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Später Zeuge

hier erhältlich:

Prof. Dr. Peter Zielke, erfolgreicher Onkologe und Chefarzt, Familienvater und mustergültiger Schwiegersohn, hat im Affekt zwei Männer erschossen, die im Begriff waren, eine Kiste mit mehreren Millionen im Wald zu vergraben. Ein Vierteljahrhundert später wird er von einem Komplizen der Toten erpresst: Dieser fordert das Geld zurück und darüber hinaus seine vollständige Heilung – der Mann hat Krebs im Endstadium.
Prof. Zielke gerät in eine Spirale aus Angst und sucht verzweifelt nach einem Ausweg.
Holger Senzel zeigt uns, wozu Menschen in Ausnahmesituationen fähig sind. Schonungslos und ergreifend erzählt er vom grausamen Kampf zwischen zwei Menschen, von denen der eine nichts mehr zu verlieren hat – und der andere alles.
  • Erscheinungstag: 09.03.2020
  • Seitenanzahl: 336
  • ISBN/Artikelnummer: 9783312011698
  • E-Book Format: ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Holger Senzel

Roman

Für Lena,
die mich jeden Tag neu inspiriert.

 

Tragödie: dichterische Gestaltung der Tragik als Darstellung eines ungelöst bleibenden Konflikts mit der sittlichen Weltordnung, mit einem von außen herantretenden Schicksal, der das Geschehen zum äußeren oder inneren Zusammenbruch führt, doch nicht unbedingt im Tod des Helden, sondern in seinem Unterliegen vor dem Ausweglosen gipfelt.

 

Gero von Wilpert: Sachwörterbuch der Literatur

 

 

Man bekommt alles zurück im Leben. Aber gilt das nur für die bösen Taten? Oder auch für die guten? Und lassen sich beide gegeneinander verrechnen? Vor fünfundzwanzig Jahren wurde ich zum Mörder. Aber habe seitdem Dutzende Menschen gerettet. Als Arzt.

Heute hat mich meine Vergangenheit wieder eingeholt, und so irreal mir die Begegnung in der Tiefgarage jetzt erscheint, die Worte meines Erpressers habe ich deutlich im Ohr. »Wenn mir etwas zustößt, gehen die Beweise an die Staatsanwaltschaft.« In dem braunen Umschlag, den er mir in die Hand gedrückt hat, sind Röntgenbilder mit einem riesengroßen Tumor in der Leber und jeder Menge Metastasen in Magen und Milz. Am Rand Name und Aufnahmedatum in weißer Schrift auf das Negativ gedruckt. Kramer, Hans-Georg wird spätestens in einem halben Jahr tot sein.

Teil I
Das Subjekt

Mittwoch, 5. August

Dunkelblau liegt die scheidende Nacht über dem Wald. Noch schweigen die Vögel. Ab und zu ruft ein Käuzchen. Fledermäuse flattern durch die Baumwipfel. Äste knacken unter den Klauen eines Rehs oder Wildschweins. Der Wald hat eine eigene Melodie für jede Tageszeit. Menschen sind eine irritierende Dissonanz zu dieser Stunde. Verhaltene Stimmen, gedämpfte Schritte, Schleifgeräusche im nachtschwarzen Unterholz. Gleich werde ich zwei Männer töten.

Aber dann stolpere ich und falle ins Nichts – zurück in mein Bett. Schüttle den Schrecken des bodenlosen Sturzes ab, mit dem Albträume mitunter enden.

3.19 zeigen die beleuchteten Ziffern des Weckers auf meinem Nachttisch. So ein klobiges oranges Plastikteil aus den Siebzigern. Es stand schon in meinem Kinderzimmer in Goslar und in meiner Studentenbude. Die Ziffern auf den Blechplättchen drehen sich auf einer Rolle hinter einem Sichtfenster und lassen jede Minute mit einem ganz leisen Flapp das Verrinnen der Zeit erklingen. Eine Designkatastrophe, findet meine Frau.

Der altbekannte böse Traum umschattet mein Gemüt. Vor einem Vierteljahrhundert für immer eingebrannt in meinem Hirn, jede Einzelheit vertraut. Kristina schläft tief und ahnungslos neben mir, ihre regelmäßigen Atemzüge von leisem Schnarchen begleitet.

Flapp. 3.21 Uhr.

Kalter Schweiß steht mir auf der Stirn. Ich weiß nicht, ob mir heiß oder kalt ist, ob ich mich unter der Decke verkriechen oder sie wegstrampeln möchte. Unruhiges Wälzen, der Lattenrost knarrt, ich zwinge mich, reglos zu liegen, um meine Frau nicht zu wecken. Ich sollte schleunigst wieder einschlafen, sonst werde ich gerädert sein am Morgen.

Flapp. 3.47 Uhr

Es hat keinen Zweck. Ich bin hellwach! Vorsichtig stemme ich mich aus dem Bett, schleiche aus dem Schlafzimmer, hole mir ein Glas Wasser und setze mich mit dem Oncologist in mein Arbeitszimmer. Beginne dreimal einen Artikel über neue Therapien bei fortgeschrittenem Nierenkrebs, aber weiß nicht wirklich, was ich lese. Die alten Bilder sind wieder da und überschatten alles. Und die Geräusche. Der ganze Film in meinem Kopf:

Laub raschelt unter meinen Stiefeln auf dem Weg zum Hochsitz. Da sind diese Stimmen im Unterholz. Immer wieder bleibe ich stehen und horche. Aber es ist nicht so leicht, im dunklen Wald die Richtung zu bestimmen, aus der ein Geräusch kommt. Angst habe ich nicht. Ein Liebespaar, eine verbotene Party – es wird eine harmlose Erklärung geben. Als ich aus dem finsteren Kiefernforst auf die Lichtung trete, sehe ich schemenhafte Gestalten zwischen Bäumen hin und her huschen, geduckt im Waldboden buddeln. Ich bin starr vor Schreck. Terroristen graben ihre Waffen aus, das ist mein erster Gedanke. Ein RAF-Depot. Man liest so etwas ja bis heute immer wieder in der Zeitung. Zufällig von einem Jungjäger entdeckt auf dem Weg zum Ansitz mit einer Thermoskanne Kaffee und einer Dose belegte Brote im Rucksack. Eine der Gestalten richtet sich auf und dreht sich in meine Richtung. Mit einer Waffe in der Hand!

Ich bin unfähig, mich zu rühren. Habe Todesangst. Dann hechte ich zu einer mächtigen Fichte, zerre dabei das Jagdgewehr von der Schulter, verheddere mich in den Tragriemen, stolpere, fange mich wieder. Gefühlte Zeitlupe, ich erwarte jeden Moment den Feuerstoß einer automatischen Waffe. Als ich die Deckung erreiche, habe ich auch den Drilling klar und reiße panisch den Abzug durch. Donnernd entlädt sich der linke Schrotlauf. Nicht, dass ich das wahrgenommen hätte. Ich weiß einfach, dass der linke zuerst auslöst. Im Mündungsfeuer sehe ich einen Körper fallen.

Den Schatten eines weiteren Mannes riesenhaft in den Bäumen. Wieder drücke ich ab, dann bin ich endlich hinter der Fichte. Halb taub von den Schüssen, Pfeifen im Ohr. Mein Herz klopft wild, mit zittrigen Fingern klappe ich den Drilling auf, schiebe neue Schrotpatronen in die Läufe.

Der Impuls ist mächtig, einfach die Augen zu schließen. Panisch überlege ich, wie ich an das Funktelefon im Rucksack kommen könnte, das ich als junger Bereitschaftsarzt bei mir habe. Aber um nichts in der Welt hätte ich den schweren Drilling losgelassen, den ich mit beiden Händen fest umklammert habe. Glänzend poliertes Wurzelholz, Wildschweine mit Eichenlaub in silbergrauem Stahl graviert. Seit vier Generationen ist das Gewehr in Familienbesitz, und jetzt kämpfe ich um mein Leben damit. Mein Schwiegervater in spe wird nicht erfreut sein, wenn ich Kratzer auf der kostbaren Waffe hinterlasse. Ängstlich spähe ich immer wieder hinter meinem Baum hervor, horche und halte Ausschau nach der kleinsten Bewegung im Unterholz. Nichts rührt sich.

Allmählich hellt sich der Himmel auf, und die bedrohlichen Schatten verblassen. Ich lausche angestrengt in den Wald, aber bis auf die Vögel, die ihr Morgenkonzert begonnen haben, bleibt es still. Schließlich wage ich mich aus der Deckung, das Jagdgewehr schussbereit im Anschlag.

Ein Körper liegt am Rande des Erdlochs, der Kopf eine blutige Masse. Die Schrotladung hat ihn mitten ins Gesicht getroffen. Der Mann hält den Spaten noch in der Hand, den ich in der Dämmerung für eine Waffe gehalten habe. Fünf, sechs Meter entfernt im Gestrüpp finde ich einen weiteren reglosen Mann. Er stöhnt wimmernd vor sich hin und reagiert nicht, als ich ihn anspreche. Seine linke Körperseite ist dunkel und nass, er verliert viel Blut.

