. Manchmal war es der Ort, an dem ihre Geschichte angefangen hatte oder wo sie einen Wendepunkt in ihrem Leben erfahren hatten. Es war oft eine Suche nach Trost und Sicherheit. Oder genau das Gegenteil: ein Ort, an dem es noch etwas zu klären gab. Was dieses verschlafene Städtchen am Willow Lake für George Bellamy war, blieb abzuwarten.

Die Straße folgte dem Lauf eines plätschernden Flusses, den ein Schild als Schuyler River bezeichnete. Seine alte holländische Schreibweise war genauso malerisch wie die überdachte Brücke, die Claire nun entdeckte. „Ich kann nicht glauben, dass es hier noch eine überdachte Brücke gibt! So etwas habe ich bisher nur auf Bildern gesehen.“

„Es gibt sie schon, solange ich mich erinnern kann.“ George beugte sich leicht vor.

Claire schaute sich die Struktur genauer an. Sie war so schlicht und nostalgisch wie ein altes Lied, mit ihrem dunkelrot gestrichenen Holz und den Holzschindeln auf dem Dach. Claire war neugierig auf die Stadt, die ihrem Patienten so viel zu bedeuten schien, und gab ein wenig mehr Gas. Das hier könnte sich zu einem guten Job für sie entwickeln. Vielleicht könnte sie sich in diesem Ort das erste Mal seit Langem ein wenig sicher fühlen.

Sie hatte den Gedanken kaum zu Ende gedacht, da blitzten auch schon die weißblauen Lichter eines Polizeiwagens in ihrem Rückspiegel auf. Eine Sekunde später ertönte das warnende Schrillen der Sirene.

Claire wurde mit einem Mal eiskalt, und alle Farbe wich aus ihrem Gesicht. Sie spürte die alte Panik in sich aufwallen. Am liebsten hätte sie das Gaspedal durchgetreten und wäre mit dem schwerfälligen Wagen davongebraust.

George musste ihre Gedanken gelesen haben – oder ihre Körpersprache. „Eine Verfolgungsjagd steht nicht auf meiner Liste“, sagte er.

„Was?“ Mit nun hektisch roten Wangen und Angstschweiß auf der Stirn nahm sie ihren Fuß langsam vom Gas.

„Eine Verfolgungsjagd“, wiederholte er und betonte jede Silbe, „steht nicht auf meiner Liste. Ich kann fröhlich sterben, ohne je eine erlebt zu haben.“

„Ich fahr doch schon rechts ran! Sehen Sie, wie ich rechts ranfahre?“ Sie hoffte, dass er das Zittern in ihrer Stimme nicht mitbekam.

„Ihre Stimme zittert“, stellte er fest.

„Von der Polizei angehalten zu werden macht mich nervös.“ Was für eine Untertreibung. Ihre Kehle und ihre Brust waren wie zugeschnürt, ihr Herz raste. Sie kannte den klinischen Begriff für ihren Zustand, aber George gegenüber drückte sie sich allgemein verständlich aus. „Das macht mich wahnsinnig.“ Sie hielt auf dem kiesbedeckten Seitenstreifen und stellte die Automatik auf „Parken“.

„Das sehe ich.“ Ganz ruhig zog George einen mit Monogramm versehenen goldenen Geldscheinclip aus seiner Hosentasche. In ihm steckten sorgfältig zusammengefaltete Geldscheine.

„Was tun Sie da?“, fragte Claire und vergaß vorübergehend ihre Anspannung.

„Ich nehme an, er ist auf ein wenig Bestechungsgeld aus. Das ist gängige Praxis in Dritte-Welt-Ländern.“

„Wir sind nicht in einem Dritte-Welt-Land. Ich weiß, es sieht nicht so aus, aber wir befinden uns immer noch im Staat New York.“

Der Streifenwagen, schwarz und glänzend wie ein Jelly Bean, behielt die Lichter an und zeigte somit allen Vorbeifahrenden, dass hier ein Straftäter gefasst worden war.

„Stecken Sie das weg!“, befahl sie George.

Er tat es mit einem Schulterzucken. „Ich könnte meinen Anwalt anrufen“, schlug er vor.

„Ich würde sagen, das wäre etwas übereilt.“ Sie betrachtete den Streifenwagen durch den Seitenspiegel. „Warum brauchen die so lange?“

„Er – oder sie – überprüft das Kennzeichen, um zu sehen, ob es auf der Fahndungsliste steht.“

„Warum sollte es auf der Fahndungsliste stehen?“, fragte Claire. Der Wagen war auf Georges Namen gemietet, und Claire war offiziell als Fahrerin eingetragen worden.

Dennoch machte sie irgendwas an seinem Gesichtsausdruck stutzig. Sie löste den Blick von dem Streifenwagen und schaute ihren Passagier an. „George!“, sagte sie mit einem warnenden Unterton in der Stimme.

