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Sommerleuchten am See

Einfühlsam, warmherzig, romantisch ‒ ein Roman wie ein Spaziergang mit der besten Freundin

Von Kindesbeinen an waren Becca und Clare beste Freundinnen. Doch kurz vor Beccas Tod hatten sie Streit, und Clare konnte sich nicht versöhnen. Für sie ist es trotzdem keine Frage, dass Beccas Mann Jack und ihre Kinder wie jedes Jahr den Sommer bei ihr und ihrer Familie am malerischen See im Lake District verbringen. Auch wenn Jack eine neue Frau mitbringt - was ihr, aber besonders der ältesten Tochter Izzy zu schaffen macht. Und dennoch scheint diese Flora genau der richtige Mensch zu sein, der da ist, als dunkle Geheimnisse aus der Vergangenheit ans Licht kommen.

»Eine glänzende Geschichte über Akzeptanz und Liebe.« Woman’s Weekly

»Die lebendigen Figuren ziehen einen sofort in die Geschichte.« Woman & Home

»Wieder einmal stellt Morgan ihr einzigartiges Talent unter Beweis. Sie beschreibt echte Beziehungen: die Freude, den Schmerz, die Hilflosigkeit und die bedingungslose Liebe einer Familie.« Read All The Romance


  • Erscheinungstag: 23.03.2021
  • Seitenanzahl: 384
  • ISBN/Artikelnummer: 9783749950546
  • E-Book Format: ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Für RaeAnne Thayne, die ebenso warmherzig und wunderbar ist wie ihre Romane

PROLOG

CLARE

War es eigentlich grundsätzlich ein Verbrechen, Beweise zu vernichten?

Clare zerknüllte den Brief in ihrer Tasche und ging über das feuchte Gras zum See. Die ganze Woche hatte es geregnet, sodass der Boden unter ihren Gummistiefeln weich nachgab. Als der Wind ihr das Haar ins Gesicht blies, strich sie es zurück. Sie brauchte eine klare Sicht.

Sie war nicht gemacht für ein moralisches Dilemma wie dieses. Und dennoch stand sie hier und musste sich zwischen den zwei Charakterzügen entscheiden, die sie am meisten schätzte: Loyalität und Aufrichtigkeit.

Dort, wo das Gras an den schmalen Kieselstrand grenzte, blieb sie stehen. Am Westufer gegenüber, versteckt zwischen dem hohen Schilf, befand sich das Bootshaus. Dahinter erstreckte sich dichter, beneidenswert abgeschiedener Wald. Als Kind hatte sie dort drüben mit ihrer besten Freundin Becca gespielt. Sie hatten sich in Piraten verwandelt und mit wildem Gebrüll kaputte Holzplanken und Spinnweben attackiert. Sie hatten Kajaks zu Wasser gelassen und im eisig kalten Wasser geplantscht, laut kreischend, wenn sich Arme oder Beine in Schlingpflanzen verfingen.

Ihr Sohn Aiden hatte ebenfalls hier gespielt; allerdings war sie viel weniger entspannt gewesen als ihre Eltern. Sie hatte auf Schwimmhilfen und ständige Aufsicht bestanden – vielleicht, weil sie wusste, welche Abenteuer hier möglich waren.

Sie hatte eine Zeitlang in London und Paris gelebt, doch diese kleine Ecke Englands mit ihren Seen und Bergen war der einzige Ort, der sich je wie ein Zuhause angefühlt hatte.

Nach dem Tod ihres Vaters waren sie und Todd hierhergezogen, um in der Nähe ihrer Mutter zu sein. Todd hatte die Idee gehabt, das Bootshaus in ein luxuriöses Hideaway zu verwandeln. Als Architekt sah er in den heruntergekommensten Gebäuden Potenzial, und in diesem Fall war seine Vision genial gewesen. Geborstene Holzbalken und zerschlagene Fensterscheiben waren durch Stein, Zedernholz und viel Glas ersetzt worden. Früher waren sie auf umgedrehten Obstkisten gehockt, aber das gehörte schon lange der Vergangenheit an. Wenn Clare jetzt Zeit hatte, sich zu setzen, sank sie in tiefe Sofas, umgeben von den edelsten Materialien. Der eigentliche Luxus aber war der Standort. Die ruhige Lage am Wasser zog eine anspruchsvolle Klientel an. Menschen, die dem Stress der modernen Welt entkommen und sich dem malerischen Leben am See hingeben wollten, wo Enten und Libellen ihre nächsten Nachbarn waren. Viele Menschen waren bereit, für diese Abgeschiedenheit viel Geld zu bezahlen. Clare und Todd vermieteten das Bootshaus für so viele Wochen im Jahr, dass es ihnen ein anständiges Einkommen verschaffte.

Man konnte das Bootshaus nur von einer Ecke ihres Gartens aus sehen, und gelegentlich blickte Clare hinüber und sah Gäste auf der Terrasse, die Champagner tranken, während sie Wasserhühner und Kormorane beobachteten, die sich im Schilf tummelten. Nachts hörte man nur das Flüstern des Windes, den Ruf einer Eule und das gelegentliche Plätschern, wenn ein Vogel auf der Suche nach Nahrung die Wasseroberfläche streifte.

Da man diesen Teil des Sees nur von der Lake Lodge aus erreichte und die Zufahrt zum Haupthaus leicht verpasste, wenn man den Abzweig nicht kannte, war Privatsphäre garantiert. Etwas versteckt und meist von üppigen Azaleen- und Rhododendronbüschen verdeckt, befand sich ein großes Eisentor, und direkt dahinter stand das Pförtnerhäuschen, in dem ihre Mutter jetzt lebte. Von dort aus führte eine lange geschotterte Auffahrt zum Haus.

Nach dem Tod von Clares Vater war ihre Mutter in das Pförtnerhäuschen umgezogen. Sie hatte darauf bestanden, dass Clare, Todd und Aiden das Haupthaus bekamen. Das Apartment in London war schnell verkauft gewesen. Seitdem lebten sie hier, wo das Leben langsamer verlief. Sie genossen es sehr, die gute Luft zu atmen, in den Bergen zu wandern und auf den vielen malerischen Seen zu segeln.

Ihre Freundschaft mit Becca war hier gewachsen und gereift. Vielleicht hätte sie hier auch geendet, doch das würde sie nie erfahren. Denn Becca war tot.

Das Bootshaus enthielt kein Zeugnis ihres letzten Gesprächs, und darüber war sie froh.

Doch jetzt hatte sie einen schriftlichen Beweis, abgesendet an jenem Tag, an dem Becca gestorben war.

Ich wünschte, ich hätte es dir nie erzählt.

Clare wünschte das ebenfalls.

Tränen brannten in ihren Augen. Trauer. Frustration. Sie wünschte, sie hätten dieses letzte Gespräch nie geführt, denn nun war sie die Einzige, die sich daran erinnerte. Jahrzehnte der Freundschaft waren zu dieser letzten belastenden Stunde in sich zusammengefallen. Sie war unglaublich wütend gewesen auf ihre Freundin, die ihre Loyalität auf eine so harte Probe stellte.

Sie hatte nicht gewusst, dass jener Sommer ihr letzter gemeinsamer Sommer sein sollte. Hätte sie sich mehr bemüht, die Kluft zwischen ihnen zu überbrücken, wenn sie es gewusst hätte? Vielleicht nicht. Sie war so wütend gewesen! Doch inzwischen wurde diese Wut von Schuldgefühlen überschattet, von denen der Tod so oft begleitet war.

War Loyalität jetzt noch wichtig? War Aufrichtigkeit wichtig, wenn sie doch nur Schmerz erzeugen würde?

»Clare!« Die Stimme ihrer Mutter schallte durch den Garten. »Was machst du da draußen im Regen? Komm rein!«

Clare hob eine Hand, drehte sich aber nicht um.

Sie musste eine Entscheidung treffen, und am Wasser konnte sie am besten nachdenken. Sie hielt sich selbst für einen ethischen und moralischen Menschen. In der Schule hatte man sie dafür gehänselt, dass sie immer »das Richtige« tat, was umso außergewöhnlicher war, weil ihre beste Freundin darauf bedacht gewesen war, immer das Falsche zu tun.

Und nun hatte Becca sie damit zurückgelassen.

Sie war so in Gedanken versunken, dass sie ihre Mutter erst bemerkte, als diese ihr die Hand auf die Schulter legte.

»Du weißt, du musst nicht hingehen.«

Clare starrte auf den See. Seine Oberfläche war dunkel, auf dem Wasser tanzten Regentropfen. Im Sommer wirkte er idyllisch, doch mit den dunklen Wolken, die sich am Himmel türmten, und den kleinen Wellen, die ans Ufer klatschten, wirkte er auf eine Weise bedrohlich, die im Moment genau ihrer Stimmung entsprach.

»Sie war meine beste Freundin.«

»Menschen leben sich auseinander. Das ist nun mal so. Mit vierzig bist du nicht mehr der Mensch, der du mit vierzehn warst. Manchmal muss man das akzeptieren.«

Hatte ihre Mutter bei jenem letzten Besuch die Spannung zwischen den Freundinnen gespürt? Sie war vom Pförtnerhäuschen heruntergekommen, um ihre Hilfe anzubieten, als Becca und Jack ihren Wagen beladen und sich um Kinder und Gepäck gekümmert hatten.

Clare hatte gehofft, dass das Chaos die angespannte Atmosphäre überdecken würde, doch ihre Mutter hatte schon immer ein gutes Gespür für die Gefühlslage anderer gehabt. Zum Glück waren Jack und Todd zu vertieft gewesen in ihr Gespräch über Autos und Motoren, um irgendetwas davon mitzukriegen. Als sie abfuhren, hatte Becca ihre Wange an Clares Wange gedrückt. »Tut mir leid«, hatte sie geflüstert, das glaubte Clare zumindest. Sicher war sie nicht. Eigentlich schien es eher unwahrscheinlich; Becca hatte sich noch nie für irgendetwas entschuldigt.

»Ich kann mich an keine Zeit in meinem Leben ohne sie erinnern.« Sie spürte die Hand ihrer Mutter auf ihrem Arm.

