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Still

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Tief im Wald lauert ein Mörder

Als eine Wildtierkamera in den Selkirk Mountains im Nordosten des US-Bundesstaates Washington ein verschwommenes Bild eines riesigen Tieres aufnimmt, kontaktiert der dort ansässige Wildtierschutzbund Alex Carter. Kann es tatsächlich sein, dass endlich wieder Karibus im Land leben? Alex macht sich auf die Suche nach der in den USA schon vor Jahren als ausgestorben geltenden Rentierart, doch schon bald wird klar, dass die Einsamkeit der Berge nicht ihre einzige Herausforderung sein wird. Zwischen den uralten Bäumen und weiten Lichtungen wird die Leiche eines Rangers gefunden, und der Mörder scheint es auch auf Alex abgesehen zu haben ...


  • Erscheinungstag: 21.11.2023
  • Aus der Serie: Ein Alex Carter Thriller
  • Bandnummer: 3
  • Seitenanzahl: 384
  • ISBN/Artikelnummer: 9783365004494

Leseprobe

Für meine Eltern,
die meine Liebe zu Wildtieren und zum Schreiben gefördert haben.

Für Jason,
meinen Abenteurer-Kollegen und fantastischen Wildtierfotografen

Und für alle Forscher und Aktivisten da draußen,
die sich für den Schutz der Karibus und ihrer Lebensräume einsetzen.

PROLOG

COLVILLE NATIONAL FOREST, WASHINGTON
VOR VIERZEHN MONATEN

Amelia Fairweather war gerade in ihr Zelt gekrochen, um sich schlafen zu legen, als sie draußen ein seltsames Surren hörte. Sie kauerte in der Dunkelheit und lauschte. Sie war etliche Kilometer von der nächsten Ansiedlung entfernt, von jeder menschengemachten Geräuschquelle. Das Surren wurde lauter. Beunruhigt wandte sie sich auf den Knien zum Zelteingang um und zog die Taschenlampe aus der Zelttasche.

Das seltsame Surren wurde intensiver. Die Taschenlampe an die Brust gepresst, überlegte sie, ob sie einen Blick nach draußen riskieren sollte. Und dann flammte unvermittelt ein gleißendes Licht über dem Zelt auf und verwandelte es in ein gelbes Leuchtfeuer. Ihr stockte der Atem.

Sie öffnete den Reißverschluss des Zelts und krabbelte nach draußen. Sie hatte ihr Lager auf einer kleinen Lichtung aufgeschlagen, durch die ein Bach floss. Blendend weißes Licht fiel auf den umliegenden Wald. Sie schirmte ihre Augen ab und blickte nach oben, sah aber nichts in der gleißenden Helligkeit.

Das Licht am Himmel begann herabzusinken. Panik ergriff sie. Hastig steckte sie die Taschenlampe ein und rannte auf die schützenden Bäume zu.

Das Surren wurde noch lauter; das Licht folgte ihr und erfasste sie, als sie den Waldrand erreichte.

Sie lief zwischen den Bäumen hindurch, sprang über umgestürzte Stämme, schob sich zwischen Felsblöcken hindurch. Das Ding blieb über ihr, sein Licht folgte jeder ihrer Bewegungen. Sie brauchte bessere Deckung. Oder musste Hilfe holen. Aber der nächste Ort war über dreißig Kilometer entfernt. Sie war hier draußen auf einem ihrer regelmäßigen Trekkingausflüge unterwegs, die sie unternahm, um dem Trubel der Großstadt zu entfliehen und mit ihren Gedanken allein zu sein.

Trotz ihrer zweiundsiebzig Jahre war sie durch das Wandern in hervorragender körperlicher Verfassung. Aber während sie ziellos zwischen den Bäumen hindurchhastete, überkam sie Panik. Ihre Füße platschten durch einen Bach, und am anderen Ufer stürzte sie über einen Baumstumpf. Sie fiel schmerzhaft aufs Knie, rappelte sich wieder auf und rannte weiter.

Plötzlich drang ein ohrenbetäubendes Geräusch aus dem Ding über den Bäumen, ein tiefer pulsierender Ton, der in ihrer Brust vibrierte. Er ertönte noch zwei weitere Male, wie eine Art Warnhupe. Erneut geriet Amelia ins Stolpern, fing sich aber wieder. Das Ding folgte ihr unerbittlich, eine Sphäre aus strahlendem Licht, das alles um sie herum erhellte. Es gab keine Möglichkeit, sich vor ihm zu verstecken. Es sauste ihr mühelos hinterher, ließ sich nicht abschütteln. Sie hatte den Eindruck, dass es noch viel schneller fliegen könnte, falls dies erforderlich wäre. Ihr Herz raste, sie konnte keinen klaren Gedanken fassen. Was für ein Ding war das, Herrgott noch mal? Was wollte es von ihr?

Sie rannte in einen dichten Primärwald voller hundert Meter hoher Douglas-Fichten. Sie wusste, dass hier selbst tagsüber nur wenig Sonnenlicht den Waldboden erreichte. Das seltsame Flugobjekt schwebte über den Fichten, hatte nun Mühe, mit seinem Lichtstrahl die Baumkronen zu durchdringen.

Dies war ihre Chance. Sie hielt sich im Schutz der hohen Bäume, sprang über Stümpfe und moosbewachsene Felsen. Sie wagte es nicht, ihre Taschenlampe einzuschalten, obwohl ihre Umgebung nun schwerer zu erkennen war.

Erleichterung durchflutete sie, als das Flugobjekt die Suche nach ihr in der falschen Richtung fortsetzte. Sie hetzte weiter, ihre Lungen brannten, sie bekam Seitenstiche. Sie durchquerte einen weiteren Bach, schlängelte sich zwischen mächtigen Baumstämmen hindurch, und trotz ihrer Panik freute sie sich, als sie bemerkte, dass das Ding weiter in die falsche Richtung flog.

Im Dunkeln, nur vom Mondlicht geleitet, rannte sie einen steil abfallenden Hang hinunter, bis sie glaubte, ihre Lungen würden bersten. Sie hörte das ferne Surren des Flugobjekts kaum noch. Noch einmal erklang der durchdringende Ton der Warnhupe, dann erlosch das Licht abrupt.

Sie hatte es abgehängt.

Amelia blieb stehen, krümmte sich, Hände auf den Knien, und japste nach Luft. Der Schreck hatte sie bis ins Mark getroffen, vernebelte ihre Gedanken. Sie hatte weder Karte noch Kompass dabei, wusste nicht, wo sie hier war. Das Blut rauschte ihr in den Ohren.

Dann kehrte das Surren zurück, wurde lauter. Sie riss den Kopf herum. Diesmal verströmte das Flugobjekt kein Licht, aber es kam zweifellos näher. Sie blickte um sich und entdeckte am Boden einen langen ausgehöhlten Stamm. Sie rannte hinüber und schob sich in den Stamm hinein, erst mit dem Kopf und den Schultern, dann mit dem restlichen Körper, bis sie vollständig in der hölzernen Hülle verschwunden war. Sie drehte sich darin um, das Gesicht nur Zentimeter von der Innenseite des Stammes entfernt. Sie wartete, atmete den Geruch von Erde und Moos ein.

Das Ding kam herangeflogen, und sie spürte förmlich, dass es irgendwo über ihr schwebte. Es sank tiefer und tiefer, und sie geriet in Panik in der Enge des Baumstamms. Das Ding wusste, wo sie war, auch ohne Licht. Erneut ertönte der tief dröhnende Ton, und sie schreckte zusammen. Sie war hin- und hergerissen: Sollte sie rauskriechen und ihre Flucht fortsetzen oder im Versteck bleiben? Dann war es direkt über ihr. Es bestand kein Zweifel, dass es sie gefunden hatte.

Sie schob sich aus dem Baumstamm und rannte davon. Das Licht erfasste sie, und nach wenigen Schritten spürte sie einen stechenden Schmerz am Hals.

Dennoch rannte sie weiter, aber plötzlich wurde ihr schwindlig und sie geriet ins Trudeln. Sie stolperte und stürzte, versuchte, sich aufzurappeln, doch dann wurde ihr speiübel.

Sie kippte nach vorn. Ihr Gesicht fiel auf ein Bett aus Kiefernnadeln, und dann wurde es schwarz um sie.