Ich bette ihn auf den Rücken, Jacke in den Nacken, Knie auf den Rucksack. Die Atmung ist flach, der Puls rast. Innere Blutungen vermutlich, auch der Darm könnte verletzt sein. Ich lege eine Art improvisierten Druckverband über dem guten Dutzend winziger, kreisrunder Löcher an, welche die Schrotkugeln in seinen Bauch geschlagen haben. Der Mann muss so schnell wie möglich in ein Krankenhaus. Ich nestle mit der Linken das Handy aus dem Rucksack, so ein brikettgroßes Teil. Tippe zweimal die Eins – doch bevor ich die Zwei drücke, lässt mich etwas innehalten. »Ganz ruhig, alles wird gut«, sage ich sanft zu dem Mann am Boden, obwohl er mich vermutlich nicht hört, und richte mich langsam wieder auf. Nähere mich vorsichtig – das Mobiltelefon noch in der Hand – der frisch ausgehobenen Grube. Zwinge mich, den Blick abzuwenden vom zerstörten Gesicht des Toten.

Olivgrüne Plane, verklebt mit vielen Lagen silbernem Panzerband, umhüllt einen großen rechteckigen Gegenstand neben dem Erdloch. Und dann habe ich auch schon das Jagdmesser in der Hand und schneide mich verbissen durch dicke Lagen Tape. Eine mattsilberne Blechkiste kommt zum Vorschein, der Deckel mit seiner Gummidichtung löst sich nur schwer. Darin ein vollgestopfter blauer Müllsack. Ich schneide noch mehr Klebeband auf, dann kann ich endlich mit meiner kleinen Taschenlampe hineinleuchten: Bündel von Geldscheinen mit Banderolen. Ich nehme den Sack aus der Kiste, leuchte jede Ecke aus, fühle nach einem doppelten Boden. Durchwühle mit wachsender Panik den Müllsack. Aber da sind nur Geldbündel. Fünfhunderter, Hunderter, Fünfziger. Zu handlichen Päckchen geschnürt – Unmengen davon. Kriminelles Geld, da bin ich mir sicher. Aber keine Waffen!

Bis zu diesem Augenblick hatte ich keinen Zweifel, dass an meinem Handeln etwas falsch sein könnte. Ich war der Gute in diesem Spiel, der gegen Verbrecher um sein Leben kämpfte. Aber tatsächlich war es ja nie in Gefahr! Ein schießwütiger Jäger, zwei harmlose Ganoven, ich kann mir vorstellen, was die Presse aus dem Fall macht. Habe den Staatsanwalt vor Augen, der triumphierend den Spaten in den Gerichtssaal reckt. »Sieht das für Sie aus wie eine Waffe?« Natürlich nicht, aber es war ja auch dunkel. »Und da haben Sie sich gedacht, erst schießen, dann fragen, oder was?« Im Zuschauerraum schüttelt mein dann vielleicht nicht mehr zukünftiger Schwiegervater verständnislos den Kopf.

Die Sonne sendet ihre Strahlenfinger durch das Laub der Bäume. Tau liegt auf dem zarten Frühlingsgrün der Blätter, es duftet nach Moos und Erde. Fröhliches Vogelzwitschern übertönt das schwache Stöhnen des Verletzten. Die Schatten der Nacht mit ihren Ängsten und Bedrohungen haben sich aufgelöst im Frieden eines neuen Morgens. Die Todesangst ist ganz weit weg. Nicht mehr fassbar.

Als ich den Drilling auf den Kugellauf umschalte, fällt mir meine Zeit in der Gerichtsmedizin ein. Eine Kugel lässt sich von den Ballistikern einer Waffe zuordnen, Schrot jedoch nicht. Ruhig drücke ich den kleinen Schieber am Kolben zurück, und in diesem Moment schlägt der Verletzte die Augen auf. Dieser Blick hat mich lange verfolgt: Die hoffnungslose Schrecksekunde in seinem Gesicht, bevor es sich in Blitz und Donner und einer Wolke aus Blut auflöst.

Ich schrecke hoch aus halb wachen Gedanken und Traumfetzen, die Vögel zwitschern wie damals im Wald – aber ich bin immer noch zu Hause in meinem Arbeitszimmer, zusammengesunken auf dem Schreibtisch. Richte mich auf, um die bleierne Müdigkeit und die bösen Bilder abzuschütteln. Die Bilder, von denen ich einmal geglaubt hatte, dass sie mich nie wieder loslassen würden, und die doch längst verblasst waren nach einem Vierteljahrhundert. Erinnerungen an ein Verbrechen, begangen von einem völlig anderen Menschen, in einer anderen Zeit, einem anderen Leben, und deshalb längst unwirklich. Und jetzt sind sie mit voller Wucht wieder da. Ein später Zeuge hat sie zurückgebracht. Ein Geist aus der Vergangenheit.

Sein großer brauner Umschlag liegt neben dem aufgeschlagenen Oncologist vor mir auf der Tischplatte – der Beleg, dass es die Begegnung in der Tiefgarage gestern wirklich gegeben hat, so unwirklich sie mir im Nachhinein erscheint. Montagmorgen kurz vor neun, als ich von meinem Auto zu den Aufzügen eilte, in Gedanken versunken an die neue Woche. Eine dünne, irgendwie gemeine Fistelstimme aus dem Halbdunkel rief plötzlich meinen Namen und erschreckte mich zu Tode. Als die Gestalt hinter der Betonsäule hervortrat, wusste ich nicht, ob ich grinsen oder mich gruseln sollte. Das Männlein war zu winzig, als dass ich mich von ihm körperlich bedroht fühlte. Aber sein totenkopfartiges Gesicht ließ mich erschauern in seiner Wut und Hässlichkeit. Wie ein böser Zwerg aus einer alten Sage. »Wissen Sie, was das ist?«, krächzte er und streckte mir einen Zellophanbeutel mit einem daumendicken roten Plastikzylinder entgegen. Ich brauchte einen Moment, um die Schrotpatronenhülse zu erkennen. Das Männlein sagte: »Die haben Sie damals vergessen, als Sie meinen Bruder und seinen Kumpel umgelegt haben.«

»Was soll der Unsinn?«, fuhr ich ihn entgeistert an. »Verlassen Sie sofort das Klinikgelände!«

Der Zwerg kicherte nervös. »Den Kopf ham Sie ihm weggeschossen aus einem halben Meter – schon vergessen? Blechkiste, blauer Müllsack – na, klingelt’s jetzt?!«

Das konnte ja gar nicht sein! Völlig unmöglich! Mein Hirn suchte verzweifelt eine Erklärung. Die Furcht krampfte meinen Magen zusammen, aber zugleich spürte ich Wut in mir wachsen. Auf diesen Gnom mit dieser uralten Geschichte, die längst begraben war.

»Tja …«, sagte das Männlein bedeutungsvoll.

Ich zwang mich zur Ruhe. Schwieg, wartete ab, was er wirklich wusste. Und was er wollte.

»Leider, leider haben Sie mich damals übersehen! Sonst gäb’s heute wohl keinen Zeugen mehr. Hab mich im Unterholz versteckt, alles mit angesehen. Gibt sogar ’n paar hübsche Fotos.«

Ich war wütend, voller Angst – aber vor allem verwundert. Weil es so gar keine Logik gab in dem, was da gerade passierte und mein Hirn die einzelnen Teile nicht zusammenbekam. Einfach komplett absurd. Dass dieser Typ mit einer Kamera im Gebüsch lag, und ich hatte das nicht gemerkt? Aber ich war natürlich mit anderen Dingen beschäftigt. Und woher sonst sollte er die Details kennen? Aber wieso jetzt, nach dieser Ewigkeit? »Was wollen Sie?«, fragte ich ratlos. Ich hatte immer noch keinen blassen Schimmer, was das werden sollte. Ob es um Erpressung ging, um Rache oder späte Gerechtigkeit. Woher dieser Zwerg auf einmal kam.

»Sagen wir mal, ich will einfach zurück, was Sie uns damals gestohlen haben. Plus Zinsen natürlich. Und ich möchte, dass Sie hier mal einen Blick drauf werfen.«

Er hielt mir einen großen braunen Umschlag entgegen. Die Fotos vermutlich, mit denen er mich erpressen wollte. Ich zögerte einen Augenblick unschlüssig, dann griff ich zu und riss beherzt die Lasche auf.

»Nicht jetzt!«, zischte das Männlein. »Schauen Sie sich das später in Ruhe an.«

Ich zuckte zusammen.

