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Stadt des Schweigens

hier erhältlich:

Die Journalistin Avery ermittelt auf eigene Faust. Denn für sie steht fest, dass der lange zurückliegende Mord an einer jungen Frau in Verbindung steht mit dem erschütternden Tod ihres Vaters. Auch der attraktive Rechtsanwalt Hunter, der durch Avery endlich wieder erfährt, was Liebe ist, glaubt daran. Als erneut die grausam zugerichtete Leiche einer jungen Frau gefunden wird, kommen sie der schrecklichen Wahrheit auf die Spur. Und geraten ins Visier des Mörders.


  • Erscheinungstag: 01.06.2011
  • Seitenanzahl: 448
  • ISBN/Artikelnummer: 9783862780587
  • E-Book Format: ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Schweigen kann die grausamste Lüge sein.

Robert Louis Stevenson

PROLOG

Cypress Springs, Louisiana,

Donnerstag, 17. Oktober 2002,

3 Uhr 30, morgens.

Der, den sie Vollstrecker nannten, wartete geduldig. Die Frau würde bald kommen, das wusste er. Er hatte sie beobachtet, hatte ihren Tagesablauf und ihre Gewohnheiten ausgekundschaftet. Und die der Nachbarn natürlich auch.

Heute Nacht würde sie den Preis für Unmoral kennenlernen.

Sein Blick wanderte über das abgedunkelte Schlafzimmer. Auf dem Flechtteppich lag überall Kleidung verstreut herum. Die Kommode verunzierte ein Sortiment an Kosmetiktiegeln und Fläschchen, leeren Diätcola- und Miller Lite-Dosen sowie Kaugummi- und Schokoriegelpapieren. Aus dem überquellenden Aschenbecher fielen bereits die Zigarettenkippen.

Hure und auch noch Schlampe.

Resignation und Ekel erfüllten ihn. Dass heutzutage nur noch wenige bis zur Hochzeit mit der körperlichen Liebe warteten, damit konnte er leben. Er hatte Verständnis für körperliches Verlangen.

Aber Exzesse, wie diese Frau sie trieb, wurden in Cypress Springs nicht geduldet. Die Sieben hatten abgestimmt – das Urteil war einstimmig gewesen. Als ihr Anführer war es seine Aufgabe, der Frau die Warnung zu überbringen.

Der Vollstrecker sah zur Nachttischuhr. Er wartete jetzt schon fast eine Stunde. Lange konnte es nicht mehr dauern. Heute Nacht war sie in CJs Bar, im Westteil der Stadt, das Lieblingslokal der notorischen Partygänger. Ihr Begleiter war ein gewisser DuBroc. Wie üblich, waren sie anschließend zu ihm gegangen. Soweit der Vollstrecker wusste, war dies der erste Fehltritt von DuBroc. Man würde ihn ebenfalls beobachten und notfalls verwarnen müssen.

Vom Eingang kam das Geräusch eines sich öffnenden Schlosses. Die Tür ging auf und fiel klickend wieder zu. Er schauderte aus Abscheu vor dem Unvermeidlichen. Er war kein Raubtier, wie einige ihn bezeichnen würden. Raubtiere suchten nach Kranken und Schwachen und töteten aus Selbsterhaltungstrieb oder aus einer abartigen Befriedigung heraus.

Er war weder ein blutrünstiges Monster noch ein Sadist.

Nein, er war ein Ehrenmann, gottesfürchtig und gesetzestreu. Ein Patriot.

Aber genau wie die anderen Mitglieder der Sieben wurde er zu verzweifelten Maßnahmen getrieben, um zu schützen und zu verteidigen, was ihm lieb und teuer war.

Frauen wie diese besudelten die Gemeinschaft. Sie trugen zu dem moralischen Verfall bei, der sich in der Welt ausbreitete.

Natürlich nicht nur sie. Ebenso alle, die exzessiv tranken, die logen, betrogen und stahlen, alle, die nicht nur die von den Menschen aufgestellten Gesetze brachen, sondern auch die göttlichen.

Die Gruppe der Sieben war gegründet worden, um diesem Frevel Einhalt zu gebieten. Für den Vollstrecker und seine sechs Generäle ging es nicht vorrangig um die Bestrafung der Sünder, sondern um die Bewahrung des Lebensstils, den Cypress Springs seit über hundert Jahren pflegte. In dieser Stadt konnte man nachts noch sicher über die Straßen gehen, hier war Nachbarschaftshilfe lebendig und Familienwerte waren mehr als von Politikern abgedroschene Phrasen.

Ehrlichkeit, Integrität, die goldenen Sittenregeln der Bibel, all das war lebendige Praxis in Cypress Springs. Die Sieben hatten es sich auf die Fahnen geschrieben, dies zu erhalten.

Der Vollstrecker verglich gern individuelle Unmoral mit der Ausbreitung einer Infektion; einmal im Körper, vermehrten sich die Erreger und taten ihr zerstörerisches Werk. Genauso wirkte die Unmoral Einzelner auf ein Gemeinwesen. Unzucht breitete sich aus und zerstörte es. Seine Aufgabe war es, dafür zu sorgen, dass es nicht dazu kam.

Der Vollstrecker lauschte angestrengt. Die Frau summte leise auf dem Weg zum Schlafzimmer, das im hinteren Teil der Wohnung lag. Ihre hörbare Zufriedenheit widerte ihn an.

Vorsichtig stand er auf und bewegte sich auf die Tür zu. Die Frau trat ein. Er packte sie von hinten, riss sie an seine Brust und bedeckte ihren Mund mit einer behandschuhten Hand, um sie am Schreien zu hindern. Sie roch nach billigem Parfum, Zigaretten und Sex.

„Elaine St. Claire“, sagte er dicht an ihrem Ohr, die Stimme durch die Skimaske gedämpft, „du wurdest verurteilt und für schuldig befunden, zum moralischen Verfall dieser Gemeinde beizutragen. Du bist schuldig des Versuchs, einen Lebensstil zu zerstören, der seit über hundert Jahren existiert. Dafür musst du büßen.“

Er zwang sie, zum Bett zu gehen. Sie wehrte sich, jedoch kläglich schwach – eine Maus, die sich einem Berglöwen widersetzt.

Er wusste, was sie dachte – dass er sie vergewaltigen wollte. Aber eher würde er sich kastrieren, als sich mit so einer abzugeben. Außerdem, was wäre das schon für eine Strafe oder Warnung?

Nein, er hatte etwas sehr viel Denkwürdigeres für sie im Sinn. Einen Schritt vor dem Bett blieb er stehen. Die Hand noch auf ihrem Mund, zwang er sie, hinabzublicken auf die Matratze, um das Geschenk anzusehen, das er ihr gemacht hatte.

Er hatte es aus einem Baseballschläger hergestellt, aus einem kleinen, wie sie von Fans im Souvenirladen des Stadions gekauft werden, und ihn mit einer Art Stachelhaut aus einer platt geklopften Coladose ummantelt, wofür er Diätcola gewählt hatte, ihr Lieblingsgetränk. Schwierig war es allerdings gewesen, die Klinge in die runde Spitze einzufügen.

Er konnte genau den Moment bestimmen, als sie das Instrument sah. Sie erstarrte vor Entsetzen. Panik vor dem Unvorstellbaren erfasste sie.

„Für dich, Elaine“, flüsterte er an ihrem Ohr. „Da du so gerne vögelst, besteht deine Strafe darin, dir zu geben, was du so sehr magst.“

Sie wich zurück, an ihn gepresst. Ihre Panikreaktion erfreute ihn, und er lächelte, wobei sich die Skimaske über seinem Mund spannte.

Er hatte fast Mitleid mit ihr, aber nur fast. Sie hatte sich ihr Schicksal selbst zuzuschreiben.

„Damit kann ich dich aufschneiden. Elaine“, fuhr er fort und senkte die Stimme. „Von innen, Elaine. Es wird unerträglich. Massive Blutungen führen zum Schock, dann zum Koma und schließlich zum Tod. Und du wirst beten, dass der Tod dich rasch holt.“

Wehrlos stieß sie einen hohen Laut des Entsetzens aus.

„Hättest du geglaubt, dass man zu Tode gevögelt werden kann, Elaine? Möchtest du das?“

Sie wehrte sich, da er sie näher heranführte. „Stell dir vor, wie es sich anfühlt. Denk an den Schmerz und die Hilflosigkeit. Du wirst wissen, dass du stirbst, und den Tod herbeisehnen.“ Er presste den Mund an ihr Ohr. „Aber so schnell geht es nicht. Vielleicht hast du Glück und wirst bewusstlos, aber ich könnte dich wach halten. Es gibt Möglichkeiten. Du wirst um Gnade winseln und um ein Wunder beten. Aber es wird keines geschehen. Kein Held eilt herbei, um dich zu retten, niemand wird deine Schreie hören.“

Sie zitterte so heftig, dass er sie halten musste, damit sie nicht zusammenbrach. Tränen liefen ihr über die Wangen.

„Dies ist die einzige Warnung“, fuhr er fort. „Verlass Cypress Springs sofort und ohne Aufsehen. Rede mit niemandem, nicht mit Freunden, nicht mit deinem Arbeitgeber oder Vermieter. Wenn du mit jemandem sprichst, wirst du getötet. Die Polizei kann dir nicht helfen, also wende dich nicht an sie. Tust du es doch, wirst du getötet. Wenn du bleibst, wirst du getötet. Dein Tod wird schrecklich sein. Das verspreche ich dir.“

Er ließ sie los, und sie sackte als Häufchen Elend zu Boden. Er blickte auf ihren zitternden Körper hinab. „Wir sind viele, und wir beobachten dich ständig. Hast du das verstanden, Elaine St. Claire?“

Da sie nicht antwortete, griff er ihr ins Haar und riss ihren Kopf hoch, damit sie ihn ansah. „Hast du verstanden?“

„J… ja“, stammelte sie flüsternd. „Alles … ich mache alles.“

Er verzog den Mund zu einem schwachen Lächeln. Meine Generäle werden erfreut sein.

Er ließ sie los. „Kluges Mädchen, Elaine. Vergiss diese Warnung nicht. Du bist jetzt Herrin deines Schicksals.“

Der Vollstrecker nahm das Tatwerkzeug an sich und ging davon. Als er die Tür schloss, hallten ihre Schluchzer durch die Wohnung.

