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Sommersonnenfunkeln

Als Buch hier erhältlich:

Wenn das Ja-Wort nur der Anfang ist ...

Lily liebt es, in Hawke's Cove zu leben. Seit einem schweren Unfall in der Nacht ihres Abschlussballs hat sich vieles verändert, und Lily hat auf dem Hawkesbury-Anwesen ein Zuhause und eine Aufgabe gefunden. Dass sie ausgerechnet hier nun die Hochzeit ihrer besten Freundin planen darf, ist das Tüpfelchen auf dem i. Doch als der Besitzer des Anwesens stirbt und sein Sohn die Hochzeit absagt, steht sie nicht nur vor einer logistischen Herausforderung, sondern auch einer emotionalen. Sie muss sich Henry Hawkesbury stellen – einem Mann, den sie seit jener schicksalhaften Nacht vor zehn Jahren nicht mehr gesehen hat.


  • Erscheinungstag: 25.07.2023
  • Seitenanzahl: 352
  • ISBN/Artikelnummer: 9783365002988

Leseprobe

Liebe Leserin, lieber Leser,

vor etwas mehr als zwei Jahren habe ich mich auf den Weg gemacht, und was du hier in Händen hältst, Sommersonnenfunkeln, ist der Abschluss einer wunderbaren Reise der Freundschaft und Romantik. Es ehrt mich zutiefst, dass du dich entschieden hast, dieses Buch zu lesen.

In die Welt der Belletristik einzutauchen, war für mich sowohl Inspiration als auch Therapie. Ich habe lange nach einer romantischen Geschichte gesucht, die sich für mich real anfühlt und die Liebe in der heutigen Zeit widerspiegelt. Irgendwann fing ich an, einen Plot mit Charakteren zu entwickeln, in die ich mich einfühlen und in denen ich meine Freundinnen wiedererkennen konnte, und ich hoffe, das Ergebnis ist gelungen.

Ich bin überwältigt von der Resonanz auf alle vier Heldinnen – Victoria, Malie, Zoe und Lily – und die Reaktion auf ihre persönlichen Geschichten, ihre Kämpfe und darauf, wie sie ihre Ängste auf eigene Art überwinden. Sie sind mutig, entschlossen, und vor allem bleiben sie sich selbst treu.

Vielen Dank für deine Unterstützung. Sommersonnenfunkeln ist ein ganz besonderes Buch. Es ist die Krönung von vier wunderbar unterschiedlichen Geschichten, und ich hoffe sehr, dass du beim Lesen in eine Welt voller Romantik eintauchen kannst.

In Liebe

Toff

Georgia Toffolo ist eine britische Medienpersönlichkeit. Sommersonnenfunkeln ist das letzte Buch
ihres Vierteilers und ihr vierter Roman.
Sie lebt im Südwesten Londons
mit ihrem Hund Monty.

Gewidmet den großartigen Menschen von Devon –
für eure unendliche Inspiration und das Glück,
am besten Ort der Welt zu leben.

Prolog

Die Scheibenwischer schlugen hin und her, wischten den Regen aus dem Blickfeld und ließen die Scheinwerfer eines entgegenkommenden Autos aufblitzen. BBC Radio 1 zählte die Top Ten herunter, und die Mädchen im Auto lachten.

»Ich kann es kaum erwarten, sein Gesicht zu sehen, wenn er dich sieht, Zo. Er wird Stielaugen machen!«

»Ach was«, wiegelte Zoe ab, »aber was sagt ihr zu V?« Sie wandte sich an Victoria, die am Steuer saß und sie alle im Auto ihres Vaters zum Sommerball fuhr. »Echt, V, du siehst so was von toll aus in deinem Kleid. Ich kann es immer noch nicht fassen, dass du es selbst genäht hast.«

»Danke sehr«, summte Victoria, die sich offensichtlich sehr über das Lob freute.

Lily sah die Umrisse von Malies angespannten Schultern vor ihr auf dem Sitz und streckte eine Hand aus, um ihr über den Arm zu streichen.

»Hey, alles okay?«

»Ach, na ja …« Malie zuckte mit den Schultern. Die Spannung war immer noch da.

»Deine Eltern mal wieder?«

Malie nickte nur.

»Du kannst heute Nacht bei mir schlafen, wenn du willst.«

»Danke, das ist lieb von dir, aber ich sollte Ärger wohl besser vermeiden.« Malie seufzte.

Lily lehnte sich zurück und fing Zoes mitfühlenden Blick auf.

»Wow. Das war’s dann wohl. Abi in der Tasche und niemals wieder Schule …«

Das Ende einer Ära, dachte Lily und betrachtete durch die Dunkelheit ihre besten Freundinnen. Hawke’s Cove war zwar nicht das kleinste Küstendorf in Devon, aber es war auch nicht gerade eine Stadt, und da sie seit der Grundschule in dieselbe Klasse gegangen waren, waren sie immer füreinander da gewesen. Geburtstage, Trennungen, nervende Eltern, der Verlust eines Elternteils, erste Küsse … Jeder entscheidende Moment in ihrem Leben war mit ihren Freundinnen verbunden.

»Also, was wollen wir mit dem ersten Tag unseres restlichen Lebens anfangen?«, fragte Victoria munter.

»Surfen!«, rief Malie.

»Schlafen!«, antwortete Zoe.

»Arbeiten«, brummte Lily.

Alle lachten, was auch sonst, denn jede wusste, dass Lily ihren Job im Restaurant des Hawkesbury Hotels liebte. Nur der frühe Schichtbeginn am Samstagmorgen war mörderisch. So war es schon während ihres gesamten letzten Schuljahrs gewesen, und genauso grausam würde es morgen sein.

Aber gleichzeitig wäre es auch ihre letzte Schicht. Lily hatte viel gearbeitet und eine Menge Geld gespart – genug, um die Kochschule in London zu bezahlen. Sie hatte es geschafft. Sie war eine wahrhaft unabhängige Powerfrau. Als sie bei dem Gedanken lächelte, bemerkte sie Victorias Blick im Spiegel.

»Worüber lächelst du?«, fragte V.

»Nichts. Ich denke nur nach.« Sie seufzte. »Ich werde euch so vermissen.«

»Hey, wir sind ja nicht aus der Welt. Außerdem gehen wir doch beide nach London und können da ordentlich zusammen einen draufmachen.«

»Ich weiß zwar noch nicht, wo ich sein werde, aber jedenfalls nicht hier, das ist mal sicher«, meldete sich Zoe zu Wort. »Aber egal, wo, ich erwarte monatliche Besuche von euch allen.«

»Na, keine Pläne, nach Ibiza zurückzukehren?«, fragte Malie lachend vom Beifahrersitz aus.

»Hey«, rief Zo, »wir hatten doch ausgemacht, kein Wort mehr darüber zu verlieren. Nie wieder!«

»Es ist ja nicht so, dass wir es nicht wollen, sondern dass du es nicht kannst«, antwortete Malie wie aus der Pistole geschossen. »Ist schließlich nicht unsere Schuld, dass du dich nicht erinnerst, was passiert ist in den … hm … so circa drei Stunden, oder?«

Lily spürte, wie eine Blase aus zurückgehaltenem Lachen im Inneren des Wagens anwuchs, die sie alle gleichzeitig umschloss. Doch dann schien es, als würde ihnen allen klar, dass dies einer ihrer letzten gemeinsamen Abende sein könnte, und so platzte die Blase nicht, sondern schrumpfte wieder ein wenig. In der Stille empfand Lily jedoch keine Traurigkeit, sondern nur ein starkes Band der Freundschaft, das sie alle vier zusammenhalten würde, wohin sie auch gingen. Es würde sie immer verbinden, das fühlte sie. Das wusste sie.