„Lassen Sie uns erst einmal hören, was der Officer zu sagen hat“, beschloss er. „Dann können Sie mich anschreien.“

Auch wenn sie den sich nun nähernden Polizisten vorerst nur durch ihren Seitenspiegel sah, erregte er eine unbestimmte Furcht in Claire. Die gestärkte Uniform, die verspiegelte Sonnenbrille, der glatt rasierte, kantige Kiefer und die glänzenden Stiefel weckten in ihr den Wunsch, sich zu verstecken.

„Führerschein und Fahrzeugpapiere.“ Das kam nicht als gebellter Befehl, sondern als höfliche Aufforderung.

Ihre Finger fühlten sich blutleer an, als sie ihm ihren Führerschein reichte. Auch wenn er vollkommen legal war, von dem reflektierenden Wasserzeichen auf der Vorderseite bis zu den Organspendeangaben auf der Rückseite, hielt sie den Atem an, während der Polizist ihn einer eingehenden Musterung unterzog. Sein Namensschild identifizierte ihn als Rayburn Tolley vom Avalon Police Department. George reichte ihr die Mappe, in der sich die Unterlagen der Mietwagenfirma befanden, und sie reichte die Mappe an den Polizisten weiter.

Claire biss sich auf die Wange. Sie wünschte, sie wäre nicht hierhergekommen. Das war ein ganz großer Fehler.

„Wo ist das Problem?“, fragte sie Officer Tolley. Die Nervosität in ihrer Stimme war unverkennbar, was sie ärgerte. Egal, wie viel Zeit vergangen war, egal, wie oft sie schon mit Polizisten zu tun gehabt hatte, sie würde ihre Angst vor ihnen nie mehr loswerden. Manchmal weckte sogar der Anblick eines Schülerlotsen die Panik in ihr.

Er schaute grimmig auf ihre Hand, die zitterte. „Sagen Sie es mir.“

„Ich bin nervös“, gab sie zu. Im Laufe der Jahre hatte sie gelernt, wann immer möglich die Wahrheit zu sagen. Es machte das Lügen einfacher. „Nennen Sie mich verrückt, aber es macht mich nervös, wenn ich von der Polizei rausgewinkt werde.“

„Ma’am, Sie haben die Geschwindigkeitsbegrenzung überschritten.“

„Wirklich? Es tut mir leid, Officer, das habe ich gar nicht bemerkt.“

„Wo wollen Sie hin?“, wollte er wissen.

„Ins Camp Kioga am Willow Lake“, schaltete George sich ein. „Und wenn sie zu schnell gefahren ist, ist das meine Schuld. Ich bin sehr ungeduldig, ganz zu schweigen davon, dass ich sie ständig ablenke.“

Officer Tolley beugte sich leicht vor und warf durch das Fenster in der Fahrertür einen Blick auf den Beifahrersitz. „Und Sie sind …“

„Langsam fühle ich mich von Ihnen belästigt.“ George klang rechtschaffen empört.

„Sie sind nicht zufällig George Bellamy, oder?“, fragte Tolley.

„Der bin ich tatsächlich“, bestätigte George. „Aber woher wissen Sie …“

„Indiesem Fall, Ma’am“, sagte der Polizist und wandte seine Aufmerksamkeit wieder Claire zu, „muss ich Sie bitten, auszusteigen. Bitte behalten Sie Ihre Hände da, wo ich sie sehen kann.“

Ihr Herz setzte einen Schlag aus. Das war der Augenblick, vor dem sie sich seit dem Tag fürchtete, an dem sie erkannt hatte, dass sie eine Gejagte war. Der Anfang vom Ende. Die Gedanken rasten, auch wenn sie sich wie eine mechanische Holzpuppe bewegte. Sollte sie sich fügen? Versuchen, zu fliehen?

„Also wirklich, mein Lieber!“, sagte George. „Ich wüsste schon gerne, wieso Sie sich so sehr für uns interessieren.“

„George, der Mann macht nur seinen Job.“ Claire hoffte, damit den Polizisten zu beruhigen. Sie bedeutete George, ruhig sitzen zu bleiben, und stieg dann ungelenk aus, wobei sie sich am Türgriff festhielt, um nicht die Balance zu verlieren.

Tolley schienen Georges Fragen jedoch nicht das Geringste auszumachen. „Es gab einen Anruf auf dem Revier bezüglich Ihnen und Miss …“ Er schaute auf den Führerschein, der immer noch auf seinem Klemmbrett klemmte. „Turner. Der Anruf kam von einem Familienmitglied.“ Er warf einen Blick auf einen Zettel von der Größe eines Kassenbons, der ebenfalls auf seinem Brett klemmte. „Alice Bellamy“, sagte er.

Claire schaute George fragend an.

„Eine meiner Schwiegertöchter“, sagte er mit einem entschuldigenden Unterton.

„Sir, Ihre Familie befindet sich in großer Sorge um Sie.“ Während er das sagte, starrte Tolley Claire an. Sie konnte seine Augen hinter den verspiegelten Brillengläsern nicht erkennen, aber sie sah ihr Spiegelbild. Mittellanges dunkles Haar. Große dunkle Augen. Ein gewöhnliches und, wie sie hoffte, normales, nichtssagendes Gesicht. Das war immer ihr Ziel. Nicht auffallen. Vergessenswert sein. Vergessen sein.