1. KAPITEL

Cypress Springs, Louisiana,

Mittwoch, 5. März 2003,

14 Uhr 30.

Avery Chauvin parkte ihren gemieteten Geländewagen vor Rauches „Dry Goods Store“ und stieg aus. Eine feuchte Brise strich ihr über den verschwitzten Nacken und zerzauste das kurze schwarze Haar, während sie die Main Street hinuntersah. Rauches Laden lag immer noch an der begehrten Ecke von Main und First Street. Das Azalea Cafe schrie immer noch nach einem frischen Anstrich, die Kreisbank war noch nicht von einem großen Bankenkonsortium geschluckt worden, und der Stadtplatz, an dem diese Häuser lagen, war so hübsch und schattig wie eh und je, und die Laube in seiner Mitte von erstaunlichem Weiß.

In ihrer Abwesenheit hatte sich Cypress Springs kein bisschen verändert. Wie konnte das sein? Ihr kam es vor, als wären die zwölf Jahre, seit sie zur Louisiana State University in Baton Rouge gegangen und nur an den Wochenenden heimgekehrt war, nichts als ein Traum gewesen. Als wäre ihr Leben in Washington, D.C., noch eine Zukunftsfantasie.

Dann würde allerdings ihre Mutter noch leben, und der schwere Schlaganfall, den sie erlitten hatte, fände erst in elf Jahren statt. Und ihr Vater …

Schmerz über den Verlust überwältigte sie erneut. Sie hörte die Stimme ihres Vaters, leicht verzerrt durch den Anrufbeantworter.

„Avery, Liebes, hier ist Dad. Ich hatte gehofft … ich muss mit dir reden. Ich hatte gehofft …“ Pause. „Da gibt es etwas … ich versuche es später noch mal. Mach’s gut, Kleines.“

Wenn sie doch nur an den Apparat gegangen wäre. Wenn sie sich nur die Zeit genommen hätte, mit ihm zu reden. Ihr Artikel hätte warten können. Der Kongressabgeordnete, der endlich reden wollte, hätte warten können. Ein paar Minuten. Ein paar Minuten nur, die vielleicht alles verändert hätten.

Ihre Gedanken eilten zum Morgen danach. Buddy Stevens, Polizeichef von Cypress Springs, ein Freund der Familie und lebenslang der beste Freund ihres Vaters, hatte sie angerufen.

„Avery, hier ist Buddy. Ich habe … ich habe schlechte Nachrichten, kleines Mädchen. Dein Dad, er ist …“

Tot. Ihr Dad war tot. In der Zeit zwischen dem Anruf bei ihr und dem nächsten Morgen hatte er sich umgebracht. Er war in die Garage gegangen, hatte sich mit Diesel übergossen und angezündet.

Wie konntest du so etwas tun, Dad? Warum hast du es getan? Du hast nicht mal gesagt …

Das kurze Aufheulen einer Polizeisirene unterbrach sie in ihren Gedanken. Avery drehte sich um. Eine Limousine des Bezirkssheriffs von West Feliciana rollte hinter ihren Blazer Geländewagen und hielt an. Ein Officer stieg aus und kam auf sie zu.

Avery erkannte den großen schlaksigen Mann an Gang und Körperhaltung. Matt Stevens, Freund aus Kindertagen, ihre Flamme in der High School, der Junge, den sie zurückgelassen hatte, um ihren Traum vom Journalismus zu verwirklichen. Seit damals hatte sie Matt nur wenige Male gesehen. Zuletzt bei der Beerdigung ihrer Mutter vor fast einem Jahr. Buddy musste ihm erzählt haben, dass sie kommen würde.

Grüßend hob sie eine Hand. Immer noch attraktiv, dachte sie, als er näher kam. Immer noch der begehrteste Fang im weiten Umkreis. Aber vielleicht gebührte ihm dieser Titel nicht mehr, denn Matt könnte inzwischen gebunden sein.

Er blieb mit ernster Miene vor ihr stehen. „Schön, dich zu sehen, Avery.“

Sie sah ihr Spiegelbild in den Gläsern seiner Sonnenbrille. Sie war kleiner, als eine erwachsene Frau sein sollte, und ihr elfenhaftes Aussehen wurde durch den kurzen Haarschnitt und die großen dunklen Augen noch unterstrichen.

„Schön, dich zu sehen, Matt.“

„Das mit deinem Dad tut mir Leid. Ich fühle mich ganz schrecklich, wenn ich dran denke, wie alles gekommen ist. Einfach schrecklich.“

„Danke. Ich … ich bin dir und Buddy sehr verbunden, dass ihr euch um Dads …“ Die Rührung überwältigte sie, doch sie zwang sich, weiter zu reden. Sie wollte nicht zusammenzubrechen. „… um Dads Überreste gekümmert habt.“

„Das war das Mindeste, was wir tun konnten.“ Matt wandte kurz den Blick ab und sah sie dann bedrückt wieder an. „Hast du deine Cousins in Denver erreicht?“

„Ja“, erwiderte sie mit dem Gefühl des Verlorenseins. Ein paar entfernt wohnende Cousins, das war alles, was ihr an Familie geblieben war.

„Ich habe ihn auch geliebt, Avery. Ich wusste, dass er seit dem Tod deiner Mutter … zu kämpfen hatte, aber ich kann immer noch nicht glauben, dass er es getan hat. Ich denke immer, ich hätte erkennen müssen, wie schlecht es ihm ging. Ich hätte stärker darauf achten müssen, wie er sich fühlte.“

Tränen stiegen ihr in die Augen und liefen ihr über die Wangen. Ich bin seine Tochter. Ich bin die Schuldige. Ich hätte es erkennen müssen.

Matt streckte ihr eine Hand hin. „Scheu dich nicht zu weinen, Avery.“

„Nein, ich habe schon …“ Sie räusperte sich, um Fassung ringend. „Ich muss die … Beisetzung organisieren. Führen die Gallaghers noch …“

„Ja. Danny hat das Geschäft von seinem Vater übernommen. Er erwartet deinen Anruf. Dad hat ihm gesagt, dass du irgendwann heute eintriffst.“

Sie deutete zum Polizeiwagen. „Du bist außerhalb deines Zuständigkeitsbereichs.“

Der Sheriff war für alle nicht zum Stadtgebiet gehörenden Teile des Bezirks zuständig. Die polizeilichen Aufgaben innerhalb der Ortsgrenzen von Cypress Springs hingegen waren Sache des Police Departments.

Matt zog einen Mundwinkel hoch. „Schuldig im Sinne der Anklage. Ich bin in der Gegend herumgefahren, weil ich dich erwischen wollte, ehe du zum Haus fährst.“

„Ich war auf dem Weg dahin. Ich habe nur angehalten, weil …“ Sie verstummte, als sie merkte, dass sie eigentlich keinen Grund gehabt hatte anzuhalten. Sie war lediglich einer Laune gefolgt.

Er schien zu verstehen. „Ich begleite dich.“

„Das ist wirklich lieb von dir, Matt, aber nicht nötig.“

„Da bin ich anderer Ansicht.“ Als sie wieder etwas einwenden wollte, schnitt er ihr das Wort ab. „Es sieht schlimm aus, Avery. Ich finde, du solltest nicht allein sein, wenn du es siehst. Ich folge dir“, fügte er mit rauer Stimme hinzu. „Ob du willst oder nicht.“

Avery sah ihm einen Moment in die Augen, nickte stumm, wandte sich ab und stieg in ihren Geländewagen. Sie ließ den Motor an und setzte zurück auf die Main Street. Während sie die Dreiviertelmeile zu dem alten Wohnviertel fuhr, in dem sie aufgewachsen war, atmete sie immer wieder tief durch.

Ihr Vater hatte den Zeitpunkt seiner Tat gut gewählt – mitten in der Nacht, wenn es weniger wahrscheinlich war, dass die Nachbarn das Feuer sahen oder rochen. Laut Brandexperten hatte er Diesel benutzt, offenbar weil Diesel selbst brannte, im Gegensatz zu Benzin, dessen Dämpfe entflammten.

Ein Nachbar hatte auf seiner frühmorgendlichen Joggingtour die noch qualmende Garage entdeckt. Nachdem er vergeblich versucht hatte, ihren Vater zu alarmieren, von dem er annahm, dass er schlafend im Bett lag, hatte er die Feuerwehr gerufen. Der staatliche Brandsachverständige war hinzugezogen worden, der wiederum holte den Gerichtsmediziner, der dann die Polizei von Cypress Springs informierte. Letztlich war ihr Vater durch seinen Gebissabdruck identifiziert worden.

Weder die Autopsie noch die Spurensicherung am Tatort hatten Hinweise auf Fremdverschulden ergeben. Außerdem ließen sich keine Motive für einen Mord entdecken. Dr. Phillip Chauvin war allgemein beliebt gewesen und respektiert worden. Damit erklärte die Polizei seinen Tod offiziell zum Selbstmord.

Keine Mitteilung, kein Abschiedsbrief.

Wie konntest du so etwas tun, Dad? Warum?

Avery erreichte ihr Elternhaus, das in den 1920er Jahren im kanadischen Stil erbaut worden war, und bog in die Zufahrt. Der Rasen musste gemäht werden, die Beete gejätet und die Büsche getrimmt. Obwohl es noch früh war im Jahr, hatten die Azaleen zu blühen begonnen. Bald würden die Beete rings ums Haus in einer Sinfonie von Pinktönen erstrahlen, von eisigem Blassrosa bis zu tiefem Rosarot.

Ihr Vater hatte diesen Garten geliebt und ganze Wochenenden darin gewerkelt und gepflanzt. Jetzt wirkte alles verloren, überwuchert und vernachlässigt.

Avery runzelte die Stirn. Ihr Vater hatte sich offenbar schon lange nicht mehr um den Garten gekümmert. Länger jedenfalls als die zwei Tage, die seit seinem Tod vergangen waren.

Das war ein weiterer Hinweis auf seine Depression. Wie hatte ihr nur entgehen können, wie niedergeschlagen er war? Warum hatte sie während ihrer häufigen Telefonate nichts gemerkt?

Matt hielt hinter ihr an. Erneut atmete sie tief durch und stieg aus.