So winzig er war, aber er strahlte eine ungeheure Boshaftigkeit aus. Ganz fern hörte ich Schritte. Der hässliche Zwerg schien es plötzlich eilig zu haben. »Denken Sie drüber nach, ich melde mich!«, sagte er hastig. »Ach ja, und wenn mir irgendwas zustößt, dann geht ein kleines Beweispäckchen an die Bullen!«

Ich war so verdutzt, dass es mich einen Moment sprachlos machte, obwohl mir tausend Fragen durch den Kopf schossen. Als ich mich wieder gefangen hatte, war das Männlein verschwunden. Als hätte es sich von einem auf den anderen Augenblick in Luft aufgelöst.

Wenn mir etwas zustößt, gehen meine Beweise an die Polizei. Ich weiß nicht, zum wievielten Mal ich seit gestern Morgen die Lasche des großen braunen Umschlags öffne und die Fotos herausziehe. Röntgenbilder mit einem riesengroßen Tumor in der Leber und Metastasen in Magen und Milz. Am Rand des Negativs Name und Aufnahmedatum in weißer Schrift. Kramer, Hans-Georg wird spätestens in einem halben Jahr tot sein.

Immer noch Mittwoch

Ich drehe das Autoradio lauter, aber auch Mozart vertreibt die wattige Melange im Kopf aus Albträumen, Ängsten und Schlaflosigkeit nicht. Aus dem grauen Dunst wächst die kantige Silhouette der Carl-Heßler-Klinik. Es ist einer dieser typischen norddeutschen Regentage, die schwermütige Naturen in Depressionen stürzen können. Die Grenze zwischen Himmel und Straße verwaschen wie ein Bild von Gerhard Richter. Tiefgrau mit schwarzen Wolkeneinsprengseln. Kein Weiß und kein Gelb, schon gar kein Blau. Windböen verwirbeln sprühfeinen Regen über graubraune Äcker zu beiden Seiten des nassglänzenden Asphalts.

Der Film ist nach wie vor im Kopf. Jede Sequenz, jedes Einzelbild. Wie in einer Endlosschleife. Die zwitschernden Vögel, der modrige Geruch des feuchten Waldbodens. Alle Bilder, Geräusche, Gerüche. Alle Gefühle. Der Moment, in dem ich den Drilling von Kugel auf Schrot umschalte, weil Schrot keine Spuren hinterlässt. Denk an die Hülsen, habe ich mich ermahnt. Weil der Schlagbolzenabdruck auf dem Hülsenboden ebenfalls die Tatwaffe verrät. Steck die Hülsen ein! Ich erinnere mich deshalb so genau, weil ich mich noch gewundert habe über die Klarheit meiner Gedanken in dieser Situation. Insofern bin ich sicher, dass ich an die Hülsen gedacht habe – und das bedeutet: Kramer blufft! Das ist nicht meine Hülse, die er hat! Andererseits: Dass ich die Hülsen vom Boden aufsammle, in der Hand halte – dieses Bild fehlt mir. Habe ich sie in die Tasche gesteckt? Und wo habe ich sie später entsorgt? Drei müssen es gewesen sein, dreimal habe ich geschossen. Vielleicht habe ich eine übersehen? Ich weiß es nicht mehr, beim besten Willen nicht. Die Bilder scheinen scharf und klar im Kopf, als wäre es gestern, aber tatsächlich malt die Zeit nur ein verwaschenes Bild meiner Erinnerungen.

Doch selbst wenn das in Kramers Zellophanbeutel meine Hülse mit meinen Fingerabdrücken ist – dass er sie am Tatort aufgesammelt hat, wird sich nicht beweisen lassen. Ob ich auf den Fotos klar zu erkennen bin, ist zweifelhaft, es war frühe Morgendämmerung, fast noch dunkel. Und ich ein junger Mann. Rappeldürr und mit Locken. Falls es überhaupt Bilder gibt, das muss ich herausfinden. Ich werde mich nicht aus lauter Panik von Kramer, Hans-Georg über den Tisch ziehen lassen.

Ich passiere die Schranke zur Tiefgarage. Ertappe mich dabei, dass ich vorsichtig nach allen Seiten schaue, als ich aus dem Wagen steige. Wäre nicht überrascht, wenn der böse Zwerg aus dem Betonfußboden wächst. Aber da ist nichts außer dem leisen Surren der Ventilatoren und dem britzelnden Flackern einer defekten Leuchtstoffröhre. Trotzdem haste ich beklommen zu den Aufzügen, erleichtert, als die Türen sich schließen und die Kabine sich in Bewegung setzt.

Ich kann mich spiegeln in dem polierten Edelstahl des Lifts. Ärztlicher Direktor Prof. Dr. Dr. Peter Zielke steht auf dem Schild neben dem obersten Knopf. Das bin ich! Klein-Peter aus der niedersächsischen Provinz! Es verblüfft mich jedes Mal aufs Neue. Den Kleinbürger tief in meinem Herzen mit all der Unsicherheit und dem brennenden Ehrgeiz, es allen zu zeigen. Ich bin ein gewissenhafter Beobachter meiner selbst und gönne mir beinah jeden Morgen mit selbstironischer Belustigung diese Sekunden eitlen Staunens über meinen gesellschaftlichen Aufstieg, während der Aufzug fast lautlos in den dritten Stock der Carl-Heßler-Klinik gleitet. Doch der Klumpen in meinem Bauch verdirbt mir heute die Fahrt.

Ärztlicher Direktor Prof. Dr. Dr. Peter Zielke, hier in erhabenem Messing auf dunklem Nussbaumholz. Das bin ich! Keiner, der in dunklen Tiefgaragen mit Verbrechern spricht.

Hinter der doppelflügeligen Tür erwartet mich das warmherzige Lächeln von Nicola Foerster. Sie arbeitet für mich, seit ich vor mehr als fünfzehn Jahren die Leitung der Klinik von meinem Schwiegervater übernommen habe. Natürlich spürt sie, dass ich nicht zu Plaudereien aufgelegt bin. Frau Foerster hat feine Antennen. Nicola Foerster ist Witwe mit zwei Kindern, der Sohn ist behindert. Oder war es die Tochter? Jedenfalls hat sie’s nicht leicht im Leben und findet bei mir jedes Verständnis und jede Unterstützung.

Frau Foerster blickt mich an mit mütterlicher Besorgnis, ich drücke ihr lächelnd die Schulter. »Haben Sie eigentlich die Sendung aufgenommen?«

»Aber natürlich, Herr Professor, ach – und wie Sie das mit den Kindern gesagt haben, da sind mir doch glatt die Tränen gekommen.«

»Das würde jeder andere genauso empfinden, Frau Foerster – wenn er ein Herz hat.«

Sie folgt mir mit frisch aufgebrühtem Tee in mein Büro. Stellt die Kanne ab und wirft mir ein aufmunterndes Lächeln zu, bevor sie leise die Tür hinter sich schließt.

Erwartungsfroh starte ich den Festplattenrekorder, ich habe die Sendung gestern im Fernsehen verpasst. Jetzt sehe ich mich selbst in einem Zelt voller abgestoßener Eisenbetten. Große Augen blicken aus hohlwangigen, dunkelhäutigen Gesichtern in die Kamera. Die Einstellung wechselt auf den Richtkranz auf dem Dach eines Rohbaus. Ich stehe vor Handwerkern, Ärzten und Schwestern – deute mit ausladender Geste auf das graue Steinhaus, das die Zelte ersetzen wird. Bewege die Lippen – die Rede selbst ist nicht zu verstehen unter dem Sprechertext … ein Herzensanliegen des bekannten Hamburger Onkologen Peter Zielke, ein Meilenstein für die Krebsklinik am Rande Kigalis. Wo Menschen mit Tumoren oft von hilflosen Ärzten zum Sterben nach Hause geschickt werden … Die Klinik in Ruanda ist das jüngste von vielen Projekten, die ich im Laufe der Jahre angestoßen habe. Mindestens vier Wochen im Jahr arbeite ich als Arzt in Afrika.

»Ich bin sehr privilegiert, und ich bin dankbar dafür«, höre ich mich im Fernsehen sagen. »Insofern halte ich es für meine Pflicht, etwas für jene zu tun, die weniger Glück hatten.« Ich bin gut darin, Gefühle in Szene zu setzen. Was nicht heißt, dass sie falsch oder verlogen wären. Ich glaube an das, was ich sage, und ich weiß, wie man es medienwirksam rüberbringt. Ich habe viele Millionen Spendengelder in den vergangenen Jahren gesammelt. Kollegen davon überzeugt, meinem Beispiel zu folgen und einen Teil ihrer Freizeit zu opfern, um die Ärmsten der Armen zu behandeln. »Demut und Dankbarkeit«, sage ich im Fernsehen, und in diesem Moment windet sich Frau Foerster mit bedrückter Miene durch die Tür.

»Na, was haben Sie auf dem Herzen?«, frage ich aufmunternd.

