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Sonnenzauberstunden

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Bella Italia!

Als Zia-Lucia Costa Calmers auf dem Dachboden ihrer Großeltern einen Koffer mit geheimnisvollen Briefen findet, hofft sie, endlich Antworten auf die vielen Fragen zu erhalten, die sie sich schon so lange stellt: wie haben sich ihre Eltern kennengelernt? Warum ist ihre Mutter so früh verstorben? Und vor allem, wie ist sie zu so einem ungewöhnlichen Namen gekommen? Gemeinsam mit ihrer besten Freundin Ursula macht sie sich auf den Weg nach Italien. Auf die beiden wartet ein unvergesslicher Sommer, und Weingutbesitzer Pietro lässt Zias Herz höher schlagen …


  • Erscheinungstag: 25.07.2023
  • Seitenanzahl: 448
  • ISBN/Artikelnummer: 9783749905423
  • E-Book Format: ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Für die Leser,
die zusammen mit mir auf ein Felsplateau über
einem sonnendurchfluteten Tal in Italien entfliehen.

Unsere Reise beginnt auf Seite eins.

1

Zia Chalmers robbte auf allen vieren rückwärts aus der Abstellecke und zerrte einen braunen Koffer mit rissiger Oberfläche hinter sich her. »Autsch!« Sie rieb sich die schmerzende Stelle am Kopf, wo sie mit ihrem Pferdeschwanz am Türrahmen der winzigen Einstiegsöffnung hängen geblieben war. »Einer der Vorteile einer Dachwohnung ist der Stauraum unter den Dachbalken. Man braucht bloß Kleidergröße 32, um hineinzukommen.«

Ursula, die auf dem Teppich in Zias Gästezimmer lag – das Ursula momentan bewohnte –, musterte den Koffer. »Wie lange war er schon da drin?«

»Sechs Jahre, seit Grans Tod. Ich hätte ihn damals durchsehen sollen, aber da war ich vierundzwanzig und habe mich zu jung gefühlt, um allein auf der Welt zu sein, ganz zu schweigen davon, Grans und Paps Bungalow auszumisten, um ihn verkaufen zu können.« Zia wischte flüchtig den Staub von dem Koffer ab und ließ dann mit einem dumpfen Knall die altmodischen Schnallen aufschnappen. Die Scharniere knarrten, als sie den Deckel aufklappte und innehielt, um die gelbbraunen Ordner zu mustern, die neben ausgebleichten roten Dokumentenmappen hineingestopft waren. Eine Ecke nahm eine blau-weiß gesteppte Strandtasche ein. Sie klopfte mit der flachen Hand darauf. »Die habe ich oben auf einem Schrank gefunden. Sie ist voll mit Mums Briefen, aber ich hatte das Gefühl, es wäre übergriffig, sie zu lesen, also habe ich sie auch in den Koffer getan.«

Stirnrunzelnd sah Ursula auf das Wirrwarr hinunter. »Wird es dich nicht aufwühlen, die Sachen zu sortieren?«

Zia zuckte mit den Schultern. »Kann schon sein, aber wenn ich Hinweise darauf finden will, wer mein Vater ist, dann ist das der einzige Ansatzpunkt.« Zerstreut nestelte sie am Reißverschluss der Badetasche. »Gran und Pap haben immer behauptet, seinen Namen nicht zu wissen. Sie haben nicht gern darüber geredet, weil sie nichts davon hielten, dass Mum alleinerziehend und ein ›Freigeist‹ war, wie Gran das nannte. Als ich klein war, haben wir die beiden in Spanien besucht, aber ich glaube, für Mum waren das Pflichtübungen. Ein Jammer, denn nach ihrem Tod waren Gran und Pap wundervoll.« Blinzelnd vertrieb sie die Erinnerung daran, wie sie sich mit zehn schockiert an Gran geklammert hatte.

Ursula lachte. »Sie mögen ja altmodische Wertvorstellungen gehabt haben, aber deine Gran hatte den Schalk im Nacken, und Pap hat immer gelächelt. Ich bin in den Semesterferien immer gern mit dir nach Hause gefahren. Das hat mein Heimweh ein wenig gelindert.« Ursulas eigene Familie lebte in Irland. Sie war zum Studium nach England gekommen und geblieben. Sie war Zias beste Freundin und so blond, wie Zia dunkel war; eine Bohnenstange, wo Zia mit großzügigen Kurven ausgestattet war. Sie war eine Tätowiererin mit künstlerischen Neigungen, während Zia bei einer Vermögensverwaltung im Kundenkontakt arbeitete. Trotzdem fanden sie die gleichen Dinge witzig, liebten die gleichen Bücher und Filme und verstanden einander vollkommen. Als Ursula und ihr Mann Stephan eine Ehekrise hatten, hatte Zia Ursula sofort angeboten, sie bei sich aufzunehmen.

Wehmütig dachte Zia an ihre hochgewachsene, schlanke Gran mit ihrem grau-schwarzen, straff zurückfrisierten Haar und Paps blaue Augen und seinen silberweißen Schopf. »Als ich damals zu den beiden gezogen bin, hat Pap mir gezeigt, wie man aus den Stängeln von Wiesenkerbel eine Art Pfeife bastelt. Sie erzeugte ein unanständiges Geräusch, und er hat gesagt, es wäre eine Furzkanone, aber ich sollte das nicht vor Gran sagen. Dann hat sie sie gesehen. ›Hat Pap dir eine Furzkanone gemacht?‹, hat sie gefragt. Das war das einzige Mal, dass ich in diesem Sommer gelacht habe.« Sie berührte die Ordner, die sich trocken und glatt anfühlten und einen tröstlichen Geruch nach altem Papier im Zimmer verströmten. »Wahrscheinlich habe ich viel zu viel von ihrem Zeug behalten.«

Ursula legte Zia ihren tätowierten Arm – einer war von Tätowierungen übersät und einer war frei – um die Schultern. »Aber du hast sie geliebt.«

Zia nickte zittrig. »Als Mum von der Leiter fiel und sich am Kopf verletzt hat, haben Gran und Pap ihr Leben in Spanien aufgegeben.« Zia erinnerte sich noch an das Scheppern und den schrillen Schmerzensschrei. Daran, wie Mum taumelnd auf die Füße gekommen, unerklärlich wütend und desorientiert gewesen war und sich dann heftig erbrochen hatte. In schneller Folge waren zuerst die Nachbarn und dann der Krankenwagen aufgetaucht, und dann war Vicky Chalmers gestorben, und Zias Kindheit, wie sie sie gekannt hatte, war zu Ende gewesen.

Ursula drückte ihr einen tröstenden, nach Lippenstift duftenden Kuss auf die Wange. »Wenn du deinen Daddy findest, dann vielleicht auch noch eine komplette andere Familie, die nur auf dich wartet.«

»Lebende Verwandte wären nett, aber du weißt, dass ich nicht deswegen herausfinden will, wer er ist.« Zia starrte den Berg aus alten Papieren an, als könnte er sich auf magische Art in den Schlüssel zu ihrem Leben verwandeln.

Ursula seufzte. »Ich weiß. Du bist hinter einem italienischen Pass her, Zia-Lucia Costa Chalmers. Herrje, vielleicht finden wir sogar heraus, wie du zu deinem ellenlangen Namen gekommen bist.«

Zia rang sich ein Lächeln ab. »Du kennst ja die Geschichte, die Gran mir erzählt hat – dass mein Dad aus Italien stammte und eine Frau namens Lucia Costa einmal nett zu meiner Mutter war. Als ich anfing, Italienisch zu lernen, und ihr erklärt habe, dass Zia ›Tante‹ bedeutet, hat sie nur mit den Schultern gezuckt.« Sie stieß den Atem aus. »Und als ich ihr weitere Fragen gestellt habe, hat sie gesagt, sie wolle sich nur auf die guten Erinnerungen konzentrieren. Ich habe nicht nachgehakt, um sie nicht traurig zu machen. Als ich zur Welt kam, war Mum fünfunddreißig, und als Gran und Pap mich zu sich genommen haben, war sie fünfundsiebzig und er siebenundsiebzig.« Zia stand auf und rieb sich die steifen Knie. »Autsch. Legen wir das ganze Zeug auf den Esstisch.«

Sie hievte den rissigen braunen Koffer durch die Diele ihrer luftigen Brightoner Wohnung. Sie befand sich im obersten Stockwerk eines georgianischen Stadthauses und bot einen Ausblick über die New-Steine-Gärten und die fließenden silbrigen Linien des AIDS-Denkmals. Alle Gebäude in ihrer Straße waren in Einzelwohnungen aufgeteilt oder zu Boutique-Hotels umgebaut worden, und die meisten waren in eleganten Pastelltönen gehalten, obwohl eins in einem knalligen Türkis gestrichen war. Ihre hohen Schiebefenster gingen auf einen Balkon mit geschwungenen, schmiedeeisernen Gittern hinaus. Wenn sie genau hinsah, konnte sie erkennen, wo das Meer von Blau zu Grau umschlug, und zu ihrer Linken verlief die geschäftige, belebte St. James Street. Sie liebte ihr Zuhause über alles, das ein Juwel im trendigen, eigenwilligen, an Englands Südküste gelegenen Brighton darstellte, und glaubte, dass Gran und Pap es gutgeheißen hätten, dass sie ihren Bungalow verkauft hatte, um die Wohnung zu erwerben.

