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Sommerzauber am Fjord

Als Buch hier erhältlich:

Ein magischer Sommer in Norwegen

In der malerischen Altstadt von Trondheim, wo bunte Holzhäuser sich an enge Kopfsteinpflastergassen schmiegen und sich die frische Fjordluft mit den Aromen aus zahlreichen Cafés mischt, erfüllen sich die DIY-Instagrammerin Frida und der Kunsthistoriker Sander den Traum eines eigenen Ladens. Der Haken ist nur – sie müssen sich ein Geschäft teilen, und schon beim ersten Kennenlernen ist für beide klar: Sie können einander nicht ausstehen! Um einer gemeinsamen Freundin zu helfen, ziehen sie jedoch bald an einem Strang und merken: Dieser Sommer birgt einen ganz besonderen Zauber. Werden sie der Liebe auch dann eine Chance geben, wenn ihre Vergangenheit droht, sie einzuholen?


  • Erscheinungstag: 24.05.2022
  • Seitenanzahl: 336
  • ISBN/Artikelnummer: 9783749903535
  • E-Book Format: ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Prolog

Wie alles begann …

Trondheim, 25 Jahre zuvor

Auf dem Heimweg von der Schule begann es zu schneien. Sanders Mantel war zu kurz, die Stiefel löchrig, sodass binnen Minuten bei jedem Schritt Eiswasser in seine Zehen biss. Seit seine Mor vor vier Jahren gestorben war, kümmerte sich niemand mehr so recht um seine Klamotten. Er war zehn Jahre alt, und Vater behauptete, er wüchse schlimmer als Unkraut. Die Hände in die Taschen vergraben zog er die Schultern zu den Ohren. Es half nichts. Eine Schneeflocke traf ihn direkt im Auge. Er blinzelte in die grauweiße Feuchtigkeit. Auf Anhieb fielen ihm mehr als ein Dutzend Wörter für Schnee ein, und Blåstøde war der schlimmste von allen: Es war die Art Schnee, die voller Wasserpfützen war und widerlich an der Haut klebte. Es war die Art von Schnee, die dann fiel, wenn sein Magen beinah unaufhaltsam knurrte, weil Far mal wieder zu wenig Geld dagelassen hatte, wenn er sich im Dezember, kurz nach Weihnachten, auf den Weg zu den Lofoten machte. Am sechsten Januar, am Tag der Heiligen Drei Könige, kletterte die Sonne dort oben, ganz im Norden Norwegens, zum ersten Mal wieder über den Horizont. Das war auch der Tag, an dem der Kabeljau seine Reise von der Berentsee zu den Laichplätzen antrat und die Fischer ihm folgten. »Skrei« hatten die Wikinger diese Fische genannt – reisende Fische –, und wer den Skrei zu Geld machen wollte, der musste ihm folgen. So hatten es schon ihre Vorfahren gemacht: Sanders Vater, sein Großvater, sein Urgroßvater und Ururgroßvater, immer weiter und weiter in die Vergangenheit, bis hin zu den Herren des Nordens, die das Land, aus dem er stammte, so lange beherrscht hatten.

Far hatte auch aus Sander einen Fischer machen wollen. Keine vier Jahre alt war er gewesen, als Vater ihm zeigen wollte, wie man einem Kabeljau in den Rachen griff, ihm die Zunge herausschnitt und den glitschigen Fischleib anschließend auf einen stählernen Dolch spießte, damit er im Wind trocknen konnte. Doch Sander wollte kein Fischer werden – das Gefühl der glibberigen Fischinnereien an seinen Händen hatte ihm den Magen umgedreht, und er hatte sich auf Fars Stiefeln erbrochen. Ein paarmal hatte sein Vater danach noch probiert, ihn zu bekehren. Die Fischerei war das Einzige, was Far wirklich interessierte. Darüber konnte er stundenlang reden, und Sander erinnerte sich an eine Zeit, als er Far sogar gerne dabei zugehört hatte.

Erneut knurrte sein Magen. Aus einem Café wenige Meter vor ihm stieg der verlockende Duft nach Zimtkringeln auf. Er spielte mit den Münzen in der Manteltasche – es waren nicht mehr viele. Nicht genug, um sich eine von den Köstlichkeiten zu gönnen. Trotzdem konnte er es sich nicht verkneifen und trat an das Fenster des Cafés. Sofort beschlug das Glas von seinem Atem. Er wischte mit dem Ärmel seines Pullovers, der unter dem Mantel hervorragte, ein kreisrundes Guckloch an der Scheibe frei. An kleinen Tischen saßen Menschen vor dampfenden Kaffeebechern und Kuchentellern und entflohen der Märzkälte. Kerzen spendeten warmes Licht, in der Theke türmten sich die Köstlichkeiten. Zimtkringel und Skoleboller – Hefeschnecken mit Vanillecremefüllung. In einem ganzen Backblech mit Kvaefjordkake fehlten nur ein paar Stücke. Selbst durch das Fensterglas wirkte die Baiserhaube auf goldgelben Biskuit herrlich knusprig. Außerdem gab es Mandelkuchen und gefüllte Pfannkuchen, Sahnewaffelhörnchen und Beerenmuffins … Eine Woge Sehnsucht überrollte ihn. Ein Meer an Empfindungen, dem er nichts entgegensetzen konnte. Im Sommer, wenn die meisten Läden in der Øvre Bakklandet auch Straßenauslagen hatten, war es einfacher, ab und zu etwas mitgehen zu lassen. Natürlich wusste Sander, dass Stehlen verboten war, aber selbst im Sommer, wenn Far zu Hause war, ließ er sich so gut wie nie dazu überreden, Sander ein paar zusätzliche Kronen für Süßigkeiten zu überlassen. Lieber deckte er sich bei Steinar Larsen mit Gebranntem ein und ertränkte seinen Kummer über die Zeit, die sich nicht anhalten ließ, auf dem Grund einer Flasche.

Seufzend zog Sander weiter. Er sollte nach Hause gehen. Wenn sein Vater auf Fahrt war, passte ihre alte Nachbarin, Jorunn Fredriksen, auf ihn auf. Meistens sah das so aus, dass sie zweimal am Tag bei ihm vorbeikam, einmal am Morgen, um sicherzugehen, dass Sander aufstand und sich für die Schule fertig machte, und einmal am Abend, wenn sie ihm einen Teller mit lauwarmen Resten von ihrem eigenen Abendessen auf den Tisch stellte und ihn daran erinnerte, rechtzeitig ins Bett zu gehen. Den Rest des Tages war Sander in der Schule oder sich selbst überlassen, und das war auch gut so. In seinem Alter war sein Vater bereits zur See gefahren und hatte für sich selbst gesorgt – ein Umstand, den er Sander niemals vergessen ließ. Sein Sohn war eine Enttäuschung, eine Schande für ihren Namen. Ein Sonderling, der sich lieber in Schulbüchern verkroch, statt mit den anderen Jungs im Viertel zu rangeln, im Winter Schlittenfahren und im Sommer Angeln zu gehen. Stattdessen streifte Sander Tag für Tag allein durch Bakklandet. Hier, zwischen den alten Häusern, mit Blick auf den Dom auf der anderen Uferseite des Flusses, gab es tausend Schätze für ihn zu entdecken: Läden mit alten Büchern und Karten, solche mit Kleidung für die feinen Leute, die auf den Kreuzfahrtschiffen nach Trondheim kamen. Restaurants, deren Speisen so exotisch klangen wie Stopps auf einer Reise um die Welt. Jeden Tag entdeckte er etwas Neues, jeden Tag verlor er sich ein bisschen mehr in den Abenteuern, die es nur in seinem Kopf gab.