»Herr Professor, da ist ein Herr Kramer, der sagt, er hat einen Termin bei Ihnen. Ich habe aber nichts notiert und ehrlich gesagt, also, der Herr wirkt – na ja …«

»Ich weiß, Frau Foerster, ich weiß«, sage ich leichthin. »Aber … das hat schon seine Ordnung. Ich hätte Ihnen natürlich Bescheid sagen müssen, ich hoffe, Sie können mir verzeihen.«

Kramer ist nicht so winzig, wie ich ihn Erinnerung habe, knapp 1,70 Meter schätze ich, schwer zu sagen bei seiner gebeugten Haltung. Trotzdem wirkt er immer noch wie ein Zwerg: mager, bleich, zerbrechlich, mit einer unverhältnismäßig langen, spitzen Nase im verwitterten Gesicht. Ich geleite ihn zur Sitzgruppe am Eckfenster und bedeute ihm, Platz zu nehmen. Die Stühle sind mit blauem Samt bezogen, kein Leder – das wäre zu kalt. Die Stofflamellen vor der großen Panoramascheibe sind zugezogen, das Licht im Raum hat einen warmen Gelbton.

Wir sind jetzt in meinem Reich, und das Männlein aus der Tiefgarage hat seinen beklemmenden Zauber verloren. Bloß ein weiterer todkranker Patient.

Ein Problem, ja – aber eines, mit dem ich mir zutraue, fertigzuwerden.

Ich weiß nicht, wie viele Male im letzten Vierteljahrhundert ich in bange, erwartungsvoll geweitete Augen geblickt habe, die immer dasselbe sagen: Nur einen kleinen Funken Hoffnung! Bitte! Eine neue Therapie, ein bisschen mehr Zeit, ein bisschen mehr Leben! Eine winzige Chance! Als junger Onkologe habe ich manchmal Leben und Leiden verlängert bis an den Punkt, an dem der Tod eine Erlösung war. Besser irgendetwas tun, als sich einzugestehen, dass man nichts mehr tun kann. Mit Mitgefühl hat das wenig zu tun. Mitgefühl ist eine Lüge, weil Lebende und Sterbende auf verschiedenen Seiten stehen. Natürlich rührt mich menschliches Leid, und ich tue alles dafür, es zu lindern. Schließlich bin ich Arzt. Aber genau deshalb spüre ich auch jedes Mal wieder die Barriere, die mich von meinen todkranken Patienten trennt. Als sprächen wir nicht mehr dieselbe Sprache. Ich bin ein Mensch mit Plänen und einer Zukunft. Ich kann nicht mitfühlen mit einem Todgeweihten, der nur noch das Ende vor Augen hat. Ich will es auch nicht. Das ist mir zu intim.

Ich bin demütiger geworden mit den Jahren, ich kenne meine Grenzen. Aber natürlich hat sich auch die Medizin verändert. Lebensverbesserung geht vor Lebensverlängerung – darüber herrscht heute Einigkeit. Palliativmedizin – die schmerzlindernde statt heilende Therapie – wurde noch in meiner Studienzeit regelrecht angefeindet, eine Disziplin des Scheiterns. Unheilbar kranke Patienten wurden meist schlecht betreut, mit ihren Symptomen und der Angst vor dem Tod alleingelassen. Kein Mensch verliert gern, und Tod bedeutete früher Niederlage für den Arzt. Doch der Tod steht am Ende jeden Lebens, und deshalb ist ein halbes Jahr schmerzfreies Leben keine Niederlage – sondern ein Erfolg. Wer weiß schon, ob mir mehr Zeit vergönnt ist oder ich am Ende dieses Tages auf dem Heimweg bei einem Autounfall ums Leben komme.

»Herr Kramer, wir müssen uns leider darauf einstellen, dass die Zeit begrenzt ist.« Ich stehe auf, klemme sein Röntgenbild an die Lichtwand und erkläre Kramer den Befund mit größtmöglicher Sachlichkeit. Gut zwei Monate ist die Aufnahme alt, der Krebs hat bestimmt Fortschritte gemacht seitdem. Normalerweise hätte ich ein MRT angeordnet, Kramer gründlich untersucht. Aber der Zwerg ist kein normaler Patient. Er ist mein Gegner. Wie der Krebs.

Kramer hat Kaufmann als Beruf angegeben. Er hat schwielige Hände mit rissigen Fingernägeln. Unrasiert, graue Raucherhaut. Ich schaue ihn an, freundlich und zugewandt, bereit für die üblichen Fragen. Ob die Zeit noch reicht für einen bestimmten Wunsch. Wie es weitergeht mit den Schmerzen und was man dagegen tun kann. Aber Herr Kramer grinst nur hämisch. Ein gemeiner, hässlicher Zwerg, der mich gleich in einen Frosch verzaubern wird. Ich schenke ihm mein freundlichstes Arztgesicht und lasse ihn schweigen. Es ist sein Sterben, und jeder geht anders damit um. Herr Kramer lacht. Gehässig, künstlich, penetrant. »Erzählen Sie mir nichts, was ich nicht schon weiß. Aber Sie sollen mir nicht das Sterben erleichtern, sondern mich wieder gesund machen.«

»Das kann ich nicht«, sage ich konsterniert, weil er mir offenbar überhaupt nicht zugehört hat.

»Das kann ich nicht streichen Sie am besten mal, Professor. Deshalb komme ich ja zu Ihnen. In die Chefarztsprechstunde. Sie sind doch ’ne große Nummer. Die Behandlungskosten sind egal in meinem Fall, verstehen Sie? Nun geben Sie sich mal ’n bisschen Mühe, Herr Professor Dr. Dr. Zielke! Zeigen Sie, dass Sie Ihr Geld wert sind. Sie sollten persönlich das allergrößte Interesse daran haben, dass ich wieder gesund werde.«

»Sie können sicher sein, dass ich als Arzt dieses Interesse habe! Aber nach heutigem Stand der Medizin kann Ihnen nur ein Wunder helfen.« Alberich, ich werde ihn Alberich nennen. Dieser fiese Zwerg aus der Nibelungensage mit dem Ring, der nur Unglück bringt.

»Dann sollten Sie sich um eins bemühen, Professor! Ich bin sicher: Sie wollen nicht in den Knast gehen. Ganz bestimmt wollen Sie das nicht!«

Gefängnis! Dafür reicht meine Vorstellungskraft nicht. Davon habe ich nur Bilder aus amerikanischen Spielfilmen: tätowierte Muskelprotze; Schlagstöcke, die gegen Gitterstäbe klappern; ständige Angst vor zügelloser Gewalt. Tom Hanks in Fegefeuer der Eitelkeiten. Der Wallstreet-Banker mit den 2000-Dollar-Anzügen und dem Loft in der Fifth Avenue, der konnte sich auch nicht vorstellen, was Knast bedeutet. Und dann landet er mit den ganz harten Jungs in einer Zelle. Weil ein dubioser Politiker, ein ehrgeiziger Staatsanwalt und ein skrupelloser Reporter sich mit seinem Fall profilieren wollen. Und er weiß nicht, wie ihm geschieht, weil der gesunde Menschenverstand und sein Anwalt sagen, dass alles so schlimm nicht werden kann. Und dann wird es noch schlimmer. Auch das hier kann furchtbar aus dem Ruder laufen. Selbst wenn es nicht für eine Verurteilung reicht. »Herr Kramer, ich verstehe gut, dass Sie verzweifelt sind in Ihrer Lage, aber dafür können Sie nicht mir die Schuld geben.«

»Hab ich was von Schuld gesagt, Professor? Wenn ich sterbe, geht ein gewisses Päckchen an die Bullen, so einfach ist das. Also sorgen Sie dafür, dass ich nicht sterbe.«

Ich setze zu einer neuen medizinischen Erklärung an und stoppe mich mit einer unwirschen, resignierten Handbewegung. Es ist zwecklos. Wichtiger, die Kontrolle zurückzugewinnen. Ich lächle ihn an. »Jetzt lassen Sie uns erst mal neue Bilder machen, bevor wir weiterreden, ein Blutbild und ein paar Tests, Herr Kramer. Ich sage Frau Foerster, dass sie alles in die Wege leitet, dann mache ich mir Gedanken über mögliche Behandlungsansätze. Es ist jetzt vor allem wichtig, dass Sie den Mut nicht verlieren.«

Wir stehen beide auf. Ich gehe auf Kramer zu, dränge ihn Richtung Tür, die Hand auf seinem Rücken. Spüre den Widerstand, er will die Oberhand behalten. »Wenn ich verrecke …« Er dreht sich heftig um und streckt mir den Beutel mit der Schrothülse ins Gesicht. »Dann gehen Sie in den Knast!«

Ich zucke die Schultern. »Ich habe immer noch keine Ahnung, wovon Sie sprechen!«

Er tut amüsiert, doch ich spüre seine unterdrückte Wut. »Wenn wir nächstes Mal über meine Behandlung reden, dann reden wir auch über Geld. Zwei Millionen, fangen Sie am besten schon mal an, die Kohle beiseitezuschaffen. Ich meine …« Er blickt sich hämisch um und sagt mit gespielter Bewunderung: »Das dürfte doch kein Problem sein für Sie, oder? Apropos Geld: Könnten Sie mir mit ’nem bisschen Barem über ’n kleinen Engpass weghelfen?«