Ursula ließ sich mit ihrem langgliedrigen Körper an dem Tisch in der Nähe der marmornen Kamineinfassung nieder. »Okay. Wonach suchen wir?«

Zia zog die ersten paar Dokumentenmappen hervor. »Alles, was dazu beitragen könnte, die leere Stelle auf meiner Geburtsurkunde zu füllen, wo der Name meines Vaters stehen sollte. Wenn er wirklich Italiener war, wäre das der einfachste Weg zur italienischen Staatsbürgerschaft.«

»Aber du hast gesagt, jeder könnte eine Aufenthaltserlaubnis in Italien beantragen«, wandte Ursula ein und schob sich die blonde Locke zurück, die ihr ständig vor die Augen fiel.

»Stimmt. Zuerst beantragt man eine Aufenthaltsgenehmigung, und dann nach ein paar Jahren vielleicht die Staatsbürgerschaft. Die Sache ist nur die, dass ich mit dem Antrag meilenweit bessere Chancen hätte, wenn ich beweisen könnte, dass ein Eltern- oder Großelternteil von mir italienisch war.« Sie schnitt eine Grimasse. »Wären die guten McPherson & Partner so freundlich gewesen, mich vor dem Brexit zu entlassen, wäre es deutlich leichter gewesen, nach Italien zu ziehen – und mir wäre die Beziehung zu Brendon erspart geblieben.«

Leider endeten ihre drei Monate mit Brendon, obwohl sie vielversprechend mit funkensprühender gegenseitiger Anziehung bei einer Silvesterfeier begonnen hatten, damit, dass er sie betrogen hatte. Besonders kränkend, da er immer derjenige gewesen war, der sie zu einer festen Bindung hatte überreden wollen. Sie war so dumm gewesen, sich mit ihm einzulassen; er war damals nicht nur ein Kollege gewesen, sondern war auch der beste Freund von Stephan, Ursulas Mann. Letzteres hatte zu der Erwartung geführt, dass die beiden Paare als Viererpack daherkamen und ihre Beziehungen ähnlicher Natur waren. Was Ersteres anging … Zia war immer davon ausgegangen, dass Kollegen, die privat zusammen waren, Beziehung und Arbeit trennten, aber Brendon war offen damit umgegangen, dass sie miteinander schliefen. Es hatte ihr nicht gefallen, dem Bürotratsch und den damit verbundenen augenzwinkernden Anspielungen ausgesetzt zu sein.

Dann hatten McPherson & Partner Personalkürzungen vorgenommen, denen Zia zum Opfer gefallen war, während Brendon seinen Job behalten hatte. Als Brendon ihr nur kurz nach dieser Enttäuschung fremdgegangen war, hatte Zia die Beziehung beendet – und trotz ihres Schocks und ihrer Demütigung eine Welle der Erleichterung empfunden. Als Nächstes hatte eine alkoholisierte Eskapade von Ursula Stephan dazu bewogen, eine »Ehepause« zu erklären.

So furchtbar Ursulas Probleme und Zias Entlassung auch waren – wenigstens stolperte Zia nicht mehr ständig über Brendon.

»Aber Brendon ruft dich immer noch an«, bemerkte Ursula. »Irgendeine Aussicht, dass ihr euch versöhnt?«

Zia krauste die Nase. »Nein, ich hatte schon meine Zweifel an unserer Beziehung, bevor ich ihn auf frischer Tat ertappt habe. Er behauptet, es tue ihm leid, aber ich vermute, dass er nur um Vergebung bittet, damit er sich selbst besser fühlt. Aber ich kann ihm nicht verzeihen, dass er mich betrogen hat. Ich bin nur noch einigermaßen höflich zu ihm, weil wir schließlich zum selben Freundeskreis gehören und uns immer wieder über den Weg laufen werden. Vor allem dann, wenn du wieder mit Stephan zusammenkommst.«

Ursula seufzte tief betrübt. »Keine Ahnung, ob das jemals passieren wird.« Ihr zweiter Seufzer fiel länger und niedergeschlagener aus. »Wenn ich in den letzten paar Monaten nicht deine Schulter zum Ausheulen gehabt hätte, wäre ich in den Devil’s Dyke gesprungen. Ich werde dich so vermissen, wenn du nicht mehr da bist. Du bist mein Fels in der Brandung.«

Ursulas Abstürze ins Elend, die sie häufig erlitt, seit sie Eheprobleme hatte, bereiteten Zia Sorgen. Sie zögerte, und angesichts von Ursulas ängstlicher Miene schnürte sich ihr das Herz zusammen. Die emotionale Verfassung ihrer Freundin beunruhigte sie. Als Ursula eingezogen war, hatte sie anfangs ihr Zimmer kaum verlassen, bis ein verständnisvoller Arzt, ein paar Medikamente – und jede Menge liebevoller Zuwendung von Zia – sie davon überzeugt hatten, dass das Leben lebenswert war. Doch innerlich verfluchte Zia Stephan dafür, dass er sich weigerte, zur Eheberatung zu gehen. Stattdessen machte er es sich in ihrem gemeinsamen Haus auf seinem hohen Ross bequem und urteilte über seine verzweifelte Frau. »Es ist ja nicht einmal beschlossene Sache, dass ich fortgehe«, versicherte sie Ursula hastig. »Vielleicht habe ich meine ganze Geschichte ja zu etwas Romantischem überhöht, was sie gar nicht ist. Gut möglich, dass Lucia Costa Mums Hebamme war und sie mich deswegen nach ihr benannt hat. Oder mein Dad hat einfach in einem italienischen Restaurant gearbeitet, und Gran hat daraus auf seine Nationalität geschlossen.«

Ursula runzelte die Stirn. »Aber mit deiner goldbraunen Haut und dem glänzenden dunklen Haar sieht du italienisch aus. Ich wette, wir entdecken, dass dein Dad ein italienischer Millionär ist. Er wird dich in sein römisches Imperium holen, und dann wirst du nur noch Ferraris fahren und Armani tragen.«

Zia verdrehte die Augen. »Ha. Wahrscheinlicher ist, dass ich einen kleinen Teil meiner Abfindung für einen Urlaub in Sorrento ausgebe. Du kannst mitkommen.«

»Abgemacht«, gab Ursula zurück, doch ohne das Lächeln, das Zia sich erhofft hatte.

Ein paar Minuten lang durchblätterten sie schweigend ein paar Akten. Dann stieß Ursula so etwas wie ein Lachen aus. »Das scheint Korrespondenz zu sein, die sich auf den Verkauf des Hauses deiner Großeltern in Spanien bezieht. In einem Brief bittet der Interessent um einen Preisnachlass, und jemand hat ›Pustekuchen!‹ daruntergeschrieben.«

»Gran, vermute ich.« Zia kicherte und nahm die Papiere, um sie sich selbst anzusehen.

Ursula sprang auf. »Ich wünschte, ich könnte so energisch sein, wie sie es war, wenn mich jemand veräppeln will. Kaffee?« Sie ging in die Küche, während Zia sich wappnete, um die Schriftstücke nicht auf den »Behalten«-Stapel zu legen, nur weil Gran einen flotten Spruch darauf geschrieben hatte. Vor den Fenstern schossen Möwen umher wie Drachen und krächzten, als wollten sie sie in den hellen Mainachmittag herauslocken.

Als Ursula mit zwei dampfenden Kaffeebechern zurückkam und sich wieder den Papieren widmete, entdeckte sie eine Mappe mit Schulzeugnissen, die ihr tatsächlich ein lautes Lachen entlockten. »Hör dir die Anmerkung dieser Lehrerin an: ›Sobald wir uns darüber einig waren, wer in der zehnten Klasse das Sagen hat, haben Victoria und ich uns gut verstanden.‹ Und: ›Victoria Chalmers interessiert sich mehr dafür, den Einband ihres Mathematikbuchs zu verzieren, als darin zu arbeiten.‹ Sie hat Steppen gelernt. Sieh dir all diese Urkunden an.«

Zia reckte den Hals, um die verblassten Farben auf dem dicken, steifen Papier zu mustern. »Waren die Lehrer damals zu verstaubt, um sie Vicky zu nennen? Niemand hat sie je mit Victoria angesprochen.« Sie griff nach einer weiteren Mappe und schlug sie auf. »Hier sind noch mehr Zeugnisse. ›Victoria Chalmers hat sich in der siebten Klasse gut eingelebt und lernt fleißig.‹ Vielleicht hat sie sich in der Mittelstufe ja wohler gefühlt als in der Grundschule. Und inzwischen war Wasser ihr Ding, denn dieser Ordner ist voll mit Schwimmurkunden.« Ein großer, gelbbrauner Umschlag fiel ihr ins Auge. Vicky stand in der gestochenen, schräg geneigten Handschrift ihrer Gran darauf. Schlagartig wurde sie ernst, und ihr Herz begann schneller zu schlagen, als sie danach griff. »Was darin ist, weiß ich – Mums Geburtsurkunde und ihr Totenschein.«

»Ach, Zia.« Mitgefühl trat in Ursulas Blick, während Zia ein längliches, steifes Stück Papier mit einem geprägten Briefkopf hervorzog und es auseinanderschlug. Vor roten Wasserzeichen war darauf in königsblauer Handschrift vermerkt, Victoria Chalmers sei im April 1956 im Royal Exeter and Devon Hospital als Tochter von Joyce Mary Chalmers und Alfred John Chalmers geboren. Die Schrift verschwamm vor Zias Augen. »Ich bin um eine liebevolle Mum betrogen worden. Sie hat ständig gelächelt und war immer mit dem Haus beschäftigt, das sie gerade renoviert hat. Bevor sie mir erklärt hat, dass wir umziehen würden – schon wieder.«

»Aber sie hat ihr Geld damit verdient, alte Häuser aufzuhübschen«, nahm Ursula Vicky in Schutz, obwohl ihre Stimme vor Mitgefühl überfloss.