1. KAPITEL

BELLAMY FALLS, WASHINGTON
HEUTE

Alex Carter erkannte Ben Hathaway, der vor dem Coffeeshop auf sie wartete, schon von Weitem. Er sah genauso aus wie bei ihrer ersten Begegnung im Snowline Resort in Montana, wo sie im vergangenen Jahr ihre Vielfraß-Studie durchgeführt hatte. Sein zerzaustes sandfarbenes Haar reichte ihm jetzt fast bis auf die Schultern. Große athletische Statur, darüber ein verwaschenes blaues Flanellhemd, ausgeblichene Jeans, Trekkingschuhe.

Er wandte sich um und erblickte sie, warf ihr ein strahlendes Lächeln zu. »Alex Carter!«, rief er.

»Ben Hathaway!«

Er breitete die Arme aus und zog Alex zu sich heran, und augenblicklich umhüllte sie sein vertrauter Duft, leicht würzig, wie Zimt.

Er trat einen Schritt zurück und grinste. »Schön, dich zu sehen.«

»Dito.«

Er deutete um sich auf das Städtchen am Fuß der schneebedeckten Selkirk Mountains. »Nicht schlecht, oder? Es ist toll hier draußen, weit weg von meinem Schreibtisch in D.C.« Ben war Regionalkoordinator des Land Trust for Wildlife Conservation, kurz LTWC. Er managte Projekte im ganzen Land, sogar auf der ganzen Welt, und war ständig unterwegs. Er deutete auf den Coffeeshop hinter sich. »Möchtest du etwas trinken?«

Sie lächelte. »Klingt gut.«

Er hielt die Tür auf, und warmer Kaffeeduft wehte ihr entgegen. An den Wänden hingen Bilder lokaler Künstler, die Atmosphäre war einladend und entspannt. Die Gäste lasen in Büchern, zeichneten oder arbeiteten an Laptops.

Sie bestellten einen Mokka und einen Milchkaffee und wählten einen Tisch am Fenster.

Bens Anblick zauberte ein Grinsen auf ihr Gesicht. Sie hatte ihn kennengelernt, nachdem sich ihr Bostoner Leben in einen Scherbenhaufen verwandelt hatte, und er war ein wunderbarer Seelenverwandter gewesen in einer Zeit, als nur wenige Leute ihren Wunsch, sich in die Wildnis zu begeben, hatten nachvollziehen können.

Sie nahm einen Schluck vom Milchkaffee, und sie erzählten einander, was sich bei ihnen in letzter Zeit ereignet hatte. Ben berichtete ihr von einem neuen Programm gegen Wilderei, das er in einem LTWC-Schutzgebiet in Südafrika auf den Weg gebracht hatte. Alex schilderte ihm ihre dramatischen Erlebnisse in der kanadischen Arktis, wo sie Eisbären studiert hatte. Sie horchte auf, als er ein zweitausendfünfhundert Hektar großes Gebiet in Alaska erwähnte, das der LTWC womöglich erwerben würde, wo Lachse flussaufwärts schwimmen und sich von verfressenen Braunbären fangen lassen konnten, während sie den Wasserfall hinaufzuspringen versuchten.

Sie lächelte und trank einen Schluck. »Wie lange bleibst du in Bellamy Falls?«

Er runzelte die Stirn und schaute auf seine Armbanduhr. »Nicht annähernd so lange, wie ich gern würde. Heute Abend nehme ich den Flieger nach D.C. Ich schätze, wir sollten jetzt zum geschäftlichen Teil übergehen.«

Alex verspürte einen Anflug von Enttäuschung darüber, dass er sofort wieder abreisen würde. »Na gut, was hast du für mich?« Am Telefon hatte er sich vage ausgedrückt und sie nur gebeten, sich mit ihm in dem reizenden Städtchen Bellamy Falls im Bundesstaat Washington zu treffen und ihre Outdoor-Ausrüstung mitzubringen. Das war simpel: Seit sie ihr Apartment in Boston gekündigt hatte, war sie ständig unterwegs gewesen, erst in Montana, dann in Manitoba. Alles, was sie benötigte, trug sie bei sich.

Er holte einen Laptop aus seiner Umhängetasche und klappte ihn auf. »Vor zwei Wochen war eine ehrenamtliche Mitarbeiterin von uns im Selkirk-Wildreservat unterwegs gewesen und hat diesen Schnappschuss mitgebracht.« Er klickte auf ein Foto und drehte den Bildschirm in ihre Richtung. Auf dem Foto sah man im Hintergrund einen hoch aufragenden Primärwald und, völlig verschwommen, die pelzige Seite eines dunkelbraunen Tiers dicht vor der Kamera. Es war so unscharf, dass sie nicht erkannte, was es war.

»Worauf schaue ich?«

Ben grinste und beugte sich vor. »Diese ehrenamtliche Mitarbeiterin geht regelmäßig zu den selbstauslösenden Kameras, die wir im Reservat platziert haben, und tauscht die Akkus und Speicherkarten aus. Vor zwei Wochen war sie mal wieder dort draußen unterwegs und sah zwischen den Bäumen etwas, das sie zunächst für einen Elch hielt. Aber dann kam es näher, und sie hatte bessere Sicht auf den Kopf. Sie glaubt, dass es ein Bergkaribu war, aber es lief weg, bevor sie es eindeutig bestimmen konnte. In einer der Kameras fand sie dann dieses Foto auf der Speicherkarte.«

Alex staunte nicht schlecht. »Ein Bergkaribu? Ist sie sich sicher?« Alex wusste, dass es in den USA früher viele Bergkaribus gegeben hatte, aber heute nicht mehr.

Anders als die Barren-Ground-Karibus, die in Alaska in den endlosen Weiten der Nordwest-Territorien und entlang des Yukon lebten, hatte die südlichen Bergkaribus ein trauriges Schicksal ereilt. Sie waren so schwer zu fassen gewesen, dass die Leute sie als die »Grauen Geister des Waldes« bezeichnet hatten. Anstatt in der offenen Tundra hatten sie in kleinen Herden in dichten Urwäldern gelebt. Ihre großen schaufelartigen Hufe hatten es ihnen ermöglicht, sich im Winter in extrem verschneiten Hochlagen fortzubewegen, wo sie sich von Flechten ernährt hatten. Durch die Rodung der Wälder und andere Faktoren war ihre Zahl jedoch auf eine einzige kleine Herde zurückgegangen, die in Idaho und Washington überlebt hatte und als South-Selkirk-Population bezeichnet wurde. In einem letzten Versuch, sie zu retten, hatte Kanada dann die letzten beiden Mitglieder der Herde, beides Weibchen, zu sich geholt und nach Norden gebracht, wo sich die beiden Tiere der schwindenden Bergkaribu-Population in British Columbia angeschlossen hatten.

Hierzulande war das Bergkaribu praktisch ausgestorben. Die Vorstellung, dass ein solches Tier nun von Kanada nach Washington State hinübergewandert war, war also bemerkenswert. Nach langem Hin und Her und zahlreichen Klagen von Naturschutzorganisationen hatte der U.S. Fish and Wildlife Service nämlich – endlich – ein geschütztes Habitat für diese Spezies ausgewiesen. Dieses Karibu hatte also eine Chance. Falls es tatsächlich hier war.

Alex betrachtete das unscharfe Foto der selbstauslösenden Kamera. »Das Fell scheint tatsächlich ein dunkles Braun zu sein. Schade nur, dass man nicht sieht, ob es weiße Flecken hat.« Die meisten Bergkaribus hatten dunkelbraunes Fell mit einigen weißen Stellen an den Seiten und einem weißen Schulter- und Nackenfleck. Dazu hatten sie weiße Streifen oder »Socken« über den Hufen. Und im Gegensatz zu anderen Hirscharten konnte beiden Geschlechtern ein Geweih wachsen, wenngleich es bei Weibchen seltener geschah. Mit zusammengekniffenen Augen blickte sie auf das Foto. »Es ist so verschwommen.«

Ben nickte. »Offenbar ist es zügig und leider viel zu dicht an der Kamera vorbeigegangen.«

Sie lehnte sich auf ihrem Stuhl zurück. »Du glaubst also, dass es im Reservat ein Bergkaribu gibt?«

Er atmete aus, sein charmantes Lächeln kehrte zurück. »Könnte sein.«

»Und du möchtest, dass ich es finde?«

»Ganz genau.«

Alex schaute wieder auf das Foto vor ihr.