Sie zwang sich, den Kopf erhoben zu tragen, so zu tun, als wäre alles in bester Ordnung. „Ist das in dieser Gegend ein Verbrechen?“, fragte sie. „Eine besorgte Familie zu haben, meine ich.“

„Sie sind mehr als nur besorgt.“ Officer Tolley legte seine rechte Hand auf das Holster, in dem sein Dienstrevolver steckte. Claire sah, dass er den Sicherheitsverschluss schon geöffnet hatte. „Mr Bellamys Familie hat erhebliche Bedenken, was Sie angeht, Miss Turner.“

Sie schluckte. Die Bellamys hatten Geld. Vielleicht hatte die Schwiegertochter sie umfassend überprüfen lassen. Vielleicht waren dabei Unregelmäßigkeiten aufgetaucht. Irgendetwas in Claires Vergangenheit, das nicht ganz zusammenpasste.

„Bedenken welcher Art?“, wollte Claire wissen. Ihr Mund war wie ausgetrocknet, und die Panik hatte sie inzwischen voll im Griff.

„Oh, lassen Sie mich raten“, schlug George lauthals lachend vor. „Meine Familie denkt, ich bin entführt worden.“

2. KAPITEL

Kabul Afghanistan International Airport (KAIA)

Sie hat was getan?“ Ross schrie beinahe in die Sprechmuschel des geliehenen Handys. „Entschuldige, die Verbindung ist wirklich sehr schlecht“, sagte seine Cousine Ivy, die aus ihrem Haus in Santa Barbara mit ihm telefonierte. Bei ihr war es elfeinhalb Stunden früher als bei ihm. „Sie hat Granddad entführt.

Ross rollte die Schultern lockernd nach hinten. Sie fühlten sich ungewöhnlich leicht an. Die letzten zwei Jahre hatte er täglich das Gewicht seiner zehn Kilo schweren Ausrüstung bestehend aus Protektoren, einem Kevlar-Helm und der kugelsicheren Weste mit sich herumschleppen müssen. Jetzt, auf dem Weg nach Hause, war das Gewicht verschwunden. Wie eine Schlange, die sich häutet, hatte er sich all der Sachen entledigt und sie vor Ort abgegeben.

Doch wenn er seiner Cousine glauben durfte, barg das zivile Leben so seine eigenen Gefahren.

„Entführt?“ Das laut ausgesprochene Wort weckte die Aufmerksamkeit der anderen Wartenden in der Abflughalle. Er winkte mit der Hand, ein Zeichen, dass alles gut war, und wandte den neugierigen Blicken den Rücken zu.

„Du hast mich doch gehört“, erwiderte Ivy. „Laut Mom hat er irgendeine windige Pflegerin im Internet gefunden, und sie hat ihn entführt und in ein einsames Nest in Ulster County verschleppt.“

„Das ist verrückt!“, gab er zurück. „Total verrückt.“ Oder nicht? In diesem Teil der Welt waren Entführungen an der Tagesordnung – und sie nahmen selten ein gutes Ende.

„Was soll ich sagen?“, sagte Ivy beinahe entschuldigend. „Meine Mom liebt nun mal den dramatischen Auftritt.“

Ross und Ivy waren Cousin und Cousine ersten Grades. Sie waren beide mit zu Dramen neigenden Müttern gesegnet, was schon in ihrer Kindheit ein ganz besonderes Band zwischen ihnen geschmiedet hatte. Ivy war ein paar Jahre jünger als Ross und lebte in Santa Barbara, wo sie als Bildhauerin arbeitete und lange E-Mails an ihren Cousin schrieb.

„Und du bist sicher, dass Tante Alice nur überreagiert? Es besteht keine Chance, dass ein Fünkchen Wahrheit hinter ihren Anschuldigungen steckt?“

„Die Möglichkeit besteht immer. Das ist ja das Perfide an Mom – alles ist im Rahmen des Möglichen. Sie denkt, dass Granddad langsam den Verstand verliert. Jeder weiß, dass Gehirntumore Leute dazu bringen, die verrücktesten Dinge zu tun. Wann kannst du nach New York kommen?“, fragte Ivy. „Wir brauchen dich, Ross. Granddad braucht dich. Du bist der Einzige, auf den er hört. Wo zum Teufel steckst du überhaupt?“

Ross schaute sich auf dem fremden Flughafen um, der vollgestopft war mit Soldaten in Tarnanzügen, die sich gegenseitig Geschichten über Schusswechsel, Selbstmordattentäter und Überfälle aus dem Hinterhalt erzählten. Er hatte Glück gehabt. Er war nicht einer der bedauernswerten Jungs, von denen man in der Zeitung der Heimatstadt las. An seinem letzten Tag im Einsatz starb er, als sein Konvoi unter Beschuss geriet …

Er stellte sich Ivy vor, wie sie in ihrem kleinen Künstlerhaus auf den Klippen über Hendry’s Beach stand. Er konnte hören, dass im Hintergrund ein Album von Cream lief. Sie machte sich vermutlich gerade einen Kaffee in ihrer französischen Kaffeekanne und sah den Surfern zu, die gerade aufs Meer hinauspaddelten, um die erste Welle des Tages zu reiten.