»Ja. Aber ich habe fünf verschiedene Grundschulen besucht, bis ich mit zu Gran und Pap gezogen bin.« Zia putzte sich die Nase und las aus der auf Juli 2001 datierten Sterbeurkunde vor. »Victoria Chalmers starb an einer traumatischen Subarachnoidalblutung oder, in normaler Sprache ausgedrückt, einer Hirnblutung.« Vorsichtig schob sie die Urkunden zurück in den Umschlag und legte ihn auf den »Behalten«-Stapel.

Der Nachmittag nahm seinen Lauf. Die Sonne trat hinter das Gebäude, sodass die lebhaften Farben des Parks draußen matter wirkten, was die Leute aber nicht davon abhielt, sich auf die Bänke zu setzen, um einen Snack zu essen oder auf ihr Handy zu schauen. Schließlich reckte Ursula sich gähnend. »Jetzt haben wir alle Ordner durchgesehen und keine Spur von etwas gefunden, was auf deinen Dad hindeuten würde. Ich glaube, du musst diese Briefe deiner Mammy durchsehen. Vielleicht hat sie mit ihren Freundinnen über ihn geredet.« Ursula benutzte Worte wie »Mammy« nur, um mit ihrer irischen Herkunft Eindruck zu schinden, oder wenn sie zu ihrer großen, fröhlichen Familie heimfuhr, die in der Nähe von Dublin lebte.

»Wahrscheinlich.« Langsam hob Zia die Strandtasche aus dem inzwischen leeren Koffer. Die weißen Stellen waren leicht angegraut, und das Blau war verblasst. Sie erinnerte sich noch daran, wie sie sie ganz hinten auf dem Kleiderschrank gefunden hatte, als wäre sie nach dem Tod von ihrer Mum dort oben vergessen worden.

Langsam zog sie den Reißverschluss auf, nahm einen Stapel Briefe heraus und verteilte sie auf dem Tisch aus Eichenholz. Sie ließ die Fingerspitzen über die Umschläge gleiten; blaue, rosa, weiße und bräunliche. In jedem steckte liniertes Schreibpapier oder ab und zu verziertes Briefpapier; Papiere, die seit über zwanzig Jahren niemand mehr angerührt hatte. Zia fühlte sich kribblig und getröstet zugleich. »Manche Leute würden behaupten, das geht mich nichts an. Aber plötzlich habe ich beinahe das Gefühl, als würde ich sie wiedersehen. Ich habe doch die Chance verdient, sie besser kennenzulernen, oder?«

»Natürlich«, meinte Ursula und nickte zustimmend.

»Ich sortiere die Briefe zuerst, um etwas Ordnung hineinzubringen.« In der nächsten Viertelstunde sah Zia die Umschläge durch, während Ursula ein paar Lampen anzündete, da es dämmrig wurde, und dann in der Küche verschwand, wo sie herumklapperte. »Ich habe Hühnchen und Kartoffeln in den Ofen geschoben.«

»Hmm«, gab Zia zerstreut zurück, doch ihre Aufmerksamkeit galt immer noch den alten Briefen, die vor ihr ausgebreitet lagen wie Tarotkarten. »Es sind jede Menge Briefe von Gran und Pap und ein paar von Freunden. Die ältesten sind auf Dezember 1991 datiert. Ich bin im Oktober davor geboren, und wir waren gerade von Devon nach Northamptonshire gezogen. Die Briefe setzen sich nach unseren Umzügen nach Bedfordshire und Huntingdonshire fort.« Sie rückte einige Umschläge gerade.

Ursula setzte sich wieder, nahm die Tasche und spähte hinein. »Ist die leer?«

Abwesend nickte Zia und hielt kurz inne, bevor sie die Nase in das Leben ihrer Mutter steckte. »Toll, dass die Leute einander damals noch richtige Briefe geschrieben haben.«

Ursula zog einen braunen Umschlag aus einem Fach in der Strandtasche. »Hier ist noch ein Umschlag, aber er ist nicht beschriftet.«

Zia verfolgte ihren Gedankengang weiter. »Von uns wird niemand je eine Tasche voller Briefe hinterlassen, oder? Wir kommunizieren nur über E-Mails und WhatsApp. Und die werden sich einfach in Luft auflösen. Ein Jammer. Vielleicht führen manche Menschen ja deswegen Tagebuch.« Als Ursula nicht reagierte, blickte sie auf.

Mit halb offenem Mund hielt Ursula in jeder Hand ein Stück Papier und hatte die Augen aufgerissen. »Oh!« Vor Schreck klang ihre Stimme heiser, und sie starrte die Papiere an. »Oh, Zia!«

Zia reckte den Hals, konnte aber nicht erkennen, warum Ursula dreinschaute, als hätte sie gerade entdeckt, dass jemand ihr Bankkonto geplündert hatte. »Was in aller Welt ist los?«

Langsam und mit einem merkwürdig feuchten Schimmer in ihren haselnussbraunen Augen drehte Ursula die beiden Blätter um und legte sie vor Zia hin. »Das sind auch Geburts- und Sterbeurkunden von Victoria Chalmers. Aber die Daten unterscheiden sich.«

»Unterscheiden sich … von den anderen? Wie kann das sein?« Zia starrte die beiden Urkunden an. Mit Herzklopfen versuchte sie, die Worte aufzunehmen, die irgendwelche Beamte in eleganter Schrift mit Füller in die Urkunde eingetragen hatten, und zwang ihr widerspenstiges Hirn, den Beweis vor ihren Augen zu akzeptieren.

Ursula hatte recht.

Vor ihr lagen eine Geburtsurkunde und ein Totenschein von Victoria Chalmers, die nicht mit den anderen Dokumenten übereinstimmten. Mit zitternden Fingern zog sie die Dokumente hervor, die sie vorhin in Händen gehalten hatte, und legte sie nebeneinander. Ursula rückte ihren Stuhl näher heran, um die Papiere ebenfalls vergleichen zu können. In der Küche schrillte die Zeitschaltuhr des Ofens, aber keine der Frauen reagierte darauf.

Zia befeuchtete sich die trockenen Lippen. »Ich kann nicht glauben, was ich sehe. Es hat zwei Victoria Chalmers gegeben, beide in Devon geboren. Mum ist 2001 in Cambridgeshire gestorben, mit fünfundvierzig. Die andere ist 1991 in Exmouth gestorben, als sie achtzehn war.« Sie kramte nach den Mappen mit den Schulzeugnissen und Urkunden und betrachtete sie mit frischem Blick. »Das ist mir vorher nicht aufgefallen, aber die stammen aus verschiedenen Zeiten! Was zum Teufel?«

Ursulas Stimme klang dünn und unsicher. »Dann war deine Mum siebzehn, als die andere Victoria geboren wurde.« Sie stützte das Kinn in die Hand.

Die Zeitschaltuhr des Backofens schien im Takt mit dem klagenden Kreischen der Möwen zu schrillen, doch Zias Herz schlug so laut, dass sie glaubte, es müsste beides übertönen. Wie als Kind, wenn sie sich bei einem Horrorfilm gegruselt hatte, musste sie sich zwingen, regelmäßig zu atmen. »Könnte die zweite Victoria meine Schwester oder Halbschwester gewesen sein? Vielleicht hat Mum sie ja zur Adoption freigegeben, weil sie zu jung war, um mit einem Baby fertigzuwerden? Das würde erklären, warum das Baby den gleichen Namen bekommen hat wie Mum – Adoptivfamilien suchen doch wahrscheinlich ohnehin einen neuen Namen für das Kind, und das adoptierte Baby bekommt eine neue Geburtsurkunde.«

»Keine Ahnung. Aber …« Ursula sah Zia mit hochgezogenen Augenbrauen an. »Die zweite Victoria ist vielleicht gar nicht deine Schwester. Könnte sie … deine Mum sein?«

»Nein«, flüsterte Zia. »Das ist unmöglich. Warum hätte Mum verschweigen sollen, dass meine richtige Mutter gestorben ist? Warum hätten Gran und Pap das tun sollen?« Die ignorierte Zeitschaltuhr verstummte von allein.