»Es gibt ein altes Farmhaus im Reservat«, fuhr er fort. »Es gehörte dem früheren Besitzer des Landes. Es ist nicht so schick wie das Snowline, aber es gibt eine Heizung und fließend Wasser. Und eine Innentoilette.«

»Du meinst wohl eher, es ist nicht so unheimlich wie das Snowline.« Sie lachte und dachte an ihre damalige Unterkunft in Montana, wie der Wind durch die kaputten Fenster geheult hatte und wie die gruseligen Dinge, die sich dort vor der Umwandlung in ein Naturschutzgebiet zugetragen hatten, Teil des regionalen Legendenkanons geworden waren.

Auch Ben lachte. »Das Farmhaus ist absolut nicht unheimlich.« Er machte eine Pause, nahm einen Schluck von seinem Mokka. »Glaube ich zumindest. Und es gibt noch einen weiteren Vorteil.«

»Und der wäre?«

Er beugte sich vor. »Im Laufe der Woche kommt Kathleen Macklay in die Gegend.«

Auf Alex’ Gesicht breitete sich ein Lächeln aus. »Echt jetzt?« Kathleen war Büroleiterin bei der Polizei in Bitterroot, dem Städtchen in Montana. Alex hatte sie bei ihrem ersten Auftrag für den LTWC kennengelernt, und sie hatten sich auf Anhieb gut verstanden.

Er nickte. »Japp. Sie kommt jeden Sommer her und betätigt sich als Brandbeobachterin. Sie war es auch, die uns den Tipp gegeben hat, dass das Land, auf dem sich unser Reservat befindet, zum Verkauf stand. Ihr Feuerwachturm befindet sich im angrenzenden Nationalforst.« Er nippte an seinem Mokka. »Also, bist du interessiert?«

»Bin ich.«

»Dann lass uns zum Reservat fahren. Ich zeige dir das Haus und die Gegend, damit du einen Eindruck bekommst.«

Sie tranken ihren Kaffee aus und machten sich auf den Weg. Ben hatte einen Toyota Prius gemietet und bot an, sie zu fahren. Alex ließ ihren eigenen Mietwagen, einen Jeep mit Allradantrieb, am Bordstein stehen. Auf der Main Road fuhren sie aus dem charmanten, um 1900 gegründeten Städtchen heraus, vorbei an Kunstgalerien, einem Gemischtwarenladen, einem Kino mit einer Leuchtschrift aus den Dreißigerjahren und zwei Saloons. Der ganze Ort hatte etwas Bohemehaftes an sich, mit seinem New-Age-Laden, dem öffentlichen Kunststudio, dem kleinen Theater und den beiden Lokalen mit Livemusik.

Außerhalb der Stadt bog Ben auf eine kleinere Straße ab, die zwar asphaltiert, aber voller Schlaglöcher war. Nach fünfzehn Kilometern bog er abermals ab, nun auf eine Schotterpiste. An der Abzweigung stand eine Sammlung von Metallbriefkästen des U.S. Postal Service.

»Hier wird deine Post ankommen, sobald du einen Nachsendeantrag gestellt hast.«

Er fuhr den steilen, unbefestigten Weg hinauf in die Berge. Alex kurbelte das Fenster herunter und roch im Fahrtwind den Duft von sonnengewärmten Kiefern, fühlte sich wohl in Bens Gegenwart. Lächelnd schaute er zu ihr hinüber, genoss die wilde Landschaft genauso wie sie.

Er bog ein letztes Mal ab und fuhr über die rumpelige Piste zu einem kleinen Schindelhaus.

»Es wurde 1936 gebaut«, sagte Ben und stellte den Motor aus. »Von einer Familie, die hergezogen war, um Pferde zu züchten.« Alex blickte sich um, sah die verfallenen Überreste alter Zaunpfähle und Pferdegatter. Den Zaundraht hatte man entfernt.

Sie stiegen aus, und Ben zog ein Schlüsselbund aus der Tasche. Sie nahmen die drei Stufen zur Haustür, und er schloss ihnen auf. Sie betraten ein gemütliches Wohnzimmer mit einem Sofa, einem Couchtisch und einem gut gefüllten Bücherregal.

Er führte sie durchs Haus, zeigte ihr die beiden Schlafzimmer, die altmodische Küche mit Gasherd und das Badezimmer mit Dreißigerjahre-Armaturen.

»Du hast hier keinen Handyempfang, aber es gibt zwei Festnetztelefone – eins in der Küche, das andere oben im großen Schlafzimmer.« Er schrieb ihr die Nummer auf. »Es gibt sogar Satelliteninternet. Ist zwar langsam, aber es funktioniert.«

Sie kehrten ins Wohnzimmer zurück, wo Alex sich die Bücher ansah. Mit Freude nahm sie zur Kenntnis, dass es Bände über Malerei und Vogelbestimmung gab, dazu Fachbücher übers Fährtenlesen und Tierexkremente. Sie zog ein Wildblumenlexikon heraus und drehte sich zu Ben um. »Es ist wunderbar hier. Ich werde in letzter Zeit verwöhnt. Normalerweise übernachte ich in freier Wildbahn in einem winzigen Zelt, aber bei meinen letzten Aufträgen gab es heißes Wasser und allen anderen Komfort.«

Ben lachte. »Freut mich, dass es dir gefällt. Komm mit. Ich zeige dir das Reservat.«

Sie holten ihre Tagesrucksäcke aus Bens Wagen und gingen über einen Pfad, der an einer prächtigen Wildblumenwiese entlangführte. Alex erfreute sich am Anblick der gelben Gletscherlilie, der leuchtend orangefarbenen Kolumbienlilie, des scharlachroten Malerbusches und der zartvioletten Blütenblätter des alpinen Porzellanröschens. Sie erklommen einen steilen Anstieg und überquerten einen Pass zum nächsten Berg. Schneefelder bedeckten die Hänge. Neugierige Murmeltiere, deren goldenes Fell im Sonnenlicht glänzte, lugten aus Steinhaufen heraus, um sie zu beobachten. Sie hörte sogar das charakteristische »Iiip!« eines Amerikanischen Pfeifhasen, des kleinen stimmgewaltigen Verwandten des Kaninchens, der in hoch gelegenen Gegenden lebte. Über ihnen kreiste ein Steinadler am Himmel und stieß einen Schrei aus.

Sie wusste längst, sie würde diesen Auftrag sehr genießen.

Sie erreichten einen saphirblauen Gletschersee. Auf dem Wasser schwamm eine Säger-Familie, alle tauchten ab und wieder auf, schwimmend wie Korken.

Alex und Ben wanderten am Seeufer entlang und stiegen dann weiter bergauf in Richtung eines weiteren Passes. Ihr taten schon die Beine weh von der Kletterei. Daran musste sie sich erst wieder gewöhnen, zuletzt war sie auf dem flachen Eis der Hudson Bay unterwegs gewesen.

Als sie sich dem oberen Ende des Hangs näherten, erstreckte sich vor ihnen plötzlich ein dichter Primärwald. Sie traten in dessen kühles schattiges Herz. Gewaltige Bäume strebten turmhoch gen Himmel. Der Wind duftete süß und aromatisch.

»Oh, wow«, hauchte sie ehrfürchtig.

»Das ist wirklich etwas Besonderes, nicht wahr?«

»Kann man wohl sagen.«

Er deutete auf einen der Bäume. »Dort hat unsere Mitarbeiterin das mutmaßliche Karibu gesehen.«

Jetzt nahm Alex die selbstauslösende Kamera wahr, die das besagte Foto geschossen hatte. Sie blieben stehen, standen schweigend da, blickten um sich. Alex erwartete fast, dass gleich das Karibu hinter einem Baum hervortreten würde.

»Komm mit, ich muss dir auch den weniger schönen Teil zeigen.«

Sie setzten ihren Aufstieg fort, folgten einem alten Jägerpfad, der sich durch den Wald wand. Das zwischen den Ästen herabströmende Sonnenlicht ließ Teile des Waldbodens golden erstrahlen, illuminierte an den Baumstämmen zarte Farne und smaragdfarbenes Moos.

Ben bog nach links auf einen anderen Jägerpfad ab, der über die Baumgrenze hinaus zu einem steil ansteigenden Geröllhang führte. Hier hingen orange- und goldfarben leuchtende Flechten an den Felsen, in schattigen Bereichen lagen noch Schneereste.

Unterhalb von ihnen erstreckte sich über Hunderte von Metern der Primärwald, bis er abrupt endete. Alex stockte der Atem. Eine Schneise der Verwüstung grenzte an den Wald, ein Areal ohne einen einzigen Baum. Man sah nur noch die Stümpfe.