„Ich bin auf dem Weg.“ Die für den Flug nach Hause gebuchten Soldaten saßen schon seit Stunden auf dem KAIA. Die Zeit verging mit der Langsamkeit, mit der sich eine Wanderdüne fortbewegt. Ursprünglich hatte ihr Flug um 14.00 Uhr abgehen sollen, aber das war jetzt auf 21.45 Uhr verschoben worden. Sie waren zurück ins Abflugzelt beordert worden, wo sie, wie es Vorschrift war, eingeschlossen wurden. Das hieß, sie saßen jetzt in einem Zelt ohne jegliche Frischluftzufuhr und hatten nichts zu tun, bis es an der Zeit war, an Bord zu gehen. 21.45 Uhr war gekommen und wieder gegangen, ohne dass etwas passiert war. Die Verzögerung überraschte niemanden mehr.

„Ross?“ Die Stimme seiner Cousine klang drängender. „Wie lange dauert es noch, bis du zu Hause bist?“

„Ich arbeite dran“, erwiderte er. Im Moment könnte er sich genauso gut auf einem anderen Planeten befinden, so weit weg kam er sich vor. „Was ist mit Granddad los?“

„Ich kann dir nur sagen, was ich weiß. Er war in der Mayo-Klinik in Behandlung. Ich schätze, dort hat man ihm gesagt …“ Sie hielt inne, und ein Schluchzer fand seinen Weg einmal quer über den Erdball. „Sie haben ihm die schlechten Neuigkeiten mitgeteilt.“

„Ivy …“

„Er ist inoperabel. Ich glaube, damit würde nicht mal Mom übertreiben. Er wird sterben, Ross.“

Die Worte trafen Ross wie ein Schlag in den Magen. Ein paar Sekunden lang konnte er weder atmen noch klar sehen. Das musste ein Fehler sein. Vor einem Monat hatte Ross sein übliches Kommuniqué von seinem Großvater erhalten. George Bellamy hatte eine seltsam altmodische Art zu schreiben. Sogar seine E-Mails fingen mit einer vernünftigen Betreffzeile und einem förmlichen Gruß an. Er hatte die Mayo-Klinik erwähnt – nichts, worüber man sich Sorgen machen müsste. Ross hatte versäumt, zwischen den Zeilen zu lesen. Er hatte den Gedanken nicht zugelassen, auch wenn er sehr wohl wusste, dass man nicht in die Mayo-Klinik ging, um einen eingewachsenen Nagel entfernen zu lassen. Er hatte sich einfach nicht erlaubt, an eine … guter Gott … eine tödliche Diagnose zu denken.

Granddads Abschiedsworte waren immer die gleichen. Bleib ruhig und mach so weiter.

Und das war genau das Motto, nach dem George Bellamy gelebt hatte. Und offensichtlich hatte er vor, auch so zu sterben.

„Er hat es schließlich meinem Dad erzählt.“ Ivys Stimme klang immer noch belegt. „Er sagte, dass er keine weitere Behandlung wünscht.“

„Hat er Angst?“, wollte Ross wissen. „Oder Schmerzen?“

„Er ist einfach … Granddad. Er hat gesagt, er müsse in irgendeine Kleinstadt in den Catskills fahren, um seinen Bruder zu sehen. Das war das erste Mal, dass ich was von einem Bruder gehört habe. Wusstest du was davon?“

„Warte mal, was? Granddad hat einen Bruder?“

Es knisterte ominös in der Leitung, und er verpasste den ersten Teil ihrer Antwort. „… wie auch immer, als Mom hörte, was er vorhat, ist sie total ausgeflippt.“

Mit der schlechten Verbindung und den Hintergrundgeräuschen des Flughafens musste Ross sich anstrengen, zu hören, was seine Cousine weiter erzählte. Ihr Großvater hatte alle seine drei Söhne angerufen – Trevor, Gerard und Louis – und sie ganz ruhig über seine Diagnose in Kenntnis gesetzt. Und als ob diese Nachricht nicht schon schlimm genug gewesen wäre, hatte er danach angekündigt, sein Penthouse in Manhattan zu verlassen und sich auf die Reise zu irgendeiner hinterwäldlerischen Stadt zu machen, um seinen Bruder zu besuchen, einen gewissen Charles Bellamy. Genau wie Ivy und Ross hatten die meisten Mitglieder der Familie keine Ahnung, dass er überhaupt einen Bruder hatte. Wie konnte er einen Bruder haben, von dem niemand wusste? Handelte es sich um einen Mann, der in irgendeine Anstalt eingewiesen worden war, wie in Rain Man? Oder war er ein Produkt von Georges Fantasie?

„Du sagst mir also, er ist auf dem Weg in Richtung Norden mit einer windigen Frau, die … wer ist sie noch mal?“, fragte Ross.