»Das Gleiche gilt aber auch, wenn sie deine Schwester gewesen sein sollte«, argumentierte Ursula. »Vielleicht geben die Briefe uns ja einen Hinweis.«

Schweigend betrachteten sie den Briefstapel. Vorsichtig griff Zia dann nach dem obersten, faltete ihn auseinander und erkannte die kräftige, weit ausgreifende Handschrift. »Von Gran.« Angesichts des dünnen Luftpostpapiers, das den weiten Weg aus der Gegend von Valencia in Spanien zurückgelegt hatte, schluckte sie heftig.

14. Dezember 1991

Liebe Vicky,

wie geht’s dir? Wie macht sich Zia-Lucia? Kommst du mit ihr zurecht?

Zia hielt inne. »Ein bisschen komisch zu lesen, wie sie über mich als Baby reden.«

Sie wandte sich wieder dem Brief zu.

Dein Vater und ich finden, wir sollten nach England zurückkehren und dich und Zia-Lucia unterstützen. Wir können uns kaum vorstellen, wie du dich fühlst, nachdem die arme, liebe Tori nicht mehr lebt. Wie schrecklich das alles ist. Ach, liebster Liebling, wir fühlen und trauern mit dir! Du bist immer deinen eigenen Weg gegangen, aber willst du dieses Mal nicht unsere Hilfe annehmen? Können wir das nicht gemeinsam durchstehen? Wir haben Tori doch alle geliebt.

Zia schluckte. »Gran hat mich auch immer ›liebster Liebling‹ genannt.« Hatte sie die unbekannte Tori auch so geliebt, dass sie sie so angesprochen hatte? Bei dem Gedanken wurde ihr ein wenig schwummrig.

Ursula unterbrach sie mit einem Eifer, den sie normalerweise nur beim Lösen von Sudoku-Rätseln an den Tag legte. »Aber 1991 ist das Jahr, in dem die andere Victoria gestorben ist. Sie muss Tori sein – eine andere Kurzform für Victoria. Ich wette, deine Mum wurde Vicky genannt und diese jüngere Victoria Tori.«

Zia dachte darüber nach und streckte ihre verkrampften Beine unter dem Tisch aus. »Klingt logisch. Offensichtlich hatte sie um die Zeit ihres Todes Kontakt zu Mum, und auch zu Gran und Pap. Das passt nicht mit der Theorie zusammen, dass sie adoptiert worden ist – außer natürlich, sie hätte Mum aufgespürt und die Adoptiveltern hätten ihr keinen neuen Namen gegeben, oder sie hätte ihn nicht benutzt.«

Ursula wirkte fasziniert. »Ich frage mich, wer ihr leiblicher Vater war.«

Zia versuchte zu lachen, doch es blieb ihr im Hals stecken. »Meine Vergangenheit scheint voller geheimnisvoller Väter zu sein.« Sie nahm den nächsten Brief zur Hand. Die Schrift war eine andere. »Den hier hat Pap geschrieben.« Sie lasen ihn zusammen.

3. Januar 1992

Liebe Vicky,

nach deinem letzten Brief zu urteilen, scheinst du nicht zu wollen, dass Mum und ich zurückkommen, aber wir machen uns Sorgen um dich. Ich will ehrlich sein – wir finden es verrückt, was du tust, und früher oder später wirst du eine Menge zu erklären haben. Es ist noch nicht zu spät, um es dir anders zu überlegen.

Zia überflog den Rest des Briefs. »Dann kommt noch viel über Paps Garten und Gran, die Engländern, die neu in Spanien sind, die Sprache beibringt. Aber was glaubst du, was Mum hätte erklären sollen? Das ist wie eins dieser Escape-Spiele, bei denen man einen Fall lösen und dafür verschiedene Hinweise sammeln muss, um der Lösung auf die Spur zu kommen.«

Der nächste Brief war ein paar Wochen später geschrieben worden. Gran hatte wieder zum Stift gegriffen und mit eindringlichen Fragen begonnen.

Bist du dir sicher, dass du klarkommst? Brauchst du Geld? Schläfst du auch genug? Es ist ja schön und gut, deine Trauer in der Sorge für das Baby zu ertränken, aber kleine Menschen sind anstrengend.

Zia stieß ein ersticktes Lachen aus. »Und jetzt geht es mit Grans üblicher Direktheit weiter. ›Was glaubst du eigentlich, wie lange du das durchhalten kannst? Wir dachten, dass du dich über sämtliche Konventionen hinweggesetzt hast, als du mit diesem Harry Anstey zusammengelebt hast, aber das war nichts im Vergleich zu diesem Unsinn jetzt.‹«

»Was für ein Unsinn?«, wollte Ursula wissen.

Doch Zia durchwühlte schon den Stapel mit den Umschlägen. »Harry Anstey! Hier sind auch irgendwo Briefe von ihm, zusammen mit welchen von Mums Freundinnen. Ich wusste ja nicht, dass die beiden einmal zusammengelebt haben. Er hat uns ungefähr einmal im Jahr besucht, und das war immer wie ein kleiner Urlaub. Mum hat dann immer groß gekocht, und wir haben Ausflüge in Parks oder an Strände gemacht, aber ich kann mich nicht erinnern, dass sie sich verhalten hätten, als wären sie ein Paar gewesen.« Sie fand die Briefe, die sie suchte, und öffnete den ältesten. »Der ist von Januar ’92, ungefähr um dieselbe Zeit geschrieben wie Paps Brief.«

Vicky, Babe, ich ertrage es nicht. Ich würde mir nur zu gern freinehmen, um zu dir zu kommen und dir mit Zia zu helfen, aber ich bin mir sicher, dass du mich hasst. Stimmt das? Kannst du mir jemals, jemals verzeihen?

Zia hielt Ursulas fasziniertem Blick stand. »Warum hätte Mum Harry hassen sollen? Sie waren Freunde.«

»Alte Flamme?«, meinte Ursula. »Das Ganze von wegen ›Babe‹ und ›verzeih mir‹? Und sie haben zusammengelebt? Vielleicht hat er sich ja wie Brendon mit heruntergelassenen Hosen erwischen lassen.«

»Kann schon sein.« Rasch las Zia weiter. »Aber nein, das hier klingt nicht danach, als würde Harry um Verzeihung bitten, weil er sie betrogen hat. Hör dir das an:

›Könnte ich nur die Zeit bis zu Torys Verschwinden zurückdrehen! Ich würde die ganze Nacht bei ihr wachen.‹«

»Tori war verschwunden?«, hauchte Ursula und machte vor Verblüffung große Augen.

Dann las Zia die nächsten paar Zeilen, und ihr stockte der Atem.

Lucia Costa war wieder hier. Ich wünschte, Tori hätte ihr diese Adresse nie gegeben. Ich war im Vorgarten, und plötzlich stand sie da, fragte nach Tori und schimpfte, du hättest ihr Zia-Lucia in Montelibertà niemals wegnehmen dürfen. Ein Albtraum! Ich war so freundlich wie möglich und habe noch einmal wiederholt, was ich ihr beim letzten Mal schon erklärt hatte: dass wir Tori verloren haben und du nicht mehr in der Gegend lebst. Sie tut mir schon leid, weil sie Tori offensichtlich gern gemocht hat. Aber wenn sie nicht herumschnüffeln würde, könnte ich euch beide vielleicht nach Hause holen.

»Herrgott!«, schrie Ursula auf.

Zia keuchte auf. »Lucia Costa! Wer in aller Welt war sie? Wieso hat sie nach mir gesucht? Und was zum Teufel meint er damit, man hätte mich ihr in einem Ort namens Montelibertà weggenommen?« Sie schnappte sich einen beiseitegelegten A-4-Umschlag, drehte ihn um und kramte nach einem Stift. »Lass uns die wichtigen Punkte notieren und versuchen, die verschiedenen Puzzleteile zusammenzusetzen.«

Damit verbrachten sie den Rest des Abends und stocherten dabei zerstreut in ihrem verschmorten Essen, während sie über den Briefen brüteten. Um Mitternacht hatten sie verschiedene Punkte zusammengetragen, die ihnen wichtig erschienen.