Im allerletzten Moment bremse ich den Impuls ab, zur Brieftasche zu greifen. Weil es mir die paar Scheine wert wäre, den unangenehmen Herrn Kramer auf schnellstem Wege loszuwerden. Ich schaue ihm direkt in die Augen, sein Blick weicht aus. »Herr Kramer«, sage ich betont freundlich. »Wir sehen uns nächste Woche. Dann besprechen wir alles Weitere. Und jetzt entschuldigen Sie mich bitte!«

Sein Groll ist unübersehbar, aber er schluckt ihn hinunter. »Meinetwegen!«, presst er hervor. »Dann halt nächste Woche. Aber wenn mir was zustößt …« Er hat sich seine Mütze aufgesetzt, die Tür zum Vorzimmer aufgerissen. Meine Assistentin schaut reichlich verwirrt, ich ignoriere es. »Frau Foerster, machen Sie doch bitte für Herrn Kramer einen neuen Termin. MRT, Blutwerte, das volle Programm.«

Ich bezwinge meinen Widerwillen und gebe Kramer zum Abschied die Hand. Zurück am Schreibtisch, sitze ich eine Weile unschlüssig da und starre Löcher in die Wand. Gedanken fahren Achterbahn: Mach dich nicht verrückt, der hat nichts in der Hand. Trotzdem habe ich letztlich keine Chance in dieser Geschichte. Come on, Zielke, der Staatsanwalt lacht sich doch kaputt, wenn er Kramers Päckchen aufmacht. Vielleicht, vielleicht aber auch nicht: eine ehrgeizige Kommissarin, die ihre Chance sieht, ein großes Tier zur Strecke zu bringen. Ich warte ein Weilchen, bis ich sicher bin, dass Kramer das Vorzimmer verlassen hat, dann breche ich auf. »Frau Foerster, ich muss dringend los in einer privaten Angelegenheit«, sage ich im Vorbeigehen. »Bitte sagen Sie für heute alle weiteren Termine ab.«

Ich bin allein auf dem Parkdeck, meine Schritte hallen auf dem Beton, Neonröhren flackern an der niedrigen grauen Decke. Eilig haste ich zum Wagen, verriegle von innen die Türen, lächle über meine Angst. Fühle mich unendlich erleichtert, als der Motor läuft und ich die Rampe hinaufsteuere, in Bewegung bin, durch die Schranke bin. Es hat aufgehört zu regnen, der schwarzgraue Himmel ist aufgerissen, Sonnenkegel wie göttliche Fingerzeige zwischen dahinrasenden Wolkengebirgen. Licht an und aus, ein unentschlossener Wettergott.

Ich werde meiner Frau von dem Geheimnis erzählen, das mich nach so langer Zeit wieder einholt. Jetzt, sofort – weil ich es mir bis heute Abend möglicherweise anders überlege. Ich brauche keine weitere Front, sondern eine Verbündete. Die mir hilft, ruhig und besonnen zu handeln, vielleicht ist ja alles gar nicht so schlimm, wie ich es mir in meiner Furcht ausmale.

Der Kies in der Auffahrt knirscht unter den Reifen. Davon habe ich schon als Kind geträumt. Du hast es geschafft, sagt das Geräusch. Sinnlich und satt. Der Blick auf das Haus erfüllt mich jedes Mal mit Stolz und Freude. Ein weißer Jugendstiltraum mit Sprossenfenstern und Gauben im Schieferdach. Vom Schlafzimmerbalkon im Obergeschoss kann man die vorbeiziehenden Schiffe auf der Elbe sehen.

Ich überrasche Kristina in der Küche, sie hört mich nicht, weil die Espressomaschine röchelt. Zuckt erst erschrocken zusammen und strahlt mich dann an. Ihr Lächeln versetzt mir einen Stich im Herzen. Meine Brust ist wie zugeschnürt. Sie drückt mir einen weichen Kuss auf die Lippen, lässt die Kaffeetasse unter der Maschine stehen und nimmt eine Flasche Sancerre aus dem Kühlschrank. »Wein um diese Zeit?«, sage ich irritiert.

»Mein Mann ist früh nach Hause gekommen, ich finde, das ist ein ziemlich guter Grund zum Feiern.« Mein Magen rebelliert, während ich in Gedanken über meine Beichte grüble. Kristina, ich habe ein Verbrechen begangen als junger Mann. Und jetzt werde ich erpresst. Ich nehme zwei Gläser aus dem Schrank und folge ihr schweigend zur Terrassentür. Die Luft im Garten ist kühl und frisch gewaschen. Der Himmel hat seine Pforten vorübergehend geschlossen, die Sonne durchbricht die Wolken. Wir prosten uns zu, der Wein leuchtet golden im Sonnenlicht, das Glas beschlägt von außen. Ich hatte Todesangst, dass sie mich erschießen. Ich dachte, sie sind Terroristen. Das verstehst du doch, Kristina – oder? Sie lächelt, als sie meinen Blick auf ihre Hand registriert, auf den Ring mit dem grünen Smaragd, den ich ihr geschenkt habe vor einer Ewigkeit.

»Weißt du, dass ich den damals total überzogen fand?«, sagt sie belustigt.

»Wirklich?« Ich bin ehrlich überrascht. Der Ring erschien mir damals einfach nur – angemessen.

»Ja, der muss ’n Vermögen gekostet haben, und ich dachte, wieso muss der so auf die Sahne hauen? Andererseits ruiniert er sich für mich.« Sie lacht. »Das fand ich süß.«

Ich zwinge mich zu einem Lächeln, obwohl ich unglaublich niedergeschlagen bin.

»Hey!«, ruft sie fröhlich. »Nicht traurig sein, das ist ein großes Kompliment. Ich hätte dich auch ohne den Klunker genommen!«

Ich habe es dir nie erzählt, weil die Gelegenheit sich einfach nicht ergab und es eigentlich auch keine Rolle mehr spielte in meinem Leben – dachte ich, bis jetzt. Aber »es« gibt es in Wahrheit ja gar nicht. Nicht das eine Geheimnis. Sondern eine Riesenlüge mit einem langen Schweif Heimlichkeiten. Selbst der Verlobungsring ist eine Lüge. Mit kriminellem Geld bezahlt, genau wie die Reisen und die teuren Restaurants, die ich mir als junger Assistenzarzt nicht hätte leisten können.

»Julia schläft heute bei ’ner Freundin«, sagt Kristina unvermittelt.

»Und?«

»Das heißt, wir können mal ganz unvernünftig sein!« Ihr Ton ist verschwörerisch, ihr Lachen so unbekümmert, dass mir noch enger um die Brust wird. Sie gießt mir ein, und ich kippe das Glas in einem langen, gierigen Schluck hinunter. In Gedanken sehe ich ihr Lächeln erstarren und fassungslosem Entsetzen weichen. Ich verstehe, dass du enttäuscht bist. Aber deshalb bin ich trotzdem der Mann, den du liebst. Ich habe einen schlimmen Fehler begangen vor einer Ewigkeit. Ich liebe dich, und ich bitte dich jetzt, es mit mir durchzustehen.

Man bekommt alles zurück im Leben. Aber gilt das nur für die bösen Taten? Oder auch für die guten? Und lassen sich beide gegeneinander verrechnen? Vor über fünfundzwanzig Jahren habe ich einen Menschen ermordet. Denn als Mord zählt für mich nur der eine. Die Schüsse auf den ersten Mann fielen in Panik. In gutem Glauben, dass mein Leben bedroht war. Den Mann am Boden habe ich vorsätzlich getötet, es gibt da keine zwei Meinungen über Richtig und Falsch. Ich habe einen verletzten und hilflosen Menschen hingerichtet. Aber seitdem Dutzende Leben gerettet als Arzt, Millionen gesammelt und gespendet für wohltätige Zwecke. Wenn die böse Tat mich am Ende zu einem besseren Menschen gemacht hat, dann liegt vielleicht ein Sinn darin. Und wer weiß, wie viel Leid und Trauer der Welt erspart geblieben sind, weil zwei üble Halunken nicht mehr in ihr weilen.

Mir war hundeelend, als ich sie vergraben habe. Ich kann noch immer den verzweifelten Widerwillen nachfühlen, mit dem ich die Leichen zu der Grube schleppte, panisch und schluchzend versuchte, das Loch zu vergrößern, die Blechkiste mit meinem Taschentuch auswischte. Mich an das kurze Zögern erinnern, bevor ich den Müllsack schnappte und zurück zum Auto rannte. Noch immer das saure Aroma totaler Erschöpfung schmecken. Manchmal sehe ich mich kotzen, aber wirklich sicher bin ich nicht mehr. Erinnerung ist eine Betrügerin. Vielleicht will ich mich daran erinnern, dass ich gekotzt habe, weil ein anständiger Mensch das tut nach einer solchen Tat. Dann würde sich vermutlich noch meine DNA am Tatort finden lassen. Die Kriminaltechnik hat große Fortschritte gemacht seit damals und uralte Verbrechen aufgeklärt anhand einer Briefmarke, die ein Erpresser vor Jahrzehnten angeleckt hat.