Ein leises Klingeln riss ihn aus den Gedanken. Aus einer Tür direkt neben ihm trat eine Mutter mit ihrer Tochter an der Hand. Mit der Schulter hielt sie die Tür auf. »Auf Wiedersehen«, sagte sie hinein ins Ladeninnere. »Er wird begeistert sein, nicht wahr, Linnea?« Bevor das kleine Mädchen an ihrer Seite antworten konnte, sprach sie weiter. »Es ist immer so schwer, für Männer Geschenke zu finden. Ich hätte schon viel früher bei dir vorbeischauen sollen, Kjersti! Da ist der Laden seit Jahren da, und ich bin immer daran vorbeigegangen …«

Eine tiefe Frauenstimme antwortete, doch über das Pfeifen des Windes, der den Blåstøde durch die Gassen trieb, konnte Sander die Worte nicht verstehen. Das Mädchen zuppelte am Ärmel der Mutter. Sander trat näher, sein Körper genoss die Wärme, die aus dem Ladeninneren ins Freie floss.

»Na gut, ich muss los.« Lachend hob die Frau die Schultern, dann löste sie die Hand aus dem Griff des Mädchens und legte ihr stattdessen den Arm um die Schultern. Quietschend schloss sich das Türblatt. In der allerletzten Sekunde schlüpfte Sander in das Geschäft. Er hatte keine Ahnung, warum er das tat. Vielleicht, weil es ihm genauso ging wie der Frau. Zigmal war er an dem Haus an der Ecke Øvre Bakklandet und Brubakken vorbeigekommen, aber nie hatte der Laden denselben Reiz auf ihn ausgeübt wie die anderen Geschäfte im Viertel. Seine Fenster waren blind vor Staub, die Auslagen voll mit irgendwelchen seltsamen Dingen, ein ausgestopfter Hecht oder ein Stück Klippfisch, das laut Infozettel aus dem Jahr 1846 stammte.

Die Tür fiel hinter Sander ins Schloss, und so lieblich das helle Geläut des Glockenspiels war, Sanders Herz brachte es dazu, einen Schlag auszusetzen. Der Laden wirkte bei geschlossener Tür noch dusterer, die zahllosen Regale schienen regelrecht auf ihn zuzukriechen. Es roch nach Staub und Alter, überall lag etwas herum, und zwischen den Regalen duckten sich Schatten. Einen kleinen Schritt nach dem anderen kämpfte er sich weiter ins Herz des Ladens vor. So viele Dinge standen hier, dass er gar nicht wusste, wo er zuerst hinsehen sollte. Da waren alte Bücher und Zeitschriften, mit Flüssigkeit gefüllte Glaszylinder, in denen seltsame Kreaturen schwammen. Einen zweiköpfigen Kraken sah er, dann etwas, das aussah wie ein Krokodilbaby, und ein Geschöpf, das nur aus Augen zu bestehen schien. Ein Schauder rieselte ihm übers Rückgrat, aber er ging weiter. Auf einem Tisch aus dunklem Holz standen silberne Kerzenleuchter in vielen verschiedenen Größen. Eine Ecke schien ausschließlich für Sitzmöbel reserviert zu sein: Stühle, Hocker, Sessel, Couchen, alle mit ausgeblichenen Stoffen bezogen, bei manchen stießen sogar schon die Springfedern aus der Sitzfläche. Wer hatte wohl schon auf diesen Stühlen gesessen, wer die abgewetzten Lehnen berührt? In seinen Fingern kribbelte es, so sehr drängte es ihn danach, einige der Ausstellungsstücke zu berühren.

Sein Blick fiel auf ein Gefäß aus einem silberartigen Material mit einem bauchigen Fuß und einem langen, schlanken Hals. Ein gewundener Griff war an dem Hals angebracht, aber er hatte keinen Ausguss, und die Form sprach nicht gerade dafür, dass es sich um einen Krug handelte. Es würde ja kaum Flüssigkeit hineinpassen. Fasziniert streckte er die Hand aus, berührte den kugeligen Fuß. Er hatte Dellen und Erhebungen, hauchdünne Plättchen bildeten den Rahmen für die Kugeln, die in sie eingefasst waren. Ein bisschen erinnerte das Muster an geöffnete Blüten, aber nicht ganz. Unten am Hals klebten Aufkleber – oder nein, das waren Plaketten, die Schrift halb abgeschabt und schlecht lesbar. Guarniee Pewter, stand dort, Slo Metall, Norway.

»Suchst du etwas Bestimmtes?« Er zuckte zusammen. Die Frau war hinter ihm so lautlos aufgetaucht wie ein Geist. Sie hielt eine brennende Zigarette im Mund, der Rauch stieg in gewundenen Kringeln in die Höhe und verbarg ihr Gesicht.

»N…nein, ich …« Er biss sich auf die Unterlippe. Er hasste es, wie hoch seine Stimme klang, wie unsicher. Eine Mädchenstimme, beschwerte sich sein Vater immer. Sander sollte rennen, fliehen. Sicher würde die böse Frau mit der Zigarette im Mund ihn aus dem Laden jagen. Es wäre nicht das erste Mal. Fast alle in Bakklandet wussten, dass Sander niemals etwas kaufte, sondern meistens nur Ärger machte.

»Wofür ist das?« Die Frage brach aus ihm heraus, ehe er sie herunterschlucken konnte. »Dieses Gefäß. Ich dachte zuerst, es ist eine Kaffeekanne, aber das wäre ja dumm, denn in die Kugel da unten passt ja kaum etwas rein. Dann dachte ich, vielleicht eine Gießkanne, aber das ergibt genauso wenig Sinn. Und überhaupt, ist das Silber? Silber ist für eine Gießkanne doch viel zu teuer, oder? Niemand würde Blumen mit einer silbernen Gießkanne gießen. Höchstens vielleicht der König und die Königin.«

»Hört, hört! Knirps Neunmalklug hat den Weg in meinen Laden gefunden. Du interessierst dich für Antiquitäten?«

»Eigentlich nicht.« Er schob seine Finger zurück in die Manteltaschen. Es war ein Fehler, hierhergekommen zu sein. Die Frau machte ihm Angst. Der Krake in dem Glas machte ihm Angst. Die Dunkelheit im Laden machte ihm Angst, und dass die Frau sich über ihn lustig machte auch. So gut es ging versteckte er sich in seinem Mantelkragen und wollte sich daranmachen, Fersengeld zu geben, als die Stimme der Frau ihn aufhielt.