Mit müden, brennenden Augen überflog Zia die Liste. »Also, wir haben Folgendes.« Sie zählte die Punkte an den Fingern ab. »Gran und Pap fanden, dass Mum etwas falsch machte, aber sie haben mit ihr um Tori getrauert.« Noch ein Finger. »Harry hatte wegen ihres Tods ein schlechtes Gewissen. Vielleicht ist Tori ja die andere Victoria Chalmers. Mum ist an einen Ort namens Montelibertà in Umbrien gefahren und hat mich bei dieser Frau, Lucia Costa, abgeholt.« Mit dem letzten Finger an dieser Hand kam sie zum finalen Punkt. »Kurz, nachdem Mum und ich in die Midlands gezogen waren, kam Lucia nach Exmouth, um nach mir zu suchen, aber niemand hat ihr verraten, wo ich war.« Sie unterbrach sich, um sich die überanstrengten Augen zu reiben. »Das klingt wie eine Seifenoper.«

Ursula griff nach einem weiteren Brief und las laut daraus vor. »Und dann, 1999, schreibt Harry:

›Oh Vicky, diese verfluchte Lucia Costa ist nach all den Jahren wieder aufgetaucht! Ich habe ihr erklärt, dass ich nicht mehr weiß als damals, als du weggezogen bist. Diese VERDAMMTE Frau!‹«

»Und in seinen letzten paar Briefen fragt er, warum Mum ihm nicht mehr antwortet«, schloss Zia. »Er klingt so traurig. Im allerletzten schreibt er:

›Ich habe Lucia nicht gesagt, wo du wohnst, Vicky! Warum sollte ich dich ausgerechnet jetzt verraten? All die Jahre habe ich deine Geheimnisse gehütet.‹«

Als sie den Brief weglegte, rauschte ihr das Blut in den Ohren. »Heilige Scheiße. Was hat Mum bloß angestellt?«

2

Piero Domenicali lenkte seinen silbernen Alfa Romeo schwungvoll durch die Lücke in den Felsen, die den Zugang zu seinem Besitz, Il Rifugio, bildete, und passierte die Abzweigung, die nach Bella Vista führte, Lucias und Durantes Anwesen. Er parkte im Schatten der Zypressen. Jetzt, im Juni, schickten sich in Italien die Temperaturen an, das Thermometer zu sprengen. Er riss sich die Krawatte herunter und warf sie auf den Sitz. Als er sich heute Morgen den blauen Seidenschlips gebunden hatte, hatte er die leise Hoffnung gehegt, damit die Anerkennung seines Vaters gewinnen und sich auf wundersame Weise mit ihm einigen zu können. »Sieh mal, Papà, ich trage eine Krawatte, und du akzeptierst, dass ich mein Zuhause nicht verkaufen will … aber ich bin bereit, mich von dem Weingut zu trennen.«

Das Wunder war ausgeblieben. Salvatore hatte lamentiert, flehend die Hände gereckt, Piero umarmt und eingeräumt, dass er ein großes Opfer von seinem Jüngsten verlange. Sein älterer Bruder Emiliano hatte es ihm nachgetan. Natürlich wollten sein Vater und sein Bruder das Geschäft abschließen und alles verkaufen. Emilianos Haus befand sich sicher am Fuß des Hügels in der Stadt Montelibertà, und Salvatore hatte vor, sich zu verkleinern und viel zu reisen. Nur, dass die Binotto-Gruppe darauf bestand, Pieros Haus und das von Lucia und Durante zu kaufen und sich erst dann verpflichten wollte, das Weingut der Familie zu erwerben.

Und Il Rifugio war nicht nur Pieros Heim. Auf der anderen Seite des Hauses stand seine Werkstatt, die seine größte Leidenschaft und sein zweites geschäftliches Standbein war. Er hätte sie zu seinem einzigen Beruf gemacht, wenn er nur eine Möglichkeit finden könnte, das Weingut und die Kellerei zu verkaufen, ohne dieses Haus zu verlieren. Damit wollte er am liebsten seine ganze Zeit verbringen – zusehen, wie in seinen Händen funktionale, aber schöne Holzgegenstände Gestalt annahmen.

Heute hätte ihn fast der Schlag getroffen. »Ach, deine heiß geliebte Werkstatt«, hatte Graziella, die Freundin seines Vaters, verächtlich gemeint und es mit einer Handbewegung abgetan. In einem Atemzug war sie zur emotionalen Erpressung übergegangen: »Familie ist Familie, Piero. Lucia und Durante sind bloß Nachbarn.«

»Sie sind meine Freunde, nicht nur Nachbarn«, hatte er gezischt und daran gedacht, wie sehr er nach einem langen Tag Lucias und Durantes herzerwärmende Gesellschaft genoss, die keine Ansprüche an ihn stellte. Und du gehörst nicht zur Familie, Graziella, hätte er am liebsten hinzugefügt. Doch stattdessen hatte er das Wort an Alberto Gubbiotti gerichtet, mit dem sie zu einem Verhandlungsgespräch zusammengekommen waren. Der stets in einen dunklen Anzug gekleidete Vertreter der Binotto-Gruppe war ein stiller, undurchsichtiger Mann, den Piero wegen seiner sauertöpfischen Art nicht leiden konnte. »Man hat uns zugesagt, dass wir Zeit hätten, das Angebot Ihrer Organisation zu überdenken. Niemand wollte Druck ausüben, wissen Sie noch?«

Alberto Gubbiotti hatte den Kopf geneigt, doch Piero wusste, dass leidenschaftliche Reden einfach von ihm abprallten. Gubbiotti hörte einfach zu, wie die Familie stritt, und stellte wahrscheinlich Berechnungen darüber an, wie lange es dauern würde, bis die Binotto-Gruppe, die es kaum abwarten konnte, sich so viel Land wie möglich unter den Nagel zu reißen, bekam, was sie wollte.

Verdrossen knallte Piero die Autotür zu. Der aktuelle Aufruhr reichte, um ihn wünschen zu lassen, seine Familie wäre in Amerika geblieben. Sie waren dorthin ausgewandert, als Piero zwei gewesen war, und dann hatte Salvatore zehn Jahre später das Weingut und die Kellerei von Tenuta Domenicali von einem Cousin geerbt. Damals hatte Pieros und Emilianos Mutter Elvira noch gelebt und sich von Salvatore, den die Aussicht auf ein neues Abenteuer beflügelte, beschwatzen lassen. Der zwölfjährige Piero und der zwei Jahre ältere Emiliano hatten sich in ihrer Schule wohlgefühlt, und das Englische ging ihnen genauso leicht von der Zunge wie das Italienische, doch sie waren nicht gefragt worden. Salvatore hatte die Familie einfach zurück nach Umbrien verschifft, in das grüne und doch raue Herz Italiens.

An seinem Haus vorbei schlenderte er zum Rand des Felssturzes, wo er stehen blieb und in das weite, fruchtbare Tal hinunterschaute; die Aussicht auf Tenuta Domenicali, was normalerweise Balsam für seine Seele war. Schwindelerregend und scheinbar endlos erstreckten sich die Weinreben über die Hügelhänge unter ihm. Der atemberaubende, grün-braune Pflanzenteppich umgab das aus goldfarbenem Stein errichtete Haus, in dem er seine Teenager-Jahre verbracht hatte und das sein Vater immer noch bewohnte. Die Gebäude der Kellerei drängten sich darum, wie sich Welpen um ihre Mutter scharen. Am anderen Ende des Tals lagen die umbrischen Apenninen in ihrem dunkelvioletten und grünen Sommerkleid und wirkten wie eine Herde vorbeiziehender Tiere. Auf der anderen Seite von Il Rifugio fiel das Plateau weniger schroff ab, und einst hatte dort ein – inzwischen lange zugewachsener – Pfad vom Weinberg zu seinem Haus geführt.

Vor seinen Augen lagen die drei Dinge, die die Binottos wollten und um die sich die ganze abscheuliche Auseinandersetzung drehte. Tenuta Domenicali. Die Aussicht. Und der Zugang. Wie er sich wünschte, sie wären nicht hinter den letzten beiden her!

Er ließ den Kopf hängen und wandte sich ab.

Vor ein paar hundert Jahren hatte einer seiner Vorfahren dieses Plateau als perfekte Lage für ein wunderschönes Steinhaus auserkoren – Il Rifugio, Pieros Zuhause. In respektvoller Entfernung waren die Unterkunft für den Verwalter des Weinguts sowie kleine Häuser für die Arbeiter angelegt worden – der Teil, der heute als Bella Vista bekannt war und Lucia und Durante gehörte. Die Grenze zwischen Il Rifugio und Bella Vista wurde von einer Reihe Zypressen markiert, die wirkten, als hätte ein Künstler Malerpinsel kopfüber in die Landschaft gesteckt. Zwischen den Bäumen und durch das Unterholz war ein Trampelpfad entstanden, der in sonnengeflecktem Schatten lag, und diesen Weg schlug er jetzt ein und passierte den von ihm so liebevoll erbauten Pavillon.

Jenseits der Zypressen hatten Lucia und Durante mit viel Mühe Lavendel- und Rosmarinterrassen angelegt. Auf einer Seite des Hauses wucherte ein mächtiger Blauregen, und ein kleiner Olivenhain brütete in der Nachmittagssonne. Durante hatte die alten Arbeiterunterkünfte zu Ferienhäusern umgebaut. Villino Il Pino und Villino La Quercia hatten zwei Schlafzimmer und Villino Il Tasso eins. Da zu den Häuschen kein Pool gehörte und sie ein paar Meilen außerhalb der Stadt lagen, waren ihre Gäste meist ruhesuchende Erwachsene.

Da die besagten Gäste normalerweise angewiesen wurden, ihre Fahrzeuge auf der anderen Seite des Pavillons von Bella Vista – den Piero ebenfalls gebaut hatte – abzustellen, fiel ihm auf, dass direkt vor dem Haus ein staubiger roter Wagen parkte. Die Putzhilfe, Lucias Schwägerin Fiorella, fuhr ein rotes Auto, doch Fiorella hätte es nie mit der Motorhaube voran in Lucias gepflegtes Lavendelbeet gesetzt.