Die Fotos mögen schlecht sein oder gar nicht existieren, und die Hülse ist als Beweis wohl untauglich. Es reicht sicher nicht, um mich eines Verbrechens zu überführen. Aber womöglich genügt es, um neue Ermittlungen in Gang zu setzen. Und wer weiß, welche Spuren sich noch finden lassen, wenn man hartnäckig genug sucht. Oder ob sich jemand erinnert an den jungen Assistenzarzt, der über seine Verhältnisse gelebt hat.

»Na, wo bist du gerade?«, fragt Kristina freundlich, und ich schaffe es, nicht zusammenzuzucken.

»’tschuldigung.« Ich schenke ihr mein bestes Lächeln. »Der Protestant in mir fühlt sich schlecht, weil er seine Arbeit verlassen hat.«

Sie gießt mir noch mal Wein ins Glas. »Damit sich das schlechte Gewissen auch lohnt.«

»Auf uns!« Ich greife nach ihrer Hand. »Es hat sich in jedem Fall gelohnt.« Ich kippe auch das zweite Glas abwesend hinunter, meine Frau schaut mich forschend an.

Sonntag, 9. August

Der Sommer kommt spät und heftig. Über Nacht hat die Stadt ihr graues Kleid gegen Miniröcke und Bermudashorts getauscht. Selbst die Hamburger lächeln. 36 Grad und nicht der leiseste Windhauch. Die Luft so zäh wie der Verkehr auf der Elbchaussee. Alle drängen raus ins Freie, raus aus der Stadt. An Nord- und Ostsee, nach Sylt oder Travemünde oder bloß an den Elbstrand. Kein Sonnenstrahl soll ihnen entgehen, die Sommer im Norden sind unberechenbar und mitunter kurz.

Auch bei der dritten Grünphase reicht es nicht, der Wagen vor mir bremst bei Gelb, fluchend trete ich auf die Bremse. Wir sind spät dran. Kristina hat ewig im Bad getrödelt. Dabei ist es der Geburtstag ihres Vaters. Der 79., ein großes Gartenfest. »Wie jedes Jahr, kein Grund, mich so zu hetzen«, sagt Kristina aufreizend lässig. Und: »Zum Achtzigsten bin ich pünktlich. Versprochen!« Die Kinder lachen auf dem Rücksitz, mir bleibt nichts anderes übrig, als mitzulachen. Meine Frau malt vor dem Schminkspiegel die Lippen nach, Julia und Claas ziehen sich wieder in ihr eigenes Gespräch zurück. Unser Sohn ist längst ausgezogen, studiert in Hannover, aber Großvaters Geburtstag ist Pflicht. Es könnte ein wundervoller Sommersonntag werden mit meinen Lieben auf einem unbeschwerten Familienfest. Wenn nur dieser fürchterliche Druck im Magen nicht wäre. Seit Freitag ist Alberich mein Patient. Ich habe mir eine Zeitbombe in die Klinik geholt, aber Kramer hoffentlich unter Kontrolle.

»Und, was meinst du, Papa?« Julia vom Rücksitz.

»’tschuldigung, was hast du gesagt?«

»Ilsebill salzte nach. Das wurde als schönster Anfangssatz der deutschen Literatur gewählt. Wie findest du’s?«

»Hm – weiß nicht, bisschen banal vielleicht. Aus welchem Buch ist das?«

»Der Butt«, klärt mich Julia auf. »Von Günter Grass.«

»Ich find eigentlich den zweiten Satz viel besser«, sagt Kristina. »Bevor gezeugt wurde, gab es Hammelschulter zu Bohnen und Birnen, weil Anfang Oktober.«

Fröhliches Gelächter im Wagen. Ich bemühe mich, herzhaft mitzulachen, merke selbst, wie laut und gekünstelt es klingt. Fühle mich ausgeschlossen.

»Was ist dein Lieblingsanfangssatz?«

»Papa liest eh nur Fachzeitschriften«, sagt Claas abschätzig.

»Hast du irgendwas? Du wirkst so bedrückt?« Kristina schaut mich an mit fürsorglichem Interesse.

»Nein, gar nichts – nur ein bisschen Kopfschmerzen, ich fürchte, ich kriege eine Erkältung.«

Wir müssen uns jetzt erst mal um Ihre Behandlung kümmern, Herr Kramer! Ich habe Alberich erneut die kalte Schulter gezeigt, als er von Geld anfing. Wieso eigentlich Alberich? Der Versuch, witzig zu sein? Ich werde diesem Subjekt nicht die Ehre eines Spitznamens erweisen. Das Subjekt kommt also auf die zwei Millionen zu sprechen, und ich tue wieder so, als ob ich keine Ahnung hätte, wovon er redet. Tote im Wald? Blaue Plastiksäcke mit Geldscheinen? Was will der Spinner?! Ich behandle hier einfach nur einen Krebspatienten.

Als ob! – wie meine Tochter immer sagt. Wem will ich was vormachen? Mir selbst? Solange ich mich unserer Geschichte verweigere, ist es nicht real? Natürlich ist das Unsinn, denn würde mir die Geschichte keine Angst machen, hätte ich die Polizei gerufen und das Subjekt nicht stationär aufgenommen. Das wissen wir beide. Erklären Sie eine klassische Tragödie, höre ich meinen Gemeinschaftskundelehrer. Die Unvereinbarkeit zweier Zwänge. Wenn jede Entscheidung ins Verderben führt. Ich kann Kramer nicht retten, und damit bin ich selbst verloren.

»Wird sicher wieder ein großes Fest bei Papa«, sagt Kristina in das Schweigen hinein.

»Ja – bestimmt.«

»Hättest ruhig deinen Eltern auch Bescheid sagen können – Papa hätte sich gefreut, wenn die ganze Familie mal wieder zusammenkommt.«

»Ach weißt du, solche Feste sind nichts für sie.«

»Das sagst du immer, auch Weihnachten. Vielleicht können wir ja diesmal alle zusammen unterm Tannenbaum feiern.«

»Ja klar, gute Idee, machen wir!«

»Das sagst du auch immer!«

»Wär doch toll«, wirft meine Tochter ein, obwohl ich bezweifle, dass es von Herzen kommt. Vermutlich ist es ihr egal. Meine Kinder haben nie ein herzliches Verhältnis zu ihren Großeltern in Goslar entwickelt, es ist eine fremde Welt für sie. Und ja, natürlich, es ist meine Schuld.

»Ich finde einfach, du könntest ruhig ein bisschen souveräner sein«, setzt Kristina nach. »Du kannst es dir leisten.«

»Da hast du vermutlich recht«, sage ich sanft. Ich möchte nicht streiten. Sie soll einfach Ruhe geben, mich nicht quälen.

»Es ist deine Familie, das kannst du nicht einfach abstreifen«, insistiert sie.

Sie versteht das nicht, sie kommt aus einer anderen Welt. Sie hat rebelliert gegen ihren Vater, tut das im Grunde bis heute. Aber sie hatte nie einen Zweifel, dass sie zu dieser Familie dazugehört. Ich dagegen habe von Anfang an nichts sehnlicher gewollt als weg, weg, weg aus der kleinbürgerlichen Enge des Reihenhauses in Goslar, und bis heute sträubt sich alles in mir dagegen, sie wieder in mein Leben hineinzulassen. Ich möchte mir meine alten Eltern nicht auf Wolff Heßlers Gartenfest vorstellen. Die verkrampfte Konversation, ihre peinliche Bewunderung, das herablassende Bemühen meines berühmten Schwiegervaters, um dessen Anerkennung ich so hart gekämpft habe. Zugleich ist mir der Gedanke unangenehm, dass ich mich schäme für mein Elternhaus, dass ich immer noch diese geduckte Kleinbürger-Furchtsamkeit mitschleppe, die ich als junger Mann so verachtet habe an meinem Vater. Nie hat er mir den Rücken gestärkt, wenn ich aufbegehrte gegen die Ungerechtigkeit von Lehrern, sondern mich angehalten, Grenzen und Autoritäten zu akzeptieren, nicht aus dem Rahmen zu fallen, möglichst gar nicht aufzufallen. Es ging immer nur darum, was die Leute denken. Ich war ein Außenseiter, ein verklemmtes, ängstliches Kind, das von anderen gehänselt wurde und nirgendwo dazugehörte. Ich bin einen langen, steilen Weg gegangen aus meiner nur selten unbeschwerten Kindheit in Goslar. Und ich werde nie das lässige Selbstvertrauen Kristinas besitzen, die von klein auf mit dem Gefühl aufwuchs, etwas Besonderes zu sein.

»Ihr seid meine Familie«, sage ich matt, während ich auf den gepflasterten Hof der Heßler’schen Villa einbiege, wo für uns ein Platz reserviert ist. Roter Backstein, weiße Sprossenfenster, Türmchen und Erker mit Fachwerk und Efeu. Kein neureicher Protz, sondern große Vergangenheit.