»Und doch wart ihr beide immer so unterschiedlich.«

»Ich weiß. Becca war aufgeweckt und ich träge.«

»Nein!«, rief ihre Mutter entschieden. »Das war ganz und gar nicht so.«

Vielleicht war träge das falsche Wort. Beständig? Verlässlich? Langweilig? »Ist schon okay. Ich weiß, wer ich bin. Ich bin zufrieden mit dem, was ich bin.« Bis vor Kurzem hatte sie nachts gut schlafen können und war mit ihrem Leben zufrieden gewesen. Bis Becca sie vor eine unmögliche Entscheidung gestellt hatte.

»Du hast ihr Stabilität gegeben, und sie hat deine abenteuerlustige Seite rausgekitzelt. Sie hat dich aus deiner Komfortzone rausgeholt.«

Warum hielten das alle immer für etwas Positives?

In diesem Fall war es nicht positiv.

Clare befand sich so weit außerhalb ihrer Komfortzone, dass weder ein Kompass noch ein Navi ihr helfen konnte, den Weg zurückzufinden. Sie wollte sich an etwas Vertrautem festklammern und starrte auf das Bootshaus. Doch statt all der schönen Zeiten sah sie nur Becca vor sich und ihr schönes, tränenüberströmtes Gesicht, als sie Clare ihr Herz ausschüttete.

»Ich weiß, dass zwischen euch irgendetwas vorgefallen ist. Wenn du darüber reden möchtest – ich bin eine gute Zuhörerin.« Ihre Mutter spannte einen Regenschirm auf und hakte sich bei Clare ein, damit sie beide dort Platz fanden.

Sollte sie es ihrer Mutter erzählen? Nein, das wäre nicht fair. Wie sie es hasste, in dieser Situation zu sein! Nie würde sie jemand anderen in eine solche Lage bringen wie die, in der sie sich jetzt befand.

Sie war erwachsen und weit über das Alter hinaus, in dem sie ihre Mutter brauchte, damit die ihre Probleme löste und Entscheidungen für sie traf.

»Ich fliege zur Beerdigung. Mein Ticket ist schon gebucht.«

Ihre Mutter umklammerte den Regenschirm fester. »Ich wusste, dass du das tust. Du bist eben du und tust immer das Richtige. Aber ich wünschte, du würdest es nicht tun.«

»Was, wenn man nicht weiß, was das Richtige ist?«

»Du weißt es immer.«

Sie wusste es nicht, nicht dieses Mal, das war das Problem. »Ich habe schon gesagt, dass ich komme.«

Ihre Mutter seufzte. »Es ist ja nicht so, dass Becca es erfährt oder es sie kümmern würde, ob du dort bist.«

Der Regen prasselte unablässig auf den Schirm und sandte den einen oder anderen Tropfen in Clares Nacken. Selbst der Himmel weinte vor Mitgefühl.

»Ich fliege nicht wegen Becca. Ich bin Izzys Patin, ich möchte für sie da sein.«

»Die armen Kinder! Ich wage kaum, daran zu denken, was sie jetzt durchmachen. Und an Jack! Armer Jack.«

Armer Jack.

Clare starrte geradeaus. »Was soll ich sagen?« Sie wusste, dass ihre Mutter ihr nicht die richtige Antwort geben konnte, weil Clare nicht das gefragt hatte, was sie wirklich fragen wollte.

»Sie werden einen Weg finden«, sagte ihre Mutter zuversichtlich. »Das Leben bürdet uns nie mehr auf, als wir aushalten könnten.«

Clare drehte sich zu ihr um und betrachtete die Falten im Gesicht ihrer Mutter, die vor dem Tod ihres Vaters noch nicht da gewesen waren. »Glaubst du das wirklich?«

»Nein. Aber wenn andere Menschen das sagen, klingt es immer gut. Es verbreitet Zuversicht.«

Clare lächelte zum ersten Mal seit Tagen. Spontan umarmte sie ihre Mutter und ignorierte dabei den feuchten Mantel und das ständige Tröpfeln vom Schirmrand. »Ich hab dich lieb, Mum.«

»Ich hab dich auch lieb.« Ihre Mutter drückte ihre Schulter auf die gleiche Art wie damals, wenn Clare als Kind vor einer schwierigen Aufgabe stand. Du schaffst das. »Kommt Todd mit?«

»Das möchte ich nicht. Er arbeitet noch an seinem großen Projekt.« Tatsächlich hatte Todd angeboten, dass er alles stehen und liegen lassen würde, um sie zu begleiten, doch sie hatte abgelehnt. Diese Sache würde allein einfacher sein. »Ich werde nur vier Tage fort sein.«

»Übernachtest du bei Jack und den Kindern?«

Clare schüttelte den Kopf. Jack hatte vorgeschlagen, bei ihnen in Brooklyn zu wohnen, doch sie hatte abgelehnt. Sie hatte vorgeschoben, keine Umstände verursachen zu wollen, doch in Wahrheit war sie noch nicht bereit, Zeit mit ihm zu verbringen. Jack mit seinem warmherzigen Wesen und dem freundlichen Lächeln. Sie erinnerte sich, wie Becca ihn das erste Mal erwähnt hatte. Ich habe einen Mann kennengelernt.

Becca hatte viele Männer kennengelernt, sodass Clare dem anfangs kaum Beachtung geschenkt hatte. Sie hatte erwartet, dass diese Beziehung ebenso kurzlebig sein würde wie die anderen.

»Er ist ein anständiger Mann«, hatte Becca gesagt, und sie hatten beide gelacht, weil Becca sich bis dahin nie für anständige Männer interessiert hatte. Sie bevorzugte die üblen Kerle. Sie gab ihrer Kindheit die Schuld und sagte, dass sie gar nicht wüsste, was sie mit einem Mann anfangen sollte, der sie gut behandelte. Doch bei Jack hatte sie es offenbar gewusst.

Clare erinnerte sich, wie Becca ihr zum ersten Mal das Haus in Brooklyn gezeigt hatte. Sieh nur, ganz erwachsen – vier Schlafzimmer, drei Badezimmer und ein Schrank für meine Schuhe. Ich bin fast häuslich geworden.

Fast.

Ein Funkeln hatte in ihren Augen gelegen, das gleiche Funkeln, das ihr in der Schule so oft geholfen hatte, jeden Ärger wegzulachen.

Clare umfasste den Brief.

Der schwerste Teil würde nicht die Trauerfeier sein. Am schwersten würde es sein, so zu tun, als hätte sich zwischen ihr und Becca nichts verändert. Sie musste das ungewollte Wissen in sich verstecken, während sie Jack auf die Wange küsste.

Ihre Mutter strich ihr Regentropfen vom Mantel. »Glaubst du, dass sie nächsten Sommer hierherkommen?«

»Ich weiß es nicht. Vermutlich nicht.« Die drei gemeinsamen Wochen in der Lake Lodge gehörten seit Ewigkeiten zu ihrer Freundschaft dazu, sie waren wie ein heiliges Ritual. Ehe, Kinder, Alltag – nichts hatte diese Zeit je infrage gestellt. Sie gehörte ihnen. Sie war ein unverbrüchlicher Teil ihrer Freundschaft gewesen. Eine Zeit, in der sie sich ihr Leben erzählen konnten.

Und dann hatte dieses Gespräch stattgefunden. Ein Gespräch, das alles verändert hatte.

Und natürlich der Brief. Warum ein Brief? Wer schrieb in Zeiten von Mails und Messengern noch einen Brief?

Sie hatte ihn im Briefkasten gefunden, zwischen einem Brief von der Bank und dem Flyer eines örtlichen Pizzalieferservices. Sie hatte die kräftige, gewundene Handschrift sofort erkannt. Mit ihrer Unangepasstheit hatte Becca sämtliche Lehrer frustriert. Ihre Handschrift war wie alles, was sie tat – individuell. Becca hatte die Dinge so gemacht, wie sie sie wollte.

Clare hatte den Brief ins Haus getragen und auf den Küchentisch gelegt. Eine Stunde verging, bevor sie ihn endlich geöffnet hatte. Nun wünschte sie, sie hätte es nicht getan. Bei der Post gingen Briefe verloren, nicht wahr? Aber nicht dieser. Sie wusste bereits, was drinstehen würde, doch es schwarz auf weiß zu lesen, machte es irgendwie schlimmer.

Sie hätte fast geflucht, als sie ihn las, doch sie versuchte, nie laut zu fluchen.

Als sie den Brief in der Hand hielt, hörte sie Beccas Stimme: Sag Scheiße, Clare! Los! Wenn es je einen Zeitpunkt gab, dir Luft zu machen, dann jetzt.

»Du wirst nass.« Sie wusste jetzt, was sie tun würde, und küsste ihre Mutter auf die Wange. »Lass uns reingehen. Heißer Tee und getoastete Muffins, und dann bestätige ich meinen Flug.«

Ihre Mutter hakte sich bei ihr unter. »Das ist alles sehr traurig. Du warst ihr eine gute Freundin, Clare, vergiss das nicht.«

Stimmte das? Sagte eine gute Freundin um jeden Preis die Wahrheit? Oder bot eine gute Freundin Unterstützung an, auch wenn sie die Tat für abscheulich und falsch hielt?

Sie erreichten das Haus und flüchteten ins Trockene.

Ihre Mutter stellte den tropfenden Regenschirm auf dem Steinboden ab und ging in die Küche. »Ich setze den Kessel auf.«

»Ich komme gleich. Ich muss noch eine Kleinigkeit erledigen.« Clare hängte den Mantel auf, nahm den Brief aus der Tasche und ging ins Wohnzimmer, wo ein Feuer im Kamin brannte. Abends versammelte sich hier die ganze Familie, um zu reden, zu spielen und fernzusehen. Bezaubernd altmodisch hatte Becca es genannt – in jenem zweideutigen Ton, in dem sie Komplimente und Spott gleichermaßen verteilte.

Clare hielt einen Moment inne, als sie daran dachte, wie oft sie mit ihrer Freundin in diesem Raum gesessen und gelacht hatte.