„Sie heißt Claire Turner und behauptet, so eine Art Pflegerin oder Krankenschwester zu sein. Meine Mom – und deine sicherlich auch – glaubt, dass sie nur hinter seinem Geld her ist.“

Das ist natürlich die erste Sorge von Tante Alice und meiner Mutter, dachte Ross. Auch wenn sie nur angeheiratete Bellamys waren, behaupteten sie, George wie einen Vater zu lieben. Und vielleicht taten sie das auch, aber Ross nahm an, Alice’ Aufstand drehte sich weniger darum, dass sie ihren Schwiegervater verlor, als darum, dass sie fürchtete, ihr Erbe teilen zu müssen. Er hatte keinen Zweifel, dass seine Mutter genauso dachte. Aber das war ein ganz anderes Thema.

„Und sie haben die Polizei angerufen, um sie aufzuhalten“, beendete Ivy ihren Satz.

„Die Polizei?“ Ross fuhr sich mit den Fingern durch sein kurz geschnittenes Haar. Er merkte, dass er wieder die Stimme erhoben hatte, und drehte sich um. „Sie haben die Polizei angerufen?“ Heilige Scheiße! Offensichtlich war es seiner Mutter und seiner Tante gelungen, die örtlichen Behörden davon zu überzeugen, dass George sich in den Händen einer Fremden befand, die ihm Böses wollte.

„Sie wussten nicht, was sie sonst hätten tun sollen“, sagte Ivy. „Hör mal, Ross – ich mache mir Sorgen um Granddad! Ich habe Angst. Ich will nicht, dass er leidet. Ich will nicht, dass er stirbt. Bitte komm nach Hause, Ross. Bitte …“

„Ich habe um eine beschleunigte Entlassung gebeten“, versicherte er ihr. Bisher hatte ihn das allerdings noch nicht weit gebracht.

Seine Cousine tat so, als würde seine Heimkehr die Wunderheilung für seinen Großvater bedeuten. Doch Ross wusste, dass man sich nicht auf Wunder verlassen konnte.

„Wann fliegst du nach New York?“, fragte er, doch die Frage stieß auf taube Ohren, denn ihre Verbindung war unterbrochen worden. Er klappte das Handy zu und brachte es Manny Shiraz zurück, einem weiteren Stabsfeldwebel, der es ihm geliehen hatte, weil Ross’ Handy nicht funktionierte.

„Ärger zu Hause?“, erkundigte sich Manny. Es war eine Frage, die sich die Jungs im Einsatz öfter stellten.

Ross nickte. „Gott bewahre, dass ich nach Hause komme und alles in bester Ordnung vorfinde!“

„Willkommen im Klub, Chief!“

Die idyllische Heimatfront war normalerweise ein Mythos, und dennoch konnten die Menschen im Wartezelt es kaum erwarten, endlich dorthin zu gelangen. Es waren Männer und Frauen, die ihre Familien ein Jahr, manchmal sogar noch länger nicht gesehen hatten. Babys waren geboren worden, Kleinkinder hatten gelernt zu laufen, Ehen waren zerbrochen, Feiertage vorübergegangen, geliebte Menschen zu Grabe getragen und Geburtstage gefeiert worden. Alle konnten es kaum erwarten, in ihre Leben zurückzukehren.

Ross ging es ebenso – außer dass er nicht viel Leben hatte. Keine Frau und keine Kinder, die die Stunden bis zu seiner Rückkehr zählten. Nur seine Mutter, Winifred, eine oberflächliche und selbstsüchtige Frau … und Granddad.

Seit dem Tag, an dem ein Angehöriger der US Army an der Tür geklopft hatte, um Winifred Bellamy und ihrem Sohn persönlich die Nachricht zu überbringen, dass Pierce Bellamy während der Operation Desert Storm im Jahr 1994 ums Leben gekommen war, war George Bellamy der Fels in Ross’ Leben gewesen.

Granddad war mit der Concorde von Paris nach New York geflogen. Er war schneller als der Schall gereist, um bei Ross sein zu können. Er hatte seinen Enkel in die Arme gezogen, und sie hatten gemeinsam geweint. An diesem Tag hatte sein Großvater ihm ein Versprechen gegeben: Ich werde immer für dich da sein.

Sie hatten sich aneinandergeklammert wie Überlebende eines Tsunamis. Ross’ Mutter verschwand in einem Wirbel aus panikhafter Trauer, die in einer Reihe hektischer Verabredungen und Männerbekanntschaften endete. Winifred erholte sich schnell und entschieden von ihrem Verlust und machte das aller Welt deutlich, indem sie sehr bald wieder heiratete und ihre beiden Stiefkinder Donnie und Denise adoptierte. Ross wurde auf ein Internat in der Schweiz verfrachtet, weil er Schwierigkeiten hatte, seinen Stiefvater und seine beiden charmanten Stiefgeschwister zu „akzeptieren“. Die Amerikanische Schule in der Schweiz bot ein umfassendes Programm, und seine Mutter war felsenfest davon überzeugt, dass diese Institution besser darin war, ihren Sohn zu erziehen, als sie es je vermochte.