»Holzeinschlag?«, fragte sie.

»Japp«, antwortete Ben tonlos. »Dort endet unser hübsches Reservat. Das benachbarte Land gehört zwar zum Nationalforst, aber es ist seit Generationen in privatem Besitz. Der Eigentümer hat beschlossen zu roden, um das Holz zu verkaufen.«

An das kahle Areal schloss sich weiterer alter Baumbestand an, in dem die Abholzung bereits begonnen hatte. Zwischen den Stümpfen standen Holzschleppfahrzeuge, Fällkräne, Bulldozer und andere Gerätschaften.

Ben deutete darauf. »Siehst du, wo all die Maschinen stehen?«

Alex nickte.

»Dort gehen die Arbeiten weiter. Es gab zwar ein Moratorium gegen die Abholzung von altem Baumbestand in dem Gebiet, aber ein von der Holzindustrie geschmierter Kongressabgeordneter hat ein Schlupfloch im neuen Gesetzentwurf genutzt.«

Alex erkannte seltsame farbige Stoffplanen, die über einigen Bulldozern und Fällkränen ausgebreitet waren. »Was ist das?« Sie nahm ihr Fernglas aus dem Rucksack und drehte am Fokusrädchen, bis sie ein scharfes Bild hatte.

Sie sah bunte Transparente, auf denen Slogans standen wie »Stoppt die Zerstörung!«, »Rettet den Wald!«, »Bäume statt Geldgier!«.

Nun erkannte sie auch Leute zwischen den Transparenten. Einige saßen auf den Bulldozern, andere liefen zwischen den Zelten umher, die sie dort aufgeschlagen hatten.

»Aktivisten«, sagte Ben. »Sie kampieren dort seit einigen Tagen. Diverse Naturschutzorganisationen haben gegen die Rodung geklagt, deshalb gibt es einen vorläufigen Arbeitsstopp, während ein Bundesrichter den Fall prüft.«

Alex blickte nach Norden, in Richtung der kanadischen Grenze, die knapp fünfundzwanzig Kilometer Luftlinie entfernt lag. Falls die Zerstörung des alten Baumbestands in dieser Region fortgesetzt wurde, hätten die Bergkaribus keine Möglichkeit mehr, das Reservat zu erreichen. »Du meinst also, wenn wir nachweisen können, dass sich ein Bergkaribu zu uns begeben hat, könnten wir zusätzlichen Druck ausüben, um die Abholzung zu stoppen?«

»Genau. Und zwar nicht nur hier, sondern auch in anderen alten Baumbeständen, die sich auf dem Land des Besitzers befinden und bisher noch unberührt sind. Der LTWC hat ihm angeboten, sein Land zu dessen Schutz mit einer Grunddienstbarkeit zu versehen. Und für den Fall, dass er dies ablehnt, versuchen wir, Geldgeber zu finden, die genügend Finanzmittel aufbringen, um ihm das Land abzukaufen und die Bäume auf diese Weise zu retten.«

»Was sagt er zu dem Angebot?«

»Er will darüber nachdenken. Wir stecken noch in den Verhandlungen.«

Alex wusste, wie wenig Urwald es in den USA noch gab. Sie hoffte auf einen Erfolg der Verhandlungen.

»Also, was meinst du?«, fragte er.

»Ich bin dabei.«

Ben lächelte. Einen Moment lang glaubte sie, er würde sie umarmen, doch er tat es nicht. Er sah auf seine Uhr und verzog das Gesicht. »Warum vergeht die Zeit hier draußen immer so schnell? Ich muss zurück in die Stadt und mich auf den Weg zum Flughafen machen.«

Einmal mehr verspürte Alex den altbekannten Anflug von Enttäuschung, weil ihr klar war, dass sie Bens freundliches Wesen und seine angenehme Art vermissen würde.

Sie wanderten zurück, während die Nachmittagssonne sich nach und nach dem Horizont zuneigte, ihr Licht schräg in den Wald warf und die Baumstämme golden färbte. Im Westen zogen dichte graue Wolken auf, und Alex freute sich auf etwas Regen. Sie liebte wolkige Tage und den Duft des Waldes nach einem Regenguss.

Zurück im Haus, holte Ben einen großen Karton aus dem Prius und stellte ihn auf den Esstisch. »Das ist die Ausrüstung, die du brauchen wirst: GPS-Gerät, Landkarten, weitere selbstauslösende Kameras, Akkus, Speicherkarten und einige Halsbandkameras, falls du das Karibu findest.« Alex bemerkte, dass das Halsband auch die Temperatur des Tieres aufzeichnen würde und auch, falls es verendet, seinen Tod. Er deutete auf einen schwarzen Metallkoffer an der Wand. »Da drin ist das Betäubungsgewehr.« Er klopfte auf den Karton, den er hereingetragen hatte. »Hier sind noch zusätzliche Pfeile drin, dazu Betäubungsmittel und Sauerstoff, den du verabreichen kannst, wenn das Tier narkotisiert ist. Wir haben bereits die amtliche Genehmigung, dem Tier eine Kamera anzulegen.«

Alex hatte unglaubliche Aufnahmen von Halsbandkameras gesehen, die an Wildtieren jeder Art angebracht worden waren. In Verbindung mit GPS konnten Forscher damit nicht nur die Bewegung der Tiere verfolgen, sondern auch, welchen Lebensraum und welche Nahrungsquellen sie nutzen.

»Ich tu mein Bestes.«

Er lächelte. »Gut. Ich denke, wir haben alles geklärt. Sollen wir zurückfahren?«

Alex nickte, immer noch leicht traurig über seine nahende Abreise.

Sie kehrten in die Stadt zurück, und Ben stoppte den Prius hinter Alex’ Jeep. »Am liebsten würde ich ein paar Tage bleiben und mit dir ausgiebig wandern gehen. Aber ich muss zurück wegen einer Haushaltssitzung. Der Spaß hört nie auf.«

Alex lächelte verdrossen. »Schade, dass du nicht mehr Zeit hast.«

»Ich weiß. Es ist wie ein Déjà-vu – wir treffen uns irgendwo, ich weise dich schnell ein und muss dann sofort wieder verschwinden.« Er schnallte sich ab. »Lass uns aussteigen, damit ich noch einen letzten Blick auf diese großartige Bergwelt werfen kann.«

Sie stiegen aus dem Prius und blieben einige Augenblicke auf dem Gehsteig stehen.

Dann umarmte er sie, und für einen kurzen Moment schmiegte sie ihr Kinn an seine Schulter. Er löste sich von ihr und betrachtete sie. »Viel Glück da draußen. Halt mich auf dem Laufenden. Genieß die Wildnis für mich.«

»Mach ich. Und danke noch mal für den Auftrag.«

Er lächelte wehmütig. »Pass auf dich auf. Und grüß Kathleen von mir.« Dann stieg er wieder ins Auto und fuhr davon.

Alex sah ihm nach, bis der Wagen auf den Highway abbog, der zum Flughafen von Spokane führte.

Sie holte tief Luft, blickte zu den verschneiten Bergen auf, froh, an diesem Ort zu sein. Sie stieg in ihren Jeep, um zum Lebensmittelladen zu fahren und für die nächsten Tage einzukaufen.

Auf dem Weg ins Stadtzentrum musste sie plötzlich abbremsen, weil sich auf Höhe des Stadtparks eine Menschenmenge auf der Fahrbahn versammelt hatte. Sie parkte am Straßenrand und stieg aus.

»Was ist hier los?«, fragte sie eine junge Frau, die eine Schürze des Lebensmittelladens und der dazugehörigen Bäckerei trug.

Sie wandte sich Alex zu, ihr Blick gehetzt. »Die haben etwas gefunden. Auf dem Spielplatz …« Sie deutete zu einer Gruppe von Leuten, die am Rand des Parks beieinanderstanden und die Köpfe zusammensteckten. »Eine Leiche.«

2. KAPITEL

Der Sheriff traf ein und schob sich durch die Menge. Alex schätzte, dass rund vierzig Leute alles stehen und liegen gelassen hatten, um aus den umliegenden Geschäften zu eilen und sich am Stadtpark zu versammeln.

Zwischen den Leuten stürmte eine Frau heraus, eine Hand vor den Mund geschlagen. Sie war ganz grün im Gesicht. Ein Raunen ging durch die Menge.