Die Hitze ist wie ein Schlag ins Gesicht mit einem heißen Waschlappen, als ich aus dem klimatisierten Auto steige. Wann war es jemals so tropisch schwül in Hamburg? Schmerzend gleißende Sonne von oben. Hitze von den Pflastersteinen. Alle Poren schwitzen um die Wette. Aus dem parkähnlichen Garten wehen die Geräusche des Sommerfestes herüber. Dezente südamerikanische Musik, Gesprächsfetzen, Gelächter. Mächtige alte Bäume spenden der Gesellschaft freundlichen Schatten. Unter großen weißen Sonnenschirmen weiß gedeckte Tische und Segeltuchstühle. Eiskübel mit Champagner, Bier vom Fass. Ein weißes Buffetzelt und ein mächtiger Grill mit einem Wildschwein am Drehspieß. Wolff Heßler hat es – wie all die Jahre zuvor – selbst geschossen, das lässt er sich nicht nehmen. Die Feier ist noch jung, immer neue Gäste trudeln ein mit Blumen und kostbar eingewickelten Präsenten. Alte Kollegen, junge Kollegen, Senatoren, Exbürgermeister, Nochpolitiker und aufstrebende Talente, Exintendanten und Nochvorstände, Geschäftspartner, Freunde, Familie, Weggefährten aus alten und neuen Zeiten. Bestimmt hundert Menschen schon jetzt.

Der Gastgeber überragt fast alle um einen Kopf. Ein großer, schwerer Mann mit offenem weißen Leinenhemd über heller Sommerhose. Riesiger Kopf mit Silbermähne, braun gebrannt, die gebleckten Zähne schneeweiß. Er hat uns gesehen, winkt, schreitet gemessenen Schrittes in unsere Richtung. »Schön, dass ihr da seid«, ruft er gutgelaunt. Umarmt steif seine Tochter, drückt die Enkel an die breite Brust. Alles Gute, Paps, Happy Birthday, Opa. Mir reicht er feierlich die Hand, während seine Linke meine Schulter umfasst. »Herzlichen Glückwunsch, Wolff«, sage ich überschwänglich. »Was soll ich dir wünschen, wo du schon alles hast. Du siehst übrigens großartig aus.«

»Für ’nen alten Mann, ich weiß. Schön, dass du da bist, Junge. So, Kinder, jetzt wollen wir aber erst mal anstoßen.« Wolff winkt eine Kellnerin mit Tablett heran.

»Für mich kein Sekt!«, sagt Kristina.

»Mädchen, das ist Dom Pérignon. Und nun komm schon, du wirst doch nicht mit deinem alten Vater mit Saft anstoßen wollen!«

»Wo ist Mutter?«, fragt Kristina stattdessen kühl.

»Im Haus!«, entgegnet er schroff, um dann beinah kleinlaut zu erklären: »Es geht ihr heute wieder nicht so gut. Sie hat sich hingelegt in ihrem Zimmer.«

Meine Frau lässt uns wortlos stehen und geht zum Haus. Der Jubilar hat seine Verärgerung hinuntergeschluckt, betont fröhlich mit den Kindern und mir angestoßen. Und sich längst neuen Besuchern zugewandt. Julia ist aus meinem Blickfeld verschwunden, ich höre ihre Stimme aus einer Gruppe junger Leute heraus, die offensichtlich gelangweilt am Rande der Party steht. Beobachte mit Wohlgefallen Claas in ein ernsthaftes Gespräch mit einem meiner Oberärzte vertieft. Ein Bier in der Hand, völlig entspannt und scheinbar ohne jegliche Berührungsängste dem Älteren gegenüber. Ich beneide meinen Sohn um seine Unbekümmertheit. Beneide ihn darum, dass er diese bohrenden Ängste und Zweifel, die meine Jugend begleitet haben, nie kennenlernen wird. Ein schwerer Arm legt sich von hinten auf meine Schulter. »Konntest du dem Jungen diesen Blödsinn nicht ausreden?«, fragt mein Schwiegervater belustigt. »Architektur, meine Güte, das ist doch brotlose Kunst!«

Konnten Sie meiner Tochter diesen Unsinn nicht ausreden, junger Mann? Das ist der erste Satz von Wolff Heßler, an den ich mich erinnere. Ich war junger Medizinstudent und habe vor Ehrfurcht kaum ein Wort herausbekommen in diesem Haus. Natürlich war mir der Name Heßler schon vorher ein Begriff, jeder Medizinstudent kennt ihn. Carl Heßler – der Ururgroßvater meines Schwiegervaters – war ein Schüler Rudolf Virchows. Die von dem berühmten Pathologen entwickelte Zelltheorie war für ihn die Grundlage zum Verständnis von Krebs. Zellen sind die Atome des Lebens, Bausteine des Wachstums. Eine Zelle teilt und vermehrt sich, und sie stirbt nach einem genetischen Programm, um neuen Zellen Platz zu machen. Krebs ist ein Programmfehler im Bauplan der Natur. Statt zu sterben, wächst eine Zelle unkontrolliert, teilt sich, bildet Tochtergeschwülste, wuchert in Organe, zerstört das Gewebe. Aber gesundes und bösartiges Wachstum haben denselben Ursprung, das macht die Krankheit so unberechenbar. Krebs war lange das Feld radikaler Chirurgen. So wie Wolffs Großvater Gottfried Heßler in den Zwanzigerjahren. Ein Pionier im OP. Während Wolffs Vater Joseph Heßler Anfang der Fünfziger einer der europäischen Vorreiter der Chemotherapie war zu einer Zeit, als die Bekämpfung von Tumoren mit Zellgiften noch als medizinisches Roulette galt. 150 Jahre Medizingeschichte im Kampf gegen eine der schlimmsten Geißeln der Menschheit standen mir gegenüber in Wolff Heßlers holzgetäfeltem Speisezimmer, und ich war angemessen beeindruckt. Konnte seine Enttäuschung und Wut darüber verstehen, dass die einzige Tochter dieses Vermächtnis ausschlug. Die Heßlers waren immer Ärzte gewesen, der Alte ins Mark getroffen. Kristina hatte mich als Begleitschutz mitgenommen. Voll Trotz und Angst, ihrem Vater zu sagen, dass sie die Medizin aufgeben wollte. Ich erinnere mich an dieses Mittagessen, als wäre es heute. Meine Beklommenheit. Die Zerrissenheit zwischen der Loyalität für meine Freundin und der Bewunderung für Wolff Heßler. Ich hätte viel darum gegeben, einen Vater wie ihn zu haben.

Kristina ist Journalistin geworden. Eine Zeit lang war sie Redakteurin beim Rundfunk, nach dem zweiten Kind hat sie als freie Mitarbeiterin für verschiedene Zeitungen und Magazine gearbeitet, das bot mehr Flexibilität. Gelegentlich schreibt sie immer noch ab und an einen Essay, aber es ist inzwischen mehr Steckenpferd als Beruf.

Bei Wolff Heßlers Geburtstagsfeier sind Ansprachen streng verboten. Selbst der Gastgeber enthält sich launiger Begrüßungsworte, er beherrscht auch so das Feld. Der alte Löwe streunt durch sein Revier. Die Menge teilt sich für ihn. Schöne Frauen und respektable Männer suchen seine Nähe. Ich höre sein dröhnendes Lachen, beobachte die ausladenden Gesten, die Art, wie er die graue Mähne zurückwirft, seine laute, gespreizte, glänzende Laune.

»Mensch, Peter!« Eine Frau löst sich aus dem Grüppchen vor mir, läuft mir entgegen mit ausgebreiteten Armen. Blond, grellroter Lippenstift, bittere Falten um die Mundwinkel. Die Zeit hat es nicht gut gemeint mit ihr, und sie war damals brünett, aber ich erkenne sie trotzdem wieder. »Petra – welche Überraschung! Was machst du denn hier?!«

»Ach, ich bin mit einem Freund da, der lange für deinen Schwiegervater gearbeitet hat.«

»Tja, die Welt ist klein …«

»Aber dass du dich noch an mich erinnerst. Meine Güte, wie lang ist das her. Zwanzig Jahre?«

»Länger, viel länger. Aber die Zeit war gnädig zu dir!«

»Oh – wie charmant.«

Ich bekomme eine Kurzform ihrer Biografie. Wir haben uns während meines Praktikums am Princeton Plainsboro Teaching Hospital in New Jersey kennengelernt. Zwei junge deutsche Ärzte zur selben Zeit an derselben Klinik, ein komischer Zufall. Die amerikanischen Kollegen begrüßten uns spöttisch mit »jawoll«, machten sich lustig über unseren putzigen Akzent. Fremde, die zusammenfanden. Wir hatten eine kurze Affäre. Trotzdem hat sie gegen mich intrigiert. Sie war eine von Ehrgeiz zerfressene, hinterhältige Zicke.