Victoria beugte sich zum Radio und drehte es leiser.

»Nicht zu fassen, dass ihr Ibiza erwähnt habt«, brummte Zoe.

Stirnrunzelnd schaute Victoria auf die Straße vor ihnen.

»Alles in Ordnung?«, fragte Malie.

»Ich denke, schon, es ist nur …« Victoria warf einen Blick in den Rückspiegel, woraufhin sich Lily und Malie auf ihren Sitzen umdrehten, um nachzusehen, was sie meinte. »Nichts weiter, nur das Auto hinter uns fährt irgendwie komisch.«

»Sind das nicht Claudia und Henry?«, fragte Zoe Lily.

»Woher soll ich das wissen?«, entgegnete Lily und erschrak selbst über ihren abwehrenden Tonfall, der bei Zoe nur umso mehr Aufmerksamkeit erregen würde.

»Ach, weiß nicht«, sagte Zoe und zuckte heftig mit den Schultern, wobei sie breit grinste. »Du scheinst dich nur ziemlich für den kleinen Lord Fauntleroy zu interessieren.«

»Nenn ihn nicht so. Er ist einfach nur der Sohn meines Chefs, mehr nicht.«

»Ich wünschte, er hätte etwas von der Freundlichkeit deines Chefs geerbt«, grummelte Malie.

»Ich habe gehört, dass sie zusammen sind, aber dass er für den Sommerball extra von der Uni nach Hause kommt, hätte ich nicht gedacht«, bemerkte Zoe.

Victoria blickte wieder aufmerksam in den Rückspiegel, und im nächsten Moment heulte ein Motor auf und übertönte das leiser gedrehte Radio.

Etwas veränderte sich. Eine Spannung lag in der Luft, als würde ein Seil straff gezogen, eine ansteckende Panik breitete sich im Inneren des Wagens aus, und Lily spürte, wie sich ihre Wahrnehmung schärfte.

»Ich muss …!«

Victoria riss das Auto zur Seite.

»Was ist los?«, stieß Malie hervor.

»Sie will uns überholen. Verdammt, haltet euch fest«, sagte Victoria und blickte schnell zwischen der Straße vor ihnen und dem Auto hinter ihnen hin und her. Lily drehte sich um und sah, wie das Auto gerade ausscherte und zum Überholen ansetzte.

Lily spürte, wie Victoria vom Gas ging, um das andere Auto überholen zu lassen, und die plötzliche Verlangsamung schien ihr den Brustkorb hoch in die Kehle drücken zu wollen. Der andere Wagen hatte sie fast überholt, als Lily aus dem Augenwinkel sah, wie dessen Hinterrad seitlich ausbrach.

»Warte!«

»Bremsen!«

»Stopp!«

»Nein!«

Kapitel 1

Zehn Jahre später …

Jedes Mal, wenn Lily Atwell beim Kneten die Faust in den Zuckerguss-Fondant schmetterte, sah sie das Gesicht von Henry Hawkesbury vor sich.

Jedes. Mal.

Er hatte alles kaputt gemacht. Aber sie würde nicht zulassen, dass er diese Torte kaputt machte. Es war die neunte Inkarnation der Hochzeitstorte für ihre beste Freundin Victoria. Nachdem sie sich endlich für den Biskuit entschieden hatte – eine köstliche Brombeer-Limetten-Kombination –, konzentrierte sie sich auf das Topping. Sie war hin- und hergerissen zwischen Buttercreme und Royal Icing und probierte beides aus. Dabei blendete sie konsequent die Tatsache aus, dass die Hochzeit ihretwegen oder, besser gesagt, wegen dieses verdammten Henry Hawkesbury vielleicht gar nicht stattfinden würde. Aber nein, widersprach sie sich in Gedanken selbst – stattfinden würde sie natürlich, nur nicht so, wie Victoria es sich gewünscht hatte. Und allein das war inakzeptabel.

Lily spürte Panik in ihrer Brust aufsteigen und drückte erneut die Faust in die feste Glasur, die sie auf der glatten Metallarbeitsfläche ihrer Restaurantküche knetete. Was fiel ihm ein, hier nach zehn Jahren wieder aufzuschlagen und alles kaputt zu machen? Was fiel ihm ein, den Wunsch seines Vaters zu ignorieren und sich zu weigern, Victorias Hochzeit wie geplant auf dem Hawkesbury-Anwesen stattfinden zu lassen?

Sie zuckte zusammen, als plötzlich ihr Handy laut und wütend vibrierend die Stille durchbrach. Nachdem es sich durch die Vibration gefährlich nahe auf die Kante des Regals zubewegt hatte, auf der es lag, gelang es Lily gerade noch rechtzeitig, nach oben zu greifen, um es im Fall aufzufangen.

Sie meldete sich, ohne auf den Bildschirm zu schauen. Das war nicht nötig. Nur drei Menschen riefen sie morgens um halb sieben an, und dann nahm sie ab, egal, womit sie beschäftigt war; denn so war es zwischen ihr und Victoria, Malie und Zoe. Sie waren ihr Fels in der Brandung. Sie waren füreinander da gewesen, vor, während und nach dem Unfall vor zehn Jahren. Sie hatten geweint, gelacht und alles miteinander geteilt, aber vor allem hatten sie sich bedingungslos geliebt. Und sie hätte wirklich nicht gewusst, wie sie ohne ihre Freundinnen hätte überleben können. Sie klemmte das Telefon zwischen Schulter und Ohr.

»Hallo?«

»Gut, du bist wach«, ertönte Zoes klare Stimme aus dem Lautsprecher.

»Natürlich bin ich wach. Welcher normale Mensch wäre das nicht um sechs Uhr dreißig an einem Sonntagmorgen? Alles in Ordnung?«

»Ja«, antwortete Zoe mit einem Ton, der ahnen ließ, dass es alles andere als das war.

»Was ist los?«, stieß Lily hervor, während sie weiter in die Glasur drückte. »Ist es wegen Finn? Ihr habt es euch doch nicht etwa anders überlegt?« Sie war überrascht gewesen, dass Finn, dieser mürrische Teenager von damals, sich im Laufe der Jahre in den großen, gut aussehenden, dunkelhaarigen Mann verwandelt hatte, als den sie ihn erst vor einem Monat an Zoes Seite wiedergetroffen hatte. Sie selbst hätte sich keinen besseren für Zoe vorstellen können.

»Nein! Nein, nein. Ganz im Gegenteil …« Und schon hörte sie wieder diese Spur versonnener Sehnsucht, die ihre Freundinnen in den letzten Monaten erfasst zu haben schien. Die Tatsache, dass sie alle das Glück an ihrer Seite gefunden hatten, ließ Lilys Herz hüpfen. Denn obwohl sie sich manchmal einsam fühlte, weil sie so weit weg von den anderen war, freute sie sich für sie. »Warte, ich schalte Malie mit dazu, dann kannst du loslegen.«

»Womit loslegen? Habe ich die letzten verlorenen Stunden verpasst? Ich bin mir ziemlich sicher, dass es für V zu früh ist …«

»Nein, warte mal …«

»Verlorene Stunden« war ihr Code für einen »Alles stehen und liegen lassen, egal wie spät es ist«-Anruf geworden. Eine »Unterbrechung für einen Notfall« – oder für Neuigkeiten. Es hatte sie gerettet, sie unterstützt und sie verbunden, über Jahre und Kontinente hinweg.

»Hola, Ladys.« Lily musste bei Malies Begrüßung unwillkürlich lächeln. »Hab ich’s verpasst?«, fragte sie. Als Lily ein Rascheln übers Telefon hörte, stellte sie sich vor, wie Malie ihre lockige Haarpracht hinters Ohr strich.