Ross’ Trauer war roh und schmerzhaft gewesen, dass er nicht klar denken konnte. Am liebsten hätte er seine Mutter gefragt, in welcher Welt es eigentlich in Ordnung sein mochte, zu einem Kind, das gerade seinen Vater verloren hatte, zu sagen: Ein Internat ist genau das Richtige für dich.

Andererseits hatte sie vielleicht instinktiv richtig entschieden. Es gab Studenten an der TASIS, die die Erfahrung genossen – ein Internat, das so magisch war wie Hogwarts. Und vielleicht hatten die langen Trennungsphasen Ross ja auf seine spätere Entsendung in Krisengebiete vorbereitet.

Kurz nach dem Tod des Vaters nach Übersee geschickt zu werden hätte ihm den Rest geben können, aber es gab einen Anker, auf den er sich auch in dieser Situation verlassen konnte: Granddad. Er lebte und arbeitete in Paris und besuchte Ross beinahe jedes Wochenende an seiner Schule am Luganer See. Er war die Rettungsleine aus Mitgefühl und Liebe, die Ross brauchte. Granddad wusste es vermutlich nicht einmal, aber er hatte Ross davor bewahrt, unterzugehen. Er schloss seine Augen und stellte sich seinen Großvater vor – beeindruckend groß mit unglaublich dichtem, weißem Haar. Und trotzdem war er Ross nie alt erschienen.

Am Vorabend seiner Entsendung schließlich hatte Ross seinem Großvater etwas versprochen: Ich werde zurückkommen.

Doch Granddad reagierte nicht wie erwartet. Er wandte den Blick ab. „Das hat dein Vater auch gesagt.“ Das war eine sehr negative Haltung, vor allem für ihn. Ross wusste, diese Worte erwuchsen aus der Angst, er könnte es womöglich nicht schaffen.

Er wanderte unruhig auf und ab. Die unendliche Warterei machte ihn mürbe. Warten gehörte in der Army dazu, das wusste er, aber er hatte sich nie daran gewöhnen können. Als er seinen Wunsch geäußert hatte, seinem Land dienen zu wollen, hatte Ross gewusst, dass diese Entscheidung seinen Großvater schwer treffen würde. All die Erinnerungen an den Schock und den unbarmherzigen Schmerz, den der Verlust seines Sohnes verursacht hatte, waren zurückgekehrt. Doch Ross hatte das Gefühl, die Reise seines Vaters zu einem Ende bringen zu müssen.

Als junger Erwachsener war Ross verwöhnt, maß- und hemmungslos gewesen, ohne ein Ziel im Leben. Ihm fiel alles zu – gute Noten, Frauen, Freunde. Vielleicht war es etwas zu leicht. Nach dem College irrte er umher, ohne zu wissen, wo sein Platz war. Er machte den Pilotenschein. Verführte zu viele Frauen. Und stellte schließlich fest, dass er besser eine Berufung fand, die etwas bedeutete. Mit achtundzwanzig Jahren betrat er ein Rekrutierungsbüro. Sein Alter ließ die eine oder andere Augenbraue skeptisch in die Höhe wandern, doch man machte ihm keine Probleme. Er hatte die Lizenzen, verschiedene Fluggeräte zu fliegen, und er sprach drei Sprachen. Die Army hatte ihm mehr Leben gegeben, als er alleine je gefunden hätte. Einen Helikopter zu fliegen war das Schwerste auf der Welt, und aus genau dem Grund liebte er es. Aber er konnte nicht behaupten, dass ihn das seinem Vater irgendwie näher gebracht hatte.

Endlich wurden die ersten Soldaten zum wartenden Flugzeug gefahren. Eine weitere Stunde verging, bis der Bus zurückkehrte, um auch den Rest zu holen. Als Ross die Transportmaschine betrat, fühlte er keine Freude; Paletten mit schwarzen Kisten und Seesäcken standen noch auf der Rollbahn und warteten darauf, verladen zu werden. Das dauerte eine weitere Stunde.

Ein weiblicher Lieutenant Commander setzte sich Ross gegenüber. Sie lächelte ihn an und zog dann ein Hochglanzmagazin mit lauter Artikeln über Make-up und Mode heraus. Ross versuchte, sich auf seine Ausgabe des Rolling Stone zu konzentrieren, aber seine Gedanken wanderten immer wieder ab.

Ungefähr nach einer Stunde Flug beugte sich der Lieutenant Commander vor und schaute aus dem Fenster, wobei sie ihre Augen mit den Händen abschirmte. „Wir sind nicht mehr in Afghanistan.“

Es war zu dunkel, um den Boden zu sehen, aber der Große Wagen war hervorragend auszumachen. Ross’ Großvater hatte ihm die Sternbilder beigebracht. Als Ross ungefähr sechs oder sieben war, hatte er ihn in einem Boot auf den Long Island Sund mit hinausgenommen. Nur sie beide in einem schmalen Catboot. Ross hatte sich gerade sein Rotluchs-Abzeichen bei den Pfadfindern verdient, und Granddad hatte das feiern wollen. Sie hatten an einem Straßenstand Hummerbrötchen, heiße Pommes frites in Papiertüten und Root Beer gekauft. Dann waren sie den ganzen Abend lang gesegelt, bis es beinahe dunkel war. „Ist da der Himmel?“, hatte Ross gefragt und auf die glitzernde Milchstraße gezeigt.