»Tja«, sage ich. »New Jersey – das waren wilde Zeiten, was?«

Sie seufzt wehmütig. Ich hatte heftige Gewissensbisse, weil ich Kristina betrog, aber auf der doch recht kurzen Liste meiner Heimlichkeiten ist sie längst zu einer Jugendsünde geschrumpft. Eine namenlose Oberärztin am UKE, Schichtdienst im Großklinikum, zwei Scheidungen, wahrscheinlich ist sie mit Ehemann in spe Nummer drei hier. Mein Gott, diese bitteren Mundfalten! Einen klitzekleinen Moment lang genieße ich meinen späten Triumph. Und dann stelle ich mir ihr Gesicht vor, wenn sie von meiner Verhaftung erfährt.

Kurz nach meiner Rückkehr aus den USA – als dem Alten klar wurde, dass es Kristina und mir ernst war mit der gemeinsamen Zukunft – lud mich Wolff zum ersten Mal ein, ihn auf die Jagd zu begleiten. Die Leidenschaft für das Töten von Tieren habe ich nie nachempfinden können. Und dann dieses ganze archaische Brauchtumsbrimborium. Diese Sprache! Blut heißt bei den Jägern »Schweiß«, Scheiße nennen sie »Losung«. Dennoch habe ich unsere Ausflüge genossen. Die Nähe zum großen Wolff Heßler. Sein Vertrauen und seine Geschichten. Natürlich war mir klar, dass er mich prüfte – und ich wollte unter allen Umständen genügen. Meldete mich sogar zur Jagdscheinprüfung an. Man spricht auch vom grünen Abitur, und es ist in der Tat eine elende Büffelei. Ein Jahr lang habe ich dicke Wälzer über Tierspuren und Blätter und Entenarten studiert, an den Wochenenden Hochstände gebaut oder auf dem Schießstand mit Schrot auf Kipphasen geschossen. Ich war oft am Verzweifeln, wenn ich spät nachts über Hunderassen, Wildkrankheiten und Futterpflanzen brütete, denn die neue Stelle in der Klinik war fordernd genug. Kristina und ich hatten deshalb immer wieder Streit, sie fühlte sich vernachlässigt. Ich schätze, es war auch Eifersucht im Spiel. Der Alte ließ die eigene Tochter enttäuscht links liegen und wandte sich mir zu. Nach bestandener Jagdscheinprüfung umarmte er mich, das hatte er vorher noch nie getan. Wir haben mit harten Sachen gefeiert, obwohl ich mir nichts daraus mache. Ich fühlte mich geehrt, dass der große Wolff Heßler mit mir soff.

Sechs Wochen später brach ich noch vor Morgengrauen mit dem alten Drilling in Wolffs Revier auf. Am 16. Mai, dem Tag, an dem der Bock aufgeht, wie die Jäger sagen. Stattdessen erlegte ich zwei Menschen.

Ich greife gedankenverloren nach einem weiteren Glas, als die Kellnerin mit dem Tablett vorbeigeht. Ich bin den Alkohol nicht gewohnt, der Champagner steigt mir zu Kopf. Scheinbar ziellos schlendere ich durch die Festgesellschaft. Zwinge mir ein Lächeln ab, schüttle Hände, klopfe Schultern, küsse Wangen. Smalltalk im Automatikmodus.

»’n Abend, Herr Professor, schön Sie zu sehen.«

»Geht es Ihnen so gut, wie Sie aussehen?«

»Und selbst?«

»Sie waren ja gerade wieder in Afrika. Mein Gott, ich bewundere Sie, diese armen Kinder, dieses Elend.«

»Ja, da wird einem sehr deutlich, wie privilegiert wir doch sind hier.«

»Ihr Schwiegervater ist ja ein Phänomen. Neunundsiebzig Jahre, und schauen Sie ihn sich an. Das blühende Leben.«

»Und er schießt immer noch das Wildschwein für den Grill.«

»Ist ja wieder mal ’ne wunderbare Feier.«

»Wenn es bloß nicht so schwül wäre.«

»Aber wir wollen uns nicht beschweren, wenn wir endlich mal ’n richtigen Sommer haben.«

»Soll ja noch ’n Gewitter geben.«

»Aber vielleicht zieht’s auch einfach vorbei, und es passiert gar nichts.«

»Wo haben Sie denn Ihre bezaubernde Frau gelassen? Grüßen Sie sie jedenfalls mal ganz herzlich.«

Die Dämmerung hat eingesetzt. Blaue Stunde. In den mächtigen alten Bäumen leuchten Dutzende roter, blauer, gelber und grüner Lampions und zaubern märchenhafte Stimmung. Auf dem Rasen brennen Feuerkörbe und Fackeln, Schatten tanzen. Menschen lachen, trinken, essen, reden, berühren sich – unerreichbar für mich in meiner Angstblase. Mittendrin im vertrauten, prallen Leben und doch Lichtjahre entfernt – fassungslos darüber, dass all das bald vorbei sein könnte. Wir sollten uns darauf einstellen, dass die Zeit begrenzt ist.

Zum Achtzigsten im nächsten Jahr werden sie wieder zu Wolff Heßlers Party kommen, ein Wildschwein grillen, Champagner trinken, Small Talk halten. Und ich werde dann vielleicht Gesprächsthema sein. Oder verlegen totgeschwiegen.

Ich habe mich an einen Stehtisch am Rande des Geschehens zurückgezogen, blicke in das Glas mit der flackernden Kerze. Die auffrischende Brise bringt keine Abkühlung, nur heiße Luft. Ich leere den Rest meines Glases, der Champagner ist warm und schal.

»Hast du Probleme, Junge? Du wirkst so in dich gekehrt.« Ich zucke zusammen, weil ich Wolff nicht habe kommen sehen. Es ist mir unangenehm, dass er mich beobachtet haben könnte. Ich nehme den Notausgang Sommergrippe.

»Hat Julia denn Interesse an der Medizin?«

Meine Güte, was soll das denn jetzt?! Meine Tochter ist in der Spätpubertät, unglücklich verliebt und ignoriert die Ratschläge ihrer Eltern bestenfalls.

»Ich glaube, Julia hat noch überhaupt keine Ahnung, was sie mal machen will.«

»Mit sechzehn sollte man das aber!« Er legt mir wieder seine schwere Pranke auf die Schulter. »Ich werde nächstes Jahr achtzig, Peter.«

»Was hat das damit zu tun?«

»Dass man sich in meinem Alter sehr klar darüber wird, dass die Zeit begrenzt ist.«

»Darüber wird man sich als Arzt auch schon früher klar«, erwidere ich leichthin.

»Ich meine das ernst, Peter. Und ich würde mit einem besseren Gefühl gehen, wenn ich wüsste, dass die Klinik in der Familie bleibt. Das bedeutet etwas, verstehst du.«

»Was erwartest du von mir?!«

»Dass du deinen Kindern klarmachst, was Familie und Tradition und Werte und Beständigkeit sind. Dass es nicht nur um irgendwelche Neigungen und egoistische Selbstverwirklichung geht, sondern um etwas sehr viel Größeres. Sie werden es dir eines Tages danken, Peter, glaub mir.«

So wie deine Tochter, denke ich gehässig. Er hat feine Antennen, dass muss ihm der Neid lassen. Hat mir jetzt die linke Pranke auf die andere Schulter gelegt und zieht mich mit beiden Armen so nah an sich heran, dass ich den Champagner-Atem rieche. Die flackernde Kerzenflamme spiegelt sich in seinen Augen. Wasserblau, das Weiße von roten Äderchen durchzogen. »Genau deshalb sage ich dir das, Peter, weil Kristina – ich muss dir da ja nichts vormachen – so eine Enttäuschung war in dieser Hinsicht. Und nun ja, Viola konnte mir keine weiteren Kinder schenken, obwohl ich mir immer eine große Familie gewünscht habe. Aber ich hatte das große Glück, dass du in unsere Familie gekommen bist. Und du weißt, dass du mir ans Herz gewachsen bist wie ein eigener Sohn.«

Der Alte wartet nicht auf eine Antwort, sondern lässt mich einfach stehen. Wolff Heßler hat mir ein großes Erbe in die Hände gelegt. Was werde ich machen aus dieser Verpflichtung? Eine Bildzeitungsschlagzeile? Ein Foto von mir in einem Gefängnisbus? Eine große Enttäuschung – das ist es, was ich hinterlassen werde. Gewogen und für zu leicht befunden.

Ich biege vor dem Buffetzelt ab, Geschirr klappert hinter der Plane, Platten werden abgeräumt. Die Sau dreht sich noch immer an ihrem Spieß, der haarige Kopf monströs, beinahe obszön auf den weitgehend abgenagten Rippenknochen. Ich will hinter den Bäumen den Festplatz von außen umrunden, ein wenig für mich sein, eine Weile nicht reden, nicht lächeln und am liebsten auch nicht denken. Ich bin erschö...

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