»Was verpasst?«, fragte Lily verwirrt.

»Nein, du kommst noch rechtzeitig«, antwortete Zoe. »Ich beginne gerade eine Intervention.«

»Noch eine?«, fragte Lily und dachte an Zoes letzte unnötige Intervention, nachdem Malie endlich erkannt hatte, dass sie sich total, hundertprozentig und bis über beide Ohren in Todd Masters verliebt hatte.

»Ja. Es ist schon drei Wochen her, Lils.«

Lilys Herz begann zu flattern.

»Hast du es V inzwischen gesagt?«, fragte Malie sanft.

»V was gesagt?«, fragte Lily, faltete den Fondant und schlug erneut darauf ein.

»Lily Atwell«, rief Zoe in den Hörer, »du bist genial, grandios und schön, aber du hast einen Hang dazu, die Augen vor der Wahrheit zu verschließen!«

»Das tue ich überhaupt nicht, Zo!«, rief Lily ihrerseits und stieß geräuschvoll die Luft aus, während sie zum Nudelholz griff.

»Wie spät ist es, Lils, und was, um Himmels willen, machst du da?«

»Es ist halb sieben und ich mache Icing.«

»Im Ernst?«

»Darum geht’s gerade nicht, Malie«, unterbrach Zoe. »Hör zu, Lils, das ist eine ernste Angelegenheit, und wenn du das nicht in Ordnung bringst, komme ich und …«

»Was, du setzt dich ins Flugzeug und fliegst den ganzen Weg von Sydney hierher?«

»Nein«, antwortete Zoe nach einer seltsamen Pause, »natürlich nicht. Aber so kann es nicht weitergehen. V muss wissen, dass ihre Hochzeit nicht auf dem Hawkesbury-Anwesen stattfinden kann.«

»Nein, muss sie nicht«, beharrte Lily, was Zoe mit einem unangenehm laut hörbaren Stöhnen quittierte, »weil ich dafür sorgen werde, dass sie dort stattfinden wird. Ich schaffe das.«

»Wie denn, Lils?«, fragte jetzt Malie mit einem derart zweifelnden Ton, dass es Lilys Entschlossenheit ein wenig ins Wanken brachte. »Er hat doch längst Nein gesagt.«

»Dann werde ich ihn eben dazu bringen, Ja zu sagen.«

»Hast du ihn getroffen?«

»Nicht seit …«

Nein. Ganz bestimmt nicht! Auf keinen Fall!

Henrys letzte Worte zu diesem Thema gingen ihr durch den Kopf, und wieder fühlte sie den Impuls, mit dem Nudelholz auf ihn loszugehen.

»Lils, hör zu. Es ist kein Weltuntergang.«

»Aber Blake wollte es doch so gern«, antwortete Lily traurig und stur zugleich, während sich der Schmerz über den Verlust ihres Freundes von Neuem in ihrer Brust ausbreitete. Er war so viel mehr als das gewesen. Freund, Chef, Mentor … Keine der Bezeichnungen schien dem gerecht zu werden, was er ihr bedeutet hatte.

Vaterfigur.

»Ich weiß, Schätzchen, aber Blake ist nicht mehr da.« Malies Worte waren lieb gemeint, aber sie berührten eine Wunde, die nicht einmal ansatzweise geheilt war, und Lily schluckte gegen eine Welle der Trauer an. »Möchtest du, dass ich früher zurückkomme? Ich könnte jemanden finden, der für mich einspringt, und …«

»Nein, Malie«, unterbrach Lily, »ehrlich, das musst du nicht tun. Ich weiß, dass du noch einiges zu erledigen hast, bevor du nach Hause kommst.«

»Nach Hause. Wie schön das klingt«, antwortete Malie, und Lily konnte sich das Lächeln auf ihrem Gesicht vorstellen. Sie konnte es kaum erwarten, dass Malie wieder nach Hawke’s Cove kam. Ihre Freundin war um die ganze Welt gereist und hatte sich einen Namen in der Surferszene gemacht, bevor ihr Patenonkel ihr einen Job an einer Surfschule auf Hawaii angeboten hatte, wo sie seitdem unterrichtet und sich schließlich niedergelassen hatte.

Dann hatte Malie den perfekten Mann gefunden – Todd –, der nicht versuchte, ihre wunderbare Wildheit zu zähmen, sondern sie stattdessen ergänzte. Er gab ihr einen sicheren Hafen, wenn sie ihn brauchte, und besänftigte einige ihrer gischtgekrönten Wellen, die Malie zu einer Naturgewalt machten. Zusammen hatten sie beschlossen, nach Hawke’s Cove zurückzukehren, und niemand war so glücklich über diese Nachricht wie ihre Eltern, nicht einmal Lily. Es hatte Wunder gewirkt, um die dunklen Wolken zu vertreiben, die seit dem Verlust ihres Sohnes Koa über ihnen hingen. Er war an Krebs gestorben, als Malie sechzehn war. Damals hatte eine harte Zeit begonnen, denn aus ihrer Trauer heraus hatten Malies Eltern das Bedürfnis, sie um jeden Preis zu beschützen. Dabei sahen sie nicht, wie sehr sie ihre Tochter einengten, und Malie hatte die erste Gelegenheit ergriffen, um um die halbe Welt zu fliegen, damit sie dem entging.

Aber jetzt würde sie bald zurückkommen und das Surfgeschäft ihrer Eltern wieder eröffnen. Sie kam nach Hause. Das war immer Lilys größter Wunsch gewesen – ihre Freundinnen, zurück in Hawke’s Cove … Und während Zoe noch immer in Sydney weilte und sich aufs Schreiben konzentrierte, freute Lily sich riesig darauf, sie alle zur Hochzeit wiederzusehen. Falls es eine Hochzeit geben würde.

»Weißt du denn, warum Henry die Hochzeit abgelehnt hat?«, fragte Malie und holte Lily damit in die Gegenwart zurück.

»Keine Ahnung.« Falten, schlagen, rollen. Der arme Fondant.

»Vielleicht solltest du es herausfinden«, schlug Zoe vor. »Dann könntest du ihn möglicherweise umstimmen.«

Lily hielt kurz inne und ließ das Nudelholz in der Luft schweben. »Das ist gar keine schlechte Idee.«

»Na ja, also, es ist der Ansatz einer Idee, aber wir sollten nicht gleich euphorisch werden«, mahnte Zoe.

»Nein, ich denke … Ich glaube, es könnte funktionieren, o-der?«, sagte Lily, die nach wochenlanger Hilflosigkeit endlich so etwas wie einen Schlachtplan vor sich sah. »Ich muss nur den Grund herausfinden, und dann stimme ich ihn um. Ich biete ihm einfach eine Gegenleistung an.«

»Ach so? Hast du etwa vor …«

»Nun mach dich nicht lächerlich. Nur weil ihr alle Sex habt, heißt das nicht, dass …«

»Ehrlich gesagt, könnte es dir aber wirklich helfen, etwas von deiner Spannung abzubauen …«

»Ich leg sofort auf!«, rief Lily dazwischen, bevor Malie noch weiter ins Detail gehen konnte.

»Lils, mal im Ernst«, mischte sich Zoe ein. »Ich hab dich lieb, grenzenlos, aber ich gebe dir eine Woche Zeit, okay? Wenn du ihn bis dahin nicht überredet hast, die Hochzeit auf dem Anwesen zu veranstalten, müssen wir V wirklich Bescheid sagen. Die Einladungen sind schon verschickt.«

»Ja, ist ja gut, ich weiß. Aber mach dir keine Sorgen. Ich werde das regeln. Ich hab schon einen Plan«, sagte Lily mit finsterer Entschlossenheit, während sich in ihrem Kopf langsam eine Idee formte.