»Es muss Irma sein. Wer denn sonst?«

»Habt ihr das Gesicht gesehen? Allmächtiger.«

»Es ist völlig zerstört.«

»Wer ist Irma?«, fragte Alex die Person neben ihr, eine ältere Frau mit schlohweißem Haar und faltigem Gesicht.

»Irma Jackson«, flüsterte die Frau. »Sie ist vor sieben Monaten verschwunden. Sie hat für den Forest Service als Rangerin gearbeitet. Eines Tages ist sie auf Patrouille gegangen und nicht zurückgekehrt. Die Rettungstrupps haben wochenlang nach ihr gesucht. Alle dachten, sie hätte sich vielleicht verirrt oder wäre abgestürzt oder so. Aber das hier, das hat niemand erwartet.«

Der Sheriff, eine kleine Frau mit langen grauen Haaren, die zum Zopf geflochten waren, rief in die Menge: »Weg mit euch, Leute! Ihr wollt doch keine Beweismittel zertrampeln.«

Die Leute gehorchten widerwillig. Alex las es an den Gesichtern ab, wer von ihnen die Leiche gesehen hatte. Der fassungslose Blick, der Schock in den Augen. All das war ihr nur allzu vertraut. Sie hatte genug eigene Schrecken erlebt.

Die Menge wich etwas zurück, und Alex hatte freie Sicht auf die Leiche. Dies war kein natürlicher Tod gewesen. Der Anblick machte sie fassungslos. Die Frau war auf dem Kinderspielplatz an eine Wippe gebunden. Selbst aus einiger Entfernung erkannte Alex, dass der Körper mit grausigen Schnittwunden übersät war. Außerdem kam sie nicht umhin zu bemerken, dass die Frau schon seit geraumer Zeit tot war. Sie schien geradezu mumifiziert.

»So was hab ich schon bei Tierkadavern in der Wüste gesehen«, erklärte ein Mann. »Sie ist schon seit Monaten tot, würde ich sagen. Seht euch ihren Zustand an.«

Einer anderer Schaulustiger meldete sich zu Wort.

»Wie will man da sicher sein, dass es überhaupt Irma ist?«

»Na, sie trägt die Uniform des Forest Service. Oder das, was davon übrig ist«, sagte der Mann. »Sieht aus, als wäre sie darin herumgekrochen. Sie starrt vor Dreck. Die Knie sind völlig durchgescheuert.«

Andere Stimmen meldeten sich.

»Kein Werkzeuggürtel. Kein Funkgerät.«

»Keine Waffe.«

»Wo ist sie gewesen?«, fragte die Frau in der Ladenschürze. »Warum hängt man jetzt ihren Körper hier so hin?«

Plötzlich hob ein älterer Mann mit langem strähnigem weißen Haar und Vollbart anklagend die Hand und zeigte auf den Sheriff. »Ich hab dir gesagt, dass es so kommen würde!«, schimpfte er. »Aber du wolltest nicht auf mich hören.«

»Hör auf, Bill«, sagte die Polizistin und hob beschwichtigend die Hand. »Das ist nicht der richtige Zeitpunkt, um wieder mit dem Unsinn anzufangen.«

»Unsinn?«, rief der Mann. »Verdammt, Maggie, ich sag dir seit Monaten, dass die da draußen sind.«

»Nicht das wieder, Bill«, spöttelte die Frau und machte eine wegwerfende Handbewegung.

»Ich hab es gesehen!«, rief Bill und schaute zu den Umstehenden. »Tu nicht so, als hättest du es nicht auch gesehen. Das helle Licht über dem Wald.«

Die Leute zuckten mit den Schultern, schüttelten den Kopf.

»Glaubst du, ich mache Witze?«, donnerte er, den Blick wieder auf die Polizistin gerichtet. »Schau dir ihre Wunden an, Maggie! Das sieht doch aus wie eine Viehverstümmelung. Erinnerst du dich, was mit Carls Herde passiert ist?«

Maggie legte eine Hand an ihren Dienstgürtel. »Das war damals keine Viehverstümmelung, Bill. Die Läsionen wurden durch die Ringelflechte verursacht, eine schwere Pilzinfektion.«

»Glaubst du, ich erkenne keine Viehverstümmelung, wenn ich eine sehe?« Bill drängelte sich vor und packte sie am Arm. »Schau sie dir an, Maggie! Was glaubst du denn, wer ihr das angetan hat?«

»Jedenfalls keine verdammten Außerirdischen«, rief ein Mann in Bills Richtung. »Um Himmels willen, lass Maggie ihre Arbeit tun.«

Alex befand, dass der Mann recht hatte, und räumte das Feld, ging zum Wagen zurück. Der Appetit war ihr vergangen, aber sie musste trotzdem für die kommenden Tage einkaufen.

Während sie auf den Lebensmittelladen zutrottete, blickte sie noch einmal zurück zu der Menschentraube. Die Leute wirkten aufgewühlt, denn eine der ihren hatte ein gewaltsames Ende gefunden. Sie fragte sich, was mit der Rangerin geschehen war und ob ihr Mörder womöglich unter den Personen zu suchen war, mit denen sie gerade noch zusammengestanden hatte.

Ein Stück die Straße hinunter erreichte Alex den Laden, ein kleines Holzgebäude, an deren Fensterfront per Hand die aktuellen Angebote für Bioprodukte und frische Backwaren angeschrieben waren.

Selbst gezogene Tomaten für 52 Cent das Stück!

Bananen im Angebot!

Hausgemachter Apfel- und Brombeerkuchen!

Sobald sie die Tür öffnete, schlug ihr der Duft von frisch gebackenem Brot und Kuchen entgegen. Sie nahm einen kleinen Einkaufskorb und merkte schnell, dass sie die einzige Kundin im Laden war.

Die Frau hinter der Kasse schaute mit besorgter Miene aus dem Fenster. »Kommen Sie gerade vom Park?«, fragte sie.

Alex nickte.

»Was ist denn da los? Wen hat man gefunden?« Die Kassiererin war jung, um die sechzehn, mit einem Nasenpiercing und einer langen blauen Strähne im schwarzen Haar. Auf ihrem Namensschild stand Sophie.

»Ich habe mitbekommen, dass es wohl eine Frau namens Irma Jackson ist.«

Der Kassiererin blieb der Mund offen stehen. »Mein Gott. Wurde sie ermordet?«

»Es sieht so aus. Die Polizei ist schon vor Ort.«

Ihre Augen weiteten sich, sie schüttelte den Kopf. »Ich glaub das nicht.«

»Kannten Sie Irma?«

Sophie nickte. »Sie hat mir Spurenlesen beigebracht. Sie hatte diesen tollen Kurs für Kinder organisiert.«

»Es tut mir sehr leid.«

Die Kassiererin senkte den Blick, schaute an der Kasse vorbei, ihr blasses Gesicht eine Maske der Fassungslosigkeit.

»Kann ich irgendwie helfen?«, bot Alex ihr an.

Sophie schaute auf und schniefte. »Nein. Es geht schon. Carol kommt ja gleich zurück.« Mit dem Daumen deutete sie zur Backwarentheke im hinteren Ladenteil. »Sie ist unsere Bäckerin.«

»Ich glaube, ich habe sie am Park gesehen. Die Versammlung löst sich allmählich auf. Der Sheriff hat den Leuten gesagt, sie sollen nach Hause gehen.«

Die Kassiererin seufzte. »Oh gut.« Sie blickte um sich. »Ich hab mich hier früher nie unwohl gefühlt. Aber plötzlich ist es eine richtige Geisterstadt. Wer auch immer Irma das angetan hat, könnte –« Ihre Stimme erstarb. Sie lächelte gezwungen. »Tut mir leid. Machen Sie nur, erledigen Sie in Ruhe Ihre Einkäufe.«

Alex bedachte sie mit einem teilnahmsvollen Lächeln. »Ich brauche nicht lange.«

»Nehmen Sie sich so viel Zeit, wie Sie wollen, im Ernst. Ich finde es unheimlich, hier ganz allein zu sein.«

Alex ging durch die Gänge und wählte Lebensmittel aus, die sich schnell und umstandslos zubereiten ließen. Nudeln, vegetarische Würstchen, Hafermilch, braunen Reis, Zutaten für Avocado-Burritos, Grünkohl und roten Pfeffer zum Anbraten in Olivenöl, verschiedene Nusssorten. Sie war keine große Köchin und betrachtete Essen als bloße Notwendigkeit, deshalb war der Einkauf schnell erledigt.

