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Stolzes Herz in Fesseln

Als Buch hier erhältlich:

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»Ich wäre lieber eine Waschfrau als die Gemahlin eines Peers.« Leider hat Lady Pandora Ravenel keine andere Wahl, als den Antrag von Gabriel, Lord St. Vincent anzunehmen. Denn sie wurde mit dem berüchtigten Frauenhelden in einer kompromittierenden Situation ertappt. Obwohl alles ganz harmlos war, kann nur eine schnelle Eheschließung ihren Ruf retten. Widerwillig folgt sie ihrem künftigen Gemahl auf sein Landgut, fest entschlossen, sich ihre Unabhängigkeit nicht nehmen zu lassen. Doch je mehr Zeit Pandora in der Nähe des attraktiven Lords verbringt, desto stärker geraten ihre Prinzipien ins Wanken …

»Eine witzige und charmante Story, die den Leser von der ersten bis zur letzten Seite begeistern wird.«
Kirkus Reviews


  • Erscheinungstag: 01.02.2019
  • Aus der Serie: Die Ravenels
  • Bandnummer: 3
  • Seitenanzahl: 320
  • ISBN/Artikelnummer: 9783955768874
  • E-Book Format: ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Prolog

Evangeline, Duchess of Kingston, hob ihren kleinen Enkel aus der Badewanne und wickelte ihn in ein weiches Frottiertuch. Das glucksende Baby streckte die pummeligen Beinchen und versuchte, auf ihrem Schoß zu stehen, erkundete ihr Gesicht und Haar mit nassen Patschhändchen, und Evie lachte über seine tapsigen Zärtlichkeiten. „Vorsichtig, Stephen“, warnte sie, als er sich an der zweireihigen Perlenkette um ihren Hals festklammerte. „Wie dumm von mir, ich dachte nicht daran, die Perlen vorher abzulegen. Aber die V…Verlockung war einfach zu g…groß.“ Evie hatte schon immer ein wenig gestottert, was sich allerdings im Laufe ihres Lebens wesentlich gebessert hatte.

„Nicht doch, Euer Gnaden.“ Das Kindermädchen eilte aufgeregt herbei. „Ich sollte Master Stephen aus der Wanne heben. Er ist schon ziemlich schwer.“

„Lass nur, Ona.“ Evie küsste die rosigen Wangen des Babys, während sie seine winzigen Finger von den Perlen löste.

„Sehr gütig, Euer Gnaden, mir an Nannys freiem Tag mit den Kindern zur Seite zu stehen.“ Behutsam nahm Ona ihr das Baby ab. „Eins der Hausmädchen hätte mir gerne geholfen, da Sie wichtigere Dinge zu tun haben.“

„Für mich gibt es n…nichts Wichtigeres als meine Enkelkinder. Ich verbringe gerne Zeit mit ihnen und erinnere mich an die Jahre, als meine Kinder noch klein waren.“

Ona kicherte, als Stephen den Arm nach ihrer weißen Rüschenhaube ausstreckte. „Ich pudere ihn und ziehe ihn an.“

„Und ich räume die Badesachen weg“, sagte Evie.

„Aber, Euer Gnaden, das dürfen Sie nicht.“ Das Kindermädchen bemühte sich, einen Ton zwischen Respekt und Strenge anzuschlagen. „Schon gar nicht in dem feinen Seidenkleid. Sie sollten im Salon sitzen und ein Buch lesen oder sich mit Ihrer Stickerei beschäftigen.“ Als Evie den Mund aufmachte, um zu widersprechen, fügte Ona bedeutungsvoll hinzu: „Nanny würde mir den Kopf abreißen, wenn sie wüsste, dass ich Hilfe von Ihnen annehme.“

Schachmatt.

Im Wissen, dass Nanny auch ihr den Kopf abreißen würde, antwortete Evie mit einem resignierten Nicken, murmelte allerdings: „Immerhin habe ich eine Schürze an.“

Das Kindermädchen trug das Baby mit einem zufriedenen Lächeln aus dem Badezimmer.

Auf dem Teppich vor der Badewanne kniend, griff Evie nach hinten, um die Schürzenbänder zu lösen. Es fiel ihr nicht leicht, die Ansichten der Dienstboten zu teilen, wie eine Duchess sich zu benehmen habe. Das Personal wollte sie partout daran hindern, etwas Anstrengenderes zu tun als ihren Tee mit einem Silberlöffel umzurühren. Auch als Großmutter zweier Enkel war sie immer noch schlank und beweglich genug, um ein nasses Baby aus der Wanne zu heben oder mit den Kindern im Garten herumzutollen. Erst letzte Woche hatte ihr der Gärtner einen Vortrag gehalten, nachdem sie über eine Mauer geklettert war, um ein paar verirrte Pfeile des Bogenspiels einzusammeln.

Während Evie noch mit den verknoteten Schürzenbändern kämpfte, hörte sie Schritte hinter sich. Obgleich der Besucher sich durch nichts zu erkennen gab, wusste sie, um wen es sich handelte, noch ehe er hinter ihr in die Hocke ging. Starke Finger schoben ihre Hände beiseite, und der Knoten wurde mit einem heftigen Ruck gelöst.

Ein tiefes Murmeln liebkoste die empfindsame Haut an ihrem Nacken. „Wie ich sehe, haben wir eine neue Nanny eingestellt. Wie reizend.“ Geschickte Männerhände stahlen sich unter die Schürze, glitten sanft von ihrer Taille zu den Brüsten.

„Ein dralles hübsches Ding. Ich bin sicher, es macht seine Sache recht gut.“

Evie schloss die Augen und lehnte sich zwischen gespreizte Männerschenkel zurück. Weiche Lippen, zur Sünde geschaffen, wanderten ihren Nacken entlang.

„Ich fürchte, ich muss Sie warnen“, fuhr die verführerische Stimme fort, „halten Sie sich vom Hausherrn fern. Er ist ein berüchtigter Lüstling.“

Ein Lächeln überflog ihre Lippen. „Davon hörte ich bereits. Ist er so sündig wie man ihm nachsagt?“

„Nein. Viel schlimmer. Rothaarige Frauen haben es ihm besonders angetan.“ Er zog die Nadeln aus ihrem Nackenknoten, bis ihr der lange Zopf über die Schulter fiel.

„Armes Ding … Ich fürchte, der Wüstling wird Sie nicht in Frieden lassen.“

Ein Wonneschauer durchrieselte sie, als er sanfte Küsse an ihren Hals hauchte. „W…wie soll ich mit ihm umgehen?“

„Häufig“, murmelte er zwischen Küssen.

Ein hilfloses Kichern entrang sich ihr, während sie sich in seinen Armen umdrehte.

Auch nach drei Jahrzehnten Ehe geriet Evies Herz ins Stolpern beim Anblick ihres Gemahls, ehemals Lord St. Vincent, nunmehr Duke of Kingston. Sebastian war zu einem stattlichen Mann gereift mit einer Präsenz, die einschüchternd und anziehend zugleich wirkte. Seit der Herzogtitel vor zehn Jahren an ihn gegangen war, hatte er sich die Würde angeeignet, die einem Mann seiner Machtposition und seines Einflusses gebührte. Aber wer in seine blauen Augen blickte, in denen Funken aus Feuer und Eis blitzten, wurde daran erinnert, dass er früher ein Lebemann und begehrter Verführer gewesen war – Letzteres bis heute, wie Evie bezeugen könnte.

Das Leben hatte es gut mit Sebastian gemeint. Er war ein schöner Mann, sehnig und elegant, das dunkelblonde Haar an den Schläfen silbergrau bestäubt. Ein Löwe im Winter, dem niemand in die Quere kommen konnte, ohne Schaden zu nehmen.

Die Jahre hatten ihm eine kühle Ausstrahlung unbezwingbarer Autorität verliehen. Ein Mann, der im Geschäftsleben genügend gesehen und erfahren hatte, um von niemand übervorteilt zu werden. Wenn ihn allerdings etwas amüsierte oder emotional berührte, war sein Lächeln strahlend und unwiderstehlich.

„Ach, du bist es“, sagte Sebastian im Tonfall milder Überraschung, als wisse er nicht recht, wieso er mit seiner Ehefrau in den Armen auf dem Badezimmerteppich kniete. „Ich war darauf vorbereitet, ein widerstrebendes Dienstmädchen zu verführen, aber du bist natürlich ein weitaus schwierigerer Fall.“

„Auch ich lasse mich verführen“, bot Evie ihm heiter an.

Sein Blick glitt liebevoll über ihr Gesicht. Er strich ihr ein paar widerspenstige Löckchen hinters Ohr, die von tizianrot zu einem weichen Apricot verblasst waren. „Meine Liebste, das versuche ich seit dreißig Jahren. Aber ungeachtet meiner Bemühungen …“, ein Kuss streifte ihre Lippen, „… hast du dir bis heute den Unschuldsblick des scheuen Mauerblümchens bewahrt, mit dem ich damals durchgebrannt bin. Kannst du nicht versuchen, wenigstens ein bisschen verrufen auszusehen? Oder desillusioniert?“ Er lachte leise und küsste sie diesmal mit einer sinnlichen Glut, die ihren Puls beschleunigte.