»Es ist eine Vase«, rief sie ihm nach. »Und sie ist nicht aus Silber, sondern aus Zinn. Wusstest du, dass Menschen seit fast zweitausend Jahren Gebrauchsgegenstände aus Zinn fertigen? Wie alt meinst du, ist diese Vase?«

Was interessierte es ihn, wie alt die blöde Vase war? Aber etwas an der Art, wie sie ihm die Frage stellte, packte ihn, und er wollte die richtige Antwort wissen.

»Keine Ahnung. Tausend Jahre?«

Die Frau lachte. Ein rauchiges, tiefes Lachen. »Nicht ganz, Bürschchen. Aber so gut achtzig Jahre hat sie auf dem Buckel. Soll ich dir zeigen, woran man das erkennt?«

»Ist doch egal! Warum sollte man das wissen müssen?«

»Weil jedes dieser Stücke hier …« Sie nahm die Zigarette aus dem Mundwinkel und deutete mit dem glühenden Ende in den Laden hinein. »… eine Geschichte erzählt. Magst du Geschichten?«

Er schüttelte trotzig den Kopf. Geschichten waren Schall und Rauch. Geschichten über die gute, alte Zeit nutzte sein Vater, um Sander ein schlechtes Gewissen zu machen, weil er Angeln hasste und von Klippfischeintopf Durst bekam.

Sein Gegenüber hob die Augenbrauen. »So? Das ist ja spannend. Und warum nicht, wenn ich fragen darf?«

»Weil Geschichten nicht wahr sind. Ich bin schon zehn, ich will keine Märchen hören.«

»Oh, aber da liegst du falsch. Nicht alle Geschichten sind Märchen. Deshalb sammle ich. Menschen können lügen, aber Antiquitäten tun das nie. Sie erzählen dir ganz ohne Worte etwas über ihre Besitzer, über die Welt, in der sie gebraucht wurden. Nimm diese Zinnvase.« Sie nahm die Vase vom Tisch, drehte und wendete sie in ihren Händen. »Siehst du die Dellen im Boden? Und diese Kratzer auf dem Henkel?«

Sander reckte den Hals, er wollte sehen, was sie ihm beschrieb. Dinge, die Geschichten erzählten, ohne Worte. Die Idee war so absurd und so aufregend zugleich. Den Geschichten auf den Grund zu gehen, müsste sein wie bei einem Detektivspiel. Schließlich nickte er. Er erkannte die kleinen Fehler an der Vase, die ihm zuvor nicht aufgefallen waren. »Und was ist damit?«

Die Frau lachte. »Das will ich dir gerne erklären. Aber erst mache ich uns einen Kakao, was meinst du?«

»Ehrlich?« Sein Mund verformte sich zu einem ungläubigen Grinsen.

»Ehrlich. Und ich heiße übrigens Kjersti. Komm nur mit.« Die Vase fest in der Hand bahnte sie sich einen Weg durch das Labyrinth im Laden. »Hinten habe ich eine Küche und ein kleines Bad. Da mache ich uns was Feines, und du kannst dir davor die Hände waschen. Willst du auch einen Zimtkringel? Ich habe eben welche geholt.«

Zimtkringel? Er konnte sein Glück kaum fassen. Gerade noch hatte er sich die Nase plattgedrückt und davon geträumt, wie es wäre, sich eines der Gebäcke zu stibitzen, und jetzt sollte er eines geschenkt bekommen? Trotzdem zögerte er kurz. Begannen so nicht immer die fürchterlichsten Geschichten in den Nachrichten? Ein dummes Kind, das auf den falschen Erwachsenen hörte? Aber er wollte wirklich wissen, was es mit dieser Zinnvase auf sich hatte, er wollte noch ein wenig länger in dem Laden Schutz vor dem Schneeregen vor der Tür suchen, und am allermeisten wollte er den Kakao und die Zimtkringel.

Damals wusste er noch nicht, dass dieser Tag den Lauf seines ganzen Lebens bestimmen würde. Dass in diesem Moment eine Leidenschaft geboren wurde, die ihn nie mehr loslassen würde.

Er wollte einfach nur einen Kakao.

Und bekam ein neues Leben.

1

Trondheim, heute

Aus voller Kehle schmetterte Frida den Text des alten Rockabilly-Klassikers von Wanda Jackson: Let’s have a party, uuuuh, let’s have a Party … Mit den Fingern trommelte sie den Rhythmus aufs Lenkrad. Frischer Sommerwind wehte durch die geöffneten Fenster ihres VW-Busses. Die Stoßdämpfer waren nicht mehr die besten, sodass sie jede Unebenheit in der Fahrbahn im ganzen Körper spürte. Ommel, das kleine Pummeleinhorn, das vom Rückspiegel baumelte, tanzte munter an seinem Faden. Frida nahm sich ein Beispiel an ihm und tanzte mit, so gut es eben ging, während sie durch die engen Straßen der Trondheimer Altstadt navigierte. Oh, Wanda Jackson hatte recht. Das hier würde eine Party werden. Eine ganz umwerfende Party! Frida hatte ihr Ziel noch nicht einmal erreicht, und schon liebte sie alles an diesem neuen Abenteuer. Da war zuerst einmal das Wetter. Als sie Kjerstis Nachricht auf Instagram erhalten hatte, war Frida gerade in Italien gewesen. Dort war es toll, keine Frage. Im Land von Dolce Vita, Pizza und Pasta hatte sie jede Menge Inspiration für ihr Instagramprofil gefunden. Verwunschene Innenhöfe, enge Gassen, uralte Gemäuer, das alles war umwerfend. Aber diese Hitze! Schon beim Aufstehen hatte ihr der Schweiß im Nacken geklebt und ihr die Freude an der strahlenden Sonne verdorben. Hier in Norwegen schien die Sonne auch. Wann immer Frida zwischen den bunten Häuserzeilen einen Blick auf die Nidelva erhaschte, glitzerten Silberpfützen auf der Oberfläche des Flusses, und das wolkenlose Türkis des Himmels bildete einen märchenhaft schönen Kontrast zu den bunten Farben der Holzhäuser. Aber es war nicht heiß, sondern warm. Die Luft roch nach Freiheit, Weite und Abenteuer statt nach Hitze und verbrannter Erde.

Dabei war es nicht nur die Aussicht auf einen endlosen norwegischen Sommer, die sie nach ihren Reisen zurück in die Heimat gelockt hatte. Kjerstis Angebot war eine echte Chance. Womöglich die Chance, auf die Frida ein Leben lang gewartet, nach der sie in zahlreichen Ländern gesucht, die sie aber nirgends gefunden hatte.

Der Song wechselte, und die Eröffnungsnoten von P!nks »Get the Party Started« füllte die Fahrerkabine.