Als sie zur Kasse zurückkehrte, schaute Sophie gedankenverloren aus dem Fenster. Draußen schlurften die Einwohner von Bellamy Falls die Straße entlang, die Köpfe zusammengesteckt, in Gespräche versunken.

»Die Leute kommen zurück«, hauchte Sophie erleichtert. Sie wandte sich zur Kasse und begann, Alex’ Waren zu scannen.

»Besuchen Sie hier Familienangehörige?«, fragte sie.

»Nein, ich bin Wildtierbiologin. Ich bin für eine Weile im Selkirk-Reservat stationiert.«

»Oh, großartig. Muss ein cooler Job sein.«

Alex lächelte. »Ja, es ist ziemlich cool.«

Sie bezahlte und wandte sich zum Gehen. »Das mit Irma tut mir wirklich sehr leid.«

Sophie biss sich auf die Lippe. »Danke.«

Als Alex den Laden verließ, kam gerade die Bäckerin herein. Sofort eilte Sophie zu ihr herüber. »Was ist passiert? Was sagen die Leute?«, hörte sie im Hinausgehen Sophie aufgeregt fragen.

Alex brachte die Einkäufe zum Wagen und verstaute sie. Dann ging sie hinüber zur Post und füllte das Nachsendeformular aus. Ein einzelner Angestellter schaute aus dem Fenster, an dem die Leute vorbeiströmten.

Als Alex an den Schalter trat, beendete er seine Beobachtungen und blickte auf die Adresse, die sie auf dem Formular angegeben hatte. »Sie wohnen im Reservat?«

»Ja. Ich bin Wildtierbiologin und wurde dorthin versetzt.«

»Wunderschöne Gegend. Wird Ihnen gefallen dort oben.«

Alex kehrte zum Wagen zurück und fuhr auf der Main Road aus der Stadt, warf dabei erneut einen Blick auf das alte Kino und die Kunstgalerien. Am Stadtpark trieben sich noch einige Schaulustige herum. Ein Deputy winkte die Leute fort, während der Sheriff um die Tote herumging und Notizen machte.

Alex bog auf die schmale Straße zum Reservat ab und rumpelte über die vielen Schlaglöcher. Sie ließ das Fenster herunter und genoss den Geruch des nahenden Regens in der Luft.

Als sie die Schotterpiste erreichte, ging es steil bergauf, und in den vielen Haarnadelkurven ließ sie besondere Vorsicht walten. Alex fragte sich, wie viele Leute hier zu schnell gefahren und den Hang hinabgestürzt waren. Die Kurven waren so eng, dass man nicht sah, ob einem dahinter jemand entgegenkam. Nur an einer der Kurven stand ein Hohlspiegel, und sie überlegte, ob es an dieser Stelle mal einen Zusammenstoß gegeben hatte.

Schließlich bog sie auf den Weg zum Reservat ein und fuhr auf der rumpeligen Piste zum Farmhaus.

Als sie ausstieg, nahm sie sich einen Moment Zeit, um die Berge zu bestaunen. Die Luft roch hier oben noch stärker nach Ozon. Sie freute sich schon auf den Regen. Nur wenige Dinge hatten eine so beruhigende Wirkung auf sie wie Regenprasseln auf der Kapuze ihres Parkas.

In der Küche räumte sie die Einkäufe ein. Nachdem alles verstaut war, setzte sie sich an den Esstisch und öffnete den Karton, den Ben ihr dagelassen hatte.

Darin befanden sich Akkus und Speicherkarten für die zahlreichen selbstauslösenden Kameras, die überall im Reservat angebracht worden waren. Anders als bei ihrem Auftrag in Montana, wo sie Vielfraße aufgespürt hatte, gab es im hiesigen Reservat bereits ein Netz dieser Kameras. Dennoch hatte Ben ihr fünf weitere mitgebracht, die Alex an strategischen Punkten platzieren konnte, um das mutmaßliche Karibu dingfest zu machen.

Sie holte auch die Betäubungspfeile und die Fläschchen mit dem Betäubungsmittel heraus, zusammen mit dem Gegenmittel, das sie verabreichen würde, nachdem sie dem Tier eine Halsbandkamera umgelegt hatte. Dann klappte sie die topografische Landkarte des Reservats auf. Ben hatte die Standorte der bereits aktiven Kameras gekennzeichnet. Sie studierte die Karte und verglich die Standorte mit den Satellitenbildern auf ihrem Computer. Sie musste Gebiete mit altem Baumbestand finden.

Bergkaribus waren auf Primärwald angewiesen, weil sie sich im Winter von Baumflechten ernährten, die für ihr Wachstum sechzig bis hundert Jahre benötigten. Die Flechten hingen hoch in den Ästen. Bei starkem Schneefall im Winter nutzten die Karibus die Schneedecke als Plattform, um diese hohen Äste zu erreichen und die Flechten herunterzureißen. Keine andere Hirschart überlebte allein durch den Verzehr solcher Flechten, die im Grunde eher nährstoffarm waren. Bergkaribus waren einzigartig.

Doch mit dem Abholzen des alten Baumbestands waren zunehmend junge Wälder in den Fokus der Karibus gerückt. In denen gab es vor allem Rehe, Elche und Hirsche, die sich diesen Lebensraum normalerweise nicht mit Karibus teilten. Auch gab es in jungen Wäldern Wölfe, die über Holzfällerstraßen und Schneemobilpfade ins Hochland gelangten. Sie hatten dort unzählige Karibus gerissen, zu denen sie normalerweise keinen Zugang gehabt hätten.

Und so waren durch den beispiellosen Holzraubbau und den Rückgang der Schneemenge aufgrund des Klimawandels schließlich die letzten Karibus der South-Selkirk-Population aus den Vereinigten Staaten verschwunden.

Im Karton fand Alex gleich vier Halsbandkameras mit GPS. Es handelte sich um ein experimentelles Modell, das sie unbedingt ausprobieren wollte. Normalerweise verwendeten Forscher Halsbandkameras, die am Ende der Saison von den Tieren abfielen. Die Forscher mussten die Kameras dann mühsam in der Pampa einsammeln, um an das Filmmaterial zu gelangen.

Aber der LTWC hatte ein Team mit der Entwicklung dieses neuen Modells beauftragt. Es übertrug die Videos via Satellit, und so ließen sie sich mühelos herunterladen. Statt monatelang auf das Filmmaterial zu warten, würde sie das aktuelle Verhalten des Karibus mitverfolgen können (falls sie es denn fand) und zudem die GPS-Koordinaten erhalten.

Vielleicht würde sie ja sogar gleich mehrere Karibus entdecken. Dass Ben ihr vier Kameras dagelassen hatte, zauberte ihr ein Lächeln aufs Gesicht. Offenbar war er auch optimistisch, dass sie mehr als ein Exemplar finden würde.

Sie kannte die Videos von gewöhnlichen Halsbandkameras, die man bei Barren-Ground-Karibus und Weißwedel- und Maultierhirschen benutzt hatte. Sie liebte diese Clips, wo man den Tieren dabei zuschaute, wie sie durch ihren Lebensraum streiften, wie sie miteinander interagierten und ihre Jungen umsorgten.

Wie auch immer, mit etwas Glück würde sie zumindest eines dieser neuen Modelle zum Einsatz bringen.

Sie nahm das Betäubungsgewehr aus dem Koffer und checkte es durch. Es war ein schwarzes Pneu-Dart G2 X-Kaliber mit einem Hundert-Zentimeter-Lauf aus rostfreiem Stahl und einem CO2-Zylinder zum Abschuss der Betäubungspfeile.

Sie beschloss, sich als Erstes dorthin zu begeben, wo die ehrenamtliche Mitarbeiterin das mutmaßliche Karibu gesichtet hatte, und systematisch nach Fährten und Exkrementen zu suchen. Sie warf einen Blick auf die Uhr. Es war fast sechs. Zu spät, um heute noch aufzubrechen.

Sie bereitete sich ein frühes Abendessen zu und verzehrte es auf der Veranda, betrachtete währenddessen die atemberaubende Landschaft.

Als sie fertig war, schaute sie erneut auf die Uhr. Zur Abwechslung war sie diesmal in derselben Zeitzone wie ihr Vater, also griff sie nach dem Festnetztelefon und wählte seine Nummer.