„Wieso hast du mich gesucht?“, fragte Evie matt, während sie den Kopf in den Nacken legte, als seine Lippen ihre Kehle streiften.

„Ich habe soeben Nachricht von deinem Sohn erhalten.“

„Von welchem?“

„Gabriel. Er ist in einen Skandal verwickelt.“

„Wieso ist er dein Sohn, wenn er dich erfreut, und mein Sohn, wenn er wieder mal über die Stränge geschlagen hat?“, fragte Evie, während Sebastian ihr die Schürze abnahm und begann, ihr Mieder aufzuknöpfen.

„Da ich der untadelige Elternteil bin“, behauptete er, „steht außer Frage, dass sein schlechtes Benehmen auf dich zurückzuführen ist.“

„D…du irrst. Es ist g…genau umgekehrt“, korrigierte sie ihn.

„Tatsächlich?“ Sebastian schien über ihre Worte nachzudenken. „Ich soll der Schlechte sein? Nein, mein Schatz, das ist nicht möglich. Ich bin mir sicher, die Schlechte bist du.“

„Nein, du!“, widersprach sie mit Nachdruck. Ihr Atem beschleunigte sich, als seine Liebkosungen intimer wurden.

„Hmm. Das müssen wir umgehend klären. Ich bringe dich zu Bett.“

„Warte. Erzähl mir mehr von Gabriel. Hat der Skandal etwas mit … dieser Frau zu tun?“ Es war allgemein bekannt, dass Gabriel eine Affäre mit der Gattin des amerikanischen Botschafters hatte. Evie hatte die Beziehung von Anfang an abgelehnt und gehofft, die Affäre würde bald ein Ende haben. Seitdem waren zwei Jahre vergangen.

Sebastian blickte seiner Frau ernst in die Augen. „Er schaffte es, die Tochter eines Earls zu kompromittieren. Eine Ravenel.“

Evie kam der Name irgendwie bekannt vor. „Kennen wir die Familie?“

„Ich kannte den alten Earl, Lord Trenear. Seine Frau war eine flatterhafte Person. Du bist ihr einmal auf einer Gartenschau begegnet und hast dich mit ihr über ihre Orchideensammlung unterhalten.“

„Ja, ich entsinne mich.“ Evie hatte die Frau nicht sonderlich gefallen. „Sie hatten eine Tochter?“

„Zwillinge. Die beiden haben in diesem Jahr ihre erste Saison. Offenbar wurde dein Sohn mit einer von ihnen in flagrante delicto erwischt.“

„Er gerät nach seinem Vater“, bemerkte Evie trocken.

Mit gekränkter Miene kam Sebastian geschmeidig auf die Füße und zog sie mit sich hoch. „Sein Vater hat sich nie erwischen lassen.“

„Abgesehen von mir“, widersprach Evie schmunzelnd.

Sebastian lachte. „Richtig.“

„Was heißt in flagrante delicto genau?“

„Die wörtliche Übersetzung? ‚Auf frischer Tat ertappt‘.“ Er hob sie mühelos auf die Arme. „Ich denke, eine anschauliche Erklärung ist angebracht.“

„Aber was ist mit dem S…Skandal? Gabriel und das Ravenel-Mädchen und …“

„Und der Rest der Welt kann warten“, erklärte Sebastian mit Bestimmtheit. „Ich verführe dich jetzt zum zehntausendsten Mal und dulde keinen Widerspruch.“

„Sehr wohl, Sir“, sagte sie gehorsam und schlang die Arme um den Hals ihres Ehemannes, als er sie ins Schlafzimmer trug.

1. Kapitel

London, 1876

Zwei Tage zuvor …

Lady Pandora Ravenel langweilte sich.

Sie langweilte sich zu Tode.

Langweilte sich, gelangweilt zu sein.

Und die Londoner Saison hatte soeben erst begonnen. Vier lange Monate lagen vor ihr mit verhassten Bällen, Soireen, Konzerten und festlichen Dinner, ehe das Parlament geschlossen wurde und die Familien des Hochadels sich auf ihre Landsitze zurückzogen. Ihr standen mindestens sechzig Dinner bevor, fünfzig Bälle und weiß Gott wie viele Soireen.

Das würde sie nicht durchstehen.

Mit hängenden Schultern lehnte Pandora sich im Sessel zurück und starrte missmutig in das dichte Gedränge des Ballsaals. Elegante Herren in schwarz-weißer Gesellschaftskleidung, Offiziere in Galauniformen und blank polierten Stiefeln, Damen in Wolken aus Seide und Tüll. Wieso waren sie alle hier? Worüber könnten sie sich unterhalten, was nicht schon während des letzten Balls gesagt worden war?

Die schlimmste Form des Alleinseins, dachte Pandora verdrießlich, ist die Einsamkeit der einzigen Person, die sich nicht amüsierte, in einer fröhlichen Menge.

Inmitten der Paare, die sich im Walzertakt auf dem Parkett drehten, tanzte ihre Zwillingsschwester anmutig in den Armen eines hoffnungsvollen Verehrers. Bislang hatte Cassandra die Saison beinahe so langweilig und enttäuschend gefunden wie Pandora, war jedoch eher bereit, gute Miene zu dem öden Spiel zu machen.

„Möchtest du nicht lieber durch den Saal flanieren und dich mit Gästen unterhalten“, hatte Cassandra sie zu Beginn des Abends gefragt, „statt in einer Ecke zu sitzen?“

„Nein. Wenn ich hier sitze, kann ich wenigstens über interessante Dinge nachdenken. Ich begreife nicht, wie du die Gesellschaft dieser ermüdenden Menschen stundenlang erträgst.“

„Nicht alle sind ermüdend“, hatte Cassandra widersprochen.

Pandora hatte ihr einen skeptischen Blick zugeworfen. „Befindet sich unter den Gentlemen, mit denen du geplaudert hast, auch nur einer, den du näher kennenlernen möchtest?“

„Bisher nicht“, hatte Cassandra zugegeben. „Aber ich gebe nicht auf, bis ich mich mit jedem unterhalten habe.“

„Wenn du einen kennst“, hatte Pandora finster entgegnet, „kennst du sie alle.“

Cassandra hatte achselzuckend gemeint: „Mit Gesprächen verfliegt der Abend schneller. Du solltest es mal versuchen.“

Leider war Pandora hoffnungslos ungeschickt, was seichte Plauderei anging. Es war ihr unmöglich, Interesse zu heucheln, wenn ein aufgeblasener Dandy mit seinen Leistungen prahlte oder damit, wie beliebt er bei seinen Freunden war, die ihn alle bewunderten. Sie brachte auch keine Geduld auf für einen in die Jahre gekommenen Aristokraten, der Ausschau hielt nach einer jungen Braut, die ihm als Gesellschafterin und Krankenpflegerin dienen sollte, oder für einen jungen Witwer auf der Suche nach geeignetem Zuchtmaterial für seine Nachkommenschaft. Der Gedanke, von solchen Männern berührt zu werden, selbst mit Handschuhen, jagte ihr ein Frösteln über den Rücken. Und der Gedanke an eine gepflegte Konversation mit diesen Herren rief ihr in Erinnerung, wie grenzenlos gelangweilt sie war.

Während sie das Muster des Parkettbodens studierte, riss die strenge Stimme ihrer Gouvernante sie aus ihren Grübeleien.

„Pandora! Wieso sitzt du wieder in der Ecke? Zeig mir deine Tanzkarte.“

Sie hob den Blick zu Eleanor, Lady Berwick, und reichte ihr widerstrebend die kleine gefächerte Karte.

Die Countess, eine hochgewachsene Frau von majestätischer Gestalt, in aufrechter Haltung, als habe sie einen Besenstiel verschluckt, klappte den winzigen Perlmuttfächer auf und starrte mit stahlhartem Blick auf die hauchdünnen Elfenbeinblättchen.

Alle leer.

Lady Berwicks schmale Lippen kräuselten sich, als ob man sie mit einer Schnur zusammenzöge. „Sie sollte längst gefüllt sein.“

„Ich habe mir den Knöchel verstaucht“, erklärte Pandora und wich ihrem Blick aus. Eine Verletzung vorzutäuschen war die einzige Rechtfertigung, um unbehelligt in der Ecke sitzen zu dürfen ohne damit einen groben gesellschaftlichen Fauxpas zu begehen. Nach den Regeln der Etikette durfte eine Dame, die einen Tanz wegen Erschöpfung oder einer Verletzung abgelehnt hatte, keine weiteren Aufforderungen zum Tanz für den Rest des Abends annehmen.

Lady Berwicks missbilligende Stimme klang frostig. „Ist das dein Dank für Lord Trenears Großzügigkeit? All deine kostspieligen neuen Kleider und Accessoires? Wieso hast du zugelassen, dass er sich in diese Ausgaben stürzt, wenn du von Anfang an geplant hast, deine Saison nicht zu nutzen?“

Im Grunde genommen hatte Pandora deswegen keine Gewissensbisse. Ihr Cousin Devon, Lord Trenear, dem der Titel des Earls nach dem Tod ihres Bruders zugefallen war, hatte sich ihr und Cassandra gegenüber bemerkenswert gütig verhalten. Er hatte nicht nur die Kosten der Ballausstattung für sie und Cassandra übernommen, er hatte den Zwillingen überdies eine stattliche Mitgift zugesichert, die das Interesse eines jeden geeigneten Junggesellen garantierte. Ihre Eltern, die vor Jahren schon verstorben waren, wären bei Weitem nicht so großzügig gewesen.