Er kam mit ernster Miene zu ihr. „Bist du wirklich bereit?“ „Habe ich eine Wahl?“

Sie wussten beide, dass dem nicht so war, und gingen die gewundene Zufahrt hinauf. Die zurückgesetzt liegende Garage duckte sich als eigenständiges Gebäude hinter das Haupthaus. Ein überdachter Gang verband beides miteinander.

Im Näherkommen wurde der Geruch nach Feuer intensiver – nicht nur nach verbranntem Holz, sondern auch nach verkohltem Fleisch und verkohlten Knochen. Als sie um die Hausecke bogen, erkannte Avery einen großen, unregelmäßigen schwarzen Fleck auf der Tür.

„Die Hitze vom Feuer“, erklärte Matt. „Sie hat im Innern noch mehr gewütet. Es grenzt an ein Wunder, dass das Gebäude nicht ganz eingestürzt ist.“

Vor etwa sechs Jahren hatte sie für die Tribune über eine Reihe von Bränden im Gebiet von Chicago berichten müssen. Wie sich seinerzeit herausstellte, war der Brandstifter der Sohn eines Feuerwehrmannes gewesen, der seinen alten Herrn für den Rauswurf aus dem Elternhaus bestrafen wollte. Leider hatte die Polizei ihn erst gefangen, nachdem er für den Tod von sechs unschuldigen Menschen – darunter ein Kind – verantwortlich gemacht werden konnte.

Avery erreichte mit Matt die Garage und wappnete sich vor dem, was ihr bevorstand. Durch ihre Recherchen wusste sie, wie grausam Tod durch Verbrennen war.

Matt führte sie zur Seitentür, öffnete sie, und sie traten ein. Zwei Dinge sprangen Avery geradezu an: der intensive Geruch und eine zwanghafte Vorstellung von den letzten Minuten ihres Vaters. Sie stellte sich seine Schreie vor, als die Flammen ihn einschlossen und seine Haut zu verbrennen begann. Avery schlug eine Hand vor den Mund, den Blick auf den großen verkohlten Fleck am Betonboden gerichtet – die Stelle, an der ihr Vater bei lebendigem Leib verbrannt war.

Ein so ausgeführter Selbstmord war kein bloßer Akt der Verzweiflung, sondern des Selbsthasses.

Sie begann zu zittern. Ihr wurde schwindelig, und die Beine drohten ihr den Dienst zu versagen. Rasch wandte sie sich ab und lief hinaus zu den Azaleenbüschen mit ihren aufplatzenden Knospen. Vornübergebeugt kämpfte sie gegen die Übelkeit an, um nicht zusammenzubrechen.

Matt kam zu ihr und legte ihr eine Hand auf den Rücken.

Avery fragte gequält: „Wie konnte er so etwas tun, Matt?“ Sie warf ihm über die Schulter einen Blick zu, die Augen voller Tränen. „Schlimm genug, dass er sich das Leben genommen hat, aber auf diese Weise? Die Schmerzen müssen doch unerträglich gewesen sein.“

„Ich weiß nicht, was ich dazu sagen soll“, erwiderte er sanft. „Ich habe keine Erklärung dafür. Aber ich wünschte, ich hätte eine.“

Sie straffte sich und flüchtete sich in Zorn und Verleugnung. „Mein Vater liebte das Leben. Er schätzte es hoch. Er war Arzt, um Himmels willen! Er hat sich ganz dem Bewahren von Leben gewidmet.“

Da Matt schwieg, fügte sie heftig hinzu: „Er war stolz auf sich und auf das, was er tat. Stolz auf seinen Lebensweg. Aber der Mann, der das da getan hat, hasste sich. Das war nicht mein Dad.“ Sie wiederholte es mit verzweifeltem und klagendem Unterton. „Das war nicht mein Dad, Matt!“

„Avery, du warst nicht …“ Er brach ab und wandte unbehaglich den Blick ab.

„Was, Matt? Was war ich nicht?“

„Nicht viel hier gewesen.“ Er las die Wirkung seiner Worte in ihrem Mienenspiel ab, nahm ihre Hände und hielt sie fest. „Dein Dad war schon eine Weile nicht mehr er selbst. Er hatte sich von allen zurückgezogen und blieb tagelang im Haus. Wenn er herauskam, sprach er kein Wort. Er ging auf die andere Straßenseite, um Gesprächen auszuweichen.“

Wie ist es möglich, dass ich davon nichts gewusst habe? „Wann?“ fragte sie bedrückt. „Wann fing das an?“

„Ich glaube, etwa um die Zeit, als er seine Praxis aufgab.“

Kurz nach Mutters Tod.

„Warum hat mich niemand informiert? Warum …“ Sie verstummte und presste die bebenden Lippen fest zusammen.

Matt drückte ihr die Hände. „Die Veränderung geschah nicht über Nacht. Zunächst wirkte er nur abwesend. Oder als brauche er Zeit zum Trauern, allein, nur für sich selbst. Erst in letzter Zeit begannen die Leute zu reden.“

Avery schaute zu dem überwucherten Garten ihres Vaters. Kein Wunder, dachte sie.

„Es tut mir Leid, Avery. Uns allen tut es sehr Leid.“

Sie wandte sich von ihrem alten Freund ab und kämpfte mit den Tränen.

Doch sie verlor den Kampf.

„Oh mein Gott, Avery.“ Matt nahm sie in die Arme und zog sie an sich. Verzweifelt schmiegte sie sich an, legte das Gesicht an seine Schulter und weinte hemmungslos.

Er hielt sie ein wenig linkisch und steif, tätschelte ihr die Schulter und raunte Tröstliches, was sie durch ihr hemmungsloses Schluchzen nicht verstand.

Allmählich ließ die Tränenflut nach und versiegte schließlich ganz. Verlegen löste sich Avery von ihm. „Entschuldige. Ich … ich dachte, ich könnte damit umgehen.“

„Sei nachsichtig mit dir. Ehrlich gesagt, wenn du damit umgehen könntest, würde ich mir Sorgen um dich machen.“

Schon wieder stiegen ihr Tränen in die Augen, und sie hielt eine Hand vor die Nase. „Ich brauche ein Taschentuch. Entschuldige mich.“

Avery ging zu ihrem Auto und merkte, dass Matt ihr folgte. Nach kurzem Suchen fand sie in der Tasche ein zerknülltes Kleenex, putzte sich die Nase, wischte die Augen trocken und wandte sich wieder Matt zu. „Ich weiß nicht, wie mir entgehen konnte, dass es so schlecht um Dad stand. Bin ich ein solcher Egomane?“

„Keiner von uns wusste, wie es um ihn stand“, tröstete er sie leise, „und wir haben ihn jeden Tag gesehen.“

„Aber ich bin seine Tochter. Ich hätte es erkennen müssen – an seiner Stimme, an dem, was er sagte oder auch nicht sagte.“

„Du bist nicht schuld, Avery.“

„Nein?“ Sie merkte, wie ihr die Hände zitterten, und schob sie in die Hosentaschen. „Trotzdem frage ich mich, ob er noch leben würde, wenn ich in Cypress Springs geblieben wäre. Wenn ich wenigstens nach Moms Tod häufiger hier gewesen wäre, wäre er vielleicht nicht depressiv geworden. Wäre ich doch nur ans Telefon …“ Sie brach den Satz ab, unfähig, die Worte auszusprechen, und sah Matt in die Augen. „Es tut so weh.“

„Quäl dich nicht mit Schuldgefühlen. Du kannst nichts ungeschehen machen.“

„Das ist leider wahr“, bestätigte sie voller Bitterkeit. „Ich habe meinen Dad über alles geliebt, und doch bin ich seit dem College nur wenige Male nach Haus gekommen. Auch nach Moms unerwartetem Tod bin ich nicht öfter hier gewesen, obwohl es mich hätte wachrütteln müssen, dass Mom und ich nicht mehr dazu gekommen sind, unsere Probleme zu bereinigen.“

Er antwortete nicht, und sie fuhr fort: „Damit werde ich wohl leben müssen, was?“

„Nein“, korrigierte er, „du musst nur daraus lernen. Es kommt darauf an, was du in Zukunft tust, nicht was du getan hast.“

Eine Gruppe Teenager rumpelte in einem Pick-up vorüber, und ihr lautes Lachen löste die Spannung des Augenblicks. Dem Pick-up folgte eine weitere Teenagergruppe in einem gelben Kabrio mit offenem Verdeck.

Avery blickte auf ihre Uhr. Halb vier. Die High School schließt noch zur selben Zeit wie früher.

Seltsam, wie sich manche Dinge dramatisch verändern und andere gar nicht.

„Ich sollte wieder an die Arbeit gehen. Alles okay mit dir?“

Sie nickte. „Danke, dass du den Babysitter gespielt hast.“

„Gern geschehen.“ Matt ging auf sein Auto zu, blieb jedoch noch einmal stehen und sah zu ihr zurück. „Fast hätte ich es vergessen. Mom und Dad erwarten dich heute Abend zum Dinner.“

„Heute Abend? Aber ich bin doch gerade erst angekommen.“

„Eben drum. Mom und Dad würden auf keinen Fall zulassen, dass du den ersten Abend allein zu Haus verbringst.“

„Aber …“

„Du bist hier nicht mehr in der Großstadt. Hier kümmern sich die Menschen umeinander. Außerdem gehörst du zur Familie.“

Zuhause. Familie. In diesem Moment waren das wunderschöne Worte. „Ich komme. Leben sie immer noch auf der Ranch?“ fragte sie und bezog sich mit dem Spitznamen auf das weitläufige Wohnhaus der Stevens, das im Ranchstil erbaut worden war.

„Natürlich. Dass in Cypress Springs alles bleibt, wie es war, darauf kann man sich verlassen.“ Er ging weiter zu seinem Wagen, öffnete die Tür und sah noch einmal zu ihr hin. „Ist sechs Uhr zu früh?“

„Nein, das passt genau.“

„Bestens.“ Er stieg in die Limousine, ließ den Motor an und setzte zurück. Auf der Hälfte der Zufahrt hielt er an und drehte das Fenster herunter. „Hunter ist wieder da“, rief er. „Ich dachte, das würde dich interessieren.“

Avery stand noch am selben Platz, als Matts Wagen längst verschwunden war. Hunter? dachte sie ungläubig. Matts Zwillingsbruder und der Dritte ihres Triumvirats. Er war wieder in Cypress Springs? Als sie zuletzt von ihm gehört hatte, war er Partner in einer angesehenen Anwaltskanzlei in New Orleans gewesen.