Wenn Fremde Frida zum ersten Mal trafen, dachten sie meist, sie lebte entweder in Wolkenkuckucksheim oder in der Vergangenheit. Dabei stimmte das kein bisschen. Sie mochte einfach, was sie mochte: Kleider aus den 1950ern, Sonnenbrillen aus den 1970ern, Musik aus der Rockabilly-Ära ebenso wie Dance-Tunes aus dem neuen Jahrtausend. Sie liebte Pink und Rosa und Lila ebenso wie Blau und Schwarz und Grün. Sie hatte die Wellen auf Hawaii gesurft und die auf den Lofoten, und selbst wenn ihr jemand eine Pistole auf die Brust setzen würde, könnte sie sich nicht entscheiden, welches der beiden Extreme ihr besser gefiel. Von all den Orten auf der Welt, die sie besucht hatte, hatte sie etwas mitgenommen. Materielle Sachen, sicher, aber noch viel mehr. Eindrücke, die sie in ihrer Kunst verarbeitete, wenn sie alten Dingen neues Leben einhauchte und die Ergebnisse auf ihrem Instagram-Profil präsentierte.

»In einhundert Metern haben Sie das Ziel erreicht«, unterbrach die Navigations-App P!nks Gesang. »Bitte beachten Sie, dass sich das Ziel in einem zufahrtsbeschränkten Bereich befindet.«

Wie aufs Stichwort passierte Frida ein Durchfahrt-verboten-Schild am Straßenrand.

»Jaja«, antworte sie dem Navi. »Aber hast du gesehen, was da unter dem Schild stand? ›Lieferverkehr und Anlieger frei‹. Ich habe ein Anliegen und ich liefere etwas. Alles paletti.«

Beleidigt schwieg das Navi. Frida drosselte das Tempo. Sie steuerte direkt auf eine Kreuzung zu. Bunt bepflanzte Blumenkästen begrenzten einen öffentlichen Parkplatz zu ihrer rechten Seite, doch wie es aussah, waren alle Stellplätze belegt. Je tiefer sie sich in das Altstadtviertel von Trondheim vorkämpfte, desto enger wurden die Straßen. Hier, im Herzen von Bakklandet, war die gepflasterte Fahrbahn so schmal, dass kaum zwei Autos aneinander vorbei passten. Einige der Geschäfte im Viertel hatten Stühle und Tische im Freien aufgestellt, was die Situation noch verkomplizierte. Fußgänger schlenderten die Wege entlang und begutachteten die Schaufenster und Auslagen, brachten mit ihren bunten Funktionsklamotten Leben und Gegenwart zwischen die jahrhundertealten Holzhäuser. Ein roter Briefkasten an einer grünen Hauswand fing ihren Blick ein, ein rostrotes Fahrrad, das vor einem Antiquariat lehnte. Eine Schiefertafel vor einem weiteren Laden versprach in geschwungenen Lettern das beste Craft-Bier Norwegens. Zwei junge Frauen begutachteten ein paar Sommerkleider im Angebot, die eine Boutique vor ihrem Eingang auf einer Kleiderstange ausstellte.

Laut dem Fähnchen auf ihrer App befand sich Fridas Ziel direkt gegenüber. Es musste das eierschalenfarbene Eckhaus mit den falunroten Dachziegeln und Fenstereinfassungen sein. Eine Markise krönte die Eingangstür, die sich genau in der Ecke von zwei Straßen befand, war jedoch nicht ausgefahren. Drei Holzbänke auf der rechten Seite des Hauses luden Passanten zum Verweilen im Schatten eines Lindenbaums ein. Das sah herrlich idyllisch aus, warf allerdings die Frage in den Raum, wo zum Teufel Frida parken sollte. Zwar waren die meisten Dinge aus ihrer Sammlung recht handlich und außerdem in Kisten verpackt, aber die Vorstellung, das Zeug kilometerweit von einem offiziellen Parkplatz bis zum Laden zu schleppen, missfiel ihr trotzdem.

Im Schritttempo ließ sie den Bus weiter nach vorne kriechen. Da! Oh, Kjersti war ein Schatz! Offensichtlich hatte sie das Parkplatzproblem schon im Vorhinein bedacht, denn auf der linken Seite des Hauses waren Halteverbotsschilder aufgestellt, mit der Bitte, die Ladezone vor dem Geschäft aufgrund eines Umzugs freizuhalten. Um sicherzugehen, überprüfte Frida das angegebene Datum und die Uhrzeit. Perfekt! Sie war nur eine gute Stunde zu spät.

Erleichtert ließ sie den Bus an die ausgewiesene Stelle am Straßenrand rollen, schaltete den Motor und ihre Musik aus und lehnte sich im Sitz zurück. Einen Augenblick lang schloss sie die Augen. Endlich angekommen! In aller Frühe war sie heute Morgen von Oslo aus losgefahren, und die über sechs Stunden Fahrt machten sich doch langsam in ihren Knochen bemerkbar.

Das Klingeln ihres Handys zerstörte ihre Entspannung. Seufzend griff sie nach dem Gerät auf dem Beifahrersitz. Sie musste nicht mal auf das Display gucken, um zu ahnen, wer nach ihr verlangte. Kurz spielte sie mit dem Gedanken, den Anruf auf die Mailbox laufen zu lassen, aber Thea hatte es nicht umsonst mit ihren nicht einmal dreißig Jahren in den Vorstand der Firma geschafft. Zielstrebigkeit war ihr zweiter Vorname. Wenn Fridas Schwester sich etwas in den Kopf gesetzt hatte, war es klüger, direkt zu kapitulieren. Früher oder später würde sie ohnehin bekommen, was sie wollte.

»Hey Schwesterherz. Ja, ich bin gut angekommen. Nein, ich habe den Bus nicht über einen Abhang in den Fjord gejagt. Ja, ich bin ein bisschen erschöpft von der Fahrt. Nein, ich hatte noch keine Gelegenheit, mir den Laden anzuschauen, aber ja, ich bin immer noch der Meinung, dass es zu hundert Prozent eine gute Idee ist, diesen Schritt zu wagen und unter die seriösen Geschäftsfrauen zu gehen. Sonst noch was?«

»Sag mir bitte wenigstens, dass dieser Laden tatsächlich existiert.«

Frida seufzte und richtete sich im Sitz auf, dann angelte sie sich ihre E-Zigarette vom Beifahrersitz. Wenn sie sich schon mit einer Standpauke von Thea abfinden musste, verdiente sie sich wenigstens diesen kleinen Genuss. Weil ihr Hintern vom langen Sitzen wehtat, rutschte sie außerdem unruhig auf dem Fahrersitz herum. Am bequemsten war die Position, wenn sie die Beine aus dem offenen Fenster baumeln ließ und sich quer über den Fahrersitz fläzte.