„Ich habe nicht geplant, meine Saison nicht zu nutzen“, murmelte sie zu ihrer Verteidigung. „Mir war nur nicht klar, wie schwierig das alles sein wird.“

In erster Linie das Tanzen.

Bestimmte Tänze, etwa den Großen Marsch und die Quadrille, konnte sie schaffen, konnte sogar den Galopp durchstehen. Aber beim Walzer stellte jede Drehung eine Gefahr dar … buchstäblich. Pandora hatte einen empfindlichen Gleichgewichtssinn; ihr wurde bei jeder schnellen Drehung schwindelig. Deshalb geriet sie auch bei Dunkelheit, wenn sie sich nicht auf ihre Sehfähigkeit als Orientierung verlassen konnte, aus der Balance. Lady Berwick wusste nichts von ihrer Schwäche, und aus Gründen des Stolzes und der Scham würde Pandora ihr das auch niemals gestehen. Nur Cassandra kannte ihr Geheimnis und die Geschichte dahinter und half ihr seit Jahren, ihre Behinderung zu verheimlichen.

„Es ist nur schwierig, weil du alles schwierig machst“, entgegnete Lady Berwick streng.

„Ich sehe nicht ein, wieso ich mir so große Mühe geben soll, einen Ehemann zu ergattern, der mich niemals gern haben wird.“

„Ob dein Ehemann dich gern hat oder nicht, ist unbedeutend. Eine Ehe hat nichts mit persönlichen Gefühlen zu tun. Sie ist eine Interessengemeinschaft.“

Pandora schwieg, obwohl sie anderer Meinung war. Vor etwa einem Jahr hatte ihre ältere Schwester Helen Mr. Rhys Winterborne geheiratet, einen Waliser bürgerlicher Herkunft, und beide waren ein überaus glückliches Paar. Das Gleiche galt für Cousin Devon und seine Frau Kathleen. Liebesheiraten mochten zwar selten sein, waren jedoch keineswegs unmöglich.

Davon abgesehen konnte Pandora sich eine Ehegemeinschaft für sich selbst nicht vorstellen. Anders als Cassandra, die Romantikerin, hatte sie nie davon geträumt, zu heiraten und Kinder zu bekommen. Sie sehnte sich nicht danach, zu jemandem zu gehören, und schon gar nicht wünschte sie sich, dass jemand zu ihr gehörte. So sehr sie versuchte, sich gesellschaftlichen Gepflogenheiten anzupassen, wusste sie genau, dass sie in einem konventionellen Leben niemals glücklich werden könnte.

Lady Berwick setzte sich seufzend mit kerzengeradem Rücken neben sie. „Der Mai hat soeben erst begonnen. Erinnerst du dich, was ich dir darüber gesagt habe?“

„Der Mai ist der wichtigste Monat der Saison, in dem alle großen Festlichkeiten stattfinden.“

„Richtig.“ Lady Berwick gab ihr die Tanzkarte zurück. „Nach diesem Ball erwarte ich von dir, dass du dich mehr bemühst. Das schuldest du Lord und Lady Trenear und dir selbst. Nicht zuletzt schuldest du es auch mir nach all meinen Bestrebungen, dir feine Manieren beizubringen.“

„Sie haben völlig recht“, pflichtete Pandora ihr kleinlaut bei. „Und es tut mir aufrichtig leid, Ihnen so große Mühe bereitet zu haben. Aber mir ist klar geworden, dass ich für all das nicht geschaffen bin. Ich habe nicht den Wunsch, mich zu verheiraten. Ich beabsichtige, meinen eigenen Lebensunterhalt zu verdienen und ein eigenständiges Leben zu führen. Mit etwas Glück werde ich Erfolg haben, und niemand muss sich Sorgen um mein Wohlergehen machen.“

„Sprichst du von diesem Unsinn, ein Gesellschaftsspiel zu erfinden?“, fragte die Countess geringschätzig.

„Das ist kein Unsinn, sondern Realität. Ich habe bereits ein Patent darauf erworben. Fragen Sie Mr. Winterborne.“

Vor einem Jahr hatte Pandora, die seit jeher eine Vorliebe für Gemeinschaftsspiele hatte, ein Brettspiel entworfen. Mit Mr. Winterbornes Ermunterung hatte sie Patentschutz eingereicht und erhalten. Nun beabsichtigte sie, das Spiel zu produzieren und zu vertreiben. Mr. Winterborne, Eigentümer der größten Warenhauskette in England, hatte ihr bereits zugesichert, fünfhundert Exemplare zu ordern. Das Spiel hatte große Chancen, ein Verkaufsschlager zu werden, da kaum Konkurrenz zu befürchten war. In Amerika blühte zwar das Geschäft mit Gesellschaftsspielen dank der Firma Milton Bradley, in Großbritannien steckte es aber noch in den Kinderschuhen. Pandora hatte bereits zwei weitere Spiele entwickelt, für die sie demnächst Patente zu erwerben beabsichtigte. Eines Tages würde sie genügend eigenes Geld verdienen, um ihre finanzielle Unabhängigkeit zu erreichen.

„So sehr ich Mr. Winterborne schätze“, entgegnete Lady Berwick säuerlich, „es missfällt mir erheblich, dass er dich in dieser Narretei ermutigt.“

„Er findet, ich habe das Zeug, eine tüchtige Unternehmerin zu werden.“

Die Countess zuckte zusammen, als sei sie von eine Wespe gestochen worden. „Pandora, du bist die Tochter eines Earls. Es wäre schlimm genug, wenn du einen Kaufmann oder Fabrikanten heiratest, aber selber ein Unternehmen zu führen ist undenkbar. Du würdest in keinem vornehmen Haus mehr empfangen werden. Die Gesellschaft würde dich ächten.“

„Wieso sollte es diese Leute interessieren …“, Pandora ließ mürrisch ihren Blick über die Ballgäste schweifen, „… womit ich mich beschäftige?“

„Weil du eine von ihnen bist. Eine Tatsache, die ihnen ebenso wenig behagt wie dir.“ Die Countess schüttelte den Kopf. „Ich begreife dich nicht, Kind. Dein Verstand kommt mir vor wie diese Feuerwerkskörper – wie heißen die Dinger, die sich drehen und Funken sprühen?“

„Feuerräder.“

„Ja. Wie ein funkensprühendes Rad, feurig und laut. Du triffst Entscheidungen, ohne dich um die Konsequenzen zu kümmern. Es ist nichts dagegen einzuwenden, klug zu sein, aber zu viel Klugheit bringt die gleichen Resultate wie Unwissenheit. Denkst du denn, du kannst dich einfach über die Regeln dieser Welt hinwegsetzen? Erwartest du, dass die Menschen dich bewundern, weil du anders bist?“

„Natürlich nicht.“ Pandora nestelte an ihrer leeren Tanzkarte, fächerte sie auf und klappte sie wieder zu. „Aber man könnte mich wenigstens akzeptieren.“

„Törichtes, eigensinniges Ding, wieso sollte man? Nonkonformismus ist nichts anderes als verkappter Egoismus.“ Die Countess hätte ihr zwar liebend gerne einen längeren Vortrag gehalten, ließ es jedoch dabei bewenden und erhob sich seufzend. „Wir setzen diese Diskussion später fort.“ Lady Berwick rauschte zur Schar moralinsaurer, schwarz gekleideter Matronen hinüber, die aufgereiht wie eine Schar Krähen am Rande des Ballsaales saßen.

In Pandoras linkem Ohr setzte ein metallisches Sirren ein wie ein vibrierender, dünner Kupferdraht. Das geschah gelegentlich, wenn sie erschöpft war. Zu ihrer Bestürzung begannen auch ihre Augen zu brennen. Oh Gott! Das hatte ihr gerade noch gefehlt: Pandora, das exzentrische, linkische Mauerblümchen hockte weinend in der Ecke des Ballsaales. Nein, nur das nicht! Sie sprang so hastig auf, dass ihr Stuhl nach hinten kippte.

„Pandora“, ertönte eine drängende Stimme hinter ihr. „Du musst mir helfen.“

Verblüfft drehte sie sich zu Dolly, Lady Colwick, um, die zu ihr eilte.

Die temperamentvolle dunkelhaarige Dolly war die jüngere von Lady Berwicks zwei Töchtern. Die Familien hatten sich angefreundet, nachdem Lady Berwick sich erboten hatte, den Zwillingen Pandora und Cassandra Unterricht in feinem Benehmen zu erteilen. Die hübsche Dolly war allseits beliebt und immer freundlich zu Pandora, während andere junge Damen sich über sie lustig machten oder sie geringschätzig behandelten. Während ihres Debüts im letzten Jahr war Dolly die gefeierte Schönheit der Ballsaison und bei jeder Festlichkeit von einer Schar Verehrer umringt gewesen. Kürzlich hatte sie Arthur, Lord Colwick, geehelicht, der zwar zwanzig Jahre älter war als sie, allerdings den Vorzug eines stattlichen Vermögens sowie den Titel eines künftigen Marquis vorzuweisen hatte.