»Nämlich?«

»Mich mit ihm zusammensetzen, die Bedingungen aushandeln und ihn dazu bewegen, die perfekteste, wunderbarste und schönste Hochzeit aller Zeiten zu veranstalten.«

Nachdem sie das Gespräch beendet hatte, überlegte sie, was zu tun war. Sie würde zum Anwesen gehen und einen Waffenstillstand ausrufen. Und wenn sie schon mal da war, konnte sie auch gleich die Kräuter für den Abend holen. Sie war nicht mehr dort gewesen, seit …

Lily konnte sich nicht dazu durchringen, die Worte in ihrem Kopf auszusprechen. Als sie sich vorbeugte, um den Fondant zu kneten, legte sie noch mehr Kraft und Entschlossenheit hinein. Blakes Tod hatte sie am Boden zerstört. Er hatte einen der wenigen Anker, die Lily noch blieben, gekappt. Um die Tränen, die ihr in die Augen stiegen, zurückzuhalten, strich sie sich über die Wange und hinterließ dabei, ohne es zu merken, eine Spur aus Puderzucker. Dann klopfte sie den weißen Klops vorsichtig ab, bevor sie ihn in eine luftdichte Box legte.

Sie würde Henry Hawkesbury zum Einlenken bewegen, denn Victorias Hochzeit sollte perfekt sein.

Sie musste perfekt sein.

* * *

Trotz ihrer Sorgen konnte Lily sich ein Lächeln nicht verkneifen, als sie ihr Fahrrad auf die gepflasterte Hauptstraße schob, die durch das kleine Küstenstädtchen Hawke’s Cove führte. Sie liebte diese Jahreszeit. Die Frühsommersonne stieg über den Hügel in der Ferne und schien auf die Hafenstadt hinab. Die Fischer waren noch nicht von ihrem morgendlichen Fang zurück, und die Touristen waren auch noch nicht in Scharen hereingeströmt. Es war … friedlich.

Sie trat in die Pedale, fuhr vorbei an Mrs. Whittakers Haus, wo sich wie immer die Gardine am Fenster bewegte, und winkte der örtlichen Klatschtante fröhlich zu. Natürlich würde sie registrieren, dass Lily zum Anwesen unterwegs war. Zumal es das erste Mal seit Blakes … Beerdigung war, dass sie sich wieder dort hinwagte.

So. Sie hatte es ausgesprochen.

Zumindest in Gedanken.

Geübt wich sie dem Gully aus, wie immer, seit sie sich ein einziges Mal davon hatte überraschen und aus dem Sattel werfen lassen, und bog an der Gabelung auf der Kuppe des Hügels links ab, um den flachen Weg in Richtung Wald entlangzuradeln, der das Landgut umgab. Je näher sie kam, desto schwerer fühlte sich jeder Tritt an.

Blake war ein so wichtiger Mensch in ihrem Leben gewesen. Als sie gerade sechzehn war, hatte er ihr einen Job in der Küche des zu einem Hotel umgewandelten Herrenhauses gegeben. All der Glanz und der Luxus des großen Gebäudes, das makellose Restaurant und die Opulenz der Zimmer, in die sie damals höchstens einen scheuen Blick geworfen hatte, hatten sie enorm beeindruckt. Es war kein Vergleich zu der kleinen, kistenartigen Sozialwohnung am Stadtrand, in der sie und ihre Mutter zu der Zeit gewohnt hatten.

Damals hatte sie versucht, genug Geld für die Kochschule in London zu sparen, die sie nach dem Schulabschluss besuchen wollte, aber der Unfall … Nun ja, sie hatte ein zusätzliches Jahr gebraucht, und Blake hatte nicht nur den Job für sie frei gehalten, sondern sie auch im Krankenhaus besucht, wo sie, wenn auch nur für kurze Zeit, hatte bleiben müssen.

Sie hatte den Unfall fast unbeschadet überstanden, besonders im Vergleich zu Victoria und Zoe. Die winzigen silbernen Narben auf ihren Armen waren nichts im Vergleich zu den Verletzungen ihrer Freundinnen. Lily versuchte, nicht an diesen Abend zu denken, aber selbst jetzt, wo sie sich unter dem dichten Blätterdach hindurch vorwärtsbewegte, blitzten Erinnerungen in ihrem Geist auf wie die Lichtsplitter, die durch das Laub fielen.

Das schreckliche Geräusch der schlitternden Reifen, das Blaulicht der Rettungswagen, das markerschütternde Kreischen von Metall, als die Feuerwehrleute das Dach des Wagens aufschlitzten. Sie zitterte bei der Erinnerung an die Schreckens- und Schmerzensschreie. Sie war gegen die Seitentür gequetscht worden, von wo aus sie einen freien Blick auf die Rückbank gehabt hatte, direkt bis in die Windschutzscheibe des anderen Autos. Claudia hatte bei dem Versuch, sie zu überholen, die Kontrolle über den Wagen verloren, der sie daraufhin mit der Motorhaube voran seitlich gerammt hatte.

Es war die Hölle gewesen. Männer brüllten herum, jemand stieß sie an und zwang sie, sich zu bewegen, obwohl es das Letzte war, was sie wollte. Sie wehrte sich dagegen, wollte Victoria, Malie und Zoe nicht alleinlassen, egal wie sehr die Sanitäter versuchten, sie herauszuholen. Sie ergriff Malies Hand, fasste nach vorn, nach der von Victoria, die auf dem Fahrersitz festsaß, und starrte Zoe an, weil sie sie nur mit dem Blick erreichen konnte. So harrte sie aus, als hinge ihrer aller Leben davon ab. Sie hielten sich an den Händen wie erstarrt, bis man sie praktisch aus dem Wrack herauszerrte.

Während Lily und Malie nach etwa einer Woche entlassen wurden, mussten Zoe und Victoria weiter behandelt werden. Sie und Malie hatten eigentlich bei ihnen einziehen wollen, aber die Krankenschwestern und das Personal des Krankenhauses weigerten sich, das zuzulassen. Das hatte die beiden aber nicht davon abgehalten, eines Nachts einzubrechen, wobei sie den Alarm des Notausgangs auslösten, obwohl sie bei einem früheren Besuch die Tür mit einem Keil offen gehalten hatten.

In den Monaten, die Zoe im Krankenhaus verbrachte, war es das einzige Mal, dass Lily und Malie in ihren Augen Tränen sahen, die vom Lachen anstatt von den Schmerzen herrührten, und allein das war ihnen jede Standpauke vonseiten des Krankenhauses wert gewesen.

Als Lily weiter in die Pedale trat, empfand sie dieses Gefühl und die Leichtigkeit als etwas Einzigartiges und Wunderbares. Zoe konnte seit diesem Unfall ihre Beine nicht mehr bewegen, und Victoria konnte auf natürlichem Wege keine Kinder bekommen.

Dieser Abend hatte jedem der Mädchen etwas genommen, und zehn Jahre später erkannte Lily nun, dass sie immer noch den Nachhall dieses Verlustes spürten. In den letzten Monaten jedoch hatten Victoria, Malie und Zoe mithilfe der Liebe und Akzeptanz ihrer Partner einen Weg nach vorn und in die Zukunft gefunden. Und selbst der kleine Schatten der Einsamkeit, den sie erneut wahrnahm, weil sie alle so weit weg waren, konnte ihr Glück darüber nicht trüben.