Sie nahm einen tiefen Zug Dampf in die Lungen, dann wendete sie sich wieder an Thea. »Willst du jetzt schon wieder loslegen und mir noch einmal erzählen, für wie unverantwortlich du mich hältst, weil ich die Chance des Jahrhunderts am Schopf gepackt habe und drauf und dran bin, meinen Traum zu verwirklichen?«

»Seit wann genau ist es noch einmal dein Traum, einen Laden zu eröffnen? Erinnere mich bitte dran. Das letzte Mal, als wir darüber gesprochen hatten, wolltest du nämlich Modedesign studieren. Bist du nicht deshalb nach Italien gegangen? Und was ist aus deinem Plan geworden, Surfschulbetreiberin zu werden, und gab es nicht auch mal eine Phase, während der du ernsthaft eine Karriere als Musicaldarstellerin in Betracht gezogen hast? Immer je nachdem, welcher Kerl dir gerade den Kopf verdreht hat?«

»Oh, entschuldige vielmals! Es kann eben nicht jeder vom Moment seiner Geburt an wissen, was er mit seinem Leben anfangen möchte.« Sie nahm einen weiteren Zug aus dem Verdampfer, aber nicht einmal der süße Popcorngeschmack vertrieb die pochenden Kopfschmerzen, die Theas Moralpredigten jedes Mal bei ihr hervorriefen. Frida liebte ihre Schwester, wirklich. Egal, wie sehr sie meckerte, wenn es drauf ankam, hielt Thea ihr vor ihren Eltern immer die Stange und verteidigte Fridas Selbstfindungsabenteuer. Frida wünschte nur, ihre Schwester würde das auch einmal ihr selbst gegenüber tun. Zur Abwechslung wäre es nämlich echt nett, von irgendwem in ihrer Familie nicht als Loserin abgestempelt zu werden. Sollte dieser Tag jemals kommen, heute war es noch nicht so weit.

Theatralisch seufzte Thea in den Hörer. »Es ist kein Kapitalverbrechen, sich Sorgen zu machen, wenn die kleine Schwester plant, eine Geschäftsbeziehung mit einer Person einzugehen, die sie nur unter dem Namen Katzenoma1940 kennt.«

»Das stimmt überhaupt nicht! Auf dem Mietvertrag, den sie mir geschickt hat, steht auch ihr richtiger Name: Sie heißt Kjersti Haraldsen.«

»Und hast du Papas Rechtsabteilung überprüfen lassen, was sonst noch so alles in diesem sogenannten Vertrag steht? Bist du dir sicher, dass das alles Hand und Fuß hat? Dass es keine juristischen Fallstricke gibt oder wichtige Aspekte, die ausgeklammert sind? Hast du überhaupt schon eine Wohnung in Trondheim?«

»Ich kann im Bus schlafen, bis ich was finde.«

»Siehst du? Genau das meine ich!« Jetzt seufzte Thea nicht mehr, jetzt klang sie, als läge sie auf einem Zahnarztstuhl und Doktor Frankenstein persönlich war im Begriff, bei ihr eine Wurzelbehandlung vorzunehmen. »Sag mir, dass du wenigstens den Vertrag von Fachleuten hast überprüfen lassen.«

Statt einen weiteren Zug aus dem Verdampfer zu nehmen, biss sie auf dem Mundstück herum. »Du kennst die Antwort darauf, Thea«, gab sie schließlich grummelnd zu. Aus dem Augenwinkel nahm sie eine Bewegung vor dem Bus wahr. Da hatte sich irgend so ein Typ aufgebaut und wedelte hektisch mit den Armen. Ein seltsamer Kauz war das. Er trug ein bis zum letzten Knopf geschlossenes schwarz-weiß-kariertes Hemd unter einem schwarzen Strickpullunder und dazu eine komische burgunderrote Seidenfliege. Sein Gesicht wurde von einer riesigen dunklen Hornbrille und einem derart finsteren Blick dominiert, als litte der arme Kerl seit Tagen an Verstopfung. Grinsend winkte Frida zurück. Wenn sie eines auf ihren Reisen gelernt hatte, dann, dass Freundlichkeit eine universelle Sprache war – wenn auch eine, die Mister Hornbrille offensichtlich nicht fließend verstand. Er ließ die Arme sinken, kniff die Lippen zu einem schmalen Strich zusammen und schüttelte entnervt den Kopf. Mit in die Hüfte gestemmten Händen stürmte er auf Fridas geöffnetes Fahrerfenster zu. Nun denn, hier kam ihr Not-Aus für das Gespräch mit Thea.

»Sorry, Sis«, beeilte sie sich ins Telefon zu sagen, ehe Thea erneut Fahrt aufnehmen konnte. »Ich muss Schluss machen. Da ist ein armer Kerl, der dringend eine Toilette sucht. Ich muss ihm helfen. Mach’s …«

»Frida, du kannst nicht jedem unangenehmen Gespräch aus dem Weg …«

»Hab dich auch lieb! Bis baaahald!« Noch während sie ihre Verabschiedung singsangte, machte sie sich daran, ihre Glieder zu sortieren. Sie öffnete die Fahrertür, immer noch grinsend und fest entschlossen, dem wütenden Typen mit einer Überdosis Freundlichkeit den Tag zu retten. Leider hatte sie die Rechnung ohne ihn gemacht.

Was in Dreiteufelsnamen machte dieser abscheulich kitschige rosa VW-Bus vor seinem Geschäft? Sander wollte seinen Augen nicht trauen. Er hatte alles bis ins letzte Detail organisiert und akribisch in einer Excel-Liste festgehalten, damit er auch ja nichts vergaß. Beim Ordnungsamt hatte er eine temporäre Durchfahrtserlaubnis für die verkehrsberuhigte Zone der Altstadt beantragt. Ausdrucke der Genehmigungen waren bereits vor Tagen an das Umzugsunternehmen verschickt worden. Außerdem hatte er sich beim Straßenverkehrsamt erkundigt, wie er eine zweckgebundene Parkerlaubnis in der Ladezone direkt vor dem Geschäft erwirken und in die Tat umsetzen konnte. Die Frau im Amt war unglaublich hilfsbereit gewesen und hatte ihm alle nötigen Formulare noch am selben Tag per E-Mail zugeschickt. Wie verabredet waren vor zwei Tagen die Halteverbotsschilder am Straßenrand aufgetaucht, damit Anwohner sich schon einmal mit dem Gedanken anfreunden konnten, am Tag seines offiziellen Einzugs in den Laden der schillernden Schätze anderswo zu parken. Zugegeben, der Name war in etwa genauso kitschig wie dieser fürchterliche VW-Bus, aber Kjersti hing an ihm, und deshalb hatte Sander ihr versprochen, ihn zu behalten, wenn er endlich seinen großen Traum verwirklichte und ein eigenes Antiquitätengeschäft eröffnete. Persönlich hätte ihm ein unaufdringliches Pettersen Antik erheblich besser gefallen, aber sei’s drum. An solchen Kleinigkeiten wollte er sich nicht aufreiben. Immerhin hatte bisher alles andere einwandfrei funktioniert. Mehrfach am heutigen Tag hatte er sich vergewissert, dass nicht irgendein Idiot das Halteverbot ignorieren und die Straße vor dem Hauseingang doch zuparken würde. Die ganze Aufregung war ihm auf den Magen geschlagen, und er hatte dringend eine Tasse Pfefferminztee gebraucht. Und kaum war er eine halbe Stunde weg, schon passierte das hier!