„Was ist geschehen?“, fragte Pandora besorgt.

„Versprich mir, dass du Mama nichts davon verrätst.“

Pandora schmunzelte. „Du weißt genau, dass ich ihr nie etwas verrate, wenn es sich einrichten lässt. Was ist passiert?“

„Ich habe einen Ohrring verloren.“

„Oh verflixt!“, meinte Pandora teilnahmsvoll. „Aber so etwas kann passieren. Ich verliere ständig irgendwas.“

„Nein, du verstehst nicht. Lord Colwick holte die Saphirohrringe seiner Mutter aus dem Safe und bat mich, sie zu tragen.“ Dolly drehte ihr die Seite zu, an deren Ohrläppchen ein großer, in Diamanten gefasster Saphir baumelte. „Es geht nicht nur darum, dass ich den anderen verloren habe“, fuhr sie jammernd fort, „sondern wo. Also, ich schlich mich für ein paar Minuten mit Mr. Hayhurst, einem früheren Verehrer, aus dem Haus. Lord Colwick wäre wütend auf mich, wenn er es herausfände.“

Pandora bekam große Augen. „Wieso hast du das getan?“

„Nun ja, Mr. Hayhurst war mein glühendster Verehrer. Der arme Junge leidet noch heute an gebrochenem Herzen, weil ich Lord Colwick erhört habe, und stellt mir immer noch nach. Deshalb wollte ich ihn besänftigen und stimmte einem Treffen zu. Wir begaben uns in den Sommerpavillon im Garten hinter der Terrasse. Den Ohrring muss ich wohl auf der Bank, auf der wir saßen, verloren haben. Und wenn mein Gatte bemerkt, dass der Ohrring fehlt … Ich wage gar nicht daran zu denken, was dann passiert.“

Banges, erwartungsvolles Schweigen.

Pandora blickte zu den hohen Fenstern hinüber, in deren Scheiben sich die glitzernden Lichter der Kristalllüster brachen. Draußen war es stockdunkel.

Unbehagen kroch ihr kalt über den Rücken. Sie ging nachts nicht gern ins Freie, schon gar nicht allein. Aber Dolly war verzweifelt, und eingedenk ihrer früheren Freundlichkeit wollte Pandora sie nicht enttäuschen.

„Soll ich den Ohrring für dich holen?“, bot sie ihr zögernd an.

„Würdest du mir den Gefallen tun? Du könntest zum Pavillon laufen, den Ohrring holen, und wärst in wenigen Minuten wieder hier. Du musst nur dem Kiesweg folgen. Bitte, bitte, liebe Pandora. Ich schulde dir mein Leben.“

„Kein Grund, mich anzuflehen“, sagte Pandora verlegen. „Ich werde ihn schon finden. Aber Dolly, jetzt, da du verheiratet bist, solltest du dich nicht länger heimlich mit Mr. Hayhurst treffen. Das Risiko ist er nicht wert.“

Dolly sah sie traurig an. „Ich habe Lord Colwick gern, aber ich kann ihn niemals so lieben, wie ich Mr. Hayhurst liebe.“

„Warum hast du dann nicht ihn geheiratet?“

„Mr. Hayhurst ist der dritte Sohn und hat keinen Anspruch auf einen Titel.“

„Aber wenn du ihn liebst …“

„Sei nicht albern, Pandora. Liebe ist etwas für Mädchen aus der Unterschicht.“ Dollys unsteter Blick flog ängstlich durch den Saal. „Niemand blickt in unsere Richtung“, flüsterte sie hastig. „Wenn du dich beeilst, kannst du jetzt aus dem Saal huschen.“

Oh ja, sie wollte sausen wie der Wind, um nicht länger als nötig nachts im Freien zu sein. Wenn nur Cassandra an ihrer Seite wäre, die stets zu haben war, wenn es um etwas Verbotenes ging. Andererseits war es vorteilhaft, dass ihre Schwester tanzte und Lady Berwicks Aufmerksamkeit auf sich zog.

Gemächlich schlenderte Pandora seitlich am Ballsaal entlang, schnappte Bruchstücke von Gesprächen über Opern, grüne Parkanlagen und letzte Neuigkeiten auf. Als sie hinter Lady Berwicks Sessel vorbeischlich, fürchtete sie beinahe, ihre Gouvernante würde sich umdrehen und sich auf sie stürzen wie ein Adler auf eine Maus. Zum Glück war Lady Berwick völlig versunken in den Anblick der sich drehenden bunten Kreisel schwingender Röcke und schwarzer Frackschöße.

Soweit Pandora beurteilen konnte, blieb ihre Flucht aus dem Ballsaal unbemerkt. Sie eilte die breite Freitreppe hinunter, durch die Eingangshalle, in die hell erleuchtete Galerie, vorbei an unzähligen Ahnenporträts würdevoller Aristokraten, die vorwurfsvoll auf sie herabblickten, als sie im Laufschritt an ihnen vorbeihastete.

An einer Terrassentür verharrte sie und blickte in die Ferne wie ein Passagier an der Reling eines Ozeandampfers. Vor ihr erstreckte sich die kühle dunkle Nacht. Sie hasste es, die Geborgenheit des Hauses verlassen zu müssen. Der Schein der Ölfackeln in Kupferschalen, die den Kiesweg am Rande der Rasenfläche säumten, gab ihr Mut.

Pandora eilte die Steinstufen der Terrasse hinunter. Ein dichter Bestand schottischer Fichten im Hintergrund verbreitete einen würzigen Duft, der die üblen Gerüche der Themse milderte, deren Ufer das weitläufige Anwesen im Westen begrenzte.

Vom Fluss her drangen raue Männerstimmen und Hammerschläge herauf, wo Arbeiter an den Gerüsten für das bevorstehende Feuerwerk zimmerten. Als Höhepunkt und Abschluss des Festes würden sich die Gäste auf der Terrasse und dem Balkon im ersten Stock versammeln, um das Spektakel zu bewundern.

Der Kiesweg schlängelte sich an der riesigen Statue des uralten Flussgottes Father Thames vorbei. Ein bärtiger Koloss auf hohem Steinsockel mit einem Dreizack in der Faust. Das nackte Standbild trug nur einen kurzen Umhang um die Schultern, was ihm ein bemerkenswert albernes Aussehen verlieh.

Au naturel in aller Öffentlichkeit?“, flüsterte Pandora schnippisch im Vorbeigehen. „Von einer klassischen griechischen Statue erwartet man nichts anderes. Aber Sie, Sir, haben kein Recht dazu.“

Sie näherte sich dem Gartenhaus, halb versteckt hinter einer wuchernden Eibenhecke und üppig rankenden Kletterrosen. Auf einem sechseckigen Backsteinfundament erhoben sich schlanke gedrechselte Holzsäulen, verbunden mit zierlichem Gitterwerk und mit bunten Glasscheiben verziert. Von der Kuppeldecke hing eine marokkanische Ampel, innen von einer Öllampe erleuchtet.

Zaghaft stieg Pandora die Holzstufen hinauf und betrat den schummrigen Pavillon. An dem Mittelpfosten war eine Holzbank mit durchbrochener Rückenlehne festgeschraubt.

Auf der Suche nach dem verlorenen Ohrring raffte sie die Röcke, um den Saum nicht auf dem staubigen Fußboden zu beschmutzen. Immerhin trug sie ihr schönstes Ballkleid aus changierender Seide, die je nach Lichteinfall zwischen silbern oder lavendelfarben schimmerte. Das schmale Mieder wies ein tiefes Dekolleté auf, der schlichte Rock war im Rücken gerafft, seine Rüschen ergossen sich in Kaskaden, die bei jeder Bewegung schillerten.

Nachdem sie unter den losen Polstern nachgesehen hatte, setzte Pandora sich auf die Bank und spähte über die Rückenlehne. Ein zufriedenes Lächeln huschte über ihre Gesichtszüge, als sie an einer Fußbodenleiste ein Funkeln entdeckte.

Nun stellte sich die Frage, wie sie an den Ohrring herankommen sollte. Würde sie unter die Bank kriechen, käme sie rußgeschwärzt wie ein Rauchfangkehrer in den Ballsaal zurück.

Die Rückenlehne zierte eine kunstvoll geschnitzte Girlande, durch deren Zwischenräume sie den Arm strecken konnte. Pandora streifte die weißen Glacéhandschuhe ab, steckte sie in die verborgene Tasche ihres Kleides, kniete sich mit geschürzten Röcken auf die Bank und streckte einen Arm bis zum Ellbogen durch eine Öffnung. Ihre Fingerspitzen reichten nicht ganz bis zum Boden.

Sie beugte sich weiter vor, steckte auch den Kopf durch die Öffnung und spürte ein leichtes Ziehen an ihrer Hochsteckfrisur, gefolgt vom leisen Klirren einer fallenden Haarnadel. „Verflixt!“, murmelte sie. Sich windend, zwängte sie eine Schulter durch die Öffnung, bis ihre Finger den Ohrring ertasteten und sie danach greifen konnte.