Dann atmete sie tief durch und warf den Brief ins Feuer. Sie sah zu, wie die Ecken schwarz wurden und sich in den Flammen aufrollten.

Becca war tot, und der Brief und sein Inhalt sollten mit ihr sterben.

So lautete ihre Entscheidung. Und sie würde lernen, damit zu leben.

1. KAPITEL

FLORA

Als sie ihn das erste Mal sah, stand er draußen vor dem Laden und starrte auf die Blumen im Fenster. Die Hände hatte er in den Taschen seines Mantels vergraben und den Kragen hochgeklappt, um sich gegen die bittere Kälte des New Yorker Winters zu schützen. Es war einer dieser eisigen Tage, an denen sich bei jedem Atemzug ein weißes Wölkchen vor dem Mund bildete. Der Himmel war düster, wirkte fast bedrohlich. Die Menschen hasteten mit gesenktem Kopf vorbei und gingen mit finsterer Entschlossenheit ihren Angelegenheiten nach.

Dieser Mann nicht. Er kam nicht herein, um Zuflucht vor der Kälte zu suchen, wie es an diesem Vormittag viele andere vor ihm getan hatten. Stattdessen stand er mit gedankenverlorener Miene da, während er das Blütenmeer betrachtete – ein bunter Farbtupfer inmitten der Eintönigkeit des Winters.

»Blumen aus Schuldgefühl.« Julia zog zwölf langstielige Rosen aus dem Eimer und legte sie auf den Arbeitstisch. »Er wird Blumen aus Schuldgefühl kaufen. Ich wette um zehn Dollar, dass er eine Affäre hatte und nun überlegt, mit welcher Sorte er um Verzeihung bittet, damit er nicht hochkant rausfliegt.«

Flora nahm die Wette nicht an. Nicht nur, weil sie wusste, dass Julia keine zehn Dollar übrig hatte. Vielleicht hatte der Mann eine Affäre gehabt, doch mit Sicherheit hatte er nichts zu feiern. Seine Gesichtszüge wirkten angespannt, und er presste die Lippen auf eine Weise aufeinander, als hätte er vergessen, wie man lächelt.

»Warum muss es eine Affäre sein? Vielleicht ist er verliebt, und sie erwidert seine Gefühle nicht. Vielleicht wird er Blumen aus Liebe kaufen. Er wird sie in jedes Zimmer stellen.«

Solche Gespräche, in denen sie über die Motivation der Kunden spekulierten, führten sie oft.

Julia hatte einen Hang zum Dunklen, was Flora nicht verstand, denn ihre Kollegin und Freundin war glücklich verheiratet mit einem Feuerwehrmann und Mutter dreier liebenswerter, wenn auch anstrengender Teenager.

Flora war optimistischer. Wenn es morgens regnete, bedeutete das nicht, dass es auch am Nachmittag regnen würde.

»Wirkt er auf dich wie ein verliebter Mann?« Julia schnitt die Stängel in einem Winkel ab, wie Flora es ihr beigebracht hatte. »Draußen sind Minusgrade. Die Leute gehen nur raus, wenn sie es müssen. Wenn sie lebenswichtige Dinge kaufen. Wie Schokolade.«

»Blumen sind lebenswichtig.«

»Für Schokolade würde ich Frostbeulen riskieren. Für Blumen nicht. Blumen sind nicht lebenswichtig.«

»Für mein Leben sind sie wichtig. Streif die Blätter ab. Wenn sie im Wasser sind, faulen sie, und dann befallen die Bakterien die Stängel und die Blumen sterben.«

»Wer hätte gedacht, dass es so kompliziert ist.« Sorgfältig entfernte Julia die Blätter und blickte wieder zum Fenster. »Er hat was verbockt, meinst du nicht? Hat einen Riesenfehler gemacht und überlegt nun, wie groß der Strauß sein muss, um es bei ihr wiedergutzumachen.«

»Oder bei ihm.«

»Oder bei ihm.« Julia neigte den Kopf. »Er sieht müde aus, angestrengt. Er wäre lieber zu Hause im Warmen, stattdessen friert er sich vor unserem Fenster zu Tode, woraus ich schließe, dass es um etwas Großes geht. Vielleicht hat seine Frau oder sein Mann von der Affäre erfahren, und er fragt sich, ob er noch draufzahlt, wenn er versucht, es wiedergutzumachen.«

»Vielleicht ist er seit dreißig Jahren verheiratet und feiert den Hochzeitstag.«

»Oder«, mutmaßte Julia, »er kauft Blumen, um sich zu entschuldigen, dass er jemandem den Tag verdorben hat. Was?« Sie hielt inne, um tief einzuatmen. »Du hast mir doch beigebracht, dass Blumen eine Geschichte erzählen.«

»Aber du gehst immer von einer Horrorgeschichte aus.« Flora fing eine Rose auf, die fast hinuntergefallen wäre, und sog den Duft ein. Sie versuchte, die Blütenblätter nicht anzufassen, stellte sich aber die samtige Weichheit an ihren Fingern vor. Andere Menschen benutzten Meditations-Apps, um sich zu entspannen, sie Blumen. »Es gibt noch andere Geschichten. Fröhlichere.«

Celia, die Ladenbesitzerin, stöckelte in Schuhen mit lächerlich hohen Absätzen vorbei, den Arm voller Callas. Sie hatte einen rosigen Teint und ein Gesicht, das Flora an Dahlien erinnerte. Ihre Persönlichkeit war stacheliger als eine Rose, doch ihre forsche und sachliche Art war durchaus hilfreich bei der Beratung unentschlossener Bräute.

»Ihr müsst euch mit diesen Rosen beeilen, wenn wir sie rechtzeitig zu Mrs. Martins Dinnerparty heute Abend ausliefern wollen. Ihr wisst, wie speziell sie ist.«

»Wir schaffen das rechtzeitig, Celia, mach dir keine Sorgen«, besänftigte Flora sie lächelnd. Ihr ausgeglichenes Wesen wirkte beruhigend auf andere Menschen, vor allem auf aufbrausende Gemüter wie Celia.

»Unsere Aufgabe besteht darin, den besten Kundenservice und die schönsten Blumen zu liefern.«

»Und genau die werden wir erfüllen.« Flora hörte fast, wie Julia neben ihr mit den Zähnen knirschte. Sie hoffte, dass ihre Chefin sich anderen Dingen zuwandte, bevor ihre Freundin explodierte.

Celia hielt inne, ihr gereizter Ton wich einem schmeichlerischen. »Kannst du am Samstag arbeiten, Flora? Ich weiß, du hast schon letzten Samstag gearbeitet …«

»… aber ich habe keine familiären Verpflichtungen.« Flora hatte sich noch immer nicht richtig daran gewöhnt, dass sie an den Wochenenden nicht länger ihre Tante besuchen musste. Obwohl ihre Tante Floras Anwesenheit im letzten Jahr gar nicht mehr wahrgenommen hatte, hatten diese Besuche zu Floras Routine gehört. Überrascht hatte sie festgestellt, wie merkwürdig es sich anfühlte, nicht mehr zu ihr zu gehen. Auch ihre Trauer hatte sie überrascht. Sie und ihre Tante waren sich nicht nahe gewesen, auch wenn Flora es versucht hatte. »Das ist okay, Celia. Ich arbeite gern.« Sie wusste, dass Celia sie ausnutzte. Vermutlich hätte sie Nein sagen sollen, doch dann hätte Celia schlechte Laune gehabt, und damit konnte Flora nicht umgehen. Das war anstrengender, als zu arbeiten. Und es machte ihr nicht viel aus. Die Wochenenden waren immer am schwersten für sie, und sie verstand nicht ganz, warum.

In eine eigene Wohnung zu ziehen war die Erfüllung eines Traums gewesen. Das hatte sie sich immer gewünscht, doch dann bestürzt feststellen müssen, dass die Erfüllung seiner Wünsche einen nicht immer glücklich machte. Ihr Leben war nicht so, wie sie es sich vorgestellt hatte. Als käme man in Rom an und stellte fest, dass man einen Reiseführer für Paris dabeihatte. Sie wusste nicht, ob es an der Wohnung lag oder an ihren Erwartungen.

Ihre Mutter hatte immer betont, dass es darauf ankam, was man aus seinem Leben machte. Doch Flora konnte sich des Eindrucks nicht erwehren, dass es vor allem von den Zutaten abhing, was man daraus machen konnte. Auch der beste Koch konnte aus verschimmeltem Gemüse nichts zaubern.

Nachdem sie ihr Problem gelöst hatte, ging Celia weiter, und Julia schnitt die Rosenstängel mit mehr Nachdruck ab als zuvor.

»Ich dachte, du wolltest aufhören, anderen Leuten zu gefallen?«

»Das will ich ja. Offenbar ist es ein Prozess.«

»Ich sehe keinen Prozess. Ich sehe nur, wie sie dich zur Wochenendarbeit drängt. Schon wieder.«

Julia war der erste Mensch, der diesen Wesenszug an ihr kommentiert hatte, und sie war die Erste, die sie aufforderte, das Problem anzugehen.

»Es ist mir nicht wichtig. Ich spare mir mein Durchsetzungsvermögen für etwas Großes und Wichtiges auf.«

»Du musst bei kleinen Dingen anfangen und es üben. Warum hast du solche Angst, ihr die Stirn zu bieten?«

Allein bei dem Gedanken schlug ihr Herz höher. »Weil sie mich dann feuert. Ich kann nicht gut mit Konflikten umgehen.« Oder mit Zurückweisung. Das war ihre größte Schwäche.

»Sie wird dich nicht feuern, Flora. Du bist ihr größter Gewinn. Die Hälfte der Kunden kommt nur wegen dir! Du musst es ihr nicht immer recht machen.«

»Ich schätze, es ist ein Überbleibsel von den Versuchen, es meiner Tante recht zu machen. Meine Welt war schöner, wenn sie glücklich war.« Auch wenn ihre Tante nie glücklich gewesen war. Eher hatte der Grad ihrer Missbilligung geschwankt.