Lily radelte weiter in den Wald, der das Hawkesbury-Anwesen umgab. Hier warf das dunkle Blätterdach nicht allein Schatten. Es weckte auch Erinnerungen an Blake. Die ruhigen Hände, mit denen der ältere Mann sie angeleitet hatte, die ausgebreiteten Arme, wenn er sie nach ihrer Rückkehr aus London umarmt hatte. Die wohlige Ablenkung, die er ihrem schmerzenden Herzen geboten hatte, nachdem ihr Ex-Verlobter sie betrogen hatte. Seine stille, traurige Sehnsucht danach, dass sein Sohn zurückkehren würde … der Sohn, der Hawke’s Cove vor zehn Jahren verlassen hatte, ohne sich auch nur einmal umzuwenden.

Bis es zu spät war.

Sie fröstelte. Als die Empfindung des kürzlichen Verlusts mit der Erinnerung an das damals Erlebte verschmolz, wurde ihr trotz der Anstrengung mit einem Mal kalt im Schatten. Es ergriff sie eine Traurigkeit, die abzuschütteln ihr nur mit Mühe gelang. Schließlich führte der Weg aus dem Wald hinaus auf die weitläufigen, offenen Hügel der Hawkesbury-Ländereien. Die Weinberge erstreckten sich terrassenförmig von der Kuppe hinunter, auf der stolz das georgianische Gebäude thronte. Der Anblick erfüllte Lily immer mit einem Glücksgefühl, selbst heute, unter dem spitzen Stachel der Trauer. Blake hatte so hart für jede Rebe gearbeitet. Der Stolz in seiner Stimme und in seinem Blick, wenn jede weitere Lese üppiger ausfiel als die vorige und der Wein immer beliebter wurde, war für alle unverkennbar gewesen. Der Löwenanteil der Produktion ging natürlich an sein Restaurant, aber in den letzten drei Jahren hatte das Weingut auch immer mehr Händler mit hochwertigem Wein beliefert, der sogar international Anerkennung fand.

Als Lily das Fahrrad zum Stehen brachte und ihr Gewicht auf einen Fuß verlagerte, drängte sich ihr die Frage auf, was jetzt geschehen würde. Was würde Blakes Sohn, der im Streit gegangen war, nun mit dem Anwesen machen – und mit allem, was sein Vater so mühevoll aufgebaut hatte?

* * *

Henry drückte auf Senden und fuhr sich mit der Hand übers Gesicht, um die Erschöpfung aus den müden Augen zu wischen. Sein Telefon gab ein Ping von sich.

Keine Bange. Ich komm super ohne dich klar.

Obwohl Henry wusste, dass sein Geschäftspartner es ironisch meinte, hoffte er trotzdem, dass dies nicht der Fall war. Ihr Unternehmen war über die Jahre hinweg sein Rettungsanker gewesen, und wer weiß, wo er ohne Ben gelandet wäre. Wahrscheinlich auf dem Boden einer Flasche – und garantiert keiner Weinflasche.

Henry seufzte. Verdammt schrecklich?

Ganz okay.

Jetzt, wo er den Angestellten vier Wochen bezahlten Urlaub gegeben hatte, würde es sicherlich besser gehen. Er brauchte etwas Zeit für sich, um einfach nur zu sein. Ohne Mitarbeiter oder Hotelgäste, die die Zimmer einnahmen. Die Zimmer, die sich ziemlich verändert hatten in den zehn Jahren, seit er das letzte Mal einen Fuß auf dieses Anwesen gesetzt hatte, das seit Generationen im Besitz seiner Familie war. Der Hotelmanager hatte den gebuchten Gästen recht bereitwillig telefonisch abgesagt, da er offenbar verstand, in was für einer heiklen Lage sie alle sich befanden.

Heute früh war Henry zum ersten Mal seit seiner Ankunft allein im Haus. Als seine Mutter ihn angerufen hatte, war er gleich am nächsten Morgen nach London geflogen, um ein paar Tage bei ihr und ihrem Mann in Borehamwood zu verbringen. Seine Mutter hatte ihn mit traurigem Gesicht, aber ohne Tränen dabei beobachtet, wie er stundenlang am Telefon die Beerdigung eines Mannes organisierte, mit dem er seit zehn Jahren nicht mehr gesprochen hatte.

Er hat dich geliebt, Henry, aber ihr wart einer so stur wie der andere.

Henry war die Nacht vor der Beerdigung mit seinem Mietwagen nach Hawke’s Cove durchgefahren und hatte in der vordersten Reihe der Trauernden gestanden, die fast die ganze verdammte Einwohnerschaft zu umfassen schienen. Er zitterte bei der Erinnerung daran, wie er die trockene Erde auf den Sarg seines Vaters geworfen hatte, und konnte immer noch nicht glauben, dass er nicht mehr da war.

Die letzten paar Wochen waren schwer gewesen. Schwerer, als er erwartet hatte. Er hatte sich mit Blakes Nachlassanwälten getroffen, die, wenn nicht überrascht, doch zumindest zufrieden damit schienen, dass seine Mutter auf sämtliche Ansprüche an dem Nachlass aus einem Testament verzichtete, das viele Jahre zuvor gemacht worden war.

Henry schüttelte gedankenverloren den Kopf, während er, ohne dabei wirklich etwas zu sehen, aus dem Fenster schaute. Er wohnte in einem Zimmer im obersten Stockwerk, weil er es nicht fertigbrachte, auch nur einen Fuß in sein Jugendzimmer zu setzen. Blake hatte ihm alles vermacht. Dabei hatte er sich darauf eingestellt, beim Anwalt ein Papier zu unterschreiben, auf dem er zustimmte, leer auszugehen. Stattdessen war er jetzt Besitzer eines Fünfsternehotels, eines Privatstrandes sowie von über dreihundert Hektar Wald und Weinbergen. Außerdem gab es fast dreißig Angestellte, von denen fast jeder auf fast jede Frage, die er bezüglich des Anwesens stellte, »Frag Lily Atwell« geantwortet hatte. Das altbekannte Gefühl von Frustration stieg in ihm auf. Er hatte keine Ahnung davon gehabt, wie sehr sie sich in den letzten zehn Jahren in das Anwesen eingebracht hatte.

In den Jahren nach dem Unfall hatte er alles getan, um nicht an sie oder die anderen Mädchen von damals – Zoe, Malie und Victoria – zu denken. Jedes Mal, wenn er kurz davorstand, sich zu fragen, wie es ihnen wohl inzwischen ergangen war, machte sein Verstand eine Kehrtwende, und er stürzte sich stattdessen in ein neues Projekt, angetrieben von den Dämonen seiner Vergangenheit.

Aber jetzt waren sie – war sie – überall, wo er hinkam. Lily Atwell, diese feurige kleine Wutkugel. Einmal war er bereits schmerzhaft mit ihr zusammengestoßen, als er ihr mitgeteilt hatte, dass sie die Hochzeit ihrer Freundin woanders veranstalten müsse. Sie hatte sich verändert, seit er sie das letzte Mal gesehen hatte, damals, als sie sich auf dem Weg zur Anhörung buchstäblich in die Arme gelaufen waren. Sie hatte etwas von der rundwangigen Sanftheit verloren, an die er sich noch aus ihrer Teenagerzeit erinnerte, ihre Wangenknochen waren schärfer konturiert. Ein paar Strähnen ihrer langen dunklen Haare waren dem unordentlichen Dutt entkommen und peitschten um ihre ausgeprägte Kieferpartie, als wollten sie die Empörung widerspiegeln, die aus ihrem dünnen Körper hervorbrach, als er Nein zu der Hochzeit auf dem Landgut sagte. Ihr Haar hatte ein satteres Kastanienbraun als früher, es hatte ihre Augen zum Glühen gebracht. Und ihn reduzierte es offensichtlich auf einen albernen Narren, der gerade von Herbstfarben und natürlicher Schönheit schwärmte.