Beim Versuch, sich zurückzuziehen, ergaben sich unerwartete Schwierigkeiten. Das Schnitzwerk der Bank schien sich an ihr festzubeißen wie die Zähne eines Haifisches. Sie stemmte sich nach hinten, spürte, wie ihr Kleid sich irgendwo festhakte und hörte eine Naht platzen. Sie verharrte. Mit einer aufgeplatzten Naht im Saal zu erscheinen, wäre nicht ratsam.

Mit dem freien Arm versuchte sie, an ihr Kleid im Rücken zu gelangen, hielt jedoch jäh inne, als sie hörte, wie die zarte Seide zu reißen begann. Wenn sie ein wenig vorwärtsrutschte, um sich seitlich zu befreien … Dieses Manöver hielt sie nur noch fester gefangen, die Ränder der Schnitzereien bohrten sich in ihr Fleisch. Nachdem sie sich eine Weile hilflos gewunden und gekrümmt hatte, hielt Pandora keuchend inne.

„Ich stecke nicht fest“, murmelte sie. „Das kann nicht sein.“ Wieder wand und schlängelte sie sich wie ein Aal. „Oh Gott, ich stecke fest. Verflixt! Dreimal verflixt!“

Wenn man sie so fand, würde sie ihr Leben lang verspottet werden. Damit würde sie sich irgendwie abfinden, aber der Spott würde auch ihre Familie der Lächerlichkeit preisgeben. Ihre Schande würde Cassandras Saison ruinieren, und das war nicht zu akzeptieren. Wütend und verzweifelt stieß sie das schlimmste Schimpfwort ihres Wortschatzes aus. „Verdammter Mist!“

Im nächsten Moment gefror ihr das Blut in den Adern. Sie hörte das Räuspern einer Männerstimme.

Ein Diener? Ein Gärtner? Bitte, lieber Gott, lass es keinen Ballbesucher sein!

Sie hörte Schritte, die den Pavillon betraten.

„Sie scheinen Probleme mit dieser Gartenbank zu haben“, bemerkte die Stimme sachlich. „Ich halte es nicht für ratsam, sich mit dem Kopf voran einem Möbelstück zu nähern, da diese Vorgehensweise den Prozess des Hinsetzens eher schwierig gestaltet.“ Die dunkle melodische Männerstimme berührte ihre Nerven auf seltsam angenehme Weise. Gänsehaut kroch ihr über die nackten Arme.

„Das ist mit Sicherheit amüsant“, sagte Pandora und drehte vorsichtig den Kopf, um den Fremden durch das Gitterwerk der Schnitzerei sehen zu können. Er trug förmliche Abendkleidung. Eindeutig ein Ballgast.

„Keineswegs. Wieso sollte mich der Anblick einer jungen Dame amüsieren, die mit dem Kopf nach unten auf einer Gartenbank posiert?“

„Ich posiere nicht. Mein Kleid hat sich verfangen. Und ich wäre Ihnen sehr verbunden, wenn Sie mir behilflich wären, mich davon zu befreien!“

„Von dem Kleid oder der Bank?“, fragte der Fremde mitfühlend.

„Der Bank!“, entgegnete Pandora gereizt. „Ich habe mich völlig verheddert in diesen dämlichen …“ Sie suchte nach dem passenden Begriff für das Schnitzwerk. „… diesen Schnörkelschnickschnack“, beendete sie den Satz.

„Akanthusblätter“, sagte der Mann im gleichen Atemzug. Nach einer kurzen Pause fragte er ratlos: „Wie haben Sie das gerade genannt?“

„Egal“, antwortete Pandora verlegen. „Ich habe die schlechte Angewohnheit, Wörter zu erfinden, obwohl ich mich davor in der Öffentlichkeit hüten sollte.“

„Wieso?“

„Weil man mich für exzentrisch halten könnte.“

Sein leises Lachen löste ein befremdliches Prickeln in ihrer Magengegend aus. „Im Moment, meine Liebe, sind neue Wortschöpfungen wohl Ihr geringstes Problem.“

Pandora blinzelte verdutzt über das vertrauliche Kosewort und verkrampfte sich, als er sich neben sie setzte. Nahe genug, um seinen Geruch wahrzunehmen, ein Duftgemisch aus Minze und Zedernholz, untermalt von erdiger Kühle. Er roch wie ein exotischer Wald.

„Wollen Sie mir nun helfen?“, fragte sie ungeduldig.

„Schon möglich. Wenn Sie mir sagen, was Sie auf dieser Bank tun.“

„Ist das nötig?“

„Ist es“, versicherte er.

Pandora zog die Stirn kraus. „Ich habe etwas gesucht.“

Ein langer Arm legte sich über die Rückenlehne. „Ich befürchte, Sie müssen etwas deutlicher werden.“

Dieser Fremde ist nicht gerade ritterlich, dachte sie erzürnt. „Einen Ohrring.“

„Wie haben Sie Ihren Ohrring verloren?“

„Er gehört nicht mir, sondern einer Freundin, und ich muss ihn ihr rasch bringen.“

„Eine Freundin“, wiederholte er skeptisch. „Wie heißt sie denn?“

„Das kann ich Ihnen nicht sagen.“

„Wie schade. Nun, viel Glück.“ Er machte Anstalten zu gehen.

„Warten Sie!“ Pandora fing wieder an zu zappeln und hörte, wie eine weitere Naht platzte. Mit einem verzweifelten Seufzer hielt sie inne. „Der Ohrring gehört Lady Colwick.“

„Aha. Ich nehme an, sie war mit Hayhurst hier?“

„Woher wissen Sie das?“

„Das weiß jeder, einschließlich Lord Colwick. Ich denke nicht, dass ihn Dollys Affären zu einem späteren Zeitpunkt stören würden. Aber es ist ein bisschen verfrüht, bevor sie ein eheliches Kind zur Welt gebracht hat.“

Kein Gentleman hatte je so offen mit Pandora gesprochen, und es war total schockierend. Es war aber auch die erste interessante Unterhaltung in dieser Ballnacht.

„Sie hat keine Affäre“, sagte Pandora. „Es war nur ein Rendezvous.“

„Wissen Sie, was ein Rendezvous ist?“

„Natürlich weiß ich das“, antwortete sie würdevoll. „Ich hatte Französischunterricht. Es ist ein Treffen.“

„Im Kontext“, erklärte er trocken, „heißt es sehr viel mehr als nur ein Treffen.“

Pandora zappelte unglücklich. „Es interessiert mich nicht die Bohne, was Dolly und Mr. Hayhurst auf dieser Bank getan haben. Ich will nur hier raus. Helfen Sie mir endlich?“

„Ich muss wohl. Der Reiz des Neuen, mich mit einem mir unbekannten Hinterteil zu unterhalten, beginnt langsam zu schwinden.“

Pandora spannte sich an, ihr Herz machte einen Satz, als sie spürte, wie er sich über sie beugte.

„Seien Sie unbesorgt“, sagte er. „Ich werde nicht zudringlich. Ich vergreife mich nicht an jungen Mädchen.“

„Ich bin einundzwanzig“, korrigierte sie ihn pikiert.

„Tatsächlich?“

„Ja. Wieso klingen Sie so skeptisch?“

„Ich hätte nicht erwartet, eine erwachsene Frau in dieser misslichen Lage vorzufinden.“

„Ich befinde mich eigentlich ständig in einer misslichen Lage.“ Pandora zuckte zusammen, als sie einen sanften Druck im Rücken verspürte.

„Halten Sie still! Ihr Kleid hat sich an den Schnitzereien verhakt.“ Er zog vorsichtig an Rüschen und Volants. „Wie haben Sie es nur geschafft, sich durch diese schmale Lücke zu zwängen?“

„Es war leicht, mich vorwärtszuschieben. Aber mir war nicht klar, dass diese verflixten Schlingedinger … ehm … diese Voluten Widerhaken haben.“

„Ihr Kleid ist jetzt frei. Versuchen Sie, sich nach hinten zu schieben.“

Pandora begann, rückwärts zu kriechen und quietschte, als Holz sich in ihr Fleisch bohrte. „Ich schaffe es nicht. Oh, Mist …“

„Keine Panik. Drehen Sie Ihre Schulter nach … nein, in die andere Richtung. Warten Sie.“ Der Fremde klang beinahe heiter. „Kommt mir vor wie eine japanische Trickbox.“

„Was ist das?“

„Ein Holzkästchen, aus verschiedenen Fächern zusammengesetzt, das sich nur öffnen lässt, wenn man die richtige Reihenfolge zum Verschieben der Fächer kennt.“

Eine warme Handfläche legte sich auf ihre nackte Schulter und drehte sie sanft zur Seite.

Erschrocken zog Pandora den Atem scharf ein.

„Entspannen Sie sich“, beruhigte er sie. „Gleich sind Sie frei.“

Ihre Stimme klang höher als gewöhnlich. „Ich kann mich nicht entspannen, wenn Ihre Hand auf mir liegt.“

„Wenn Sie mitmachen, geht es schneller.“

„Das versuche ich, aber das ist eine sehr seltsame Position.“

„In diese Position haben Sie sich gebracht, nicht ich“, rief er ihr in Erinnerung.