Das Zusammenleben mit ihr hatte sich für Flora als nützliche Erfahrung erwiesen. Sie war gut darin, mit schwierigen Menschen zurechtzukommen. Bei einigen Gelegenheiten hatte sie ihre Tante sogar zum Lächeln gebracht – die größte Herausforderung für jemanden, der gefallen wollte. Wenn sich Gillians Lippen nach oben verzogen, war das der Gipfel des Erfolgs – und für jemanden, der anderen gefallen wollte, das Äquivalent zu einer Everest-Besteigung, einem Rekord-Marathonlauf oder einer Atlantiküberquerung im Ruderboot. Angesichts der vielen schwierigen Menschen auf der Welt fand Flora, müsste sie ihrer Tante womöglich sogar dafür danken, dass sie ihr so viel Übung hatte zuteilwerden lassen.

Julia sah das anders. »Ich bringe meinen Kindern bei, für das einzustehen, was sie sich wünschen und woran sie glauben. Und dass sie für ihr Glück selbst verantwortlich sind.«

»Genau. Und ich bin am glücklichsten, wenn die Menschen um mich herum glücklich sind.«

»Ja zu sagen, macht dich nicht glücklich. Es macht nur die anderen glücklich und erspart dir Konflikte. Und du fühlst dich schlecht, weil du nicht genug Mut hattest, Nein zu sagen.«

»Danke, Julia. Bislang habe ich mich nicht schlecht gefühlt, aber jetzt tue ich es.«

»Ich bin nur ehrlich. Wenn ich deine Tante kennengelernt hätte, hätte ich ihr die Meinung gesagt.«

Flora zuckte zusammen, als sie sich dieses besondere Zusammentreffen vorstellte. »Meine Tante war nicht gerade warmherzig und liebevoll, das ist wahr, aber sie war meine einzige Familie. Sie nahm mich auf, als ich niemanden hatte. Sie hatte das Gefühl, dass ich ihr was schulde, und sie hatte recht.«

»Ich bin nicht sicher, ob es so etwas wie Schulden zwischen Familienmitgliedern geben sollte. Aber wenn es das gibt, hast du deine Schulden tausendfach abbezahlt. Ja, ich kapiere es, sie gab dir ein Zuhause, aber umgekehrt bekam sie eine Vollzeitbetreuung. Und Celia ist nicht deine Tante.«

»Wenn ich Nein gesagt hätte, hätte sie dich gefragt, und du hast diesen Samstag Freddies Indoor-Rennen, und Geoff arbeitet nicht, weshalb seine Mutter am Samstag zum Mittagessen rüberkommt. Und du hast Kaitlin versprochen, dass du ihr ein Kleid für das Familientreffen an Ostern kaufst.«

Julia schrie kurz auf, als sie sich an einem Dorn stach. »Wieso kennst du meine Termine besser als ich? Wenn du es so sagst, merke ich erst, wie vollgestopft mein Leben ist.«

Flora sagte nichts. Sie würde alles geben, wirklich alles, wenn sie nur ein bisschen von dem hätte, was Julia hatte. Nicht den Stress – den konnte sie sich auch machen –, aber die Nähe. Die verwobenen Fäden einer funktionierenden, gesunden Familie bildeten etwas Größeres als ein Einzelner. Etwas Starkes und Dauerhaftes. Für ihre Tante war Flora ein loser Faden gewesen. Etwas, das man abstreifte.

»Du hast eine tolle Familie.«

»Machst du Witze? Meine Familie nervt. Freddie hat eine Freundin, und jetzt lungern die beiden jeden Abend händchenhaltend auf dem Sofa herum und schmachten sich an, und Eric hänselt ihn ständig – du kannst dir ja vorstellen, was dabei rauskommt. Und Kaitlin … Na ja, ich könnte endlos so weitermachen. Lass uns einfach sagen, dass ich dich darum beneide, dein Zuhause mit niemandem teilen zu müssen. Du gehst nach Hause, und dort bist nur du.«

»Ja.« Flora sah zu, wie Julia die Rosen sorgfältig zu einem Bouquet zusammensteckte. »Nur ich.« Von diesem Leben hatte sie geträumt, als sie noch bei ihrer Tante wohnte. Sie hatte eine Wohnung. Klein, reizlos, aber für sich allein. Sie hatte Freunde. Ihr Kalender war voller Unternehmungen und Einladungen. Sie sollte dankbar und glücklich sein. Sie hatte Glück, Glück, Glück.

»Wenn du abends nach Hause kommst, ist alles in deiner Wohnung so, wie du es verlassen hast. Niemand hat deine Sachen weggeräumt oder sie unter Stapeln von eigenem Zeug vergraben. Du stolperst nicht über Dutzende von Sneakern, wenn du zur Tür reinkommst, niemand hämmert gegen die Tür und schreit ›Mom!‹, während du im Badezimmer bist, und niemand besetzt jeden Zentimeter des Sofas.«

»Niemand hämmert gegen meine Tür, das stimmt, und auf dem Sofa bin nur ich.« Flora entfernte zwei einzelne Blätter, die Julia entgangen waren. »Wirklich großartig, weil ich meine Beine ausstrecken und mich ausbreiten kann wie ein Tintenfisch, ohne dass sich jemand beschwert.«

»Ich bin von Chaos umgeben. Du hast himmlische Ruhe.«

»Himmlisch.«

»Wenn du dir Blumen aussuchst, sind sie immer schön. Wenn ich Glück habe, bringt Geoff mir mal einen Strauß aus dem Supermarkt mit.«

Immerhin schenkte er ihr Blumen.

Flora hatte noch nie jemand Blumen geschenkt. Sie verbrachte ihre Tage damit, für andere Menschen wunderbare Sträuße zu binden, doch sie selbst bekam nie einen.

»Neulich habe ich gelesen, dass Single-Frauen ohne Kinder die Glücklichsten von allen sind.«

»Hm.« Wen hatte man da gefragt?

»Du hast das perfekte Leben, auch wenn ich dich immer noch gern mit jemandem verkuppeln würde. Du brauchst einen Mann!«

Flora war nicht ganz so überzeugt. Die Männer, mit denen sie sich bisher verabredet hatte, waren lediglich an einer ganz bestimmten Art von Intimität interessiert gewesen. Das war schon okay, gelegentlich auch mehr als das. Doch es war, als stopfe man Eis in sich hinein, wenn der Körper etwas Nahrhaftes brauchte: kurzfristig befriedigend, aber ohne dauerhaften Nährwert.

Nein, sie wollte jemandem etwas bedeuten, so wie sie ihrer Mutter etwas bedeutet hatte. Sie wollte verbunden sein auf eine Weise, wie Julia es war. Sie wollte jemanden an ihrer Seite haben und an seiner Seite sein. Sie wollte, dass jemand sie kannte und brauchte. Worin lag der Sinn, auf der Welt zu sein, wenn man nicht gebraucht wurde? Wenn man für niemandes Leben wichtig war?

Sie hatte so viel zu geben und niemanden, dem sie es geben konnte.

Sie war einsam, doch das würde sie niemals zugeben. Denn wenn man das tat, vermuteten die Leute gleich, dass etwas nicht stimmte mit einem. Die Medien sprachen zwar von einer Epidemie der Einsamkeit – und doch fühlte es sich an wie ein Eingeständnis des eigenen Scheiterns, wenn man zugab, einsam zu sein.

Flora war dreißig, ungebunden und lebte in der aufregendsten Stadt der Welt. Von außen betrachtet musste ihr Leben wirken wie ein Tag am Set einer Sitcom – abgesehen von ihrem Apartment, das eher nach dem Schauplatz eines Krimis aussah. Und von innen? Da fühlte sie sich schrecklich einsam. Doch wenn sie das zugab, würden alle sie insgeheim dafür verurteilen und mit ihr darüber reden wollen, was sie alles falsch machte. Oder sie würden sie permanent einladen. Doch das war nicht Floras Problem. Wichtig war nicht die Anzahl der sozialen Kontakte, sondern ihre Tiefe.

Wenn andere Leute sich nach ihrem Befinden erkundigten, sagte sie ihnen, was sie hören wollten, damit sie sich nicht unbehaglich fühlten.

Ja, ich bin gestern zu Hause geblieben, und es war toll. Ich hatte einen entspannten Abend und endlich Zeit für aufgeschobene Telefonate.

Mein soziales Leben ist so stressig, dass ich froh bin, mal einen Abend nichts zu tun.

Wochentags war es einfacher als am Wochenende, wenn die Zeit fast stillzustehen schien und ihr bei allem, was sie tat, noch deutlicher bewusst wurde, dass sie es allein tat. Im Park spazieren zu gehen bedeutete, andere Menschen bei allen möglichen Dingen zu beobachten, die sie gemeinsam taten: Mütter mit ihren Kindern, händchenhaltende Paare, Gruppen von Freunden und Freundinnen, die lachten und auf einer Bank Kaffee tranken. Shoppen zu gehen bedeutete, von Frauen umgeben zu sein, die nach einem Outfit für einen aufregenden Abend suchten.

Flora tat, was sie konnte, um jener Ruhe zu entgehen, die Julia so erstrebenswert schien. Sie ging spazieren, telefonierte, ging essen, nahm an einem Töpferkurs teil, einem Kunstkurs, hörte Musik und Podcasts, streamte Filme. Manchmal schaltete sie den Fernseher nur um des Geräusches willen ein. Und am Ende eines jeden Tages kroch sie in ihr Bett und schloss die Augen, und dann umhüllte die Stille sie wie eine erstickende Wolke. Nicht, dass ihr Apartment ruhig war. Weit gefehlt. Über ihr wohnte eine italienische Großfamilie, deren Mitglieder durch die Räume trampelten und sich in einer ohrenbetäubenden Lautstärke stritten. Nebenan wohnte ein Paar, das sich in den frühen Morgenstunden geräuschvollem Sex hingab. Sie war umgeben vom Lärm anderer Menschen, die ein erfülltes und glückliches Leben lebten.