Sie wandte sich von der Straße ab und ihrem Elternhaus zu. Irgendetwas war geschehen in jenem Sommer, als sie fünfzehn gewesen war und Matt und Hunter sechzehn. Zwischen den Brüdern hatte es ein Zerwürfnis gegeben. Danach war Hunter zunehmend unnahbar und heftig geworden. Er und Matt hatten oft gestritten, sogar handgreiflich. Das Haus der Familie Stevens, immer ein Hort der Wärme, des Lachens und der Liebe, wurde zum Kampfgebiet, als übertrüge sich die Feindseligkeit der Brüder auch auf alle anderen familiären Beziehungen.

Zunächst hatte sie angenommen, mit der Zeit würde alles wieder gut werden. Doch das war ein Trugschluss gewesen. Hunter ging aufs College und kehrte nicht zurück – nicht mal in den Ferien.

Seltsam, dass er nun wieder hier war, genau wie sie. Ein eigenartiger Zufall. Vielleicht würde sie heute Abend erfahren, was ihn hergeführt hatte.

2. KAPITEL

Punkt sechs fuhr Avery am Haus der Stevens vor. Buddy Stevens saß Zigarre rauchend auf der vorderen Veranda. Als er sie erblickte, erhob er sich schwerfällig. „Da ist ja mein Mädchen!“ rief er. „Gesund und munter heimgekehrt.“

Sie eilte ihm auf dem Gartenweg entgegen und wurde mit einer Umarmung empfangen. Dieser Bär von einem Mann mit seiner breiten Brust und der dröhnenden Stimme war schon, solange sie denken konnte, Polizeichef von Cypress Springs. Obwohl ein Mann des Gesetzes wie er im Buche stand und bei Straftaten in seiner Stadt so nachgiebig wie ein Betonblock, war der Buddy Stevens, den sie kannte, für sie nur ein großer lieber Teddybär. Ein harter Kerl mit einem butterweichen Kern und einem Herzen aus Gold.

Er drückte sie fest, schob sie auf Armlänge von sich und sah ihr traurig in die Augen. „Es tut mir so Leid, mein kleines Mädchen. So schrecklich Leid.“

Von neuerlicher Rührung übermannt, räusperte sie sich, um den Kloß im Hals loszuwerden, und schaffte es mit einiger Mühe. „Ich weiß, Buddy, mir tut es auch Leid.“

Er umarmte sie wieder. „Du bist zu dünn. Und du siehst müde aus.“

Sie wich zurück, voller Zuneigung für diesen Mann, der während ihrer Kindheit und Jugend ein zweiter Vater für sie gewesen war. „Hast du’s noch nicht gehört? Frauen können gar nicht dünn genug sein.“

„Großstadtgequatsche.“ Er drückte den Zigarrenstummel aus und führte sie mit sich ins Haus, den Arm fest um ihre schmalen Schultern gelegt. „Lilah!“ rief er. „Cherry! Seht mal, wen die Katze angeschleppt hat!“

Cherry, die jüngere Schwester von Matt und Hunter, erschien in der Küchentür. Die früher linkische Zwölfjährige war zu einer ungewöhnlich schönen Frau herangewachsen. Groß, dunkelhaarig und mit denselben Augen wie ihre Brüder, hatte sie die eleganten Gesichtszüge und die schöne Haut der Mutter geerbt.

Bei Averys Anblick brach sie in ein strahlendes Lächeln aus. „Du hast es geschafft! Wir haben uns furchtbare Sorgen gemacht.“ Sie ging zu Avery und umarmte sie. „So eine lange Reise sollte eine Frau nicht allein machen.“

Ein so altväterlicher Kommentar von einer Frau in den Zwanzigern verblüffte Avery sehr. Aber wie hatte Matt richtig bemerkt: Sie war nicht mehr in der Großstadt.

Avery erwiderte die Umarmung. „War halb so schlimm. Im Taxi nach Dullas, Non-Stop-Flug nach New Orleans und ein Mietwagen hierher. Das Schlimmste war, mein Gepäck zu bekommen.“

„Großes, zähes Karrieremädchen“, raunte Buddy und klang alles andere als erfreut. „Ich hoffe, du hattest ein Handy dabei.“

„Natürlich. Und immer voll geladen.“ Sie grinste ihn an. „Und was dich sicher freuen wird, ich hatte auch Pfefferspray in der Tasche.“

„Pfefferspray? Wofür ist das denn?“ Die Frage kam von Lilah Stevens.

„Selbstschutz, Mama“, erklärte Cherry und warf ihrer Mutter einen kurzen Blick über die Schulter zu.

Lilah, immer noch so straff und attraktiv, wie Avery sie in Erinnerung hatte, kam von der Küche herüber und nahm Averys Hände. „Selbstschutz? Also, so was brauchst du hier nicht.“ Sie sah Avery in die Augen. „Liebes, willkommen daheim. Wie geht es dir?“

Avery drückte ihr die Hände, während ihr Tränen in die Augen traten. „Es ging mir schon besser, danke.“

„Es tut mir so Leid, Liebes, ich kann dir gar nicht sagen, wie.“ „Ich weiß, und euer Mitgefühl tut gut.“

Im Nebenraum meldete sich eine Zeitschaltuhr. Lilah ließ Avery los. „Das ist der Kuchen.“

Die Düfte, die der Küche entströmten, waren himmlisch. Lilah Stevens war die beste Köchin der Gemeinde und räumte auf jedem Gemeindefest Preise ab. Avery erinnerte sich, als Kind bei jeder Gelegenheit nach einer Einladung zum Essen geangelt zu haben. „Was für ein Kuchen?“

„Erdbeer. Ich weiß, du magst lieber Pfirsich, aber es ist fast unmöglich, um diese Zeit anständige Pfirsiche zu bekommen. In Louisiana gibt es die ersten Beeren, und die sind köstlich, möchte ich hinzufügen.“

„Törichtes Weib“, unterbrach Buddy sie. „Das arme Kind ist erschöpft, und du brabbelst über Lebensmittel. Lass das Mädchen sich erst mal setzen.“

„Brabbeln?“ Sie drohte mit dem Zeigefinger. „Wenn du Kuchen möchtest, Mr. Stevens, musst du dich ins Azalea Cafe begeben.“

Er wirkte sofort zerknirscht. „Entschuldige, mein Herz. Du weißt, ich wollte dich nur necken.“

„Jetzt bin ich plötzlich dein Herz, was?“ Sie verdrehte die Augen und wandte sich wieder an Avery. „Da siehst du, was ich all die Jahre durchgemacht habe.“

Avery lachte. Sie hatte sich immer gewünscht, ihre Eltern könnten mehr wie Buddy und Lilah sein, offen einander zugetan und sich neckend. Nie in all der Zeit, die sie im Haus der Stevens’ verbracht hatte, war ihr ein böses Wort zwischen den beiden aufgefallen. Und wenn sie sich neckten, wie jetzt, spürte man ihre Zuneigung und den gegenseitigen Respekt.

Avery hatte sich vor allem gewünscht, ihre Mutter wäre so humorvoll und offen gewesen wie Lilah, die sich immer sichtbar wohl gefühlt hatte in der traditionellen Rolle als Hausfrau und Mutter.

Ihre Mutter schien beide Rollen stets abgelehnt zu haben. Obwohl sie es nie offen ausgesprochen hatte, waren ihr Frustration und Unzufriedenheit über den eigenen Platz im Leben anzumerken gewesen.

Nein, das stimmte nicht ganz. Ihre Mutter war frustriert gewesen über die wilde und trotzige Art ihres einzigen Kindes. Sie war enttäuscht gewesen über die Neigungen und Abneigungen der Tochter und deren Lebensentscheidungen.

Anscheinend hatte sie dem Maßstab ihrer Mutter nicht genügt.

Lilah Stevens hingegen hatte ihr nie das Gefühl gegeben, dass sie ihr nicht genügte. Im Gegenteil, Lilah hatte sie nicht nur geschätzt, sondern ihr sogar vermittelt, etwas Besonderes zu sein.

„Das sehe ich allerdings“, bestätigte Avery und ging auf den Scherz ein. „Es ist empörend.“

„Sehr richtig.“ Lilah deutete ihnen mit einer Handbewegung an, in den Wohnraum zu gehen. „Matt muss auch jeden Moment hier sein. Ich muss nur noch den Kartoffelbrei schlagen und das Baguette aufwärmen, dann können wir essen.“

„Kann ich helfen?“ fragte Avery.

Wie erwartet, lehnte Lilah entschieden ab. Buddy und Cherry führten sie in den Wohnraum. Erschöpft ließ Avery sich auf das Polstersofa fallen. Am liebsten hätte sie den Kopf zurückgelehnt, die Augen geschlossen und eine Woche nur geschlafen.

„Du hast dich kaum verändert“, sagte Buddy leise mit wehmütigem Unterton. „Immer noch das hübsche und lebenslustige Mädchen mit den strahlenden Augen wie an dem Tag, als du Cypress Springs verlassen hast.“

Damals war sie so verdammt jung gewesen und lächerlich naiv. Sie hatte sich nach Größerem gesehnt als Cypress Springs, nach etwas Besserem. Sie hatte gespürt, dass außerhalb dieser Kleinstadt etwas Wichtiges auf sie wartete. Und vermutlich hatte sie es gefunden: einen Job mit Prestige, Preise für ihre Artikel, beruflichen Respekt und ein beneidenswertes Gehalt.

Aber was zählte das jetzt noch? Sie würde mit Freuden alles anders machen, wenn sie dafür ihren Vater zurückbekäme.