„Ja, aber … autsch!“ Die Spitze einer Volute hatte ihren Arm zerkratzt. In wachsender Panik schlängelte und zappelte sie noch heftiger in der Enge der Schnitzereien. „Oh, das ist das reinste Horrorgrauen.“

„Ganz ruhig. Ich versuche, Ihren Kopf zu führen.“

Beide erstarrten beim Klang einer grollenden Männerstimme. „Was zum Teufel geht hier vor?“

Der Fremde, der sich über Pandora beugte, fluchte halblaut in sich hinein. Sie wusste nicht, was die Worte bedeuteten, aber sie klangen schlimmer als „verdammter Mist“.

Der zornige Eindringling fuhr polternd fort: „Elender Schuft! So etwas hätte ich nicht einmal Ihnen zugetraut. Eine hilflose Frau zu bedrängen und meine Gastfreundschaft während eines Wohltätigkeitsballes zu missbrauchen!“

„Mylord!“, rief Pandoras Retter voller Entsetzen. „Sie missverstehen die Situation.“

„Ich verstehe sehr wohl. Geben Sie die Dame augenblicklich frei.“

„Aber ich stecke doch hier fest“, wimmerte Pandora kläglich.

„Was für eine Schande!“ Der streitbare Herr schien sich an einen Dritten zu wenden. „Augenscheinlich mitten im Akt ertappt.“

In heilloser Verwirrung spürte Pandora, wie der Fremde sie heftig aus ihren Fesseln zog, eine flache Hand seitlich an ihre Wange gepresst, um sie vor Verletzungen zu schützen. Seine befremdliche Berührung jagte eine heiße Welle durch sie hindurch. Sobald sie endlich aus dem Schnitzwerk befreit war, sprang Pandora auf die Beine. Nachdem sie lange kopfüber gehangen hatte, wurde ihr schwarz vor Augen. Reflexartig gab der Fremde ihr Halt, als sie ins Wanken geriet, und zog sie in seine Arme. Einen schwindelerregenden Moment spürte sie eine harte Männerbrust und kraftvolle Muskeln, bevor er sie freigab. Ihre Hochsteckfrisur rutschte nach vorne über die Stirn, als sie an sich hinunterblickte. Ihre Röcke waren schmutzig und zerknittert. Ihre Schultern und Oberarme wiesen gerötete Striemen auf.

„Verdammt!“, murmelte der Mann, der vor ihr stand. „Wer sind Sie?“

„Lady Pandora Ravenel. Ich werde …“ Ihre Stimme verlor sich beim Anblick dieses arroganten jungen Gottes, hochgewachsen und breitschultrig, sehnig und geschmeidig wie eine Raubkatze. Der Schein der Hängelampe malte goldene Glanzlichter in sein bernsteinfarbenes Haar. Sie sah eisblaue Augen, hohe Wangenknochen und eine kantig geschnittene Kinnpartie. Der sinnliche Schwung voller Lippen bildete einen merkwürdigen Kontrast zu seinen klassischen Gesichtszügen. Das Atmen fiel ihr plötzlich schwer, als sei die Luft zu dünn. Welchen Einfluss mochte diese Schönheit auf den Charakter eines Mannes haben? Mit Sicherheit keinen guten.

Benommen ließ Pandora den Ohrring in der Tasche ihres Kleides verschwinden.

„Ich sage, dass nichts geschehen ist. Das ist ja auch die Wahrheit.“

„Die Wahrheit hat keine Bedeutung“, lautete seine knappe Antwort.

Er ließ ihr mit einer Geste den Vortritt beim Verlassen des Pavillons, und beide standen Lord Chaworth gegenüber, dem Veranstalter des Balles und der Besitzer des Anwesens. Ein guter Freund der Berwicks und der letzte Mensch auf Erden, der Pandora in dieser kompromittierenden Lage vorfinden durfte. In seiner Begleitung befand sich ein dunkelhaariger Herr, den Pandora nicht kannte.

Der kurzbeinige, beleibte Lord Chaworth erinnerte sie an eine Birne an zwei dürren Zweigen. Sein stattlicher weißer Backenbart zitterte beim Reden. „Der Earl und ich schlenderten am Ufer entlang, um die Vorbereitungen zum Feuerwerk zu überprüfen, als wir zufällig die Hilferufe der jungen Dame hörten.“

„Ich habe nicht um Hilfe gerufen“, protestierte Pandora.

„Auch ich spazierte am Ufer entlang und wechselte ein paar Worte mit dem Vorarbeiter“, ließ der Mann neben ihr sich vernehmen. „Auf dem Rückweg ins Haus bemerkte ich zufällig, dass Lady Pandora in Schwierigkeiten steckte, da ihr Kleid sich in der Schnitzerei der Bank verheddert hatte. Ich wollte ihr lediglich behilflich sein.“

Chaworths buschige Brauen flogen wie weiße Wölkchen bis zu seinem Haaransatz hoch, als er sich Pandora zuwandte. „Ist das wahr?“

„Ja, Mylord.“

„Und wieso, wenn ich bitten darf, hielten Sie sich im Pavillon auf?“

Pandora zögerte, wollte Dolly nicht in die peinliche Situation hineinziehen. „Ich wollte nur ein wenig frische Luft schnappen. Ich … ich fand den Ball langweilig.“

„Langweilig?“, wiederholte Chaworth aufgebracht. „Ein Zwanzig-Mann-Orchester und einen Saal voller strammer Burschen zum Tanzen finden Sie langweilig?“

„Ich wurde nicht zum Tanz gebeten“, murmelte Pandora.

„Sie wären darum gebeten worden, hätten Sie nicht hier draußen mit einem notorischen Schürzenjäger geschäkert!“

„Chaworth“, mischte sich sein dunkelhaariger Begleiter ein. „Wenn ich etwas sagen darf.“

Der Mann mit den kühn geschnittenen Zügen und dem gebräunten Gesicht ließ erkennen, dass er sich viel in freier Natur aufhielt. Nicht mehr ganz jung – seine schwarzen Locken waren von Silberfäden durchzogen, und die Jahre hatten die Lachfältchen um seine Augen vertieft, ebenso die Falten um Nase und Mund –, konnte der Fremde jedoch keinesfalls als alt bezeichnet werden. Schon gar nicht mit seiner Ausstrahlung robuster Gesundheit und bemerkenswerter Autorität.

„Ich kenne den Burschen seit seiner Geburt“, fuhr er mit tiefer, leicht heiserer Stimme fort. „Wie du weißt, ist sein Vater ein guter Freund von mir. Ich verbürge mich für seinen Charakter und sein Wort. Aus Rücksicht auf das Mädchen schlage ich vor, die Angelegenheit diskret zu behandeln und darüber zu schweigen.“

„Auch ich bin mit seinem Vater bekannt“, erklärte Lord Chaworth schneidend. „Er hat so manche Blume gepflückt – zu seiner Zeit. Augenscheinlich ist sein Sohn in seine Fußstapfen getreten. Nein, Westcliff, ich bewahre keineswegs Stillschweigen. Der Schurke muss für sein Vergehen zur Rechenschaft gezogen werden.“

Westcliff? Pandora betrachtete ihn mit wachem Interesse. Sie hatte vom Earl of Westcliff gehört, der, nach dem Duke of Norfolk, die älteste und ehrwürdigste Peerswürde im Königreich innehatte. Sein riesiger Landsitz in Hampshire, Stony Cross Park, war berühmt für seine reichen Jagd- und Fischgründe.

Westcliff begegnete ihrem Blick weder schockiert noch missbilligend. „Ihr Vater war Lord Trenear?“, fragte er.

„Ja, Mylord.“

„Wir kannten einander. Er jagte gern auf meinem Landsitz.“ Der Earl legte eine Pause ein. „Ich lud ihn ein, seine Familie mitzubringen, aber er zog es stets vor, allein zu erscheinen.“

Das überraschte sie keineswegs. Pandoras Vater hatte in seinen drei Töchtern so etwas wie lästige Parasiten gesehen. Und auch ihre Mutter hatte sich kaum für ihre Kinder interessiert. Demzufolge hatten Pandora, Cassandra und Helen oft monatelang ihre Eltern nicht zu Gesicht bekommen. Erstaunlich daran war lediglich, dass die Erinnerung immer noch schmerzte.

„Mein Vater wollte mit seinen Töchtern so wenig wie möglich zu tun haben“, erwiderte Pandora freimütig. „Er sah in uns nur störende Plagegeister.“ Mit gesenktem Kopf murmelte sie: „Offenbar bin ich der schlagende Beweis.“

„Das würde ich nicht so sehen.“ Ein Anflug heiterer Sympathie wärmte die Stimme des Earls. „Meine Töchter haben mir mehr als einmal vor Augen geführt, dass auch wohlerzogene, kluge Mädchen sich gelegentlich die Finger verbrennen.“

Lord Chaworth ergriff das Wort. „Um diese ‚verbrannten Finger‘ muss ich mich umgehend kümmern. Ich bringe Lady Pandora zu ihrer Gouvernante zurück.“ Er wandte sich dem Mann neben ihr zu: „Ich schlage vor, Sie begeben sich unverzüglich nach Ravenel House, um mit der Familie die entsprechenden Arrangements zu besprechen.“

„Welche Arrangements?“, fragte Pandora.

„Er spricht von Heirat“, antwortete der junge Mann mit den eisblauen Augen tonlos.