Hinter seinen Schläfen zog ein Kopfschmerz auf. Vor weniger als zwei Monaten hatte er in seiner Wohnung in Manhattan mit Ben und dessen Frau Amina den Abschluss einer Investition gefeiert, mit der die neueste App ihres Unternehmens finanziert werden würde. Sie hatten gelacht und noch nicht so recht glauben können, wie weit sie gekommen waren seit ihrem ersten, auf eine Serviette gekritzelten Vertrag vor fast acht Jahren. Dabei war der sicherlich nicht einmal rechtsverbindlich gewesen, zumal nach dem Genuss einer halben Flasche SangSom an einem Strand in Thailand.

Ben war so aufgeregt gewesen, dass es selbst für ihn ein wenig übertrieben schien. Und in dem Moment war es Henry aufgefallen: Amina hatte den ganzen Abend über keinen Tropfen Alkohol getrunken. Henry hatte Ben in die Arme genommen, bevor er überhaupt »Wir sind schwanger« bis zu Ende aussprechen konnte. Er hatte Ben versichert, dass er es natürlich verstehen könne, dass sie für die Geburt nach Singapur ziehen würden, um näher bei Minas Familie zu sein. Und dass es ihm nichts ausmachte, sofern sie einen »Onkel-Anbau« für ihn einplanten.

Henrys Telefon hatte mittendrin geklingelt, doch er hatte es ignoriert und sich stattdessen auf Ben, seine Frau und das Baby konzentriert … Aber es hatte wieder geklingelt. Und noch einmal. Seine Mutter war dran gewesen. Liebling, es tut mir so leid. Dein Vater …

Henry entspannte die Hand, die das Handy krampfhaft umklammert hatte.

Sekunden später antwortete Ben.

Traust du mir nicht?

Schon klar.

Henry steckte das Handy in die Tasche seiner Jeans und zog sich einen Pullover übers Hemd. Es mochte Nachmittag in Singapur sein, aber über den Weinbergen in Hawke’s Cove ging gerade erst die Sonne auf und färbte die Hügel golden. Wieder zog es ihn zum Fenster, von dem aus er das beeindruckende Anwesen überblicken konnte, und er versuchte vergeblich herauszufinden, was daran seinen Vater dazu bewogen hatte, das hier mehr zu lieben als seine Frau und sein Kind.

Die Frühsommersonne hob die Senken und Mulden der sanften Hügel hervor. Blakes kostbare Weinstöcke hatten sich verdreifacht. Sie schlängelten sich am Ufer entlang und spiegelten sich auf den Glasscheiben der Orangerie hinter dem Haupthaus.

Nur ein Haus, kein Zuhause. Nicht all die Dinge, die einem bei diesem Wort vorschwebten. Henry sehnte sich nach den glatten, eleganten Konturen in seiner New Yorker Wohnung. Die miteinander konkurrierenden Geräusche des chaotischen Treibens auf den Straßen mit Touristen und Bauarbeitern erzeugten einen ständig auf- und abschwellenden Lärm, ein Summen und Brummen wie verschiedene Gezeiten.

Die Stille hier war beunruhigend. Er hätte seine schlaflosen Nächte darauf schieben können, aber er wollte sich nicht selbst belügen. Damit hatte er schon vor Jahren aufgehört. Er hatte eingesehen, dass er sich die ganze Zeit wie ein trotziges Kind benommen hatte, vor Wut über einen Elternteil, der sich nicht im Geringsten um ihn kümmerte, und über den anderen, der sich übermäßig kümmerte. Bis sein Verhalten und sein Egoismus schließlich so verheerende Ausmaße angenommen hatten, dass die Menschen um ihn herum durch ihn dauerhaften Schaden erlitten. Er fluchte laut in den Raum hinein, wo ihn niemand hören konnte. Es war noch zu früh am Tag für die Art von Selbstvorwürfen, die normalerweise mit einer langen Nacht und einer Flasche Whisky einhergingen. Das war es, was der Aufenthalt hier mit ihm machte. Er verwandelte ihn wieder in den wütenden Jungen, der nichts mit dem ruhigen, professionellen und erfolgreichen Mann gemein hatte, der er inzwischen geworden war.

Gerade wollte er sich abwenden, als etwas Helles, Orangefarbenes aufblitzte und seine Aufmerksamkeit erregte. Widerstrebend, aber neugierig schaute er abermals zum Fenster hinaus und entdeckte eine Gestalt auf einem Fahrrad. Die Sonne glitzerte auf kastanienbraunen Haaren, die mit etwas hochgesteckt waren, was aus dieser Entfernung seltsamerweise wie Essstäbchen aussah. Es war klar, dass es sich nur um eine einzige Person handeln konnte, nämlich diejenige, die er gerade am wenigsten sehen wollte.

* * *

Sie würde ihn nicht schlagen.

Sie würde ihn töten.

Buchstäblich.

Während Lily die Schere mit sicherer Hand immer wieder zuschnappen ließ, sah sie sich im Kräutergarten um. Sie hatte der ganzen Sache recht positiv gegenübergestanden und gehofft, nach der letzten schmerzhaften Konfrontation nun einen Waffenstillstand anbieten zu können, um noch einmal ganz von vorn anzufangen. Aber dann war sie in den ummauerten Kräutergarten getreten und hatte es gesehen …

Sie hätte heulen können.

Unkraut war gesprossen und drohte die empfindlichen Kräuter zu überwuchern, die sie und Blake über die Jahre herangezogen hatten. Das Netz, das einige der jetzt verrottenden Erdbeerpflanzen geschützt hatte, war weggerissen, und Raupen hatten die Salaternte fast vollständig zerstört.

Heiße Wut erfüllte sie, die sich aber nicht in Gänze gegen Henry richtete. Zum großen Teil zwar, ja, aber nicht vollständig. Sie war zu lange nicht hier gewesen, weil sie nicht willens und nicht fähig gewesen war, dem neuen Gutsherrn zu begegnen. Aber jetzt … o ja, jetzt würde sie es ihm zeigen.

»Was zum Teufel machst du hier?«

Sie zuckte zusammen, als sie die verärgerte Stimme des Mannes hörte, den eigenhändig zu ermorden sie sich bereits auf alle möglichen Arten sehr farbenfroh ausgemalt hatte. Sie wirbelte herum und stürmte auf ihn zu, wobei sie weiterhin die Schere schnippen ließ.

»Du!«, schrie sie ihn an. »Du! Wie kannst du nur!«

»Wie bitte?« Seine entrüstete Antwort wurde von vollen Lippen geformt, die Lily fast sinnlich vorkamen. Henry sah umwerfend aus in der Jeans, die sich an seine starken Schenkel schmiegte, und einem dunkelblauen Pullover mit Zopfmuster, der dicht an seinem wohlgeformten Körper anlag.

Sie stöhnte innerlich auf. Warum war er nicht wenigstens dick geworden? Warum konnte er nicht einfach … hässlich sein? Es ließ sie noch wütender werden, weil es ihr peinlich bewusst machte, dass sie in ihrer alten Jeans, dem schlabbrigen weißen T-Shirt mit V-Ausschnitt und der riesigen orangefarbenen Strickjacke direkt von der Küche aus hergefahren war.

»Wie konntest du nur?«, stieß sie aus. »Es ist fast alles ruiniert.«

»Ruiniert?« Wieder klang er verblüfft.

»Ja. Da, sieh mal!«, befahl sie und winkte mit der Schere nach links. »Lauter Brennnesseln! Wir hatten hier seit fast drei Jahren keine Brennnesseln mehr. Und die Raupen!« Lily ging es ziemlich gegen den Strich, dass sie den Kopf in den Nacken legen musste, um zu ihm aufzuschauen. Ihr entging völlig, wie dicht sie beieinanderstanden.