Sie sah Buddy an. „Du wärst erstaunt, wie sehr ich mich verändert habe.“ Durch ein Lächeln nahm sie ihren Worten die Schärfe. „Und was ist mit dir? Abgesehen davon, dass du noch genauso umwerfend aussiehst wie früher. Bist du immer noch der gefürchtetste und respektierteste Gesetzesmann der Gegend?“

„Das weiß ich nicht“, erwiderte er leise. „Die Ehre gebührt wohl derzeit Matt.“

„Der Bezirkssheriff von West Feliciana geht nächstes Jahr in den Ruhestand“, fiel Cherry ein, „und Matt will sich für den Posten bewerben.“ Ihr Stolz war unüberhörbar. „Eingeweihte behaupten, dass er die Wahl mit einem erdrutschartigen Sieg gewinnen wird.“

Buddy nickte, sichtlich erfreut. „Mein Sohn, der Top Cop im Bezirk, stell dir das vor.“

„Eine regelrechte Polizistendynastie“, erwiderte Avery.

„Nicht mehr lange.“ Buddy nahm in einem Sessel Platz. „Die Pensionierung steht bevor. Wahrscheinlich hätte ich längst in den Ruhestand gehen sollen. Wenn ich einen Enkel hätte, den ich verwöhnen könnte …“

„Dad!“ warnte Cherry, „fang nicht wieder damit an.“

„Drei Kinder, und alles Enttäuschungen“, grummelte er. „Freunde von mir haben bereits ein halbes Dutzend Enkelchen. Das ist doch nicht richtig, oder?“ Er sah Avery an.

Sie hob lachend die Hände „Oh nein, auf die Debatte lasse ich mich nicht ein.“

Cherry formte mit dem Mund „danke“. Buddy schmollte, und Avery wechselte das Thema. „Ich kann mir gar nicht vorstellen, dass du irgendwann nicht mehr der Polizeichef bist. Cypress Springs ist dann nicht mehr dieselbe Stadt.“

„Irgendwann muss jede Generation für die nächste Platz machen. So sehr ich den Gedanken auch hasse, meine Zeit ist vorbei.“

Cherry ging mit einem verächtlichen Schnauben auf die Küche zu. „Ich hole mir ein Glas Wein. Möchtest du auch eines, Avery?“

„Sehr gerne.“

„Roten oder weißen?“

„Was da ist.“ Avery atmete aus, ließ den Kopf auf die Sofalehne sinken und schloss entspannt die Augen. Bilder der Kindheit tauchten auf, wie sie mit Matt und Hunter gespielt hatte, während die Eltern im Garten grillten. Buddy und Lilah, wie sie Fotos machten, als sie mit Matt zum Schulball gegangen war. Die beiden Familien unter dem Weihnachtsbaum. Liebevolle, tröstliche Erinnerungen.

„Schön, wieder zu Hause zu sein, was?“ sagte Buddy leise, als lese er ihre Gedanken.

Sie öffnete die Augen und sah ihn an. „Trotz allem, ja.“ Kurz wandte sie den Blick ab. „Ich wünschte, ich wäre früher heimgekehrt. Nach Moms Tod … hätte ich bleiben sollen. Wenn ich …“

Cherry kehrte mit dem Wein zurück und reichte Avery ein Glas mit blassgoldener Flüssigkeit. „Was hast du für Pläne?“

„Zuerst muss ich den Beisetzungsgottesdienst für Dad organisieren. Ich habe Danny Gallagher heute Nachmittag angerufen. Wir treffen uns morgen zum Lunch.“

„Wie lange bleibst du?“ Cherry saß am anderen Ende der Couch und schlug die Beine unter.

„Ich habe unbezahlten Urlaub von der Post genommen, weil ich einfach nicht weiß, wie lange es dauert, Dads Sachen durchzugehen und das Haus zum Verkauf bereitzumachen.“

„Tut mir Leid, dass ich zu spät komme.“

Avery blickte auf. Matt stand mit einem Blumenstrauß und leicht amüsiertem Blick in der Tür und sah sie an. Er hatte die Uniform gegen Jeans und ein weiches Karohemd getauscht.

„Ich habe Mom ein paar Blümchen mitgebracht. Ist sie in der Küche?“

„Du kennst doch Mom.“ Cherry ging zu ihm und gab ihm einen Kuss auf die Wange. „Dad hat sich bereits über den Mangel an Enkelkindern beklagt. Erinnere mich, dass ich das nächste Mal auch zu spät komme.“

Matt sah Avery grinsend an. „Freut mich, dass ich das versäumt habe. Obwohl ich zweifellos noch in den Genuss der Wiederholung komme.“

Buddy warf seinen Kindern finstere Blicke zu. „Keine Enkel und keinen Respekt.“ Er sah Richtung Küche. „Lilah, was haben wir bei diesen Kindern falsch gemacht?“

Lilah steckte den Kopf zur Tür herein. „Buddy, lass um Himmels willen die Kinder in Frieden.“ Sie wandte sich an ihren Sohn. „Hallo, Matt. Sind die für den Tisch?“

„Ja, Ma’am.“ Er schlenderte zu ihr, gab ihr einen Kuss auf die Wange und überreichte die Blumen. „Irgendwas riecht hier ganz vorzüglich.“

„Komm, hilf mir mit dem Braten.“ Sie wandte sich an ihre Tochter. „Cherry, würdest du die Blumen in eine Vase stellen?“

Während Avery die Szene verfolgte, überlegte sie, dass sie offiziell ein Teil dieser Familie hätte werden können. Alle hatten erwartet, dass sie eines Tages Matt heiratete.

Buddy unterbrach ihre Gedanken. „Hast du mal darüber nachgedacht, zu bleiben? Hier ist dein Zuhause, Avery. Du gehörst hierher.“

Sie musste sich überwinden, ihn anzusehen, nicht sicher, was sie erwidern sollte. Ja, sie war gekommen, sich um Familienangelegenheiten zu kümmern, aber auch, um für sich Klarheit zu finden -und inneren Frieden. Nicht nur wegen des Todes ihres Vaters, sondern auch in Bezug auf den eigenen Lebensweg.

Wenn sie ehrlich war, musste sie sich eingestehen, dass sie sich schon eine Weile treiben ließ, war weder glücklich noch unglücklich, eher leicht unzufrieden, aber ohne zu wissen, warum.

„Gehöre ich wirklich hierher, Buddy? Ich habe mir immer eingebildet, nach einer anderen Pfeife zu tanzen als die anderen.“

„Dein Dad glaubte, du gehörst hierher.“

Sofort brannten ihr Tränen in den Augen. „Er fehlt mir so sehr.“

„Ich weiß, kleines Mädchen.“ Einen Moment herrschte befangenes Schweigen. Buddy brach es schließlich. „Er hat den Tod deiner Mutter nie verwunden, vor allem die Art, wie sie starb. Er liebte sie so sehr.“

Auf dem Weg nach New Orleans, wo sie sich zum Einkaufsbummel und Essengehen mit einer Cousine treffen wollte, hatte sie am Steuer ihres Wagens einen Schlaganfall erlitten, war über den Highway geschleudert und gegen eine Steinwand geprallt.

Ein Geräusch von der Tür riss Avery aus ihren Gedanken. Lilah stand traurig da, Matt und Cherry hinter ihr. „Es war so schrecklich. Sie hatte mich noch am Abend, ehe sie losfuhr, angerufen. Sie hatte sich nicht wohl gefühlt und Phillip ihre Symptome geschildert, weil sie nicht sicher war, ob sie die Fahrt machen sollte. Phillip hatte sie gedrängt zu fahren. Sie habe nichts, was ein bisschen Tapetenwechsel nicht heilen könne, sagte er ihr. Ich glaube, er hat sich das nie verziehen.“

„Er machte sich Vorwürfe, dass er ihren Zustand nicht erkannt hat“, fügte Buddy leise hinzu. „Er glaubte, wenn er sich so sehr um seine Frau gekümmert hätte wie um seine Patienten, hätte er sie retten können.“

Avery faltete die zitternden Hände. „Das wusste ich nicht. Ich … er erwähnte, dass er sich verantwortlich fühlte, aber ich …“

Ich habe es vorgezogen, ihn zu beruhigen, es sei nicht seine Schuld gewesen, und bin fröhlich meiner Wege gezogen.

Matt kam zu ihr und legte ihr tröstend eine Hand auf die Schulter. „Es ist nicht deine Schuld, Avery, wirklich nicht.“

Sie legte ihre Hand auf seine, dankbar für den Trost. „Matt sagt, Dad hat sich seltsam verhalten und sich von allen zurückgezogen. Aber trotzdem … was hat ihn nur zu dieser Tat veranlasst?“

„Als ich hörte, wie er es gemacht hat, war ich nicht überrascht“, sagte Cherry. „Ich glaube, man kann jemanden so sehr lieben, dass man für diese Liebe etwas Unvorstellbares und Dramatisches tut.“

Ein unbehagliches Schweigen senkte sich auf die Gruppe. Avery wollte etwas erwidern, doch die aufsteigenden Tränen schienen sie fast zu ersticken.

Zum Glück wandte Buddy sich jetzt an Lilah. „Ist das Dinner fertig, mein Herz?“

„Ist es.“ Lilah stürzte sich geradezu auf die Gelegenheit, die Aufmerksamkeit auf das Alltägliche zu lenken. „Und es wird kalt.“

„Dann sollten wir gehen“, schlug Buddy vor.

Sie begaben sich ins Esszimmer und nahmen Platz. Buddy sprach das Gebet, und dann wurde wie immer bei den Stevens’ eine Reihe an Schüsseln und Platten von rechts nach links weitergereicht.

Avery aß, lobte das Essen, beteiligte sich an der Unterhaltung und war doch mit dem Herzen nicht dabei. Den anderen ging es nicht besser, obwohl sie sich alle Mühe gaben, eine ungezwungene Atmosphäre zu schaffen, um sie durch Normalität zu trösten.

Aber wie konnte irgendetwas je wieder normal sein? Früher hätten ihre Eltern mit am Tisch gesessen, und sie hätte tuschelnd und scherzend mit Matt und Hunter zusammengehockt.

Hunter fehlte ihr. Nur zu deutlich spürte sie seine Abwesenheit.

Hunter war der Intellektuellste von ihnen, obwohl nicht intelligenter als sein Bruder. Beide hatten die Schule mit Bestnoten bewältigt, ohne viel Zeit zum Lernen aufzuwenden.