Ein Frösteln durchrieselte sie. „Was? Nein. Nein, ich heirate Sie unter keinen Umständen.“ In der Erkenntnis, er könne ihre Worte persönlich nehmen, ergänzte sie versöhnlich: „Das hat nichts mit Ihnen zu tun. Es ist nur so, dass ich nicht die Absicht habe, zu heiraten und …“

Lord Chaworth unterbrach sie mit einem blasierten Grinsen: „Ich denke, Ihre Bedenken sind vergessen, wenn Sie erfahren, dass es sich bei dem Herrn um Gabriel, Lord St. Vincent, dem zukünftigen Erben eines Herzogtitels handelt.“

Pandora schüttelte den Kopf. „Ich wäre lieber eine Waschfrau als die Gemahlin eines Peers.“

Lord St. Vincents Blick glitt über ihre zerkratzte Schulter zu ihrem verschmutzten Kleid und kehrte bedächtig zu ihrem Gesicht zurück. „Tatsache ist“, erklärte er seelenruhig, „dass Sie zu lange aus dem Ballsaal verschwunden sind, um nicht vermisst zu werden.“

Allmählich begann ihr zu dämmern, dass sie wirklich in der Klemme saß. In einer Notlage, die nicht mit wortreichen Erklärungen zu bereinigen war, auch nicht mit Geld, nicht einmal mit dem Einfluss ihrer Familie. Der Puls dröhnte ihr wie Paukenschläge in den Ohren. „Nichts ist verloren, wenn ich jetzt wieder erscheine. Niemand hat je Notiz davon genommen, ob ich anwesend bin oder nicht.“

„Das wage ich zu bezweifeln.“

Sein Tonfall klang nicht nach einem Kompliment.

„Aber es ist wahr“, versicherte Pandora verzweifelt, redete schnell weiter und dachte noch schneller. „Ich bin ein Mauerblümchen. Ich ließ mich nur beschwatzen, an der Saison teilzunehmen, um meiner Schwester Cassandra Gesellschaft zu leisten. Wir sind Zwillinge, und sie ist die hübschere und nettere von uns, und Sie, Sir, wären genau der passende Ehemann für sie. Wenn Sie gestatten, hole ich sie schnell, und Sie könnten Cassandra kompromittieren, und ich wäre vom Haken.“ Sein leerer Blick zwang sie zu einer weiteren Erklärung: „Man erwartet doch gewiss nicht, dass Sie uns beide heiraten.“

„Ich fürchte, ich ruiniere nie mehr als den Ruf einer Frau pro Nacht.“ Sein Tonfall war der reine Hohn. „Irgendwo muss ein Mann Grenzen ziehen.“

Pandora entschied sich für eine andere Strategie. „Sie haben nicht den Wunsch, mich zu heiraten, Mylord. Ich wäre die schlechteste Ehefrau, die Sie sich denken können. Ich vergesse alles, bin eigensinnig und kann keine fünf Minuten still sitzen. Ich tue ständig Dinge, die ich nicht tun darf. Ich lausche heimlich an Türen, ich rede zu laut, renne in der Öffentlichkeit und bin eine unbeholfene Tänzerin. Ich habe meinen Charakter verdorben mit der Lektüre ungehöriger Bücher.“ Als sie Luft holen musste, bemerkte sie, dass Lord St. Vincent anscheinend nicht sonderlich beeindruckt war von der Liste ihrer Fehler. „Und außerdem sind meine Beine viel zu dünn. Ich habe Storchenbeine.“

Bei der schamlosen Erwähnung besagter weiblicher Körperteile schnaubte Lord Chaworth wie ein gereizter Gaul, und Lord Westcliff interessierte sich angelegentlich für die duftenden Kletterrosen.

Lord St. Vincent bemühte sich, sich das Zucken um seine Mundwinkel zu verkneifen. „Ich weiß Ihre Aufrichtigkeit zu schätzen“, sagte er nach einer Weile und warf dem Gastgeber einen frostigen Blick zu. „Um Lord Chaworths Beharrlichkeit, Moral und Anstand Genüge zu tun, bleibt mir keine andere Wahl, als die Situation mit Ihrer Familie zu besprechen.“

„Wann?“, fragte Pandora bang.

„Noch heute Nacht.“ Lord St. Vincent näherte sich einen Schritt und neigte sich ihr zu. „Gehen Sie mit Chaworth“, sagte er halblaut. „Sagen Sie Ihrer Gouvernante, ich befinde mich auf dem Weg nach Ravenel House. Und um Himmels willen, machen Sie sich unsichtbar! Eine grässliche Vorstellung, wenn die Leute mich für einen ungehobelten Tölpel hielten, eine Dame so ungeschickt zu belästigen.“ Nach einer kurzen Pause fügte er noch leiser hinzu: „Sie müssen Dolly den Ohrring zurückgeben. Bitten Sie einen Diener darum, ihn ihr auszuhändigen.“

Pandora machte den Fehler, den Blick zu heben. Keine Frau hätte dem Anblick eines Erzengels widerstehen können. Keiner der ansehnlichen jungen privilegierten Herren, die sie während dieser Saison kennengelernt hatte, die um ein kühles aristokratisches Auftreten bestrebt waren, könnten sich auch nur im Entferntesten mit diesem atemberaubenden Fremden messen, der zweifellos sein ganzes Leben verwöhnt und bewundert worden war.

„Ich kann Sie nicht heiraten“, sagte sie benommen. „Ich würde alles verlieren.“ Sie wandte sich ab und legte ihre Hand in Lord Chaworths Armbeuge, der sie zum Haus begleitete, während die beiden zurückgebliebenen Herren ihnen nachblickten.

Chaworth lachte in nervtötender Genugtuung in sich hinein. „Donnerwetter, ich kann es kaum erwarten, Lady Berwicks Reaktion zu sehen, wenn ich ihr die Neuigkeiten berichte.“

„Sie wird mich auf der Stelle ermorden“, brachte Pandora, die beinahe an ihrer Verzweiflung erstickte, mühsam hervor.

„Wieso denn?“, fragte der alte Mann ungläubig.

„Weil ich kompromittiert wurde.“

Chaworth lachte dröhnend. „Mein liebes Kind. Ich würde mich nicht wundern, wenn sie einen Freudentanz aufführt. Ich habe soeben die Hochzeit des Jahres arrangiert!“

2. Kapitel

Gabriel schob fluchend die Fäuste in die Hosentaschen. „Es tut mir leid“, sagte Westcliff aufrichtig. „Wäre Chaworth nicht gewesen …“

„Ich weiß.“ Gabriel wanderte vor dem Pavillon hin und her wie ein Tiger im Käfig. Es war unfassbar. Bisher war er sämtlichen klug eingefädelten Ehefallen ausgewichen, und jetzt hatte es ihn erwischt. Nicht durch die Listen einer geschickten Verführerin oder einer gebildeten Schönheit mit geschliffenen Umgangsformen. Seinen Untergang hatte er einem exzentrischen Aschenbrödel zu verdanken. Pandora war die Tochter eines Earls, was bedeutete, dass ihre Ehre bewahrt werden musste, selbst wenn sie amtlicherseits für geisteskrank erklärt werden würde – was keineswegs auszuschließen wäre.

Sie erweckte den beängstigenden Eindruck rastloser Energie wie ein nervöses Rennpferd vor dem Startschuss. Selbst ihre kleinsten Gesten ließen eine bevorstehende Explosion befürchten. Eine höchst alarmierende Ausstrahlung, die allerdings zugleich den Wunsch in ihm weckte, dieses ungezügelte Feuer zu bändigen und einem sinnvollen Zweck zuzuführen, bis sie ausgelaugt und erschlafft unter ihm läge.

Mit ihr zu schlafen, wäre nicht das Problem.

Alles andere an ihr war ein großes Problem.

Grollend lehnte Gabriel den Rücken an eine Säule des Pavillons. „Was meinte sie damit, sie würde alles verlieren, wenn sie mich heiratet?“, fragte er. „Vielleicht ist sie verliebt. Wenn ja …“

„Es gibt junge Frauen“, erklärte Westcliff trocken, „die andere Ziele im Leben verfolgen, als sich einen Ehemann zu angeln.“

Gabriel verschränkte die Arme vor der Brust und bedachte ihn mit einem spöttischen Blick. „Tatsächlich? So eine ist mir noch nie begegnet“, sagte er mit einem dünnen Lächeln.

Außer seinem Vater gab es keinen Mann, dem Gabriel so sehr vertraute wie Westcliff, der zu ihm von Jugend an wie ein gütiger Onkel war. Der Earl gehörte zu den Männern, die stets die moralisch richtige Entscheidung trafen, so schwer sie ihm auch fallen mochte. „Ich kenne deine Meinung, was ich zu tun habe“, murmelte Gabriel.

„Ein Mädchen mit ruiniertem Ruf ist der Welt gnadenlos ausgeliefert“, meinte Westcliff. „Du bist dir deiner Verantwortung als Gentleman hoffentlich bewusst.“

Gabriel schüttelte mit einem ungläubigen Lachen den Kopf. „Warum sollte ich dieses Mädchen heiraten?“ Pandora würde nie in sein Leben passen. Irgendwann würden sie einander umbringen. „Sie ist kaum zivilisiert.“

„Wie mir scheint, hat Lady Pandora sich zu selten in Gesellschaftskreisen bewegt, um sich darin zurechtzufinden“, gab Westcliff zu.