Ihr Vater, ein namhafter Landschaftsmaler, lebte im kalifornischen Berkeley. Er meldete sich nach dem zweiten Klingeln. »Hallo?«

»Dad, ich bin’s, Alex.«

»Hallo, Mäuschen! Ich hab die Nummer nicht erkannt.«

»Das ist der Anschluss des Hauses, in dem ich seit heute wohne. Ich habe einen neuen Auftrag vom LTWC erhalten.«

»Wunderbar! Welche Spezies ist es diesmal?«

»Bergkaribus.«

Er stieß einen Pfiff aus. »Oha, das ist ja ein Ding. Hast du mir nicht mal erzählt, dass diese Tiere aus den USA verschwunden seien? Bist du in Kanada?«

»Nein, in Washington State. Eine ehrenamtliche Mitarbeiterin der Stiftung glaubt, im Reservat ein Exemplar gesehen zu haben.«

»Wow! Das wäre ja mal was.«

»Ich hoffe, dass ich die Sichtung bestätigen kann«, sagte Alex. »Wie läuft es bei dir?«

»Ganz gut.« Sie hörte, wie er auf seinem Stuhl herumrutschte. »Genau genommen sitze ich gerade auf heißen Kohlen.«

»Warum? Was ist los?«

»Ich habe mich als Residenzkünstler beim diesjährigen Plein-Air-Festival am Grand Canyon beworben. Es gab im letzten Moment eine Absage, und jetzt hoffe ich nachzurücken.«

»Das ist großartig!« Ihr Vater bewarb sich jedes Jahr als Gastkünstler bei einem der infrage kommenden Nationalparks. Die Konkurrenz war riesig, und er war schon oft enttäuscht worden. Aber er war auch schon mehrere Male angenommen worden und hatte an wunderschönen Orten gemalt. Plein Air bedeutete, dass die Künstler unter freiem Himmel malten und versuchten, das Licht und die Stimmung der Landschaft einzufangen. Beim Grand Canyon Festival wollte er schon seit Jahren mitmachen. »Ich drück dir ganz fest die Daumen.«

»Danke! Erzähl, wie bist du diesmal untergekommen?«

»In einem alten Farmhaus aus den Dreißigerjahren. Es ist toll.«

»Das klingt ja richtig nobel verglichen mit dem Zelt, in dem du sonst meistens kampierst. Lass mich wissen, wie es läuft. Ist das die Nummer, unter der ich dich erreichen kann?«, fragte er.

»Ja. Handyempfang habe ich hier nicht.«

»Okay, Mäuschen. Wir bleiben in Kontakt. Oh, und mail mir deine Adresse. Ich muss dir ein paar Briefe nachsenden.«

»Mach ich. Gib mir Bescheid, falls sie dich im Grand Canyon annehmen.«

»Na klar. Ich hab dich lieb!«

»Ich dich auch!«

Der Regen begann aufs Dach zu prasseln, und Alex wandte sich wieder zum Esstisch, um sich in die neuesten Forschungsarbeiten zum Bergkaribu zu vertiefen. Alex verfügte bei diesem Thema über Vorwissen. Während ihrer Promotion hatte sie einen Sommer lang bei einem Barren-Ground-Karibu-Projekt mitgearbeitet und eine Faszination für das Bergkaribu entwickelt, das sich so sehr von seinem Pendant in der arktischen Tundra unterschied.

Karibus waren die am weitesten verbreiteten Huftiere der Welt und hatten sich so entwickelt, dass sie in einer Vielzahl von Lebensräumen überleben konnten. Einige durchstreiften die flache offene Tundra der Arktis, andere lebten in den Nadelwäldern der Taiga südlich des Polarkreises in Nordamerika, Skandinavien und Russland.

Alle Karibus auf der Erde gehörten zu einer einzigen Spezies, dem Rangifer tarandus. Aber wegen seiner unterschiedlichen Lebensräume hatte sich das Karibu in zahlreiche Unterarten entwickelt, sich an seine jeweilige Nische angepasst.

Das Bergkaribu (Rangifer tarandus caribou) war das am südlichsten lebende Karibu auf dem nordamerikanischen Kontinent, aber inzwischen hatte es über sechzig Prozent seines historischen Lebensraums verloren. Früher hatte es diese Tiere im gesamten Norden der USA gegeben, einschließlich Wisconsin, Maine, Michigan, Idaho, Washington, Montana, Minnesota, New Hampshire und Vermont.

Auch in seinem Verhalten war das Bergkaribu einzigartig. Anders als ihre nördlichen Nachbarn legten diese Tiere keine großen Entfernungen zurück. Stattdessen begaben sie sich mehrmals im Jahr in steiles bergiges Gelände, wechselten je nach Jahreszeit zwischen den Ökosystemen in Tälern und denen in hochalpinen Regionen.

Bergkaribus durchstreiften die gemäßigten Regenwälder des Landesinneren, wo gewaltige Rotzedern und Hemlocktannen wuchsen. Vom Waldboden bis in die Wipfel wimmelte es dort von Leben. Bis heute bevölkerten diese Tiere diese einzigartige Region im kanadischen British Columbia und – vor ihrem Verschwinden aus den USA im Jahr 2019 – auch den gemäßigten Regenwald bis hinunter in die Selkirk Mountains in Washington und Idaho.

Sie konnte es kaum erwarten herauszufinden, ob eines dieser Geschöpfe nun nach Washington zurückgekehrt war. Auf der vor ihr ausgebreiteten Landkarte zeichnete Alex die Route ein, die sie morgen nehmen wollte. Als sie spürte, dass ihr allmählich die Augen zufielen, faltete sie die Karte zusammen und stieg die Treppe hinauf zum Schlafzimmer.

Sie entleerte ihren Rucksack aufs Bett, legte ihre Kleidung zusammen und verstaute sie in einer antiken Kommode, die mit einem Art-déco-Wasserfallmuster verziert war. Der Holzgeruch, der aus der Schublade drang, erinnerte sie an das Haus ihrer Großmutter, und einen Moment lang verspürte sie tiefe Sehnsucht nach ihr.

Ihre Großmutter väterlicherseits, von allen Miss Lacey genannt, hatte aus dem Süden gestammt. Sie hatte Alex schon vor der Schule Lesen und Rechnen beigebracht, sodass Alex bei ihrer Einschulung einen gewaltigen Wissensvorsprung gehabt hatte. Das war gut für sie gewesen, denn als Kind in einer Militärfamilie hatte sie des Öfteren den Wohnort und damit auch die Schule gewechselt. Ihre Mutter war Kampfpilotin bei der U.S. Air Force gewesen, und Alex und ihr Vater hatten mit ihr auf der ganzen Welt gelebt.

Während der Sommermonate hatte Alex immer für längere Zeit bei ihrer Großmutter bleiben dürfen, was Alex genossen hatte. Sie war eine liebevolle unbeschwerte Frau gewesen, hatte Alex spannende Geistergeschichten erzählt. In ihrem Haus hatte es sogar einen alten Schaukelstuhl gegeben, von dem es hieß, er könne von selbst schaukeln.

Alex atmete den Duft der alten Holzschublade ein und schob sie mit einem traurigen Lächeln zu.

Sie packte ihre restlichen Sachen aus: Regenkleidung, zusätzliche Stiefel, ihre Canon DSLR, ein GPS-Gerät und einen Krimi, den sie auf den Nachttisch legte. Dann hängte sie den Rucksack in den Schrank.

Schließlich schlüpfte sie in ihren Pyjama und legte sich in das rustikale Bett. Sie erwog, noch ein bisschen im Krimi zu schmökern, starrte stattdessen aber an die Decke und hing ihren Gedanken nach. Was sie wohl finden würde in den Wäldern? Sie lächelte begeistert in sich hinein. Dann fielen ihr die Augen zu, und sie sank in tiefen Schlaf.

Alex wurde wach, als heller Mondschein durch das Schlafzimmerfenster fiel. Sie setzte sich auf, ihre Kehle war trocken. Sie nahm einen Schluck aus dem Wasserglas, das auf dem Nachttisch stand, und schaute aus dem Fenster auf die silbrige Landschaft. Die Äste der Bäume stachen silbern heraus vor der schwarzen Bergsilhouette.