»Das ist wohl kaum meine Schuld.«

Lily hätte am liebsten mit dem Fuß aufgestampft wie ein Kind. Natürlich war es nicht seine Schuld. Es war ihre. Sie hatte es nicht über sich gebracht herzukommen, seit Blake … Ganz zu schweigen davon, dass sie sich von Henry hatte fernhalten wollen.

»Was machst du hier?«, fragte er langsam, als müsste er um Geduld ringen.

»Ich wollte dir einen Waffenstillstand anbieten«, brummte Lily, wobei ihr völlig klar war, dass ihr Tonfall alles andere als das vermuten ließ. Und dem Funkeln in Henrys Augen nach zu urteilen, schien er es genauso ironisch aufzufassen.

»Und das tust du, indem du hier eindringst …«

»Was?«

»… Privateigentum beschädigst …«

»Beschädigen?«, rief sie.

»… und Diebstahl begehst?«, sagte er mit einem Blick in ihren Fahrradkorb, in dem sich die Kräuter befanden, die sie zuvor gesammelt hatte.

So eine Frechheit!

Oh, jetzt hatte er es wirklich getan. Alle guten Vorsätze zerrannen ihr auf der Zunge. Lily dachte nicht mehr an Victorias Hochzeit und ihre Absicht, einen Waffenstillstand zu schließen, und realisierte stattdessen, dass sie kurz davor war, aus dem einzigen Zufluchtsort ausgeschlossen zu werden, den sie außer ihrer Küche noch hatte.

Wut. Sie klammerte sich daran wie an eine Rettungsleine. Sie wusste nicht, was es mit Henry auf sich hatte, aber er brachte das Schlimmste in ihr zum Vorschein. So war sie sonst nicht. Niemals. Sie war eine Friedensstifterin. In London hatte ihr ein Chefkoch gesagt, dass sie bei der UNO besser aufgehoben wäre als in der Küche. Aber die Andeutung, dass sie dort nicht erwünscht sei, hatte sie nur zu noch härterer Arbeit angestachelt.

»Henry Hawkesbury, ich habe mich fast sieben Jahre lang um diesen Garten gekümmert, während du mit einem Treuhandfonds in der Tasche durch die Welt gezogen bist und Gott weiß was mit Gott weiß wem gemacht hast …«

»Was ich in den letzten Jahren gemacht habe und mit wem, geht dich absolut gar nichts an.«

»Aber dieses Anwesen geht mich etwas an. Blake und ich haben diesen Kräutergarten zusammen angelegt. Er ge…« Heiße Tränen drängten ihr in die Augen, die ganze Wut und Trauer schwollen in ihrer Brust an, denn sie hatte sagen wollen: »Er gehört uns.« Aber das konnte sie wohl jetzt nicht mehr sagen, oder? Blake war weg. Und plötzlich wurde ihr klar, dass sie sich die ganze Zeit darauf konzentriert hatte, was Henrys Rückkehr für Victoria und die Hochzeit bedeutete. Sie hatte verdrängt, welche Auswirkungen es auf sie selbst haben würde.

»Sprich weiter«, unterbrach Henry ihre Gedanken. »Bitte.« Er bedeutete ihr mit einer Geste, dass sie fortfahren sollte. »Nur zu, erzähl mir davon, wie nachlässig ich in den letzten zehn Jahren gewesen bin. Erzähl mir von dem glorreichen Mann, der sich von seinem Sohn abgewandt hat, als dieser ihn am meisten brauchte.«

* * *

Henry biss die Zähne zusammen. Er hatte zu viel preisgegeben. In diesem einen Moment hatte Lily Atwell es geschafft, genau das aufzudecken, wovor er jahrelang weggelaufen war. Nein, nicht sie, es war dieser verdammte Ort. Er konnte es nicht erwarten, ihn endlich loszuwerden.

»Henry …«

Er blickte in große braune Augen, die vor Mitgefühl glänzten. Einen Moment lang befürchtete er, sie könne versuchen, eine Entschuldigung für Blakes Handeln zu finden.

»Nicht«, unterbrach er sie, bevor sie fortfahren konnte. »Ich hätte das nicht sagen sollen.«

Er beobachtete, wie sie die Worte, die ihr auf der Zunge lagen, zurückhielt und sich hinter dem Vorhang ihrer dichten Haare verbarg. Als sie aufblickte, bemerkte er einen Fleck auf ihrer Wange, der wie Mehl aussah. Das ließ sie unglaublich unschuldig aussehen, und sein Herz zog sich zusammen.

Für einen kurzen Moment hatte er den verbalen Schlagabtausch mit ihr sogar genossen. Alle anderen hatten ihn in den letzten Monaten wie mit Samthandschuhen angefasst und waren förmlich auf Zehenspitzen um ihn herumgeschlichen. Aber nicht Lily. Je mehr er sie provozierte, desto empörter war sie und desto mehr schlug sie zurück. Und er genoss es. Jedenfalls war ihm das lieber als diese Trauer, die plötzlich zwischen ihnen schwelte.

Als er sich im Garten umblickte, konnte er beim besten Willen den »Schaden«, den sie sah, nicht erkennen. Auf jeden Fall sah es besser aus als das letzte Mal, als er hier gewesen war. Damals hatten hier kaputte Maschinenteile herumgelegen, die älter gewesen waren als sein Vater.

Zum Glück warf Lily die Schere in den Korb. Die scharfen Schneiden waren ihm recht nahe gekommen, sodass er schon einen Moment lang befürchtet hatte, auf unmännliche Weise einen Schritt zurücktreten zu müssen. Sie landete neben etwas, das wie ein halber Wald aus Kräutern aussah, durchsetzt von Rosenblüten, ein paar Handvoll seltsamer orangefarbener Beeren und anderen farbenfrohen kleinen Blumen.

»Was hast du mit all dem Zeug vor?«, fragte er. Der Anblick machte diese Begegnung irgendwie noch seltsamer.

»Petersilienöl herstellen. Für Lammfleisch in der Kräuterkruste. Und ich spiele mit dem Gedanken, eine Sanddornreduktion zu machen, weil wir dieses Jahr eine so gute Ernte hatten.«

»In Hawke’s Cove gibt es tatsächlich eine Nachfrage nach Petersilienöl und Sanddornreduktionen?«

»Hawke’s Cove ist vielleicht nicht London, New York oder Singapur, Henry, aber auch hier wird gegessen, falls du das vergessen haben solltest.«

»Hast dich wohl über mich informiert, wie?«, fragte er mit beiläufiger Arroganz, um seine Neugier zu kaschieren. Es war wohl kaum Zufall, dass sie ausgerechnet die Orte auf der Welt aufzählte, in denen er Apartments besaß.

»Was?«, fragte sie, während ihr die Röte in die Wangen stieg.

»Du hast diese Städte einfach so zufällig herausgepickt?«

»Nein, dein Vater hat mir erzählt, dass du dort gelebt hast.«

Diesmal sah sie bei der Erwähnung von Blake trotziger aus, aber als er ihren Blick festhielt, neigte sie den Kopf nach vorn und versteckte sich hinter einigen Strähnen dunkler Haare, die aus ihrem unordentlichen Dutt gerutscht waren, der mit – ja, ganz eindeutig – Essstäbchen festgesteckt war.

»Und zufällig mache ich ein sehr gutes Petersilienöl, vielen Dank auch.« Wie sie es schaffte, gleichzeitig formell und trotzig zu klingen, war Henry ein Rätsel.