Es war ja nicht nur der Bus in dieser himmelschreiend aufdringlichen Lackierung in Schweinchenrosa und Weiß, auf die irgendein minderbemittelter Künstler auch noch jede Menge Margaritenblüten gemalt hatte. Ein widerlich süßlicher Gestank trieb in weißen Dampfschwaden aus dem geöffneten Fahrerfenster, und die Fahrerin hatte offenbar nicht einmal vor, hier am Straßenrand ordentlich zu parken, sondern dachte, die Øvre Bakklandet sei ein Campingplatz. Sie hatte es sich augenscheinlich bequem gemacht. Schwarze, halb geschnürte Doc-Martens-Stiefel baumelten an Frauenbeinen aus dem Fenster.

Er baute sich vor der Windschutzscheibe des Gefährts auf und versuchte mit Winken die Aufmerksamkeit der Fahrerin auf sich zu ziehen. Vergeblich. Weil die Sonne sich in der Scheibe spiegelte, konnte er nicht genau erkennen, was in der Fahrerkabine vor sich ging, aber müsste er einen Tipp abgeben, würde er schätzen, dass die Verrückte telefonierte. Sie musste verschwinden, koste es, was es wolle! Jeden Augenblick würde sein Umzugswagen eintreffen, und der brauchte Platz.

Endlich reagierte sie. Und was passierte? Sie guckte nicht etwa schuldbewusst und beeilte sich, den für einen Umzug ausgewiesenen Parkplatz frei zu machen. Nein! Sie winkte zurück!

Sander hatte genug. Er stürmte um den Wagen. Nun schien es auch ihr zu dämmern. Sie zog die Beine zurück ins Wageninnere, kletterte ihm entgegen ins Freie, immer noch mit diesem übertrieben sonnigen Grinsen auf dem Gesicht.

»Hey!« Ihr Gruß klang freundlich. Zu freundlich für seinen Geschmack.

»Hier ist parken verboten! Kannst du nicht lesen? Auf den Schildern steht klipp und klar, dass heute hier absolutes Halteverbot gilt. Wegen eines Umzugs.«

»Ja, klar – mein Umzug. Ich bin die neue Mieterin in diesem wunderschönen Etablissement direkt zu unserer Rechten.«

»Du bist … was?« Es dauerte eine Sekunde, bis der Sinn ihrer Worte in seinem Hirn ankam. Als es so weit war, konnte er nicht anders, als zu lachen. »Das ist absurd. Der Laden der schillernden Schätze wird ein Antiquitätengeschäft. Mein Antiquitätengeschäft. Wenn du also endlich so liebenswürdig wärst, dieses Gefährt umzuparken? Jeden Augenblick muss mein Umzugswagen eintreffen, dann brauche ich den Platz. Das hier ist nicht Hippietown. Ich habe Dokumente, die beweisen, dass dies hier meine Ladezone ist. Vor meinem Geschäft.« Es war zum Mäusemelken. Jede Minute nun würde ein ganzer Lkw mit allerfeinsten Sitzmöbeln, Kommoden, Aufsatzschränken, Spiegeln, Gemälden, Uhren und Lampen aus dem 18. und frühen 19. Jahrhundert eintreffen, und Sander sah sich gezwungen, seine Aufmerksamkeit einer Irren zu widmen. Daran, dass sein Gegenüber nicht ganz klar ticken konnte, bestand kein Zweifel. Die Sachlage war eindeutig. Zuerst einmal war da dieser VW-Bus. Dann die blauen Haare. Jawohl, die Frau, die behauptete, sie sei die neue Mieterin seines Ladens, hatte blaue Haare. Sie waren auf der Stirn zu einer Tolle frisiert und am Oberkopf mit einem Haarband zurückgehalten. Zu den DocMartens, die er zuvor aus dem Fenster hatte baumeln sehen, trug sie einen cremeweißen Pullover, der über und über mit bunten Lollis bedruckt war, und einen schwingenden schwarzen Spitzenrock. Nur ihre Augen sprachen trotz dickem Eyeliner und Unmengen Wimperntusche für sich. In einer ganz außergewöhnlichen Farbe – nicht ganz blau, nicht ganz grün und nicht ganz grau – funkelten sie ihn von Sekunde zu Sekunde irritierter an. Wie würde er diese Farbe beschreiben, wenn er sie auf einem Gemälde oder Möbelstück sehen würde? Seegrün? Türkis? Aquamarin? Der Fjord glitzerte an sonnigen Sommertagen an flachen Stellen über rundgewaschenen Uferkieseln manchmal in dieser Nuance oder das Gefieder junger Krickenten … Verärgert über sich selbst, verwarf er die Frage. Es spielte keine Rolle, welche Farbe ihre Augen hatten! Warum machte er sich überhaupt Gedanken darüber? Momentan gab es nun wirklich Wichtigeres zu klären. Außerdem kam sie ihm mit dem Sprechen zuvor.

»Hast du gerade Hippie gesagt?« Spätestens jetzt verschwand das Lächeln auf ihrem Gesicht. Sie schnaubte verärgert. »Du willst dich mit Kunsthandel beschäftigen und kennst nicht einmal den Unterschied zwischen Rockabilly und der Hippie-Ära? Das kann ja was werden.«

Ein unerwarteter Stich Scham fuhr ihm durch die Eingeweide. Sein Magen rebellierte. Stress machte das mit ihm. Schon als Kind war ihm schlecht geworden, wenn eine Situation ihn überforderte. Knapp dreißig Jahre hatte er seither Zeit gehabt, um zu lernen, damit umzugehen. Mittlerweile wusste er, dass Angriff mitunter die beste Verteidigung war.

Er rückte seine Brille auf der Nase zurecht und konterte: »Mein Fachgebiet ist die Gustavianische Epoche sowie der skandinavische Rokoko. Die zweifelhaften modischen Auswüchse des zwanzigsten Jahrhunderts interessieren mich kein bisschen.«

Die Hydraulik eines Kleinlasters schnaubte, als dieser in die Bremsen ging, um von der Brubakken in die Øvre Bakklandet einzubiegen. In dem sonst so beschaulichen Viertel war das Geräusch ungewohnt genug, um augenblicklich Sanders Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen und ihn daran zu erinnern, worum es hier ging. Nicht um Modeepochen oder seine Expertise, sondern um die Ladezone, die er vor Wochen beim Ordnungsamt beantragt hatte und die diese Frau ihm nun wegnehmen wollte, weil sie behauptete, sie sei die neue Mieterin von Kjerstis Laden. Zum Glück bog der Transporter in eine Querstraße ab. Das bedeutete allerdings nicht, dass Sander Zeit zu verlieren hatte. Schon der nächste Wagen könnte seiner sein.