Der sternenfunkelnde Nachthimmel lockte sie aus dem Bett zum Fenster. Sie hatte es offen gelassen, und der köstliche Pinienduft wehte zu ihr herein. Sie sog ihn tief ein, betrachtete unterdessen das prachtvolle Sternenband der Milchstraße, die sich bogenförmig durch den nächtlichen Sommerhimmel zog. Das Sternbild des Schützen hing tief am Horizont, das Zentrum der Galaxie schoss aus ihm heraus wie Wasser aus einem Wasserfall. Sie erkannte den Lagunennebel mit bloßem Auge und konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen.

Sie schloss die Augen, genoss den Moment, die Dunkelheit, den Duft des Waldes.

Als sie sie wieder öffnete, zog rechts von ihr ein kleines seltsames Licht ihre Aufmerksamkeit auf sich. Es sauste davon, verschwand in der Ferne. Sie versuchte, noch einen Blick darauf zu erhaschen, aber konnte sich nicht hinauslehnen wegen des Fliegengitters.

Dann sah sie es wieder, wahrscheinlich einige Kilometer weit entfernt, eine sich schnell bewegende Lichtkugel knapp über den Baumkronen. Erst dachte sie an eine Drohne, aber dafür sah es zu groß aus. Es drehte sich nach unten, leuchtete aufs Blätterdach, dann hob es sich wieder und glitt über die Bäume hinweg.

Alex runzelte die Stirn. Sie hatte Aufnahmen der Marfa Lights in Texas gesehen, der seltsamen Lichtsphären, die über dem Wüstenboden tanzten und für die es bis heute keine Erklärung gab.

Könnte das hier etwas Ähnliches sein? Oder war es Sumpfgas? Oder eine seltsame Lichtbrechung in der feuchten Luft? Oder …

Sie musste an den alten Mann denken, der den Sheriff zur Rede gestellt hatte. Bill. Ich hab es gesehen!, hatte er gebrüllt. Tu nicht so, als hättest du es nicht auch gesehen. Das helle Licht über dem Wald.

Sie blickte gebannt in die Nacht hinaus. Und mit einem Mal war das Licht einfach verschwunden. Sie blieb noch lange am Fenster stehen, doch es kam nicht zurück. Schließlich gab sie auf, zog die Vorhänge zu und legte sich wieder ins Bett.

Sie lag wach und stellte sich vor, wie die Lichtkugel auf das Haus zugeflogen kam. Mitten im Nirgendwo zu sein und eine überaktive Fantasie zu haben war zuweilen kein Vorteil für sie. Sie lauschte dem seufzenden Wind in den Kiefern vor dem Haus. Dem Uuhuu einer Eule.

Schließlich schloss sie die Augen, aber die seltsame Lichtkugel ließ sie lange nicht in den Schlaf finden.

3. KAPITEL

Am nächsten Morgen frühstückte Alex rasch und trank ihren Kaffee draußen auf der Veranda. Dann holte sie ihren Rucksack aus dem Schrank und überlegte, was sie für ihre erste Tagestour ins Reservat benötigte, bei der sie die Kameras überprüfen wollte. Sie packte ein Sandwich und einen Müsliriegel ein, dazu eine Wasserflasche samt Filter, des Weiteren den Kompass und die Landkarte, Regensachen, ihr GPS-Gerät und eine weitere selbstauslösende Kamera. Sie war gerade dabei, ihr kleines Erste-Hilfe-Set im Rucksack zu verstauen, als sie ein Auto hörte.

Das Haus lag so weit ab vom Schuss, dass sie sich nicht vorstellen konnte, wer hier plötzlich auftauchen sollte.

Sie trat ans Fenster und sah einen Polizei-SUV vorfahren. Der Sheriff stieg aus, steckte sich das Hemd in die Hose und setzte ihren Hut auf. Sie beugte sich in den Wagen und nahm etwas vom Beifahrersitz. Wenige Augenblicke später klopfte es an der Tür.

Alex fragte sich, was die Frau wohl wollte. Die Fliegengittertür knarrte, als sie sie öffnete.

Der Sheriff nahm ihre Sonnenbrille ab und schob sie in den Ausschnitt ihres Hemds. »Dr. Carter?«

Sie nickte. »Kann ich Ihnen helfen?«

»Ich bin Sheriff Maggie Taggert.« Alex schüttelte ihre Hand und merkte, dass sie rau und schwielig war. »Darf ich reinkommen?«

»Sicher.« Alex trat zur Seite, bedeutete ihr einzutreten.

Taggert schaute sich um, ließ ihren Blick über die Einrichtung schweifen. »Ist schon eine Weile her, dass ich hier war. Ich kannte die Familie, die hier lebte. Nette Leute.« Sie deutete auf die Couch. »Können wir uns setzen?«

»Klar. Möchten Sie einen Kaffee? Ich habe gerade welchen gemacht.«

Taggert lächelte. »Das wäre sehr nett.«

Alex ging in die Küche und schenkte ein. Sie holte die Hafermilch aus dem Kühlschrank und stellte sie zusammen mit etwas Zucker und den beiden Tassen auf ein Tablett.

Im Wohnzimmer ließ sich Taggert auf die Couch nieder und rückte ihren Dienstgürtel zurecht. Sie gab etwas Zucker und Hafermilch in ihren Kaffee und trank einen Schluck, nickte anerkennend.

Alex fragte sich, ob der Besuch etwas mit der Toten im Park zu tun hatte. Taggert zog eine Mappe hervor und breitete eine Reihe von Fotos auf dem Tisch aus. Unter ihren Fingernägeln klebten Reste schwarzer Schmiere, als hätte sie an ihrem Wagen herumgeschraubt.

»Sehen Sie sich die bitte an.«

Alex setzte sich neben die Polizistin und betrachtete die Fotos. Darauf zu sehen war immer dieselbe lächelnde Frau mit kurzen grauen, schlicht frisierten Haaren und Augen, die ein Geflecht tiefer Falten umgab. Alex schätzte sie auf Anfang siebzig. Alle Fotos waren in freier Natur aufgenommen worden. Alex erkannte den Yosemite-, den Yellowstone- und den Glacier-Nationalpark. Auf allen Fotos trug die Frau eine dicke lila Fleecejacke mit Aufnähern der Nationalparks. Außerdem trug sie eine auffällige Halskette: eine silberne Bärentatze, besetzt mit einem funkelnden violetten Kristallstein.

Mit ihrem schlanken Finger deutete Sheriff Taggert auf das Yosemite-Foto. »Das ist Amelia Fairweather, eine Outdoor-Enthusiastin, die überall in den USA und Kanada lange Wanderungen unternommen hat. Vor über einem Jahr ist sie in unserer Gegend spurlos verschwunden. Seither beschäftigt mich der Fall.«

Alex betrachtete die Frau auf den Fotos, studierte die freundlichen Augen. Man sah ihnen die Lebensfreude an. »Sie wurde nicht gefunden?«

Taggert schüttelte den Kopf. »Einige Leute denken, sie habe sich vielleicht mit ihrem unangemessen jungen Liebhaber nach Mexiko abgesetzt. Sie war alles andere als arm, und ja, sie war mit einem deutlich jüngeren Mann liiert. Manche spekulieren, dass die beiden in die Karibik, nach Südamerika oder in ein anderes Tropenparadies geflohen sind.

Aber ihre Töchter gehen fest davon aus, dass ihr etwas zugestoßen ist. Sie meinen, es sei ausgeschlossen, dass ihre Mutter sich so lange nicht bei ihnen melden würde. Außerdem besaß sie eine Gärtnerei in Seattle. Die war ihr Lebenstraum. Davor war sie jahrelang als Unternehmensberaterin tätig gewesen, hatte mit einem Partner eine Kanzlei besessen. Eines Tages hatte sie die Arbeit hingeworfen und mit ihren Ersparnissen die Gärtnerei aufgebaut. Darauf haben natürlich einige Leute hingewiesen und gesagt, ihr sei offensichtlich zuzutrauen, ihr Leben von heute auf morgen zu ändern. Ihr Kanzleipartner, der über ihren abrupten Abgang seinerzeit nicht sehr erfreut war, gehört zu den Leuten, die davon überzeugt sind, dass Amelia irgendwo in Acapulco oder Rio am Strand liegt.«

Taggert schaute zur Decke auf, ihr Blick leer. »Ich hatte allerdings das Gefühl, dass da einiges im Argen lag. Vielleicht war der Kanzleipartner an ihr interessiert, und sie hat ihn abgewiesen. Sie wissen schon, eifersüchtig, weil sie einen jüngeren Mann vorgezogen hat.«

»Was, glauben Sie, ist mit ihr passiert?«

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