»Mach dir keine Sorgen, ich komme klar. Ich habe ohnehin keine großen Pläne fürs Wochenende, nur Yoga und ein Brunch mit einer Freundin. Du weißt doch, dass ich gerne hier arbeite.«

»Weil du Celia magst?«

»Weil ich Blumen mag.«

»Puh. Ich wollte dir gerade schon vorschlagen, dir professionelle Hilfe zu suchen. Aber du hast natürlich recht: Wenn du dich geweigert hättest, am Wochenende zu arbeiten, hätte ich es tun müssen. Also danke dafür! Aber eines Tages möchte ich dich ein lautes ›Nein‹ zu ihr sagen hören.«

»Das wirst du.« Flora war sich durchaus bewusst, dass ihr Harmoniebedürfnis jede Menge Nachteile in sich barg. In den wenigen Beziehungen, die sie gehabt hatte, hatte sie sich immer so bemüht, es den anderen recht zu machen, dass sie sich selbst darüber vergaß. Normalerweise war das der Punkt, an dem sie die Sache beendete. Es liegt nicht an dir, sondern an mir, das hinterließ keinen Unmut.

Julia zeigte nach hinten, wo Celia einer anderen Angestellten einen Vortrag hielt. »Was hat sie für ein Problem?«

Flora machte sich den Moment, in dem Julia abgelenkt war, zunutze, um das Blumenarrangement zurechtzuzupfen. »Sie ist nervös. Ihr gehört das Geschäft, und es sind schwere Zeiten. Wir machen uns genug Sorgen um unsere Jobs. Stell dir vor, wir wären auch noch für die Jobs der anderen verantwortlich.«

»Ich glaube nicht, dass die Sorge um uns sie nachts wach hält. Kein Wunder, dass sie allein lebt. Vermutlich hat sie ihren ersten Mann aufgefressen. Oder vielleicht hat er sich aufgelöst, nachdem sie Säure auf ihn getröpfelt hat. Wenn sie eine Blume wäre, wäre sie Gefleckter Schierling.« Dass sie Celia den besonders giftigen Doldenblütler zuwies, war mal wieder typisch; Julia hatte einen Hang zum Dramatischen. Sie hatte Schauspielerin werden wollen, doch dann war sie ihrem Mann begegnet. Die drei Kinder kamen rasch hintereinander. Sie hatte verschiedene Jobs gehabt, und Flora würde ewig dankbar sein für den Tag, an dem sie zur Tür hereingekommen war und nach Arbeit gefragt hatte.

Julia bewunderte die Rosen. »Ich werde besser, meinst du nicht?«

Flora fügte noch ein bisschen Blattwerk hinzu und kürzte einen der Stiele. »Du hast ein Auge dafür.« Das war nicht ganz richtig; tatsächlich hatte Julia kein besonders gutes Auge dafür. Doch Flora würde auf keinen Fall ihre Gefühle verletzen. Und sie wusste, wie sehr ihre Freundin den Job brauchte.

»Ich werde nie so gut sein wie du, aber ich lerne noch, und du machst das, seit du laufen kannst.« Julia sah zu dem Mann vor dem Schaufenster hinüber. »Glaubst du, er hat sie geschlagen und will einen ›Tut mir leid, dass ich dich verletzt habe‹-Strauß kaufen?«

»Ich hoffe nicht.«

»Komm doch an deinem nächsten freien Samstag zu uns zum Essen. Meine Art, danke zu sagen.«

»Das mache ich gern.« Flora aß gern bei Julia, auch wenn das liebevolle Geplänkel zwischen ihrer Freundin und ihrem Mann ihr immer einen merkwürdigen Stich gab. Niemand kannte Flora gut genug, um sie so aufzuziehen.

»Ich würde dich zu einer Übernachtung einladen, damit du mal aus deinem Apartment rauskommst, aber du weißt ja, wie knapp der Platz bei uns ist. Und glaub mir, du möchtest das Bett nicht mit Kaitlin teilen. Will dein Vermieter immer noch die Miete erhöhen?«

»Ja.« Flora verspürte einen Anflug von Angst. Sie hatte einen halbherzigen Versuch unternommen, sich nach etwas anderem umzusehen, doch die Kluft zwischen dem, was ihr gefiel, und dem, was sie sich leisten konnte, war bedrückend groß.

»Und hat er deine Kakerlake beseitigt?«

»Noch nicht. Und ich habe mehr als eine Kakerlake.«

Julia schauderte. »Wie kannst du dabei so entspannt bleiben?«

»Ich freu mich einfach, dass sie Freunde haben.«

»Siehst du, das unterscheidet uns: Ich denke an Ausrottung, du denkst an einen Datingservice für Kakerlaken. Hast du wenigstens mit ihm darüber gesprochen?«

»Ich habe ihm eine sehr entschieden formulierte Mail geschickt.«

»Und was hat er gesagt?«

»Nichts. Er hat nicht geantwortet.«

»Und wann hast du die Mail geschickt?«

»Vor einem Monat?«

»Einem Monat? Wie ich dich kenne, stand darin: Liebster Vermieter, wenn es Ihnen möglich sein sollte, sich um mein feuchtes Apartment und die Kakerlaken zu kümmern, wäre ich wahnsinnig dankbar. Wenn es nicht passt, ist das auch kein Problem.«

»Es war strenger formuliert.« Aber nicht viel strenger, und ihre Worte hatten rein gar nichts bewirkt.

»Was ist mit der Feuchtigkeit? Hat er den Grund gefunden?«

»Er hat nicht nachgesehen. Ich mache mir langsam Sorgen, weil sich dieser Fleck an meiner Decke weiter ausbreitet.«

»Vielleicht ist oben jemand gestorben und sein verwesender Körper löst sich langsam auf und sickert in dein Apartment.«

»Falls er verwest, macht er aber viel Lärm dabei. Gestern Abend sang er Opernarien.« Sie blickte auf und sah, dass der Mann noch immer vorm Fenster stand. Er musste sich zu Tode frieren. Sollte sie die Tür öffnen? Ihm Zuflucht anbieten? Etwas Heißes zu trinken? »Vielleicht hat seine Mutter heute Geburtstag, und er hatte keine Zeit, ihr ein Geschenk zu kaufen.« Das kam ständig vor: Menschen stürzten herein, griffen nach einem der fertigen Sträuße, ohne Zeit oder Gedanken an die Auswahl zu verschwenden.

Flora verurteilte sie nicht. Stattdessen war sie stolz auf den Umstand, dass ihre handgebundenen Sträuße in dieser Ecke von Manhattan ein Gesprächsthema waren. Wie ihre Mutter band sie Blumen gern nach Anweisung zu einem Strauß, aber ebenso gern wählte sie selbst aus, um den Kunden die Entscheidung zu erleichtern. Manche Menschen waren nervös beim Blumenkauf, benommen von der Auswahl und voller Angst, einen Fehler zu machen.

Nach Floras Meinung waren Blumen nie ein Fehler. Ihre Mutter hatte immer auf frische Blumen bestanden. Es reichte nicht, im Laden von ihnen umgeben zu sein, sie bestand darauf, auch ihr Heim damit zu schmücken. Es gab einen großen Strauß im Flur, der einen mit seinem Duft begrüßte, wenn man hereinkam, einen weiteren Strauß in der Küche und kleine Sträußchen im Schlafzimmer. Violet Donovan hatte Blumen für Kunst gehalten, für lebenswichtige, unverzichtbare Kunst. Wenn gespart werden musste, dann in anderen Bereichen, etwa bei der Kleidung oder beim Essengehen. Die meisten Menschen erinnerten sich an bestimmte Ereignisse, wenn sie an ihre frühe Kindheit dachten. Floras früheste Erinnerungen bestanden aus Duft und Farbe.

Das war so geblieben, bis sie mit acht Jahren zu ihrer Tante kam, die die Leidenschaft ihrer Schwester für Blumen nicht teilte.

Warum Geld für etwas verschwenden, das stirbt?

Flora, wund in ihrer Trauer, hatte darauf hingewiesen, dass alles starb und es sicherlich am wichtigsten war, das Beste daraus zu machen, solange man lebte. Bis zu diesem Punkt war sie fröhlich durchs Leben gehüpft, doch sie sollte bald lernen, auf Zehenspitzen zu schleichen und in allen Situationen vorsichtig zu sein. Sie lernte schnell, was ihre Tante erzürnte und wann sie nur ein finsteres Gesicht machte.

In diesem Moment hob der Mann draußen seinen Blick von den Blumen und sah Flora direkt an. Er konnte nicht wissen, dass sie über ihn gesprochen hatte, dennoch spürte sie, dass sie vor Schuldbewusstsein rot wurde.

Ihr Lächeln war halb entschuldigend, halb einladend. Es kam ihr nicht in den Sinn, so zu tun, als hätte sie ihn nicht gesehen.

»Wow«, murmelte Julia. »Siehst du, wie er dich anschaut? Geoff hat mich so angesehen, und einen Monat später war ich schwanger. Du wirst entweder die Liebe seines Lebens oder sein nächstes Opfer, je nachdem, ob du der romantische oder der Thrillertyp bist. Vielleicht nimmt er Rosenblüten, um deine Leiche zu begraben. Oder die seiner Frau.«

»Hör auf!«

»Vielleicht starrt er dein Kleid an. Ich wünschte, ich könnte so etwas tragen! Dein Look ist alternativ und gleichzeitig trendig. Ich würde schrecklich darin aussehen! Ich meine – ein rotes Kleid und lila Leggings. Niemand außer dir würde diese Farben kombinieren. Kaitlin würde sich weigern, so mit mir gesehen zu werden, wohingegen sie dich für den coolsten Menschen auf dem Planeten hält. Und wo hast du diese Ohrringe entdeckt?«

»Auf dem Flohmarkt.«

»Wie auch immer. Du erregst Aufsehen mit dem Look. Obwohl ich dich nicht ansehen wollte, wenn ich einen Kater hätte.«

»Ich mag Kleidung, die …«

»… bunt ist. Ich weiß. Du verströmst immer ein Lächeln. Alle, die ich kenne, stöhnen, stöhnen, stöhnen, mich eingeschlossen, aber du bist wie eine Oase des Sonnenscheins in einem ansonsten düsteren und stürmischen Leben.«

»Wenn du diesen Strauß nicht rasch fertigstellst, wird dein Leben noch stürmischer.«

Julia schnitt die restlichen Stiele ab und blickte dann wieder auf. »Immer noch da. Der Mann wird bald Frostbeulen haben. Sieh dir seine Augen an. Voller Geheimnisse.«

Flora antwortete nicht. Sie hatte ebenfalls Geheimnisse. Geheimnisse, die sie noch nie mit irgendjemandem geteilt hatte, aber das war nicht das Traurigste. Das Traurigste war, dass niemand ansatzweise so interessiert gewesen war, um tief genug zu graben. Niemand hatte sie so gut kennenlernen wollen.