Neben dem Auto stand eine Frau. Sie trug das dunkle Haar in einer eleganten Hochsteckfrisur und ein schickes rot-schwarz gemustertes Kleid, das ihr bis zu den Knien reichte. Sofort zog er die Möglichkeit in Betracht, dass sie vom Binotto-Imperium kommen könnte. War das ein Angriff an zwei Fronten? Hatte diese Frau, während Gubbiotti den Domenicalis Druck machte, hier Lucia und Durante belästigt? Sie drehte sich um und musterte ihn durch eine schwarze Sonnenbrille.

Dass er sich beim Anblick der Kurven ober- und unterhalb ihrer schmalen Taille sofort von ihr angezogen fühlte, verschlechterte seine ohnehin angeschlagene mittelmäßige Laune noch. »Falls Sie von der Binotto-Gruppe kommen, werde ich gleich wütend. Und können Sie nicht parken, ohne Signora Costas Garten zu beschädigen?« Er wies auf das Lavendelbeet, das auf die Misshandlung reagierte, indem es einen betörenden, würzigen Duft verströmte.

Aus der anderen Autotür sprang eine blonde Frau, die legerer gekleidet war. Ihre Shorts waren so hoch ausgeschnitten, dass sie jedem heterosexuellen Mann einen zweiten Blick entlockt hätten. Sie warf der dunkelhaarigen Frau einen Blick zu. »Was ist los?«, fragte sie.

Ihr Englisch und ihre touristentypische Kleidung ließen ihn stutzen. Zu spät wurde ihm klar, dass sich das Steuer des Wagens auf der rechten Seite befand und die dunkelhaarige Frau, die er angeblafft hatte, an der Beifahrertür stand. Wahrscheinlich steckte im Lavendel ein britisches Nummernschild.

Die dunkelhaarige Frau warf der Blondine einen Blick zu. »Es passt ihm nicht, wie wir geparkt haben.« Obwohl sie wie eine italienische Geschäftsfrau aussah, klang sie auch wie eine britische Touristin. Sie drehte sich wieder zu Piero um und zog eine Augenbraue so hoch, dass er sich fragte, ob sein Hemdkragen schief saß oder der Wind ihm das Haar zerzaust hatte. »Lei non parla italiano.«

Er wechselte ins Englische. »Tut mir leid. Ich habe Sie mit jemandem verwechselt.«

Die Blondine mit den langen Beinen umrundete den Wagen und errötete, als sie das Lavendelbeet betrachtete. »Sorry. Das Auto gehört ihr, und ich vergesse immer wieder, wie groß es ist. Wir haben hier ein Ferienhaus gemietet und sollen nach Signora Costa oder Signor Roscini fragen. Wir haben eine Handynummer, erreichen aber niemanden.«

Er gab sich Mühe, den Eindruck, den die beiden von ihm haben mussten, zu verbessern. »Der Empfang ist hier nicht gut.« Das stimmte zwar nicht, aber es war besser, als zuzugeben, dass die beiden wahrscheinlich während ihrer Siesta das Telefon ausgeschaltet hatten. Er ging auf die Terrassentreppe zu. »Ich könnte Ihnen zeigen, wo Sie sich setzen können. Dann versuche ich, Ihre Gastgeber aufzutreiben.«

Er führte die beiden die Stufen zur Terrasse hinauf und hatte seine Freude daran, wie sie mit offenem Mund stehen blieben, als die steilen Weingärten und purpurn überhauchten Berge in Sicht kamen. An rustikalen Geländern leuchteten unter einem perfekten blauen Himmel kirschrote Bougainvilleen. Nirgendwo war die Aussicht überwältigender. Er überließ die beiden ihrer staunenden Bewunderung.

In der offenen Diele stand direkt hinter den Terrassentüren ein Kühlschrank mit Erfrischungsgetränken, an dem sich auch die Gäste bedienen durften. Er reichte den Frauen jeweils eine Flasche Wasser und ein Glas und ließ sie weiter die Landschaft bestaunen, während er in das Steinhaus hineinging und über den gekachelten Boden an den Fuß der Treppe trat. »Lucia? Durante?«, rief er hinauf. »I vostri ospiti sono arrivati.«

Ein Ausruf quittierte seine Worte, und kurz darauf spähte Lucia, deren dunkles, silbern durchwirktes Haar ihr Gesicht umrahmte, übers Treppengeländer. »Die Gäste sind schon da? Die sind aber früh dran!«, zischte sie.

Er grinste. »Ich habe sie auf die Terrasse gesetzt.«

Sie blies ihm einen Luftkuss zu. »Grazie mille. Due minuti.«

»Prego.« Er schnappte sich noch eine Flasche Wasser für sich und ging zurück, um den beiden Frauen mitzuteilen, dass Lucia in zwei Minuten kommen werde.

Die Dunkelhaarige nickte nur, doch die Blondine lächelte. »Danke«, sagte sie.

»Benvenute in Italia«, sagte er verspätet. »Ich bin Piero Domenicali. Mein Haus steht direkt hinter den Zypressen dort drüben.« Er wies in die entsprechende Richtung. »Sie sind Engländerinnen?«

»Ich bin aus Irland«, antwortete die Blonde.

Das Jahr, das er im Vereinigten Königreich verbracht hatte, um sich über den dortigen Weinhandel zu informieren, hatte ihn den Unterschied gelehrt. »Aus der Republik?«

Ihr Lächeln wurde breiter. »Ja. Ich bin Ursula, und meine Freundin heißt Zia.«

Die dunkelhaarige Frau lächelte ebenfalls. »Ich bin Engländerin.« Sie hatte ihre Sonnenbrille nicht abgenommen.

Dann erklang hinter ihnen Lucias Stimme. »Buongiorno! Tut mir leid, dass ich nicht gehört habe, wie Sie angekommen sind. Herzlich willkommen. Ich bin Lucia Costa.«

Ursula und Zia drehten sich um, um Lucia zu begrüßen. Sogar in ihren legeren beigen Shorts und ihrem hübschen geblümten Oberteil wirkte die kleine, rundliche Lucia vollkommen makellos, als wäre sie noch Geschäftsfrau. Ursula übernahm die Vorstellung und beantwortete Lucias freundliche Fragen nach ihrer Fahrt – sie waren mit dem Auto aus Südengland gekommen und drei Tage unterwegs gewesen, was es noch eigenartiger erscheinen ließ, dass Zia trug, was für Piero Geschäftskleidung war. Ihm fiel auf, dass Ursula für beide sprach und ein Teil von Zias Gelassenheit seit Lucias Eintreffen verrutscht zu sein schien. Während Lucia erklärte, dass Durante gleich kommen werde, um sie nach Villino Il Pino zu bringen, atmete sie mit leicht geöffneten Lippen schnell und flach. Ob sie immer, wenn sie jemand Neuen kennenlernte, so wirkte, als zitterte sie vor Anspannung? Dann musste das Leben furchtbar anstrengend für sie sein.

Lucia dagegen war nicht so schnell aus der Ruhe zu bringen. »Sie heißen Zia?«, fragte sie jetzt. »Ist das in England ein häufiger Name?«

Die Anspannung im Blick der Dunkelhaarigen schien sich zu verstärken. »Er ist nicht weit verbreitet, aber ein paar von uns gibt es schon.« An diesem Punkt lächelte sie. »Ich kann mir vorstellen, dass Ihnen das merkwürdig vorkommt, denn ich weiß, dass es auf Italienisch ›Tante‹ bedeutet.«

Lucias Antwort ging verloren, als Durante in gemächlichem Tempo aus dem Haus kam – seit er im Ruhestand war, hatte er es selten eilig. Seine Shorts waren zerknittert und spannten im Bund eng um seinen Kugelbauch. »Buongiorno! Ich bin Durante.« Sie wurden einander vorgestellt. »Ich begleite Sie zu Ihrer Unterkunft«, fügte er dann hinzu.

Die Gäste standen auf. »In Ihrem Ferienhaus finden Sie eine Karte der Umgebung, aber fragen Sie ruhig jederzeit«, sagte Lucia noch.

Piero blieb neben Lucia stehen, die ihm nur bis zur Schulter reichte. Sie sahen zu, wie Durante sich mit den beiden Frauen entfernte. In dem Moment, als sie über die Treppe verschwanden, wandte Lucia sich ihm zu. »Wie war das Meeting?«

Abgekämpft ließ er sich auf einen Stuhl sinken, der neben einem Topf mit rosa Hängegeranien stand. »Sie haben mir noch mehr Druck gemacht. Alberto Gubbiotti hat das Angebot erhöht, daher wird er euch zweifellos auch mit einem ähnlichen höheren Angebot kontaktieren. Man hat mich gebeten, dafür zu stimmen. Jedenfalls hat Papà mich gebeten. Emiliano hat darauf gehofft, und Graziella hat es gefordert.«

Lucia ließ sich auf einen anderen Stuhl fallen und stützte das Kinn in die Hand, sodass ihre Wangen noch faltiger waren als ohnehin schon. »Ach, Piero. Wie ich wünschte, sie würden uns in Ruhe lassen. Oder dass wir nicht mit Salvatore und Emiliano verwandt wären.«

Er nickte. »Oder dass ich das Weingut nicht auch verkaufen wollte«, ergänzte er fairerweise.