Hunter mit seinem scharfen Verstand und dem sarkastischen Witz war unfähig zu den Albernheiten gewesen, denen sich andere hingegeben hatten. Oft genug war er die spöttische Stimme der Vernunft gewesen, wenn wieder mal ein Donnerwetter aufzog.

Dass er ein erfolgreicher Anwalt geworden war, hatte sie nicht überrascht. Mit seinem klugen Kopf und der spitzen Zunge hatte er den Gegnern zweifellos reihenweise Niederlagen beigebracht.

Als Lilah den Kuchen auftrug, brachte Avery Hunter ins Gespräch. „Matt hat mir erzählt, dass Hunter wieder nach Cypress Springs gezogen ist. Ich hatte gehofft, er wäre heute Abend auch hier.“

Es wurde still am Tisch. Avery blickte von einem zum anderen. „Tut mir Leid, habe ich etwas Falsches gesagt?“

Buddy räusperte sich. „Natürlich nicht, Kleines. Es ist nur so, dass Hunter in letzter Zeit einige Probleme hatte. Er hat seine Partnerschaft in der Anwaltskanzlei verloren. Soweit ich gehört habe, wurde er fast auch aus der Kammer ausgeschlossen. Vor etwa zehn Monaten ist er wieder hierher gezogen.“

„Ich weiß nicht, warum er sich die Mühe gemacht hat“, fügte Matt hinzu, „da er sich nie bei der Familie blicken lässt.“

Cherry machte ein finsteres Gesicht. „Ich wünschte, er wäre nicht zurückgekommen. Er hat das nur gemacht, um uns wehzutun.“

„Vorsicht, Cherry, das weißt du nicht“, widersprach Buddy.

„Natürlich weiß ich das. Wenn er ein richtiger Bruder und ein richtiger Sohn wäre, würde er für uns da sein. Stattdessen …“

Lilah sprang auf. Avery sah, dass sie den Tränen nahe war. „Ich hole den Kaffee.“

„Ich helfe dir.“ Cherry warf ihre Serviette auf den Tisch und stand mit angewiderter Miene ebenfalls auf. Sie sah Avery an. „Ehrlich gesagt, Hunter hat immer nur eines geschafft: uns das Herz zu brechen.“

3. KAPITEL

Das Gespräch über Hunter hatte die Stimmung verdorben, und der Rest des Abends verging im Schneckentempo. Lilahs Lächeln wirkte aufgesetzt. Cherrys Laune wurde mit jeder Minute schlechter, und Buddys Fröhlichkeit grenzte an Manie.

Nachdem der Kuchen gegessen und der Kaffee getrunken war, bedankte Avery sich und brach auf. Cherry und Lilah verabschiedeten sich im Esszimmer, und Buddy begleitete sie und Matt an die Tür.

Buddy umarmte sie. „Du hast uns alle sehr traurig gemacht, als du weggegangen bist, aber mich ganz besonders. Ich war der festen Überzeugung, dass du meine Tochter werden würdest.“

Avery erwiderte die Umarmung. „Ich liebe dich auch, Buddy.“

Matt brachte sie zu ihrem Wagen. „Eine schöne Nacht“, sagte sie leise und hob das Gesicht zum Himmel. „Diese Sterne, ich hatte ganz vergessen, wie viele es sind.“

„Der Abend hat mir sehr gefallen, Avery. Es war wie früher. Ich bin froh, dass du zurück bist. Du hast mir gefehlt.“

Sie schluckte trocken und gestand sich ein, dass auch er ihr gefehlt hatte. Genauer gesagt, ihr hatten Situationen wie diese gefehlt. Unter einem sternenübersäten Himmel mit ihm vor dem Haus seiner Eltern zu stehen, gab ihr ein Gefühl der Vertrautheit und Geborgenheit.

„Warum bist du fortgegangen, Avery? Dad hat Recht, du gehörst hierher, du bist eine von uns.“

„Warum bist du nicht mitgekommen?“ konterte sie. „Ich hatte dich gebeten, ja sogar angefleht, wenn ich mich recht entsinne.“

Matt hob eine Hand, als wolle er sie berühren, ließ sie aber wieder sinken. „Du hast dich immer nach mehr gesehnt, als Cypress Springs oder ich dir bieten konnten. Ich habe das nie verstanden, aber ich musste es akzeptieren.“

Sie wandte den Blick ab. Dass er die Wahrheit so nüchtern erkannt hatte, war ihr unangenehm. Sie wechselte das Thema. „Cherry und dein Dad sagten, dass du der aussichtsreichste Kandidat für die Wahl zum Bezirkssheriff im nächsten Jahr bist. Das überrascht mich nicht. Du hast immer gesagt, dir sei Großes bestimmt.“

„Aber unsere Definitionen von groß sind immer weit auseinander gegangen, oder?“ „Das ist nicht fair, Matt.“

„Fair oder nicht, es ist wahr. Du hast mir das Herz gebrochen.“

Sie sah ihm in die Augen. „Du mir meines auch.“

„Dann sind wir ja quitt. Ein gebrochenes Herz pro Person.“

Seine Bitterkeit schmerzte sie. „Matt, es war nicht deinetwegen. Es lag an mir. Ich habe mich nie …“

Sie wollte sagen, dass sie sich nie als Teil von Cypress Springs gefühlt hatte. Seit der Teenagerzeit wusste sie, dass sie nicht so war wie die anderen Mädchen hier. Aber das Argument erschien ihr jetzt unreif.

„Und was ist mit der Gegenwart, Avery? Was brauchst du jetzt, was willst du?“

Bedrängt durch seinen intensiven Blick, sah sie zur Seite. „Ich weiß es nicht. Aber ich will nicht dorthin zurück, woher ich gekommen bin, und das meine ich nicht geographisch.“

„Klingt ganz, als hättest du noch über einiges nachzudenken.“

Das ist eine gigantische Untertreibung. Sie wandte sich ihrem Geländewagen zu, schloss auf und drehte sich noch einmal zu Matt um. „Ich muss los. Ich schlafe schon fast im Stehen ein, und morgen wird ein schwieriger Tag.“

„Du könntest bei uns bleiben, das weißt du. Mom und Dad haben jede Menge Platz. Und sie würden dich gern aufnehmen.“

Sie war geneigt, das Angebot anzunehmen. Die Vorstellung, im Haus ihrer Eltern zu schlafen, nachdem ihr Vater … sie fürchtete, keinen Schlaf finden zu können.

Den Weg des geringsten Widerstandes zu gehen, wäre allerdings feige. Sie musste sich dem Selbstmord ihres Vaters stellen, und damit würde sie heute Nacht beginnen, indem sie in ihrem Elternhaus schlief.

Matt langte an ihr vorbei und zog ihr die Wagentür auf. „Immer noch so entsetzlich unabhängig, wie ich sehe, und störrisch wie ein Esel.“

Avery glitt hinter das Steuer, startete den Motor und sah Matt an. „Manche Leute würden das für einen Vorzug halten.“

„Klar doch, bei Eseln.“ Er beugte sich zu ihr vor. „Wenn du etwas brauchst, ruf mich an.“

„Mache ich. Danke.“ Er schlug die Tür zu. Sie fuhr rückwärts die steile Auffahrt hinunter, verließ das Viertel und schlug den Weg in das alte Stadtviertel ein, in dem sie aufgewachsen war.

Amüsiert dachte sie daran, wie sie ihre Eltern seinerzeit bekniet hatte, den Stevens’ in das neue Stadtviertel Spring Water zu folgen, in dem sie ein Haus gekauft hatten. Sie war begeistert gewesen von den weitläufigen Häusern im Ranchstil und von den Freizeiteinrichtungen: Pool, Tennisplatz und Clubhaus für Partys.

Was ihr damals so neu und außergewöhnlich erschienen war, sah sie heute nüchtern als billig gebaute Häuser im Zuckerbäckerstil, mit kleinen Grundstücken, damit auf dem gerodeten Gelände möglichst viele Parzellen ausgewiesen werden konnten.

Glücklicherweise hatten ihre Eltern sich geweigert, ihr Haus in unmittelbarer Nähe der Innenstadt und der Praxis ihres Vaters zu verlassen. Solide um 1920 gebaut, verfügte ihr Elternhaus über hohe Decken, Zypressenschnitzwerk und die Art von Charme, die es heutzutage nur für sehr viel Geld gab. Das ganze Viertel wirkte ein wenig antiquiert. Die Häuser lagen zurückgesetzt auf großen, schattigen Grundstücken an breiten Alleen mit Gaslaternen. Im Gegensatz zu anderen Orten, in denen der Innenstadtbereich als Folge von Kriminalität und dem Wegzug der weißen Bevölkerung verfiel, war der Stadtkern von Cypress Springs noch so gut erhalten wie zur Zeit seiner Erbauung.

Obwohl Louisiana hauptsächlich aus flachem Land bestand, schmiegte sich der Bezirk von West Feliciana an sanft geschwungene Hügel. Cypress Springs lag an diesen Hügeln. St. Francisville, die historische Stadt am Fluss mit ihren schönen Antebellum-Häusern, lag zwanzig Minuten südwestlich, Baton Rouge fünfundvierzig Minuten südlich und das French Quarter von New Orleans zwei Dreiviertelstunden südöstlich.

Außer dass es ein guter Ort war, um Kinder aufzuziehen, hatte Cypress Springs nichts, dessen es sich rühmen konnte. Als kleiner, ländlich geprägter Ort in den Südstaaten, der hauptsächlich von Viehwirtschaft und Kleingewerbe lebte, lag er zu weit von den Hauptverkehrsadern ab, um sich zu entwickeln.

Die Stadtväter mochten es so, wie Avery wusste. In der Jugend hatte sie ihren Dad, Buddy und deren Freunde darüber reden hören, dass man die Industrie mit ihren schädlichen Einflüssen draußen halten wollte. Cypress Springs sollte sauber bleiben. Sie erinnerte sich an den Aufschrei, als Charlie Weiner seine Farm an die „Old Dixie Food Corporation“ verkauft hatte, die auf dem Anwesen eine Konservenfabrik errichten wollte.

Avery fuhr verlassene Straßen entlang. Obwohl es noch nicht mal zehn Uhr war, hatte die Stadt bereits für die Nacht ihre Bürgersteige hochgeklappt. Welch ein Unterschied zu den Orten, an denen sie in den letzten zwölf Jahren gelebt hatte, wo es vierundzwanzig Stunden am Tag zu Verkehrsstaus kam, es nicht ratsam war, nachts allein auszugehen und die Menschen so nah aufeinander hockten, ohne dass ein Nachbar den anderen kannte.