»Weißt du was? Ich sollte die Polizei rufen. Oder das Ordnungsamt, weil ein Falschparker meine Ladezone blockiert und außerdem vorhat, meinen Laden zu besetzen.«

»Meinen Laden. Ergo meine Ladezone. Ich habe einen Mietvertrag. Muss ich den wirklich holen, oder …«

Entnervt warf er die Hände in die Luft. »Ich war nicht fertig. Die Höflichkeit gebietet, Menschen ausreden zu lassen.«

Sie tippte mit dem Fuß auf dem Boden. »Bitteschön, dann rede weiter. Ich bin ganz Ohr.«

»Was ich im Begriff war zu sagen: Ich sollte die Polizei oder das Ordnungsamt rufen. Aber als Zeichen meiner Kooperationsbereitschaft und meines guten Willens werde ich das nicht tun. Stattdessen werde ich die Vermieterin anrufen. Ich bin sicher, hier liegt ein Missverständnis vor und Kjersti kann das im Nu klären.«

Darauf hatte Hippie- – oh, Verzeihung – Rockabilly-Lady nichts mehr zu erwidern. Schmollend zuckte sie mit den Schultern.

So einfach gab sie sich geschlagen? Sander kämpfte gegen einen irrationalen Anflug von … Enttäuschung? Nein, Enttäuschung konnte das, was er empfand, keinesfalls sein. Eher Verwunderung. Er kämpfte gegen einen irrationalen Anflug von Verwunderung an und besann sich auf das, was er ursprünglich hatte sagen wollen. »Es wäre nur angebracht, wenn auch du deinen Willen, eine gütliche Lösung unseres Konflikts herbeizuführen, demonstrieren würdest, indem du deinen Bus zwischenzeitlich anderswo abstellen könntest. Direkt gegenüber ist ein öffentlicher Parkplatz. Wie wäre es damit?«

»Da waren alle Plätze belegt.«

Er kniff die Augen zusammen. Trotz Brille hatte er mitunter Schwierigkeiten beim Weitsehen. Dennoch war er sich ziemlich sicher, dass das zwischen dem BMW mit deutschem Kennzeichen und dem Hyundai-Hybrid-SUV unter dem Lindenbaum ein freier Stellplatz war. Er deutete in die entsprechende Richtung. »Jetzt nicht mehr. Wenn du dich beeilst, klaut ihn dir auch niemand, bis du dort bist.«

Für die Dauer eines Herzschlags schien sie zu überlegen, ob sie nachgeben sollte, dann rollte sie die Augen und öffnete die Fahrertür, um hinters Lenkrad zu klettern. »Bin gleich wieder da«, informierte sie ihn. »Glaub ja nicht, dass das hier schon zu Ende ist.«

Nein, so naiv war er nicht. Er seufzte und suchte in der Hosentasche nach seinem Handy. Noch während er sich von seiner Nemesis und ihrem rosa Blumendrachen abwandte, wählte er Kjerstis Nummer.

2

Okay, zugegeben, kurz war Frida tatsächlich ins Schwitzen gekommen. Als dieser Oberspießer sich vor ihr aufgebaut und irgendwelches wahnsinnig wichtiges Zeug von Genehmigungen und Ämtern und Polizei gefaselt hatte, da war ihr Theas Stimme im Ohr geklungen, die sie daran erinnert hatte, dass es womöglich nicht der cleverste Schachzug gewesen war, ihre gesamte Zukunft auf eine Online-Konversation mit einer Person zu setzen, die sie bisher hauptsächlich über Instagram kannte.

Jetzt, wenige Minuten später, wusste sie wieder, warum sie es gemacht hatte. Kjersti Haraldsen oder, wie sie sie kennengelernt hatte, Katzenoma1940 war eine wahre Erscheinung. Da eine gebrochene Hüfte sie momentan daran hinderte, ihre Wohnung zu verlassen, hatte sie Frida und Mister Parkerlaubnis zu sich gebeten.

Kjersti bewohnte die gesamte obere Etage desselben Hauses, in dem Frida ihren Laden eröffnen wollte. Mit der Aura einer Königin thronte die alte Dame auf einem weiß lackierten, teilweise vergoldeten Sofa. Lose Kissen aus glänzend rotem Seidenbrokat stützten ihre zierliche Gestalt. Greifenfiguren trugen die Armlehnen des Möbels und wirkten, als wollten sie Kjersti beschützen. Drei ihrer sieben Katzen – elegante Tiere mit schneeweißem Langhaarfell und schwarzen Gesichtern – räkelten sich neben ihr auf dem fraglos kostbaren Sitzmöbel. Die anderen vier hatten Position zu Kjerstis Füßen bezogen und begutachteten die Eindringlinge skeptisch. Licht aus einem opulenten Kristalllüster malte tanzende Funken aus Gold auf alle Oberflächen im Raum. Ihre Krankheit sah man Kjersti nicht an. Nur ein Rollstuhl auf der einen und ein Rollator auf der anderen Seite des Sofas deuteten darauf hin, wie eingeschränkt sie durch ihren Unfall tatsächlich war. Zwar war sie dünn wie ein Lufthauch – auf ihrem Brustbein zeichneten sich die Knochen ab, und ihre Arme waren lang und sehnig –, aber sie beherrschte ihre Zerbrechlichkeit auf dieselbe etherisch-elegante Weise, wie eine Ballerina es tat. Ihr weißgraues Haar fiel in langen Wellen bis zur Taille. Das Muster der silbergrauen Seidentapete an der Wand hatte beinah die exakt selbe Farbe wie das hauchzarte Trägerkleid, das sie trug. Zweifellos, das war die Grande Dame, die Frida seit Jahren auf Instagram verehrte, wo sie sich mit Bildern von sich und ihren Katzen eine enorme Abonnentenzahl erworben hatte. Nicht ganz so viele wie Frida mit ihrem Do-it-Yourself-Dekoprofil, aber rund dreißigtausend waren es trotzdem. Wie oft schon hatte Frida sich insgeheim gewünscht, irgendwann einmal auf dieselbe unantastbare Weise zu altern wie ihr Vorbild? Sie bewunderte die Eleganz von Kjersti, ihren individuellen Stil. So waren sie ins Gespräch gekommen. Nach einer Weile hatten sie festgestellt, wie sehr sie den Austausch untereinander beide genossen, und waren Freundinnen geworden, obwohl sie sich noch nie im echten Leben begegnet waren. Seit einigen Jahren war Kjersti die womöglich einzige Person, die Frida bei jedem Abenteuer immer den Rücken gestärkt und sie ermuntert hatte, weiter nach sich selbst zu suchen. So sehr, dass sie ihr vor ein paar Wochen, als nach ihrem Unfall klar geworden war, dass sie ihren Laden endgültig auflösen musste, angeboten hatte, ihre Nachfolgerin zu werden. Von einem Spießer in Wollpullunder und Bundfaltenhose war damals mit keinem Wort die Rede gewesen.