Gabriel beobachtete einen gelben Nachtfalter, der vom Schein einer Fackel am Wegrand berauscht ins Licht torkelte. „Sie schert sich keinen Deut um gesellschaftliche Gepflogenheiten“, erklärte er mit Bestimmtheit. Der Falter flatterte in immer engeren Kreisen um das todbringende Licht. „Was sind das für Leute, diese Ravenels?“

„Eine alte und angesehene, leider verarmte Familie. Nach dem Tod des Vaters ging die Grafenwürde auf Pandoras älteren Bruder Theo über, der kurze Zeit später bei einem tragischen Reitunfall ums Leben kam.“

„Ich bin ihm einmal begegnet“, warf Gabriel mit nachdenklich gefurchter Stirn ein. „Vor zwei oder drei Jahren bei Jenner’s.“

Gabriels Familie gehörte ein Spielcasino, vorgeblich ein Herrenclub, in dem das Königshaus, der Hochadel und andere einflussreiche Männer verkehrten. Bevor sein Vater Sebastian den Herzogtitel erbte, hatte dieser den Club selbst geleitet und das Etablissement zum vornehmsten Spielcasino der Stadt erweitert.

In den letzten Jahren war die Verantwortung für einige Familienunternehmen Gabriel zugefallen, darunter auch Jenner’s. Im Wissen, dass der Club seinem Vater besonders am Herzen lag, hatte Gabriel die Geschäftsleitung persönlich übernommen. Irgendwann hatte Theo, Lord Trenear, den Club aufgesucht. Ein stattlicher, gut aussehender Mann, blond und blauäugig, der seinen Charme zu versprühen wusste. Aber in seinem Inneren brodelte ein Vulkan.

„Eines Abends, als ich zufällig anwesend war, erschien er mit ein paar Freunden im Club“, berichtete Gabriel, „und verbrachte die meiste Zeit am Hasard-Tisch. Er spielte nicht gut. Er war einer, der seinen Verlusten hinterherjagte, statt rechtzeitig aufzuhören. Bevor er ging, wollte er die Mitgliedschaft beantragen. Der Manager suchte mich ziemlich aufgeregt in meinem Büro auf und bat mich, persönlich mit Lord Trenear wegen seines privilegierten Ranges zu verhandeln.“

„Du warst gezwungen, ihm die Mitgliedschaft zu verweigern.“ Westcliff verzog das Gesicht.

Gabriel nickte. „Er hatte einen schlechten Ruf, und sein Landbesitz war hoch verschuldet. Ich sprach mit ihm unter vier Augen und lehnte seinen Antrag höflich ab. Und dann …“ Er schüttelte verständnislos den Kopf.

„Bekam er einen Wutanfall“, vermutete Westcliff.

„Er schäumte vor Wut wie ein angestochener Stier.“ Gabriel entsann sich, wie Theo sich ohne Vorwarnung auf ihn gestürzt hatte. „Er hörte nicht auf, mich mit Fausthieben zu traktieren, bis ich ihn mit einem Kinnhaken zu Boden schickte. Ich kenne einige Männer, die sich nicht zu beherrschen wissen, zumal wenn sie zu viel getrunken haben. Aber einen solchen Gewaltausbruch habe ich nie zuvor erlebt.“

„Die Ravenels sind für ihr hitziges Temperament berüchtigt.“

„Vielen Dank“, entgegnete Gabriel säuerlich. „Würde mich nicht wundern, wenn meine Nachkommen mit dieser exaltierten Hysterikerin mit Hörnern und Schwänzen zur Welt kämen.“

Westcliff lächelte milde. „Meiner Erfahrung nach kommt es darauf an, wie man mit Hitzköpfen umgeht.“ Der Earl war der in sich ruhende Mittelpunkt seiner eigenen temperamentvollen Familie, bestehend aus einer lebenssprühenden Ehefrau und einem halben Dutzend übermütiger, lärmender Kinder.

Im Vergleich zu Lady Pandora wirkten sie allerdings wie brave Lämmchen.

Gabriel fasste sich mit Daumen und Zeigefinger an die Nasenwurzel und knurrte: „Dazu fehlt mir verdammt noch mal die Geduld, Westcliff.“ Er sah, dass der gelbe Nachtfalter sich schließlich zu nah an die verlockende Flamme herangewagt hatte. Seine zarten Flügel fingen Feuer und das Insekt zerfiel in Sekundenschnelle zu Asche. „Weißt du auch etwas über den neuen Lord Trenear?“

„Devon Ravenel. Was ich so hörte, scheint er in Hampshire bereits ein angesehener Mann zu sein, der sich als tüchtiger Verwalter der Ländereien erweist.“ Westcliff machte eine Pause. „Er hat die junge Witwe des verstorbenen Earls geheiratet, was zwar nicht ungesetzlich ist, allerdings auf einige Kritik stieß.“

„Sie hatte wohl ein stattliches Vermögen vorzuweisen“, bemerkte Gabriel spöttisch.

„Mag sein. Wie auch immer, ich kann mir nicht denken, dass Trenear Einwände gegen deine Vermählung mit Pandora hat.“

Gabriel verzog die Mundwinkel. „Ich könnte mir denken, er wird überglücklich sein, sie loszuwerden.“

Die Villen an der South Audley Street, einer vornehmen Adresse in Mayfair, waren mit Säulenportalen im Georgianischen Stil erbaut. Eine Ausnahme machte das dreistöckige Ravenel House im jakobinischen Stil mit seinem Flachdach, den Rundbogenarkaden und durchbrochenen Balkonbrüstungen.

Die weitläufige Eingangshalle war mit reich geschnitzter Eichentäfelung versehen, die hohe Stuckdecke mit Fresken aus der griechischen Mythologie bemalt. An den Wänden hingen kunstvolle Gobelins. Chinesische Bodenvasen mit frischen Blumengestecken standen auf den Marmorfliesen.

Ein Butler führte ihn in einen eleganten Empfangssalon und kündigte seinen Besuch an. Bei Gabriels Eintreten erhob sich Devon Ravenel.

Der neue Earl of Trenear war ein schlanker breitschultriger Herr, nicht älter als dreißig mit dunklem Haar und wachem Blick. Er strahlte eine angenehme, natürliche Selbstsicherheit aus, die Gabriel auf Anhieb sympathisch fand.

Seine Gemahlin Kathleen, Lady Trenear, blieb auf dem Sofa sitzen. „Herzlich willkommen, Mylord.“ Ein Blick genügte Gabriel, um seinen Verdacht zu revidieren, Trenear habe sie aus finanziellen Gründen geheiratet. Zumindest konnte das nicht der einzige Grund gewesen sein. Sie war eine schöne, zierliche Frau mit schrägen braunen Augen. Ihr widerspenstiges rotes Haar, mühsam von Kämmen gebändigt, erinnerte ihn an das Haar seiner Mutter und älteren Schwester.

„Verzeihen Sie, wenn ich ohne Voranmeldung zu dieser späten Stunde Ihre Privatsphäre störe“, erklärte Gabriel.

„Keine Ursache“, entgegnete Trenear salopp. „Erfreut, Ihre Bekanntschaft zu machen.“

„Ich befürchte, Sie ändern Ihre Meinung, wenn Sie den Grund meines Besuches erfahren.“ Gabriel errötete beim Anblick der fragenden Blicke des Ehepaars. Sein Dilemma, dem ein übler Beigeschmack anhaftete, machte ihn verlegen und wütend. Mit versteinerter Miene setzte er seine Rede fort. „Ich komme soeben vom Chaworth Ball. Dort hat sich eine ungeahnt heikle Situation … ergeben, die unverzüglich zu bereinigen ist. Ich …“, er räusperte sich, „… ehm … durch mein Verschulden wurde Lady Pandora kompromittiert.“

Schweigen senkte sich über den Raum.

Wäre ihm die Situation nicht so überaus peinlich gewesen, hätte Gabriel beim Anblick der fassungslosen Gesichter geschmunzelt.

Lady Trenear fasste sich als Erste. „Was soll das heißen, Pandora wurde durch Sie kompromittiert, Mylord? Wurden Sie belauscht, als Sie mit ihr kokettierten? Oder ein ungebührliches Thema mit ihr diskutierten?“

„Ich wurde alleine mit ihr ertappt. Im Gartenpavillon hinter dem Haus.“

Eine weitere knisternde Stille verstrich, ehe der Earl unverblümt fragte: „Was haben Sie sich zuschulden kommen lassen?“

„Ich half ihr beim Aufstehen von einer Gartenbank.“

Lady Trenear wirkte völlig ratlos. „Das war sehr ritterlich von Ihnen, aber wieso …“

„Mit dem Aufstehen“, fuhr Gabriel fort, „will ich sagen, dass ich gezwungen war, sie durch die Sprossen besagter Gartenbank zu ziehen. Irgendwie hatte sie es geschafft, ihre Schulter durch die geschnitzten Girlanden der Rückenlehne zu zwängen, und sie konnte sich nicht befreien, ohne ihr Kleid zu zerreißen.“

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