So schön und grün Washington, D.C., auch war, es hielt keinem Vergleich mit der üppigen Schönheit West Felicianas stand. Hitze und Feuchtigkeit lieferten das ideale Klima für eine abwechslungsreiche Vegetation: Azaleen, Gardenien, Oliven, Kamelien und Fächerpalmen. Eichen mit massigen, knorrigen Ästen, die so schwer waren, dass sie den Boden berührten. Hundertjährige Magnolien, die im Mai so voller Blüten hingen, dass die Luft schwer war vom süßen, zitronenartigen Duft.

Es hatte eine Zeit gegeben, da hatte sie diesen Ort für hässlich gehalten. Nein, das stimmte nicht ganz, eher für eine schäbige und mickrige Kleinstadt.

Warum sah sie das heute anders? Avery bog in ihre Straße ein und in die Zufahrt des elterlichen Hauses. Sie parkte am Wegesrand, stieg aus und verriegelte den Wagen aus Gewohnheit, nicht aus Notwendigkeit.

Sie dachte noch einmal an Matts letzte Worte. Was wollte sie tatsächlich hier, wohin gehörte sie?

Die Schaukel quietschte, und eine Gestalt löste sich aus dem Schatten der überwucherten Olive am Ende der Veranda. Avery verlangsamte ihre Schritte.

„Hallo, Avery.“

Hunter. Erleichtert legte sie die Hand an die Brust und atmete aus. „Ich habe zu lange in der Großstadt gelebt. Du hast mich zu Tode erschreckt.“

„Diese Wirkung habe ich leider auf Leute.“

Sie lächelte zwar, erkannte jedoch den Wahrheitsgehalt seiner Bemerkung. Sein Gesicht lag halb im Schatten, die andere Hälfte wurde vom Verandalicht erhellt. In der schwachen Beleuchtung wirkten seine Züge hart und kantig, die Linien um Mund und Augen tief eingegraben. Der Schatten eines mehrere Tage alten Bartes verdunkelte zudem sein Kinn.

In Washington wäre sie auf die andere Straßenseite gegangen, um ihm auszuweichen.

Merkwürdig, wie unterschiedlich sich beide Brüder physisch entwickelt hatten. Obwohl sie zweieiige Zwillinge waren, war ihre Ähnlichkeit in der Kindheit geradezu unheimlich gewesen. Dass sie einmal nicht mehr das Spiegelbild des anderen sein würden, hätte sie sich damals nicht vorstellen können.

„Wie ich hörte, bist du zurück“, sagte er. „Offensichtlich.“

„Neuigkeiten verbreiten sich schnell.“

„Dies ist eine Kleinstadt. Die Leute müssen etwas zum Reden haben.“

Seine Veränderung hatte weniger mit der verstrichenen Zeit, als vielmehr mit der Summe der Ereignisse dieser Zeit zu tun. Die Schule der harten Schläge, dachte sie, der große Gleichmacher.

„Und ich bin ein Kind dieser Stadt.“

„Dann stimmt es also? Du bleibst für immer?“

„Das habe ich nicht gesagt.“

„So wird geredet. Ich habe mir schon gedacht, dass es nicht stimmt.“ Er zuckte die Achseln. „Aber man weiß ja nie.“

„Und das heißt?“ fragte sie und verschränkte die Arme vor der Brust.

„Bereite ich dir Unbehagen?“

„Nein, natürlich nicht.“ Verärgert über ihre Geste ließ sie die Arme wieder sinken. „Ich war heute Abend zum Dinner bei deinen Eltern.“

„Und Matt auch. Hab schon gehört.“

„Ich hatte erwartet, dich auch dort zu treffen.“

„Dann haben sie dir also erzählt, dass ich in Cypress Springs lebe?“

„Matt erwähnte es.“

„Und hat er dir auch erzählt, warum?“

„Nur, dass du ein paar Probleme hattest.“

„Netter Euphemismus.“ Er ließ den Blick über die Fassade ihres Elternhauses gleiten. „Tut mir Leid, das mit deinem Dad. Er war ein großartiger Mann.“

„Das denke ich auch.“ Plötzlich nervös geworden, klimperte sie mit ihren Autoschlüsseln und wollte ins Haus.

„Willst du mich nicht fragen?“

„Was?“

„Ob ich mit ihm gesprochen habe, ehe er starb.“

Die Frage verblüffte sie. „Was meinst du?“

„Das scheint mir doch eine klare Frage zu sein.“

„Okay. Hast du mit ihm gesprochen?“

„Ja. Er hat sich Sorgen um dich gemacht.“

„Um mich?“ Sie zog die Stirn in Falten. „Warum?“

„Weil deine Mutter gestorben ist, ehe ihr zwei eure Differenzen ausräumen konntet.“

Differenzen, dachte sie. Fasste man so lebenslange Kränkungen, Sehnsucht nach bedingungsloser mütterlicher Liebe und Zustimmung und daraus resultierende ständige Enttäuschungen zusammen? Sofort ging ihr eine Litanei an Maßregeln durch den Kopf, die sie über die Jahre von ihrer Mutter gehört hatte und die sich ihr ins Gedächtnis eingebrannt hatten.

„Avery, kleine Mädchen klettern nicht auf Bäume, bauen keine Forts und spielen nicht Cowboy und Indianer mit den Jungs. Sie tragen Schleifen und Rüschenkleider und keine abgeschnittenen Jeans und T-Shirts. Gute Mädchen planen ihr Leben damenhaft. Sie rennen nicht fort in die nächste Großstadt, um Zeitungsschreiberin zu werden. Sie werfen nicht einen guten Mann weg, um einem Traum nachzujagen.“

„Er dachte, du wärst vielleicht traurig darüber“, fuhr Hunter fort. „Sie war es jedenfalls. Sie hat immer bedauert, nicht ihren Frieden mit dir gemacht zu haben.“

„Hat er das gesagt?“ presste sie hervor.

Er nickte. Sie wandte den Blick ab und erinnerte sich, was sie ihrer Mutter entgegengeschleudert hatte, ehe sie zur Uni gegangen war.

„Tu nicht so liebevoll besorgt, Mutter! Du warst nie mit mir oder meinem Verhalten einverstanden. Ich war nie die Tochter, die du wolltest. Warum gibst du es nicht einfach zu?“

Ihre Mutter hatte es nicht zugegeben, und sie war abgereist, ohne dass der Vorwurf zwischen ihnen ausgeräumt worden wäre. Sie hatten nie mehr ein Wort darüber verloren, doch seither hatte es eine Kluft zwischen ihnen gegeben.

„Er dachte, das sei der Grund, warum du kaum noch nach Haus gekommen bist.“ Hunter zuckte die Achseln. „Interessant, dass du nie mit dem Leben deiner Mutter zurechtgekommen bist und er nicht mit ihrem Tod.“

Der letzte Satz ließ sie aufmerken. „Was soll das heißen, er ist nicht mit ihrem Tod zurechtgekommen?“

„Das ist doch wohl offensichtlich. So etwas nennt man Trauer.“

Sie merkte, dass er mit ihr spielte, und wurde wütend. „Und wann haben eure Unterhaltungen stattgefunden?“

Hunter zögerte einen Augenblick. „Wir haben uns oft unterhalten, dein Dad und ich.“

Avery spürte plötzlich die Belastungen der letzten beiden Tage – die Reise in das Fremde und doch so Vertraute. „Ich habe nicht mehr die Energie, mir deinen Mist anzuhören, selbst wenn ich wollte. Sobald du dich entschlossen hast, dich wie ein anständiger Mensch aufzuführen, kannst du mich ja aufsuchen.“

Lächelnd zog er einen Mundwinkel hoch. „Ich habe deine Frage von vorhin noch nicht beantwortet, als du mich nach meiner Meinung über das gefragt hast, was geredet wird. Ich glaube, du packst deinen alten Herrn in eine Kiste und haust, so schnell du kannst, wieder ab.“

Betroffen wich sie einen Schritt zurück. Warum war er so schroff, obwohl sie sich einmal sehr nahe gestanden hatten? Sie drängte sich an ihm vorbei, schloss die Tür auf und trat ein. Bevor sie die Tür hinter sich zuschlug, erhaschte sie einen Blick auf sein gezeichnetes Gesicht.

Hunter Stevens ist ein gebrochener Mann.

Zum Teufel mit ihm, dachte sie und schob den Riegel vor. Sie hatte mit ihren eigenen Problemen zu kämpfen.

4. KAPITEL

Hunter blickte auf die Reihe voller, ungeöffneter Flaschen: Bier, Wein, Whisky, Wodka. Alles Sünden der Vergangenheit, Nägel zu seinem Sarg.

Er behielt die Getränke, um sich zu beweisen, dass er ihnen widerstehen konnte. Damit tat er das genaue Gegenteil dessen, was die Anonymen Alkoholiker empfahlen. Vermutlich war er tief im Herzen ein Masochist.

Wenn er an Avery dachte, stieg Zorn in ihm hoch. Früher einmal waren sie die besten Freunde gewesen, er, Matt und Avery. Doch von einem bestimmten Zeitpunkt an geriet ihre Beziehung auf verrückte Weise aus den Fugen und sein Leben irgendwie auf das falsche Gleis.

Er stellte sich vor, wie sie mit Matt und seiner Familie am Esstisch gesessen hatte und lachend in Erinnerungen an die guten alten Zeiten schwelgte. Hatte auch er eine Rolle in diesen Erinnerungen gespielt oder hatte man ihn einfach totgeschwiegen und so getan, als gäbe es ihn nicht? Hatte man ihn ausgeschlossen wie früher?

Was stimmt nicht mit dir, Hunter? Was ist bei dir schief gelaufen?

Gute Frage, dachte er, blickte zu den Flaschen und ballte die Fäuste, um dem Drang zu widerstehen, eine nach der anderen zu öffnen und sich sinnlos zu betrinken. Diesen Weg hatte er schon einmal eingeschlagen und wusste, dass er ihn geradewegs in die Hölle führte.