»Seht: Natürlich hatte ich vorgehabt, euch darüber in Kenntnis zu setzen, dass die Umbauarbeiten noch nicht ganz abgeschlossen sind. Ich hatte seit Langem vor, das Geschäft zweizuteilen, der Eckaufbau bietet sich dafür ja geradezu an. Ihr müsstet euch nur die Eingangstür teilen. Aber ihr könnt euch gar nicht ausmalen, wie schwierig es ist, verlässliche Handwerker zu finden. Mal sagen sie das eine, dann das andere, und schon war die Zeit um, und ich habe vergessen, eure Mietverträge anzupassen.« Sie seufzte theatralisch. »Ihr wisst ja, das Alter. Die Vergesslichkeit ist fürchterlich.«

Frida glaubte Kjersti kein Wort. Okay, das mit den Handwerkern entsprach womöglich der Wahrheit. Dass Kjersti Frida und den Halteverbotmann mit hundertprozentiger Absicht hatte auflaufen lassen, verriet allerdings das amüsierte Funkeln in den Augen der alten Dame.

»Du willst mir weismachen, dass ich mir einen Laden mit dieser … dieser … Verrückten teilen soll? Tante Kjersti, das kann nicht dein Ernst sein!«

»Ich bevorzuge den Ausdruck ›speziell‹ statt ›verrückt‹. Aber ja, ich denke, genau das will deine Tante sagen.«

»Nenntante. Sie ist nicht wirklich …« Er stockte mitten im Satz. Sein Atem ging auf einmal keuchend und abgehackt.

Kjersti verzog mitleidig das Gesicht. »Die Katzen, mein Lieber? Frida, sei so gut und geh in die Küche. In der Schüssel auf dem alten Bauernschrank muss noch einer von Sanders Inhalatoren liegen. Und du, Junge, setz dich und komm erst mal zu Atem. Langsam ein und aus. Du weißt, dass es deiner Allergie nicht guttut, wenn du dich aufregst.«

Frida ließ sich nicht lange bitten. Bisher hatte Sander, wie der Parkplatzterrorist offenbar hieß, nicht unbedingt Sympathiepunkte bei ihr gesammelt, ersticken sollte er aber dennoch nicht.

Obwohl sie die Wohnung nicht kannte, fand sie die Küche problemlos. Wie das Wohnzimmer bestach auch dieser Raum durch seine erlesene Einrichtung. Die Möbel hier waren weniger duster, Küchentisch und Stühle weiß lasiert und rustikal. Blau-weiße Teller reihten sich in einem Wandregal aneinander, die passenden Henkelbecher in einer Vitrine. Weiße Spitzengardinen filterten das Nachmittagslicht. Ein Strauß Trockenblumen stand in der Mitte des Esstischs in einer Vase, die Frida als eines ihrer Werkstücke erkannte. Für das Gefäß hatte sie einen Henkeltontopf, den sie einmal im Müll gefunden hatte, mit wolfsgrauer Kreidefarbe überstrichen und dann mit einem Vogelmotiv verziert. Mit Transferfolie war es ganz einfach gewesen, die beiden auf einem Zweig sitzenden Blaukehlchen auf die Unterlage zu bekommen. Normalerweise waren die Bügelbilder für Textilien gedacht, aber auch auf der Vase machte sich das Motiv gut. Ein bisschen verspielt, ein bisschen ländlich, genau passend zu den Trockenblumen. Ein Lächeln breitete sich auf ihrem Gesicht aus. Kjersti liebte Eleganz, doch sie war sich nicht zu schade, ihrem Heim mit ein wenig Kitsch Gemütlichkeit zu verleihen. Womöglich war sie aus diesem Grund blind für das, was Frida und Sander vom ersten Augenblick an gespürt hatten: Sie beide unter einem Dach? Das konnte nur schiefgehen.

Sie schnappte sich den Inhalator und rannte zurück ins Wohnzimmer. Sander hatte auf einem der Stühle gegenüber des Sofas Platz genommen. Die Unterarme auf die Oberschenkel gestützt, den Kopf zwischen den Schultern hängend, rang er nach Atem. Dankbar griff er nach dem Inhalator und nahm zwei tiefe Sprühstöße voll.

Kjersti, auf deren Schoß es sich eine der Katzen gemütlich gemacht hatte, folgte dem ganzen Spektakel mit besorgtem Blick. »Jetzt besser?«, fragte sie.

Sander nickte. Tatsächlich ging sein Atem wieder gleichmäßiger. Dafür zierten jetzt rote Flecken seine Wangen und den Hals.

An Frida gerichtet meinte Kjersti: »Setz dich doch zu uns, Liebes. Schenkst du uns allen eine Tasse Tee ein? Baldrian, das ist gut für die Nerven. Ich kann mich so schlecht bewegen mit der Hüfte.«

Frida war kein großer Teefan, und auch Sander lehnte ab.

»Kjersti, ehrlich, ich habe keine Zeit! Jeden Augenblick kommt unten eine Wagenladung voller Antiquitäten an. Ich muss dort sein, um sicherzugehen, dass die Möbelpacker vorsichtig mit den Stücken umgehen. Und ich verstehe immer noch nicht …« Wieder unterbrach er sich, schüttelte den Kopf. »Wie genau hast du dir das vorgestellt mit dem geteilten Laden? Was macht diese … Frida? Du heißt Frida, ja?«

Frida nickte. »Ja, aber meine Fans kennen mich als finestfairy, falls dir das besser gefällt.«

»Fans?« Die roten Flecken auf seinen Wangen intensivierten sich. Ein hörbares Magengurgeln echote durch den Raum.

»Na ja, Abonnenten, Follower, nenn sie, wie du willst.«

»Frida ist Insta-Künstlerin«, sprang Kjersti ihr zu Hilfe. »Sie sammelt Altes aus aller Welt und verwandelt es in Kunst und Deko. Hochzeitsdekorationen aus weggeworfenen Kleiderbügeln, Dekolaternen aus Marmeladengläsern, Obstschalen aus Muscheln. Du solltest ihre Fotos sehen. Einfach wunderschön!«

»Und wofür genau braucht eine … Insta-Künstlerin ein Ladengeschäft?« Er betonte das Wort, als würde es ihm körperlich Übelkeit bereiten. Gemessen an dem Theater, das sein Magen veranstaltete, war das nicht einmal so weit hergeholt. Ihre vorherige Ablehnung vergessen, füllte sie nun doch zwei Tassen mit Tee aus der Silberkanne. Eine schob sie ihm wortlos zu.

»Um meine Sachen zu verkaufen. Wozu sonst? Bisher biete ich meine Artikel nur über einen Etsy-Shop an, aber ich denke, ich bin bereit für den nächsten Schritt.«

»Sie macht Kunst aus Müll?« Wieder beschleunigte sich sein Atem. Diesmal hatte es wohl nichts mit einer Allergie zu tun. »Und die soll sie jetzt in meinem Antiquitätengeschäft anbieten? Unter meinen Sammlerstücken befinden sich einige der am schwersten zu findenden Raritäten der …«

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