Und Granddad hatte seine Hand gedrückt und gesagt: „Der Himmel ist genau hier, mein Junge. Bei dir.“

Sie hatten einen Zwischenhalt auf der Manas Air Base in Kirgisistan, wo die Luft kalt war und nach Gras roch. Während der dreistündigen Wartezeit versuchte Ross, seinen Großvater anzurufen, dann Ivy, dann seine Mutter. Doch er hatte kein Glück. Also ging er in den Speisesaal, um sich etwas zu essen zu holen. Obwohl es mitten in der Nacht war, wimmelte es nur so vor Aktivität. Ross schaute sich die Poster über Moral, Gesundheitsfürsorge und Erholung an, die überall hingen und Ausflüge, Golfexkursionen und Spabehandlungen anboten, was für ihn so exotisch klang wie ein Glas französischer Brandy. Bevor er sich eingeschrieben hatte, war Luxus dank seines Großvaters ein Teil seines Lebens gewesen. Nun kehrte er verändert zurück durch die Dinge, die er gesehen und getan hatte. Doch zumindest hielt er das Versprechen, das er seinem Großvater gegeben hatte.

Ich hoffe, es geht dir gut, Granddad, dachte er. Bitte sei wie ein verwundeter Soldat, der zusammengeflickt und wieder hinausgeschickt wird. Beim nächsten Zwischenstopp in Baku, Aserbaidschan, unterdrückte er den Drang, abzuhauen und wie ein Zivilist zu reisen. Er atmete tief durch und wartete auf den Flug zum Shannon Airport in Irland. Er konnte es sich nicht erlauben, jetzt vom Weg abzukommen.

Denn offenbar benahm sich sein Großvater ziemlich verrückt. Die Behandlung abzubrechen und sich auf den Weg zu einem Bruder zu machen, den er nie zuvor auch nur erwähnt hatte, war doch verrückt, oder?

Während seiner Entsendung hatte Ross viel darüber gelernt, Menschenleben zu retten – aber von Granatsplitterwunden und traumatischen Amputationen, nicht von Gehirntumoren. In seinem Kopf steckte noch ein Bild von seinem letzten Einsatz. Er dachte an den Jungen und den verwundeten alten Mann, die in dem Haus gefangen gewesen waren und sich aneinander festgehalten hatten. Alles war ihnen genommen worden, und doch hatten sie beide eine unglaubliche Ruhe ausgestrahlt. Er hatte nicht herausgefunden, was aus den beiden Dorfbewohnern geworden war; aus den Augen, aus dem Sinn war meistens das Motto ihrer Einsätze.

Er wünschte, er hätte sich nach ihnen erkundigt.

3. KAPITEL

N a“, sagte George Bellamy und schnallte sich wieder an. „Das war ja mal aufregend.“ Claire lenkte den Wagen auf die Straße und versuchte, ihr inneres Gleichgewicht wiederzufinden. „Auf so eine Art Aufregung kann ich gut verzichten.“ Sie fuhr langsam und extra vorsichtig, als wenn tausend Augen sie beobachteten.

George schien völlig ungerührt von der Begegnung mit dem Polizisten. Er hatte höflich darauf hingewiesen, dass das hier ein freies Land war. Nur weil gewisse Familienmitglieder sich Sorgen machten, hieß das nicht, dass er gegen irgendein Gesetz verstoßen habe.

Officer Tolley hatte ihnen eine Reihe von Fragen gestellt. Zu Claires Erleichterung waren die meisten davon an George gerichtet. Die sachlichen Antworten des alten Mannes hatten ihnen den Tag gerettet. „Junger Mann“, hatte er gesagt. „So sehr es mir gefallen würde, von einer attraktiven Frau gefangen gehalten zu werden, aber das ist hier nicht der Fall.“

Claire hatte ihre Lizenz und ihr Zertifikat als Krankenschwester vorgezeigt. Dabei hatte sie versucht, sich wie eine ganz normale Frau zu geben, höflich und freundlich. Darin hatte sie ja auch reichlich Übung.

Die Anstrengung schien sich gelohnt zu haben, denn der Polizist fand nichts, was gerechtfertigt hätte, sie weiter aufzuhalten. Er schickte sie mit einem „Ich wünsche Ihnen noch einen schönen Tag“ ihrer Wege.