In seine ureigenste Hölle, in der Kinder schrien und er nur machtlos zuschauen konnte, wie das Unvermeidliche geschah, verzweifelt, entsetzt und voller Selbsthass.

Er wandte sich von den Flaschen ab, verließ die Küche und ging zum provisorischen Schreibtisch in einer Ecke des Wohnzimmers hinüber. Der Computermonitor leuchtete in dem schwach erhellten Raum, und das Gebläse summte leise. Neben dem Gerät lagen Seiten eines Romans, seines Romans, die Geschichte über den Absturz eines Anwalts.

Wenn er das Ende der Geschichte kennen würde, wäre ihm wohler. Eines Tages würde sich sein Protagonist hoffentlich wieder nach oben hangeln. Doch manchmal hatte ihn die Hoffnungslosigkeit so fest im Griff, dass er kaum atmen, geschweige denn an ein glückliches Ende denken konnte.

Er setzte sich und wollte seine Energie – und seinen Zorn – in seinen Roman einbringen. Stattdessen kreisten seine Gedanken wieder um Avery und ihre Familie.

Was veranlasste einen Menschen, sich mit einer brennbaren Substanz zu übergießen und dann selbst anzuzünden?

Er wusste es und konnte es nachvollziehen.

Er war selbst schon an diesem Punkt gewesen.

Der blinkende Cursor erregte seine Aufmerksamkeit, und er konzentrierte sich auf die geschriebenen Worte.

Jack kämpfte gegen die Mächte an, die ihn zu verschlingen drohten. Zu seiner Rechten lagen die Gesetze der Menschen, zu seiner Linken die Gottes. Ein falscher Schritt, und er war verloren.

Verloren und aufgefangen. Er war heimgekehrt, um sein Leben ins Lot zu bringen und von neuem zu beginnen. Der Anfang war gemacht.

Seltsam, dass auch Avery nun hier war. Sie waren wieder zusammen: er, Matt und Avery, genau wie damals, als sein Leben langsam aus den Fugen geriet. Welche Auswirkungen hatte das auf seine Pläne?

Keine, sagte er sich. Er würde Klarheit in seinem Leben schaffen, gleichgültig, wie sehr es schmerzte.

5. KAPITEL

Avery fuhr mit heftigem Herzklopfen im Bett hoch, den Namen ihres Vaters noch als Schrei auf den Lippen. Ihr Blick schoss zur Schlafzimmertür. Für einen Moment war sie wieder das Kind, das ihre hereinstürmenden Eltern erwartete, die sie tröstend umarmten.

Natürlich kamen sie nicht, und sie sank gegen den Kopfteil des Bettes. Wie erwartet hatte sie schlecht geschlafen und sich die meiste Zeit von einer Seite auf die andere gewälzt. Jedes Knarren des alten Hauses war unvertraut und nervtötend. Etwa ein halbes Dutzend Mal war sie aufgestanden, hatte die Türen überprüft, aus den Fenstern geschaut und war die Flure entlanggewandert.

Vermutlich hatten nicht die Geräusche sie geweckt, sondern die Stille, oder vielmehr der Grund für diese Stille.

Schließlich hatte sie ein paar Tabletten genommen, und der Schlaf hatte sich eingestellt.

Aber keine innere Ruhe. Der Schlaf hatte Albträume mitgebracht. Sie war aus einem warmen schützenden Mutterleib plötzlich in grelles Licht gezerrt worden. Das Licht hatte geschmerzt, und sie war nackt gewesen und hatte gefroren.

Im nächsten Moment hatten Flammen sie eingeschlossen. Sie war aufgewacht und hatte nach ihrem Vater geschrien.

Es ist nicht schwer, diesen Traum zu deuten.

Avery schaute auf die Nachttischuhr. Es war kurz nach neun. Sie warf die Decke zurück und stieg aus dem Bett. Während der Nacht war die Temperatur merklich gefallen, und im Haus war es eiskalt. Fröstelnd holte sie Leggings und Sweatshirt aus ihrem Koffer und zog beides an, ohne ihr Schlafshirt auszuziehen.

Auf dem Weg zur Küche machte sie einen Abstecher zur Haustür, um die Zeitung hereinzuholen. Erst als sie nichts in der Einfahrt liegen sah, fielen ihr zwei Dinge ein. Die Gazette, die einzige Zeitung von Cypress Springs, erschien im zweiwöchentlichen Turnus mittwochs und samstags, und außerdem hatte der Inhaber und Chefredakteur die Auslieferung an ihren Vater zweifellos gestoppt. Auf den Schwellen von Cypress Springs würden sich keine Zeitungsstapel sammeln.

Keine Zeitung? Der bloße Gedanke hatte etwas Entsetzliches.

Kopfschüttelnd ging sie wieder hinein und schloss die Tür ab. Auf dem Weg in die Küche nahm sie sich vor, die Times Picayune aus New Orleans oder den Advocate aus Baton Rouge zu besorgen, wenn sie nachher in die Stadt ging.

Der Ausflug wurde schneller nötig als gedacht, denn in der Küche gab es weder Brot und Milch, noch Eier oder Kaffee. Nach dem üppigen Mahl gestern Abend konnte sie aufs Essen zwar verzichten, aber nicht auf Kaffee.

Nach der üblichen Morgentoilette zog sie ihre Reeboks an, öffnete die Haustür – und stieß prompt mit Cherry zusammen.

Die lächelte strahlend. „Morgen, Avery. Und ich dachte schon, ich würde dich aufwecken.“

„Keine Chance.“ Sie blickte zum Picknickkorb an Cherrys Seite. „Ich wollte mir gerade eine Zeitung und Kaffee besorgen. Du hast nicht zufällig beides dabei?“

„Eine Thermoskanne mit französischem Kaffee. Allerdings keine Zeitung, bedaure.“

„Du rettest mir das Leben. Komm herein.“

Cherry trat ein. „Mir ist eingefallen, dass dein Vater keinen Kaffee trank, und ich dachte mir, du könntest einen gebrauchen. Einen starken.“

Es stimmte. Ihre Mutter hatte Kaffee getrunken, aber ihr Vater nicht. Cherry hatte daran gedacht, im Gegensatz zu ihr. Was war denn bloß los mit ihr?

„Und ich habe angenommen, dass du noch keine Zeit hattest, zum Markt zu gehen.“ Sie hielt den Korb hoch. „Moms selbst gebackene Brötchen und Pfirsichmarmelade.“

Avery lief das Wasser im Mund zusammen. „Hast du eine Ahnung, wie lange es her ist, dass ich ein richtig gutes Brötchen gegessen habe?“

„Ich vermute mal seit deinem letzten Besuch hier“, erwiderte Cherry, folgte Avery in die Küche und stellte den Korb auf die Arbeitsplatte. „Die Yankees können einfach keine anständigen Brötchen backen. So, jetzt ist es heraus.“

Avery lachte. Vermutlich hatte Cherry Recht. Anständige Backpulverbrötchen zu backen war für Mädchen aus dem Süden eine Art Initiationsritus. Und wie bei so vielen dieser typisch weiblichen Tests hatte sie auch darin versagt.

Cherry war bestens vorbereitet. Sie entnahm dem Korb Platzdeckchen mit passenden Servietten, Geschirr, Besteck und eine kleine Vase, die sie mit Wasser füllte und mit einer Rose schmückte. „So, da hätten wir einen anständigen Frühstückstisch.“

Avery schenkte Kaffee ein, und sie setzten sich. Die Finger um den warmen Becher gelegt, gab sie beim ersten Schluck einen Laut des Wohlbehagens von sich.

„Schlechte Nacht gehabt?“ fragte Cherry mitfühlend und führte ihren Becher an die Lippen.

„Sehr schlecht. Erst konnte ich nicht schlafen, und dann hatte ich Albträume.“

„Das war wohl zu erwarten, oder?“

Avery wandte den Blick ab und räusperte sich. „Es war sehr lieb von dir, mir Frühstück zu bringen. Ich bin wirklich dankbar, dass du dir die Mühe gemacht hast.“

„War mir ein Vergnügen.“ Cherry glättete die Serviette auf ihrem Schoß. „Wie schon gesagt, du hast mir und uns allen sehr gefehlt.“ Sie sah Avery in die Augen. „Du gehörst zu uns, das wird sich nie ändern.“

„Versuchst du mir etwas zu sagen, Cherry?“ fragte Avery lächelnd. „Zum Beispiel, auch wenn man die Kleinstadt verlässt, bleibt man immer ein Kleinstädter.“

„So ähnlich.“ Sie erwiderte das Lächeln und beugte sich leicht vor. „Aber meiner bescheidenen Meinung nach ist daran nichts falsch.“

Lachend nahm Avery sich ein Brötchen und brach ein Stück ab. Der Teig war noch warm, saftig und locker. Sie gab Marmelade darauf, aß und stieß einen Laut schieren Entzückens aus. Noch ein paar Mahlzeiten wie diese und gestern Abend, und sie bekäme ihre Jeans nicht mehr zu.

Sie brach noch ein Stück ab. „Also, was treibst du so, Cherry? Hast du nicht vor ein paar Jahren deinen Abschluss an der Nichols State gemacht?“

„Harvard am Bayou für uns. Und es war erst letztes Jahr. Ich habe ein Diplom in Ernährungswissenschaften, aber dafür gibt es in Cypress Springs keinen Bedarf“, fügte sie achselzuckend hinzu. „Daran habe ich wohl nicht gedacht.“

„Aber du könntest es in Baton Rouge versuchen oder …“

„Ich verlasse Cypress Springs nicht.“

„Aber du wärst doch nah genug, um …“

„Nein“, erwiderte sie entschieden. „Hier ist mein Zuhause, ich bin hier aufgewachsen und werde hier bleiben.“

Sie schwiegen befangen. Schließlich fragte Avery: „Was hast du jetzt vor?“

„Ich helfe Peg unten im Azalea Cafe. Und ich sitze im Vorstand einiger Wohltätigkeitsvereine. Ich unterrichte in der Sonntagsschule und erleichtere Mom das Leben, soweit ich kann.“

„Ist sie krank gewesen?“

Cherry zögerte und sagte lächelnd. „Nein, aber sie wird älter. Und ich möchte nicht zusehen, wie sie sich abarbeitet.“

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