»Vielleicht weiß er einfach nicht, welche Blumen er nehmen soll.«

»Na ja, wenn irgendjemand die Wahrheit über ihn erfahren kann, dann du.« Julia band die Stiele zusammen, sodass Mrs. Martin den Strauß nur noch in die Vase stellen musste. »Die Leute erzählen dir alles, vermutlich weil du zu höflich bist, ihnen zu sagen, dass sie die Klappe halten sollen.« Sie blies sich das Haar aus den Augen. »Du nimmst Anteil.«

Ja, Flora nahm Anteil. Menschen waren wie Blumen. Sie hatten alle möglichen Farben, Größen und Formen, und sie schätzte sie alle. Ihre Mutter war genauso gewesen. Die Leute waren in den Laden gekommen, um Blumen zu kaufen, und auf einen Kaffee und ein Schwätzchen geblieben. Als Kind hatte Flora still zwischen den Blüten gesessen, umgeben von der Wärme und dem Duft und dem beruhigenden Gemurmel von Erwachsenengesprächen.

Schließlich ging die Tür auf und der Mann trat in den Laden, wobei er einen Schwall kalter Luft und einen Hauch von Erwartung mit sich brachte. Die anderen Kunden musterten ihn kurz und widmeten sich dann wieder dem, was sie vor seinem Eintreten getan hatten.

»Ich muss zugeben, er ist heiß. Ich wette, dass er in dem, was er tut, der Beste ist – was auch immer er tun mag«, murmelte Julia. »Ich kann fast verstehen, dass man eine Affäre mit ihm anfängt. Er gehört dir, aber wenn er mit dir ausgehen will, lade ihn nicht in deine Wohnung ein – es sei denn, er arbeitet für die Schädlingsbekämpfung.« Sie verschwand im Hinterzimmer des Ladens, wo weitere Blumen lagerten.

Flora verdrehte innerlich die Augen.

Er gehörte nicht ihr, und er würde auch nicht mit ihr ausgehen wollen. Er kaufte Blumen, das war alles.

»Wie kann ich Ihnen helfen?« Sie schob das Gespräch mit Julia beiseite. Wenn er eine Affäre hatte, ging es sie nichts an. Alle Menschen hatten Fehler, das wusste sie. Das Leben war ein Chaos. Blumen erhellten das Chaos des Lebens.

»Ich brauche ein Geschenk. Für eine junge Frau.« Seine Augen waren gletscherblau, ein auffälliger Kontrast zu seinem schwarzen Haar. »Eine ganz besondere junge Frau.«

Vielleicht hatte Julia recht. Vielleicht hatte er eine Affäre.

Wenn man in einem Blumenladen arbeitete, begegnete man dem ganzen Spektrum des Lebens, von Jubel bis Trauer. Es sollte ihr nichts ausmachen, doch sie war enttäuscht.

»Gibt es einen Anlass? Ein Jahrestag? Eine Entschuldigung?« Er zog die Brauen zusammen. »Eine Entschuldigung?«

Hatte sie das wirklich laut gesagt? Innerlich verfluchte sie Julia, die sie mit ihrem Zynismus angesteckt hatte. »Wenn Sie mir sagen, was der Anlass ist, kann ich Ihnen eine Blume empfehlen, die Ihre Botschaft perfekt übermittelt.«

»Das bezweifle ich.«

»Stellen Sie mich auf die Probe. Ich liebe Herausforderungen. Was sollen die Blumen sagen?«

Er musterte sie. »Sie sollen sagen: All die Male, die ich es in den letzten Monaten vermasselt habe, tun mir unendlich leid. All die Male, wenn ich das Falsche gesagt oder das Falsche getan habe, wenn ich in ihr Zimmer kam, obwohl sie allein sein wollte, oder sie allein gelassen habe, wenn sie sich Gesellschaft gewünscht hatte. Sie sollen sagen, dass ich sie lieb habe und sie immer lieb haben werde, auch wenn ich das vielleicht nicht auf die richtige Weise zeige. Sie sollen sagen, dass es mir leidtut, dass sie ihre Mutter verloren hat, und dass ich wünschte, ich könnte sie zurückbringen oder den Schmerz lindern. Vor allem wünschte ich, dass ihre Mutter jetzt hier wäre, weil sie ganz genau gewusst hätte, was sich meine Tochter zum siebzehnten Geburtstag wünscht, und ich nicht die geringste Ahnung habe.« Er hielt inne. Vielleicht hatte er zu viel gesagt. Eine leichte Röte färbte seine Wangen. »Wenn Sie es schaffen, all das mit Blumen zu sagen, sind Sie mir weit voraus.«

Flora schluckte, sie hatte einen Kloß im Hals. Sein Schmerz war aus ihm herausgebrochen, und er hatte sie berührt. Hinten im Laden war es ganz still; Julia hörte offenbar auch zu.

Eine tote Ehefrau.

»Das ist also der siebzehnte Geburtstag Ihrer Tochter.« Und er beging den Tag ohne die Liebe seines Lebens. Die Mutter seiner Tochter. Seine Frau. Flora hätte ihn am liebsten in den Arm genommen. Und seine Tochter ebenfalls. Sie wusste, was Verlust bedeutete, und verstand das große Loch, das dadurch in einem Leben entstand. Man blieb zurück und versuchte, Stücke zusammenzufügen, die nicht länger zusammenpassten. Das Leben wurde ein Flickwerk mit einigen Löchern.

»Becca – meine Frau – hätte genau gewusst, worüber sie sich freut. Sie hatte ein Händchen für das perfekte Geschenk, egal zu welcher Gelegenheit. Sie hätte vermutlich eine Party veranstaltet oder so etwas und die richtigen Freunde dazu eingeladen. Aber ich bin nicht meine Frau, und traurigerweise hat sie mir keine Notizen hinterlassen. Ihr Tod kam so plötzlich. Ich improvisiere hier.«

Flora atmete tief ein. Es nützte ihm nichts, wenn sie aus Mitgefühl weinte. Dieser Mann brauchte sie, um sein Problem zu lösen. Geschenke waren ein schwieriges Thema. Flora bemühte sich selbst immer, etwas Passendes zu finden, aber sie wusste, dass sie nicht perfekt war. Becca war es offenbar gewesen. Sie stellte sich eine kühle Blondine mit einem Notizbuch vor, in dem sie Geschenkideen notierte, sobald jemand etwas nebenbei erwähnte.

Für Tasha zu Weihnachten einen pfirsichfarbenen Seidenschal.

Am Weihnachtstag würde Tasha ihr Geschenk öffnen und jubeln und könnte kaum glauben, dass jemand ihren Geschmack so gut getroffen hatte.

Niemand würde je ein Geschenk zurückgeben, das Becca gekauft hatte.

Niemand würde es je ansehen und denken: Davon habe ich schon drei.

Kein Wunder, dass er seine Frau vermisste. Und dass er sie vermisste, sah sie ihm an.

Er hatte eine starke physische Präsenz und wirkte dennoch ein bisschen verloren und benommen. Flora war noch nie jemandem begegnet, der so stark und verlässlich und zugleich so verletzlich gewirkt hatte.

»Blumen sind ein perfektes Geschenk.« Es drängte sie plötzlich, ihm seine Last zu erleichtern. Gefallen zu wollen bedeutete nicht immer, feige zu sein. Manchmal ging es nur darum, jemandem zu helfen. »Eine wunderbare Wahl.«

Er blickte auf den Strauß, den Julia gerade gebunden hatte. »Rosen?«

»Da finden wir etwas Besseres zum siebzehnten Geburtstag. Erzählen Sie mir ein bisschen über sie. Was mag sie?«

»Im Moment? Ich weiß es nicht genau. Sie vertraut sich mir nicht an.« Er rieb sich über die Stirn und wedelte dann entschuldigend mit der Hand. »Sie denken vermutlich, ich sei ein furchtbarer Vater.«

»Sie sind hier und versuchen, das perfekte Geschenk für Ihre Tochter zu finden, das macht Sie zu einem sehr aufmerksamen Vater. Es ist immer schwierig, mit Trauer umzugehen.«

»Sie sprechen aus Erfahrung?«

Das tat sie. Sie war sicher, dass sie all seine Gefühle und auch die Gefühle seiner Tochter kannte, obwohl Flora natürlich jünger gewesen war. Gab es ein gutes Alter, um einen geliebten Menschen zu verlieren? Wohl kaum. Selbst jetzt, nach so vielen Jahren, stieg ihr manchmal der Duft einer Blume in die Nase und ließ sie ihre Mutter vermissen. »Was macht Ihre Tochter denn in ihrer Freizeit?«

»Wenn sie nicht in der Schule ist, kümmert sie sich mit um ihre Schwester. Molly ist sieben. Wenn ich nach Hause komme und Molly gute Nacht gesagt habe, zieht sie sich meistens in ihr Zimmer zurück und starrt auf ihr Handy. Haben Sie Blumen, die sagen: Vielleicht solltest du weniger Zeit mit Social Media verbringen? Das ist ein stacheliges Thema, vielleicht wären Rosen also doch passender, als Sie denken. Oder vielleicht ein Kaktus.«

Er hatte also Sinn für Humor. Vergraben, vielleicht fast vergessen, doch eindeutig vorhanden.

»Wir finden was Besseres als einen Kaktus.« Flora trat hinter dem Tresen hervor und ging zu den Eimern, die mit einer breiten Auswahl an Blumen gefüllt waren.