Lucias Lippen bebten, als würde sie gleich in Tränen ausbrechen; doch sie nahm seine Hand. »Du, mein Freund, befindest dich in einer absoluten Zwickmühle.«

3

Nach ihrer Begegnung mit Lucia Costa, der sie vielleicht einen Teil ihres sperrigen Namens zu verdanken hatte, fühlte sich Zia wie vom Donner gerührt. Schweigend saß sie da, während Ursula den leicht geneigten Hügel hinunterfuhr, vorbei am Olivenhain von Bella Vista, sich nach rechts wandte und dann auf Durantes Anweisung hin anhielt. Er strahlte, wodurch er mit seinem dicken Bauch, dem breiten Lächeln, seinen ausgetretenen Sandalen und seinem hellgrauen Haarkranz wie ein älterer Posaunenengel wirkte. Als sie wieder aus dem Auto gestiegen waren, öffnete er die aus Holzbohlen gefertigte Tür des nächstliegenden der drei Ferienhäuser. »Das ist für zwei Wochen Ihr kleines Haus.« Schnell zeigte er ihnen, wo sie kochen und duschen konnten. »Früher lebten hier Arbeiter vom Weingut und holten ihr Wasser aus dem Brunnen.« Es fiel ihm ein wenig schwer, sich auf Englisch zu verständigen, doch er beschränkte sich auf einfache Sätze, während Lucia die Fremdsprache fließend beherrschte und sich nur gelegentlich ungeschickt ausdrückte.

»Ich bin froh, dass wir das nicht zu tun brauchen«, scherzte Ursula. Sie hatte die Unterkunft unter ihrem Namen gebucht, und sie hatten sich im Vorfeld darauf verständigt, dass sie zu Anfang den größten Teil des Redens übernehmen würde. Zia wusste, dass ihre Gastgeber früher oder später ihre Pässe kopieren mussten, doch je länger sie das hinauszögern konnten, umso länger würde sie im Hintergrund bleiben und sich einen Eindruck von Lucia Costa verschaffen können. War sie die Italienerin, von der Gran gesagt hatte, sie sei nett zu Zias Mutter gewesen? Ob sie wohl etwas über Zia und das Rätsel um die beiden Victoria Chalmers wusste?

Durante kicherte leise. »Der Brunnen ist zugeschüttet.« Er legte eine Hand auf die andere, um seine Worte zu unterstreichen, und nahm dann von einem niedrigen Tisch ein zusammengefaltetes Blatt Papier. »Hier ist eine Karte von der Umgebung, und Sie sehen, dass Lucia den Weg zum Supermarkt eingezeichnet hat. Auch zu anderen Orten. Kirche. Läden. Piazzen.« Er tippte auf einen weiteren Punkt auf der Karte. »Das ist Bella Vista. Sehen Sie die Zypressenreihe an der Grenze? Bitte, überqueren Sie sie nicht, denn dahinter beginnt Pieros Land.« Er legte die Karte wieder zusammen. »Die Terrassen vor und hinter dem Haus gehören Ihnen. Dort stehen Liegestühle. Lucia hat einen kleinen Willkommensgruß für Sie …« Durante wies auf eine Flasche Rotwein, einen Laib Brot und Olivenöl in der Küche und öffnete dann den Kühlschrank, um ihnen Käse und ein Päckchen Parmaschinken zu zeigen. Er schenkte ihnen noch ein strahlendes Lächeln. »Soll ich Ihr Gepäck hineintragen? Nein? Nun denn! Wenn das Auto leer ist, parken Sie hinter der Laube.« Durch die offene Tür deutete er auf einen so eleganten, großen Holzbau, dass Zia ihn eher einen Pavillon genannt hätte. Villino Il Pino war so klein und lag so weit zurück, dass sie nicht allzu viel von der Berglandschaft erkennen konnten; doch von dem Pavillon aus, der sich unmittelbar am Rand des Plateaus befand, musste man eine überwältigende Aussicht über das Tal haben. Durante verabschiedete sich und zog im Gehen die Tür hinter sich zu.

Zia ließ sich auf ein kleines graues Sofa fallen und war dankbar dafür, sich nicht länger beherrschen zu müssen. »Heiliger Strohsack. Ich fühle mich wie durch die Mangel gedreht.«

Ursula ließ sich neben ihr nieder. »Glaubst du, sie ist die Lucia Costa, die deine Mum gekannt hat? Hast du irgendeine Verbindung gespürt?«

»Das ist ein wenig viel verlangt nach einer einzigen Begegnung.« Zia atmete bewusst tief ein und wieder aus. »Was könnte ich schon für eine Verbindung zu jemandem fühlen, den ich vor dreißig Jahren als Baby kannte? Wir sind wahrscheinlich drei Tage umsonst gefahren, und ich war bei einem Vorstellungsgespräch für einen Posten am Empfang einer Hausverwaltung in Montelibertà – was übrigens grauenhaft zu sein scheint – und habe den Leuten vorgelogen, schon eine Aufenthaltserlaubnis beantragt zu haben.« Sie streifte die Schuhe ab, die sie zu dem Gespräch getragen hatte, und raffte ihr schickes Kleid, um sich ein wenig abzukühlen. »Vielleicht hätten wir uns stärker darum bemühen sollen, Harry aufzuspüren und ihn zu fragen.«

»Ja, wie unhöflich von ihm, nicht mehr in Exmouth zu wohnen, von wo aus er vor über zwanzig Jahren an deine Mum geschrieben hat. Jedenfalls …«, meinte Ursula, »haben seine alten Briefe uns Montelibertà als Ansatzpunkt gegeben. Google findet nur eine Lucia Costa, die gegenwärtig in der Gegend lebt – ist es nicht praktisch, dass Italienerinnen nicht den Familiennamen ihres Mannes annehmen? Sie spricht Englisch. Sie wirkt alt genug, um erwachsen gewesen zu sein, als du ein Baby warst. Sie und ihr Mann betreiben Ferienhäuser in einem italienischen Paradies, und wir hatten auf dem Weg hierher eine fabelhafte Fahrt durch Frankreich und die Schweiz. Und das Vorstellungsgespräch für den abscheulichen Job war nur eine Sondierung der Lage für den Fall, dass du dich hier wirklich niederlassen willst. Wieso regst du dich also auf?«

Ihre pragmatische Sichtweise munterte Zia auf, und sie nickte. »Stimmt. Wir haben alles von Städten über Bauernhöfe bis zu Gebirgen gesehen und in Nancy und Luzern in hübschen Hotels übernachtet. Schlimmstenfalls fahren wir in zwei Wochen wieder nach Hause und sind nicht klüger als vorher.«

»Hey, jetzt aber!« Ursula wedelte mit einem manikürten Finger. »Erzähl mir nicht, dass du nicht versuchen wirst, mit Lucia zu reden.«

»Das habe ich nicht gesagt.« Aber Zia überschlug sich bei dem Gedanken der Magen, als stünde sie auf einem Zehnmeterbrett und wollte hinunterspringen. Wenn Lucia die falsche Lucia Costa war, hatte Zia sich einfach nur geirrt. Aber was, wenn sie die richtige war? Dann würde sie wissen, warum Vicky Chalmers Zia damals aus Montelibertà weggeholt hatte. Ein Teil von Zia wollte unbedingt wissen, was damals vorgefallen war, aber was wäre, wenn die Wahrheit schwer auszuhalten war? In ihren Erinnerungen verklärte sie Vicky, ihre viel zu früh verstorbene Mum. Wie würde sie sich wohl fühlen, wenn neue Erkenntnisse dieses Bild unwiederbringlich trübten?

Es klopfte an der Haustür. Knarrend schwang sie halb auf, und da stand Piero Domenicali, der verblüfft den Blick auf ihre nackten Beine richtete, die unter ihrem hochgezogenen Rocksaum hervorschauten. Peinlich berührt bedeckte sie sich hastig.

Er räusperte sich. »Als ich geklopft habe, ist die Tür aufgegangen. Ich wollte nicht … stören.«

Zia lief tiefrot an, daher erhob sich Ursula von ihrem Platz auf dem Sofa und antwortete. »Ist schon gut. Wahrscheinlich hat Signor Roscini die Tür beim Hinausgehen nicht richtig zugemacht. Kommen Sie doch herein.«

Er schien sich an die Weinflasche zu erinnern, die er in den Händen hielt, und reichte sie ihnen. »Als Entschuldigung, weil ich vorhin so mürrisch war. Er stammt vom Weingut meiner Familie, Tenuta Domenicali. Orvieto Classico ist einer der Weißweine unserer Region.«

Zia fasste sich und stand ebenfalls auf. »Das ist sehr freundlich, aber wir hatten gar nichts erwartet. Ist das Weingut Ihrer Familie das, das unterhalb des Plateaus zu sehen ist? Die Weinberge sehen wunderschön aus, wie sie sich über die Hügel erstrecken.«

Er nickte. »Sie gehören zur Hälfte meinem Vater, und die andere Hälfte haben mein Bruder und ich von unserer Mutter geerbt. Papà und Emiliano betreiben das Weingut und die Kellerei, und ich verkaufe den Wein.«

Ursula musterte ihn forschend. »Sie klingen ebenso amerikanisch wie italienisch.«

Sein unvermitteltes Grinsen glättete die Linien auf seiner Stirn und ließ seine dunklen Augen aufleuchten. Irgendwie wirkte dieser Ausdruck auf seinem Gesicht natürlicher als seine finstere Miene von eben. »In meiner Kindheit haben wir in Kalifornien gelebt. Dann, in meinen Zwanzigern, war ich ein Jahr in England und habe mit einem Weinimporteur zusammengearbeitet.« Sein Blick glitt zu Zia. »Tu parli italiano.«

»Sì, ne ho imparato un po’. Vorrei migliorare«, gab sie zurück. Ja, ich habe ein wenig gelernt. Ich wäre gerne besser. »Ich spreche es nicht fließend. Ich fürchte, auf unserer Seite des Ärmelkanals sind wir faul. Lucia und Durante sprechen auch gut Englisch«, fügte sie hinzu und überlegte, dass sie die Situation ebenso gut nutzen konnte, um ein wenig über die beiden in Erfahrung zu bringen. Piero schien sich gut mit ihnen zu verstehen.