„Geht es Ihnen immer noch gut?“, fragte Claire George. Vor ihnen tauchte eine Tankstelle auf. „Sollen wir hier kurz anhalten?“

„Nein, danke“, erwiderte er. „Wir sind doch gleich da, oder?“

Sie zeigte auf das Navigationsgerät zwischen ihnen. „Dem Navi nach sind es noch elf Komma sieben Meilen.“

„Als ich ein Junge war“, sagte George, „haben wir immer den Zug von der Grand Central Station nach Avalon genommen. Da sind wir in einen alten, klapprigen Bus gestiegen, der am Bahnhof auf uns wartete, um uns zum Camp Kioga hinaufzufahren.“ Er hielt inne. „Tut mir leid.“

„Was denn?“

„Dass ich eine Geschichte mit den Worten ‚Als ich ein Junge war‘ angefangen habe. Ich schätze, das werden Sie noch öfter von mir zu hören bekommen.“

„Sie müssen sich nicht entschuldigen. Jede Geschichte fängt irgendwo an.“

„Guter Punkt. Aber für die Welt im Allgemeinen ist meine eigene Geschichte nicht sonderlich interessant.“

„Auf seine eigene Weise ist das Leben eines jeden interessant“, entgegnete sie.

„Nett, dass Sie das sagen“, lächelte er. „Ich bin sicher, Sie sind da keine Ausnahme. Ich freue mich schon darauf, Sie besser kennenzulernen.“

Claire erwiderte nichts. Sie hielt den Blick auf die Straße gerichtet – eine sich schlängelnde, wenig befahrene Landstraße, die zu einem kleinen Städtchen namens Avalon führte.

Welche Claire würde sie diesem freundlichen, dem Tode geweihten alten Mann zeigen? Die Star-Krankenschwester? Die Singlefrau, die keine Besitztümer hatte und ihr Leben von Anstellung zu Anstellung lebte? Sie fragte sich, ob er sie durchschauen, das wurzellose Individuum erkennen würde, das sich hinter dem dünnen Schleier eines vorgeblichen Lebens versteckte. Manchmal fühlten ihre Patienten, dass irgendwas mit ihr nicht ganz stimmte.

Was mit ein Grund dafür war, dass sie nur mit sterbenskranken Patienten arbeitete. Eine betrübliche Begründung, aber wenigstens machte sie sich nichts vor.

„Glauben Sie mir“, sagte sie zu George. „Ich bin nicht sonderlich interessant.“

„Oh doch, das sind Sie“, erwiderte er. „Zum Beispiel Ihr Beruf. Ich finde das eine interessante Wahl für eine junge Frau. Wie sind Sie auf diesen Zweig gekommen?“

Darauf hatte sie eine Standardantwort. „Mir hat es schon immer gefallen, mich um Menschen zu kümmern.“

„Aber um sterbende Menschen, Claire? Das muss einen doch manchmal ganz schön frustrieren, oder?“

„Vielleicht suche ich mir deshalb nur reiche alte Widerlinge als Patienten aus“, erwiderte sie mit ungerührtem Gesichtsausdruck.

„Ha! Das habe ich verdient. Trotzdem bin ich neugierig. Sie sind eine liebenswerte, kluge junge Frau. Da frag ich mich …“

Sie wollte nicht, dass er sich Fragen über sie stellte. Sie war eine sehr verschlossene Person. Nicht aus freiem Entschluss, sondern aufgrund einer Frage von Leben und Tod. Sie lebte ein Leben, das aus Lügen bestand, die jeglicher Grundlage entbehrten, und aus Geheimnissen, die sie mit niemandem teilen konnte. Die einzigen Wahrheiten über sie waren die nichtssagenden Details, Cocktailparty-Geplauder – nicht, dass sie jemals auf Cocktailpartys eingeladen würde. Die Person, die sie tief in ihrem Inneren war, blieb verborgen, und das war vermutlich auch gut so. Wer wollte schon von den endlosen Nächten wissen, in denen ihre Einsamkeit so tief und messerscharf war, dass sie sich komplett ausgehöhlt fühlte? Wer wollte wissen, dass sie so ausgehungert war nach einer menschlichen Berührung, dass ihre Haut sich manchmal anfühlte, als stünde sie in Flammen? Wer könnte ihren Wunsch verstehen, aus ihrer Haut zu schlüpfen und einfach wegzugehen?

Als sie damals untergetaucht war, hatte sie ihr eigenes Leben gerettet. Aber erst viel später hatte sie bemerkt, zu welchem Preis. Er war so einfach wie exorbitant: Sie hatte alles aufgegeben, inklusive ihrer Identität.

„Ich schlage vor“, sagte sie, „wir konzentrieren uns auf Sie.“

„Einer Frau mit einem Geheimnis habe ich noch nie widerstehen können“, erklärte er. „Ich werde es herausfinden, und wenn es mich umbringt. Ja, vermutlich wird es mich umbringen.“ Sein Vergnügen war nicht unbedingt etwas Schlechtes. Humor hatte durchaus seine guten Seiten, selbst in einer Situation wie dieser.

„Sie haben Besseres zu tun, als in meinem Leben herumzuwühlen, George. Ich würde sowieso viel lieber mehr von Ihnen erfahren. Diesen Sommer geht es nur um Sie.“

„Und das finden Sie nicht deprimierend? Ihre Zeit mit einem alten Mann zu verbringen und darauf zu warten, dass er stirbt?“

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