Sie war noch vor Sonnenaufgang auf dem Blumengroßmarkt in der West 28th Street gewesen, um nach perfekten Blüten zu suchen. Nur Blumen konnten sie dazu bringen, so früh am Morgen aufzustehen. Viele Händler konzentrierten sich auf Haltbarkeit, was auf Kosten der Farben und des Duftes ging. Doch Celia vertraute darauf, dass Flora Qualität aussuchte, und tatsächlich kam für sie nichts anderes infrage. Ihre Mutter hatte ihr beigebracht, wie wichtig die Jahreszeiten waren, und nun, am Ende des Winters, wählte sie Inkalilien und Amaryllis, Nelken und Chrysanthemen. Sie nahm große Bunde Blattgrün, Talgbaum und Eukalyptus, und sie schaffte es nie, an den Narzissen vorbeizugehen, ohne sie ihrem wachsenden Stapel hinzuzufügen. Überall, wo sie war, berührte sie die Blumen, vergrub ihr Gesicht tief in den Blüten, sog deren Duft und Frische ein. Sie behandelte Blumen wie andere vielleicht eine kostbare Flasche Wein – als etwas, das man sammelte und wertschätzte. Für Flora war der morgendliche Ausflug zum Blumengroßmarkt ein soziales Event, nicht nur, weil sie dort so viele Menschen kannte, sondern auch, weil so viele Menschen ihre Mutter gekannt hatten. Er war vertraut, eine Verbindung zur Vergangenheit, die sie wie einen Schatz hütete.

Wenn sie schließlich fertig war, half sie Carlos, den Van zu beladen, mit dem auch ausgeliefert wurde, und gemeinsam brachten sie die kostbare Fracht zum Laden. Dort wurde ihre Auswahl sortiert, von überflüssigen Blättern und Dornen befreit, Stiele wurden gekürzt. Dann begann ihr Tag im Laden: Sie bediente Laufkunden, erledigte Internetbestellungen und regelmäßige Aufträge. Ihre Beine schmerzten, doch sie war so daran gewöhnt, dass sie es an diesen Tagen kaum bemerkte.

Ihr Blick streifte die Hortensien und den Flieder und verweilte kurz bei den Lilien, bevor sie weiterging.

Sie dachte an ihre Teenagerjahre zurück, bückte sich dann und stellte einen Bund mit Gerbera in Sonnengelb und Orange zusammen. »Die sollten im Zentrum stehen.«

Er neigte den Kopf. »Hübsch.«

»Die Kelten glaubten, dass Gerbera Trauer lindern.«

»Hoffen wir, dass sie recht hatten.«

Sie spürte, wie er sie beobachtete, während sie Tulpen und Rosen auswählte und sie dem Strauß zufügte. Sie nahm sich Zeit, begutachtete die Stiele und suchte Blattwerk aus. Sie entfernte Blätter und Dornen von den Rosen und steckte den Strauß zusammen, wobei sie auf die Position und Ausgewogenheit der Blüten achtete.

»Sie machen das gut.«

Sie bestimmte den Bindepunkt und schlang das Band darum. »Das ist mein Job. Ich bin sicher, dass Sie Ihren ebenfalls gut machen.«

»Das stimmt. Und er macht mir Spaß. Vermutlich sollte ich mich deshalb schuldig fühlen.«

»Warum?« Sie wickelte die Blumen sorgfältig ein, gab Wasser in ein Säckchen und band es um die Stielenden. »Es ist ja nicht falsch, Spaß zu haben bei dem, womit man den Tag verbringt. Ich würde sagen, es ist sogar notwendig.« Sie fragte sich, welchen Beruf er hatte.

Auch wenn er mit seiner Tochter nicht weiterwusste, strahlte er ein ruhiges Selbstvertrauen aus, das den Eindruck erweckte, dass er in anderen Lebensbereichen nicht an sich zweifelte. Seine Kleidung unter dem schwarzen Mantel war leger, sodass er vermutlich kein Anwalt oder Banker war.

Werbebranche? Möglicherweise, aber sie hielt es für unwahrscheinlich. Vielleicht irgendwas im Technikbereich?

Zweifellos würde Julia übersprudeln vor Ideen und sich nicht zurückhalten.

Serienmörder.

Bankräuber.

»Ich fühle mich schuldig, weil ich es bei der Arbeit manchmal vergesse.«

»Dafür sollten Sie dankbar sein und sich nicht schuldig fühlen. Arbeit kann oft eine Ablenkung sein, und das ist gut so. Nicht jeder Schmerz kann gelindert werden. Manchmal kann man nur abwarten, dass jeder Moment ein bisschen besser wird. Diese Blumen sollten länger als eine Woche halten. Geben Sie Blumenfrisch hinzu, und wechseln Sie jeden Tag das Wasser. Und entfernen Sie Blätter, die im Wasser sind. Das hilft, die Blumen frisch zu halten.« Sie reichte ihm den Strauß. »Ach, und entfernen Sie die Schutzblätter der Rosen.«

»Schutzblätter?«

»Diese.« Sie deutete mit dem Finger auf die eingerollte Kante eines Blütenblatts. »Sie sehen welk aus, doch sie dienen dazu, die Rose zu schützen. Ziehen Sie sie ab, wenn Sie zu Hause sind, und die Blume ist perfekt. Ich hoffe, Ihrer Tochter gefällt der Strauß.«

»Das hoffe ich auch.« Er zog seine Kreditkarte hervor. »In Anbetracht der Tatsache, dass Sie mir vielleicht das Leben retten, sollte ich Ihren Namen kennen.«

»Flora.« Sie schob die Karte durch die Maschine. »Flora Donovan.« Sie blickte auf den Namen, als sie die Karte zurückgab.

Jack Parker. Der Name passte zu ihm.

»Flora. Welch passender Name! Sie haben eine Gabe für Ihren Beruf, und ich bin der Glückspilz, der voller Dankbarkeit davon profitiert.«

Flora fragte sich, ob Becca gut darin gewesen war, Blumen zu arrangieren.

»Gibt es eine Party für Ihre Tochter?«

»Sie sagte, sie will keine. Dass es nicht das Gleiche sei ohne ihre Mutter. Ich habe das ernst genommen.« Er steckte die Karte wieder in die Tasche. »War das falsch?«

Es musste schwer für ihn sein, sich in seine Teenagertochter hineinzudenken.

»Eine Party wäre vielleicht nicht das Richtige. Sie könnten etwas anderes unternehmen. Etwas, das sie mit ihrer Mutter nicht getan hätte.«

»Zum Beispiel was?«

»Ich weiß nicht …« Flora dachte darüber nach. »Ist sie sportlich? Gehen Sie in eine Kletterhalle. Oder töpfern Sie einen Tag. Begleiten Sie sie und ihre Freundinnen zu einem Salsa-Kurs. Oder machen Sie etwas gemeinsam. Wenn sie sich verloren fühlt, wünscht sie sich vermutlich am meisten, Zeit mit Ihnen zu verbringen.«

»Da wäre ich nicht so sicher. Dads sind peinlich, wenn man ein Mädchen im Teenageralter ist.«

Flora wünschte, sie wüsste, ob das stimmte. Sie hätte viel darum gegeben, einen peinlichen Dad zu haben, doch ihr Dad hatte nichts mit ihr zu tun haben wollen.

Du bist meine ganze Welt, hatte ihre Mutter immer gesagt, doch nachdem sie gestorben war, hatte Flora sich gefragt, ob das Leben nicht einfacher gewesen wäre, wenn ihre Welt ein paar Menschen mehr eingeschlossen hätte.

Sie wollte noch mehr über seine Tochter erfahren, doch es bildete sich bereits eine Schlange, und Celia sah sie vom anderen Ende des Ladens missbilligend an.

Doch er schien es nicht eilig zu haben. »Wie lange arbeiten Sie schon hier?«

»Ich kann mich an keine Zeit erinnern, die ich nicht hier gearbeitet habe.« Sie blickte hinauf zu der hohen Decke und zu den riesigen Fenstern. »Meine Mutter hat hier gearbeitet, bevor sie starb. Seit ich laufen kann, habe ich ihr geholfen. Viele unserer Kunden waren schon Kunden meiner Mutter. Wir beliefern ganz Manhattan mit Blumen.« Und sie war stolz, dass sie das fortführte, was ihre Mutter begonnen hatte. Das brachte die Vergangenheit in die Gegenwart und tröstete sie.

»Wie alt waren Sie, als Sie Ihre Mutter verloren?«

»Acht.« Kaum älter, als seine jüngste Tochter jetzt war.

»Und Ihr Vater?« Seine Stimme war jetzt leiser, und sie war dankbar für sein Feingefühl.

»Meine Mutter hat mich allein aufgezogen.«

»Wie sind Sie damit umgegangen – sie zu verlieren?« Er biss sich auf die Unterlippe. »Ich entschuldige mich! Das war eine unverzeihlich zudringliche Frage, aber im Moment bin ich so verzweifelt, dass ich überall nach Antworten suche. Nach etwas, was ich tun oder sagen kann – ich würde alles probieren.«

»Ich weiß nicht genau, ob ich überhaupt irgendwie damit umgegangen bin. Ich habe es durchgestanden, so gut ich konnte.« Ihr Leben hatte sich binnen weniger Stunden von warmem Sonnenschein zu bitterer Kälte verwandelt. Sie war von einem geborgenen, sicheren Heim an einen Ort gekommen, an dem sie sich wehrlos und ausgeliefert fühlte. »Ich bin nicht sicher, dass das, was mir geholfen hat, anderen helfen würde.«

»Was hat Ihnen geholfen?«

»Dinge, die sie mir nähergebracht haben. Blumen. Blumen haben sich so angefühlt, als wäre meine Mutter bei mir.«

Er musterte sie, und sie hätte einen Moment lang schwören können, dass er sie sah. Dass er sie wirklich sah. Nicht das rosenfarbene Kleid oder die hyazinthenfarbenen Leggings oder das Haar, das sich zum Leidwesen ihrer Tante nie bändigen ließ. Sondern die Leere in ihr. Das, was fehlte.