Er nickte. »Besonders Lucia. Sie besitzt eine Keramikfabrik, die früher nach ganz Europa exportiert hat, und geschäftlich ist es ein Vorteil, Englisch zu sprechen. Durante hat früher eine Autovermietung geleitet, und Montelibertà ist ein Touristenort.«

»Befinden sich hier oben noch andere Wohnhäuser?« Von dem Satellitenbild ihrer Karten-App wusste Zia bereits, dass dem nicht so war.

Er schüttelte den Kopf. »Nur unsere. Die Häuser gehörten früher zum Weingut, und Lucia, Durante und ich haben sie gekauft, um sie zu modernisieren. Ich glaube, die anderen Ferienhäuser sind momentan auch bewohnt, aber ansonsten haben wir es hier oben ziemlich ruhig.« Er wandte sich in Richtung Tür. »Ich hoffe, Sie genießen Ihren Aufenthalt. Arrivederci per ora. – Auf Wiedersehen für den Moment«, wiederholte er, an Ursula gerichtet.

Er trat durch die offene Tür, und dann sahen sie ihm nach, wie er über den gepflasterten Vorplatz davonstrebte, den Hang hinaufging und seine Arme in dem weißen Hemd entspannt schwingen ließ. »Er ist heiß«, murmelte Ursula.

»Hey, du bist eine verheiratete Frau!«, neckte Zia sie, versetzte Ursula einen kleinen Schubs und zog es vor, nicht zuzugeben, dass auch ihr seine Kehrseite in seinen gut geschnittenen Hosen aufgefallen war.

Immerhin hatte das kleine Intermezzo Zias negative Einstellung zu ihrer Mission zerstreut, und sie stellte fest, dass sie Italien wieder entzückend fand und vor Neugier darauf brannte, welche gemeinsame Geschichte sie mit Montelibertà verbinden mochte. Sie luden das Auto aus, und Zia tauschte ihr »Vorstellungs-Kleid« gegen Shorts und ein Bandeau-Oberteil aus. Dass sie mit dem Wagen gekommen waren, hieß nicht nur, dass sie während ihres Aufenthalts hier motorisiert sein würden, es hatte ihr auch erlaubt, großzügig zu packen für den Fall, dass sie sich entschied, ihren Aufenthalt zu verlängern. Ursula hatte ihre gesamten drei Wochen Resturlaub genommen, und sie hatten so geplant, dass sie nach Hause fliegen würde, falls Zia nach dieser Zeit noch nicht bereit war, nach England zurückzukehren.

Die Zimmer in Villino Il Pino waren weiß getüncht und die kleinen Fenster mit Steinen abgesetzt. Die Böden waren mit Terrakotta-Fliesen ausgelegt, die sich unter nackten Füßen wunderbar kühl anfühlten, und die Betten mit frischen weißen Laken bezogen. Ursula tauchte in Zias Zimmertür auf und schwenkte ihr Handy. »Durante hat mir gerade eine Textnachricht geschickt und uns daran erinnert, dass er unsere Pässe für die Behörden kopieren muss.«

Zia hatte das Gefühl, dass ihr die Knie weich wurden, und sie ließ sich aufs Bett fallen. »Ein möglicher Wendepunkt, falls Lucia meinen ganzen Namen lesen wird.«

Ursula setzte sich neben sie und streckte die langen, glatten Beine aus. »Ich könnte ja die Pässe nehmen und versuchen, sie abzuwimmeln, falls Fragen auftauchen … aber du willst doch Informationen, oder?« Ihr Blick wirkte mitfühlend, aber auch verwirrt.

»Schon, aber es macht mir auch Angst. Aber du bist mir eine großartige Stütze.« Zia umarmte ihre gertenschlanke Freundin und atmete den Duft der Sonnenlotion mit dem hohen Lichtschutzfaktor ein, die Ursula für ihre blasse Haut benutzte.

Diese erwiderte ihre Umarmung. »Klar, du weißt doch, dass ich etwas für geheimnisvolle Rätsel übrig habe.«

»Wie wär’s, wenn ich die Pässe hinbringe und einfach auf mich zukommen lasse, was geschieht?«, schlug Zia vor.

Ursula wirkte zwar ein wenig enttäuscht darüber, diesen spannenden Moment nicht mitzuerleben, doch sie stimmte zu. »Sicher«, meinte sie und gab Zia ihren Pass.

Die Nachmittagssonne brannte herunter, als Zia dem staubigen Pfad folgte, der sich an den Olivenbäumen vorbeischlängelte, die Treppe zur Terrasse hinaufstieg und an die Tür des Haupthauses klopfte. Durante öffnete ihr. Seine Haare wehten wie graue Zuckerwatte. »Ah, Sie haben die Pässe. Grazie. Lucia kauft gerade Druckertinte, sodass ich sie jetzt scanne und später ausdrucke. Okay?« Er führte Zia in das kühle Hausinnere und dort in ein kleines Büro, in dem ein zerkratzter Schreibtisch stand, der groß genug aussah, um zwei Personen Platz zu bieten. Er war altmodisch, doch das schwarze Drucker- und Kopiergerät und der Computer mit dem schnittigen Aluminiumgehäuse waren auf dem allerneuesten Stand.

Durante schlug den ersten Pass auf – den von Ursula – und schob ihn unter den Deckel des Scanners. Das Gerät erwachte summend zum Leben. »Gefällt Ihnen Villino Il Pino?« Er ließ sein Lächeln aufblitzen, das so herzerwärmend war. »Mögen Sie Italien?«

»Ich liebe es«, gab Zia sofort zurück. »Ich war schon oft in Italien, aber noch nie in Umbrien. Es ist wunderschön.«

Durante wirkte erfreut. Er nahm Ursulas Pass heraus und griff nach ihrem. Zia hielt so fest die Luft an, während ihr das Herz so laut in der Brust pochte, dass sie befürchtete, man könnte es hören, doch Durante warf kaum einen Blick auf den Pass, sondern schlug nur routiniert die richtige Seite auf und legte ihn dann umgekehrt auf die Glasplatte. »Umbrien nennt man das ›grüne Herz Italiens‹, ja? Wir sind in Montelibertà geboren, unten in der Stadt, und dort auch zur Schule gegangen. Früher habe ich in der Stadt gearbeitet und Lucia in der Nähe von Deruta. Aber das hier ist unser Zuhause, und die Ferienhäuser betreiben wir im Ruhestand. Nur ein wenig Beschäftigung, damit wir etwas zu tun haben.« Er zwinkerte ihr zu.

Es war unmöglich, sein Lächeln nicht zu erwidern. Sie nahm ihren Pass zurück und war sich nicht sicher, ob sie froh über Durantes fehlende Reaktion sein oder es bedauern sollte. »Waren Sie schon einmal in England? Ursula und ich leben an der Südküste.«

»Ja, ein paarmal, im Urlaub. Lucia schon oft, geschäftlich, als sie nach Großbritannien verkauft hat.«

Zusammen schlenderten sie zur Terrassentür und kamen dabei an einem Durchgang zum Salon vorbei. Die Einrichtung war alt und bunt zusammengewürfelt, die Möbel waren aus dunklem, lackiertem Holz oder grün und cremefarben gestrichen und mit rosa Rosen geschmückt. Der Geruch von Möbelpolitur lag in der Luft. »Ein wunderschönes Haus haben Sie. Traditionell und elegant.«

»Wir lieben es. Für nur zwei Personen ist das Haus schon recht groß, aber wir haben gern viel Platz.« Durante seufzte.

Zia wunderte sich, doch als sie sich verabschiedete, lächelte er wieder. Sie ging auf demselben Weg zurück und nahm das Summen der Bienen und den Tanz der Schmetterlinge um den Lavendel in sich auf. Ursula wartete auf einem Liegestuhl in dem super schicken Pavillon und schaute über das Tal hinaus. Zia setzte sich neben sie. »Lucia ist unterwegs«, murmelte sie, als wären sie Geheimagentinnen, »daher war nur Durante da. Er hat meinen Pass gescannt, ohne ihn richtig anzuschauen.«

»Dann sind wir also nicht weiter«, flüsterte Ursula abwesend zurück, ohne den Blick vom Panora...

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