Er wandte sich ab, indem er so tat, als wolle er sich im Garten umsehen, nur damit er nichts Dummes tun konnte – zum Beispiel, sich die Tatsache einzugestehen, dass er sich durch die Wortgefechte mit ihr lebendiger fühlte als durch irgendetwas anderes im letzten Monat. Aber als er den Blick wieder auf sie richtete, wünschte er sich, er hätte ihr längst den Rücken gekehrt und wäre gegangen. Aufrichtigkeit und Mitgefühl trafen ihn bis ins Mark.

»Das mit deinem Vater tut mir leid.«

Ein plötzlicher, schockierender Kummer überrollte ihn. Ihrer Beileidsbekundung fehlte jegliches Getue, wie er es bei den Trauergästen auf der Beerdigung erlebt hatte, die fast theatralische Darstellung von Leid durch Fremde. Es war an ihm abgeprallt. Lily Atwell hingegen zwang ihn mit ihrer einfachen, ehrlichen Bemerkung in die Knie.

Und die ganze Zeit über konnte er nicht wegschauen. Es war, als ließe sie ihn auf ihre Worte reagieren und hielte den Sturm, den sie heraufbeschworen, geduldig aus, indem sie ihn innerlich wüten ließ. Sie absorbierte einfach alles.

»Du solltest gehen«, presste er heraus.

»Ja, natürlich«, sagte sie und ließ den Kopf wieder leicht sinken, als wollte sie sich erneut hinter ihren Haaren verstecken. »Ich müsste nur kurz mit Annabelle besprechen …«

»Sie ist nicht hier.«

»Was?«

»Keiner mehr. Ich hab sie weggeschickt.«

»Du hast was?«, fragte sie. »Aber, Henry, das ist …«

»Was mit diesem Haus ist oder war, braucht dich nicht zu interessieren«, sagte er entschieden. Warum nur wurde er das seltsame Gefühl nicht los, dass er damit falschlag? Sehr falsch.

»Und die Gäste? Im Hotel?«

»Die Buchungen wurden storniert, und die Gäste bekommen alles zurückerstattet.«

»Aber was ist mit dem ganzen Anwesen?«

»Was soll damit sein?«

»Das ist ein Weingut, Henry, die Reben müssen …«

»Ich bin mir ziemlich sicher, dass ich mit ein paar Reben zurechtkomme, Lily.«

Er beobachtete, wie sie sich erneut auf die Lippe biss, um eine Erwiderung zurückzuhalten. Die Zornesröte wanderte ihre alabasterfarbenen Wangen hoch und zog seinen Blick mit hinauf von ihrem Mund zu ihren Augen. Sie waren groß und rund und … spien Feuer. Er spürte die Zorneswellen, die von ihr ausgingen, spürte sie wie Flutwellen auf seiner Haut anbranden. Es sah aus, als löse eine gewaltige Kraftanstrengung ihre Lippen, als sie scharf einatmete, dann nahm sie ihr Fahrrad so fest am Lenker, dass die Fingerknöchel weiß hervortraten, und schob es mit hocherhobenem Kopf an ihm vorbei.

Er hätte schwören können, dass er sie »blöder Idiot« murmeln hörte, als sie das Tor passierte. Und er stimmte ihr absolut zu.

Er hätte niemals zurückkommen sollen.

Kapitel 2

Ich war so ein Idiot, sagte sich Lily, während sie das Rad über die Kiesauffahrt schob. Sie hätte ihn auf ihre Seite bringen sollen, anstatt ihn wie eine Verrückte anzuschreien. Er hatte sie weggeschickt, und ganz bestimmt würde er ihr nicht gestatten, in den Kräutergarten zurückzukehren, um die Folgen der Vernachlässigung seit Blakes Tod zu beheben. Was würde jetzt aus dem Anwesen, ohne die Angestellten?

Als sie das Fahrrad in Richtung Straße lenkte, vermied sie den Blick auf die Weinstöcke, die sich sanft den Hügel hinunterschlängelten. Würde er sie abschreiten? Die verdorbenen Trauben wegschneiden, damit die verbleibenden reifen konnten? Vor seinem Tod hatte Blake sich Gedanken darüber gemacht, dass der Bacchus wahrscheinlich dieses Jahr früher geerntet werden müsste. Würde Henry das ohne John, den Gutsverwalter, überhaupt bemerken?

Die Hochzeit. Sie konnte es nicht länger aufschieben. Henry würde seine Meinung sicher nicht ändern. Sie musste Victoria anrufen. Jetzt. Eine so schwerwiegende Sache konnte sie nicht länger vor ihrer besten Freundin geheim halten, und sie musste es erzählen, bevor sie es sich doch noch anders überlegte. Es zerriss sie innerlich, aber sie konnte es nicht aufschieben.

Geh nicht ran. Geh nicht ran.

In dem Moment, als Victoria den Anruf annahm, konnte Lily sich nicht mehr zurückhalten.

»Er ist so ein Scheusal, V. Einfach schrecklich!«

»Wer, Lils?«, fragte Victoria mit einem leichten Anflug von Besorgnis in der Stimme.

»Nicht Oliver, natürlich«, antwortete Lily, die wusste, dass ihre Freundin total verliebt war und sich alles um ihren Verlobten drehte. »Nein, Henry«, stellte sie klar.

»Oh. Der kleine Lord Fauntleroy?«

»Ja. Nein. Wir können ihn nicht weiter so nennen, V«, sagte sie stöhnend.

»Warum?«

»Weil es klingt, als wäre er ein harmloser kleiner Junge. Und Henry Hawkesbury ist …« Groß? Heiß? Unwiderstehlich? Lily bremste ihren Schritt so abrupt ab, dass ihre Hand an der Lenkermitte das Rad ein wenig ins Schlingern brachte. Woher kam dieser Gedanke bloß?

»… schrecklich?«, ergänzte Victoria.

»Genau«, sagte sie sowohl zu ihrer Freundin als auch zu sich selbst und setzte ihren Weg zum Restaurant fort. »Aber so was von.«

»Willst du ›verlorene Stunden‹ einberufen? Sollen wir die anderen zusammentrommeln?«

Gott bewahre, dachte Lily. Obwohl sie deren Unterstützung hätte gebrauchen können, musste sie das hier allein erledigen. Victoria würde am Boden zerstört sein. Sie hörte ein Rascheln im Hintergrund und stellte sich vor, wie ihre beste Freundin Stoffballen und Entwürfe herumschob. Um diese Zeit, heute, am Sonntag, würde sie wahrscheinlich in ihrem neuen Atelier sein und an ihren wunderschönen Kleidern arbeiten. Sie stellte sich vor, wie Victorias dunkle, glänzende Haare lang über ihre Schulter fielen, während sie an ihrem Schreibtisch saß, den Kopf auf eine Handfläche gestützt, um sich auf das Telefonat zu konzentrieren.

»Lils? Bist du noch da?«

»Ja, klar. Aber es ist schon gut, mach dir keinen Kopf wegen der anderen. Ich könnte jetzt eh nicht sagen, wie die Zeitverschiebung genau aussieht.«

»Du weißt aber schon, dass das keine Rolle spielt«, antwortete Victoria.

»Nein, wirklich, es geht schon«, antwortete sie und schob die letzten Zweifel beiseite. Sie holte tief Luft, öffnete den Mund und …

»Wie geht es ihm denn jetzt, nach der Beerdigung?«, fragte Victoria, ohne zu ahnen, dass sie damit Lilys Eröffnung im Ansatz erstickte.

Lilys Gedanken wanderten zurück zu Henry, wobei sie die Gnadenfrist halb verfluchte und halb dankbar annahm. »Was weiß ich? Er war vollauf damit beschäftigt, mich vom Grundstück zu vertreiben. Es wundert mich, dass er nicht meine Schlüssel zurückverlangt hat.«

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