Er lächelte, und sie spürte, wie sich Wärme in ihr ausbreitete und die Leere füllte. Ihr Herz schlug schneller.

In seinem Lächeln lag so viel Charme. Sie war ziemlich sicher, dass er nur exakt so lange Single bleiben würde, wie er das wollte, nicht einen Moment länger.

»Sie scheinen ihren Verlust gut gemeistert zu haben.« Er hatte es nicht eilig zu gehen. »Ich mache mir Sorgen, dass meine Mädchen nicht klarkommen werden, dass ihr Leben ruiniert ist. Aber Sie machen mir Hoffnung, dass wir das auch überstehen können.«

Er strahlte Stärke aus, Ruhe und Kraft. Sie war überzeugt, dass dieser Mann alles überstehen würde.

»Sie werden einen Weg finden.« Sofort war es ihr peinlich. »Entschuldigung, das klang ziemlich abgedroschen, wie ein Kalenderspruch. So was wie ›Träume nicht dein Leben, lebe deinen Traum!‹.«

Er lächelte. »Ich hasse diese Sprüche. Vor allem die, die einem sagen, man solle im Regen tanzen.«

»Ich tanze gern im Regen.« Besser als in ihrem Apartment, wo sie mit den Ellenbogen gegen die Wände stieß.

Sein Blick traf den ihren, und wieder durchflutete sie ein warmes Gefühl. »Wann haben Sie Pause? Würden Sie mit mir einen Kaffee trinken gehen?«

Ihr Herz machte einen Satz. Bat er sie um ein Date?

»Na ja …«

»Sie fragen sich, ob ich ein durchgeknallter Serienkiller bin. Bin ich nicht. Aber Sie sind der erste Mensch seit langer Zeit, der mich zu verstehen scheint.«

Ihr fiel auf, dass seine Augen grün und nicht blau waren. Und ihr fiel auf, dass er müde aussah. Vielleicht war er sich dessen bewusst, denn er lächelte schwach, und sie lächelte unwillkürlich zurück. Der kurze Moment der Verbindung überraschte sie. Das war das Intimste, was sie seit langer Zeit erlebt hatte. Wie ironisch, dachte sie, dass ihr so etwas ausgerechnet mit einem Fremden passierte.

»Ich halte Sie nicht für durchgeknallt und auch nicht für einen Serienkiller.«

»Ich möchte Sie zu einem Kaffee einladen. Es ist so schön, mit Ihnen zu sprechen.« Sein Blick war auf etwas hinter ihr gerichtet. »Ich nehme an, die Frau, die mich so drohend anstarrt, ist Ihre Chefin?«

Flora brauchte nicht einmal hinzusehen. »Ja.«

»Wenn ich hier länger stehe und mit Ihnen rede, wäre ich also daran schuld, wenn Sie gefeuert werden. Das möchte ich nicht auf dem Gewissen haben. Danke, dass Sie mir zugehört haben, Flora! Und danke für den Rat.«

Er musste allein mit zwei traumatisierten Mädchen umgehen. Die verletzt waren. Die trauerten.

Wer kümmerte sich um ihn? Hatte er niemanden, der ihn unterstützte?

Er hatte seine Frau verloren, die offenbar in jeder Hinsicht perfekt gewesen war. Becca. War es nicht schrecklich unfair, dass Menschen, die sich in dieser schnelllebigen, komplizierten Welt gefunden hatten, einander dann wieder verloren? Das war vielleicht noch schlimmer, als überhaupt niemals jemanden gefunden zu haben.

Sie sollte sich nicht hineinziehen lassen. Ein Kaffee und ein Gespräch würden nichts heilen.

Aber konnte sie Nein sagen zu einem Single-Vater, der verzweifelt versuchte, bei seinen Töchtern das Richtige zu tun?

Sie nicht.

»Ein Kaffee ließe sich einrichten«, sagte sie. »In einer Stunde habe ich Pause.«

2. KAPITEL

IZZY

»Du bringst jemanden zum Abendessen mit? Du hast ein Date? Soll das ein Witz sein? Mom ist noch nicht mal ein Jahr tot, und du hast sie schon vergessen.« Izzy hielt beim Wäschefalten inne und presste die Lippen zusammen. Hatte sie das tatsächlich laut gesagt? Schuldgefühle überkamen sie. Sie hatte sich so sehr zusammengerissen, doch nun öffnete ihr Dad eine Schleuse, die sie fest verschlossen gehalten hatte. Seine Worte brachten all die unguten Gefühle zum Vorschein, die sie in ihrem tiefsten Inneren versteckt hatte wie in dem Schrank, in dem Mollys Spielzeug verstaut war. Izzy konnte die Tür kaum schließen. Ihre Hände zitterten, und sie fühlte sich unendlich elend. Sie fühlte sich seltsam, als ob sie im Körper von jemand anderem lebte. Sie hatte Schwindelanfälle, Momente, in denen sie sich merkwürdig abgetrennt fühlte, und Angstzustände, wenn sie nur daran dachte, dass sie in der Öffentlichkeit die Beherrschung verlieren und sich blamieren könnte.

Am Anfang hatten sich die Leute ständig um sie gekümmert. Wie geht es dir, Izzy? Und sie hatte immer geantwortet, dass es ihr gut ginge. Offenbar hatte man ihr geglaubt, denn die Kommentare veränderten sich. Du bist wirklich erstaunlich. Deine Mom wäre stolz darauf, wie du damit umgehst. Wenn Trauer ein Test war, hatte sie offenbar eine gute Note bekommen. Gelegentlich war sie sogar stolz – ein Gefühl, das sie völlig überforderte. Sollte man stolz darauf sein, zu überleben?

Allmählich hatten die Leute aufgehört, sie mit Samthandschuhen anzufassen, und waren wieder zur normalen Tagesordnung zurückgekehrt. Meist erwähnten sie es gar nicht mehr. Eigentlich hatte sie damit gerechnet, dass es so einfacher wäre, doch wie sich herausstellte, war dem nicht so. Die anderen hatten abgeschlossen, aber sie nicht. Ihr Leben war in tausend Teile zersprungen wie eine Glasschüssel, und sie versuchte noch immer, die Scherben zusammenzukleben – allein und mit wunden, blutenden Fingern. Was auch immer sie tat, nichts konnte darüber hinwegtäuschen, dass der Tod ihrer Mutter ein riesengroßes Loch in ihrem Leben hinterlassen hatte. Sie bemühte sich, es zu füllen. Um ihres Vaters willen, aber vor allem um Mollys willen.

Hatte ihr Vater auch nur einen Gedanken daran verschwendet, was sein Rendezvous für Molly bedeutete?

Wie konnte er das nur tun? Sie verstand die Liebe nicht. Was war sie wert, wenn sie nicht mal eine Narbe hinterließ? Wenn man so leicht von einem Menschen zum anderen wechseln konnte?

Izzy wusste, dass sie sich vermutlich für ihn freuen sollte, doch das konnte sie nicht. Wenn er einen Neuanfang machte, wo blieben sie dann als Familie? Wo blieb sie?

Die Geräusche um sie herum wurden leiser, und sie hörte ihr Blut pulsieren.

Sie fühlte sich verloren und voller Panik.

Vielleicht war es nichts Ernstes. Am liebsten hätte sie ihr Handy gezückt und den Begriff »Trostbeziehung« gegoogelt. Sie wusste, dass er litt, auch wenn er das gut verbarg. Sie würde nicht zulassen, dass sich das irgendeine opportunistische Frau zunutze machte. Eine Parade fremder Frauen, die durchs Haus zogen, war das Letzte, was Molly jetzt gebrauchen konnte.

Ihr Vater legte den Arm um sie, doch obwohl sie eine Umarmung mehr als alles andere brauchte, duckte sie sich weg.

Er wirkte erstaunt. »Was ist los mit dir?«

»Tut mir leid. Langer Tag.« Mit zusammengebissenen Zähnen schüttelte Izzy ein weiteres Handtuch aus und faltete es.

»Glaubst du wirklich, ich könnte sie vergessen?«

»Ich weiß nicht. Scheint so, das ist alles.«

Es machte sie ganz verrückt, dass er so gefasst war. Sie versuchte das ebenfalls, doch er legte die Messlatte ziemlich hoch. Ob er manchmal weinte? Ob er jemals unter der Dusche Rotz und Wasser heulte, wie sie es tat, wenn das Wasser ihre Tränen fortspülte? Sie wollte sich vergewissern, dass sie normal war, dass sie nicht die Einzige war, der es schlecht ging. Dabei ahnte sie insgeheim, dass es sie erschrecken würde, seine Tränen zu sehen.

Die Situation war völlig verfahren, doch wenn er tapfer und stoisch sein konnte, dann konnte sie das auch.

Wenn er sich zusammenreißen konnte, dann konnte sie das auch. Sie hatte das doch gut hinbekommen, oder? Zumindest bis heute.

Sie legte ein weiteres Handtuch zusammen und dann noch eines, bis ein ordentlicher Stapel vor ihr lag. Erstaunlich, wie beruhigend es war, diese eine kleine Aufgabe erledigt zu haben.

Mrs. Cameron kam jeden Morgen zum Putzen und machte die Wäsche, doch Izzy holte sie aus dem Trockner und legte sie zusammen. Das machte ihr nichts aus. Es war sogar ein bisschen meditativ.

»Ich habe Veggieburger zum Abendessen gemacht.«

»Schon wieder? Hatten wir die nicht erst vorgestern?«

»Veggieburger sind Mollys Lieblingsessen.« Aber vielleicht hätte sie das Lieblingsessen ihres Dads und nicht das ihrer Schwester zubereiten sollen. Druck, Druck, Druck.

»Dann ist es die richtige Entscheidung, Izz. Du bist mein Superstar. Deine Mom wäre so stolz auf dich.« Er nahm den Stapel gefalteter Handtücher. »Molly hat das Sandwich nicht gegessen, das ich ihr heute Morgen gemacht habe.«

»Hast du ihr Schinken draufgetan? Sie mag keinen Schinken.«

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