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Stürmische Jahre

Als Buch hier erhältlich:

Thomas Mann mit Familie, Franz Werfel, Annemarie Schwarzenbach, Alma Mahler – berühmte Autoren fanden vor dem Krieg in Zürich zusammen, mittendrin das heute vergessene Ehepaar Ferdinand und Marianne Rieser. Ihrem Engagement war es zu verdanken, dass das von ihnen gekaufte und privat betriebene Theater am Pfauen zu einer Heimat im Exil für viele durch den Nationalsozialismus gefährdete Schauspieler aus Deutschland wurde. Sie spielten riskante, nazikritische Stücke. In ihrer romanhaften Art erzählt Eveline Hasler von der angstvoll kreativen Anspannung damals, Schauplätze sind auch Wien, Prag und München. Ein starkes Porträt von Menschen, die mit angehaltenem Atem das Ungeheure erwarten.
  • Erscheinungstag: 24.08.2015
  • Seitenanzahl: 224
  • ISBN/Artikelnummer: 9783312006687

Leseprobe

 

 

1

 

RÜSCHLIKON BEI ZÜRICH, Spätherbst 1934.

Morgens kurz vor acht pflegte er auf der nebelverhangenen Seestrasse wie aus dem Nichts aufzutauchen, der sechsplätzige Studebaker mit kuhäugigen Frontleuchten, langer Motorhaube, raketenförmigen Heckflossen. Die junge Lehrerin, mit eiligen Schritten unterwegs, wich dem Ungeheuer aus, erklomm die Treppenstufen zum Vorplatz der Schule, während das Automobil jaulend die steile Auffahrt nahm. Täglich zur selben Zeit, wie auf Verabredung, trafen sie vor dem hochgiebligen, rotüberdachten Gebäude ein.

Der Chauffeur, die Finger der rechten Hand am Schild der Dienstmütze, nickte ihr aus dem Fenster heraus zu. «Grüezi, Fräulein.» Die Lichtkegel der Scheinwerfer tasteten über das Kopfsteinpflaster. Dann öffnete sich der Verschlag, und Mucki, das Töchterchen des Theaterdirektors Rieser, streckte die rotbestrumpften Beine aus dem Fond. Auf dem Platz wandte sich das Kind zwei- oder dreimal winkend um, als zögere es, den Tag an dieses hoheitsvolle, mit einem Turm in Form eines mahnenden Zeigefingers bewehrte Gebäude zu verschenken, aus dem Innern des Wagens winkte die Mutter zurück.

An der täglichen Abschiedszeremonie nahm auch die Lehrerin teil, denn Marianne Rieser, jetzt angestrahlt vom Licht, grüßte jedes Mal freundlich hinüber. Die Rieserin trug schon zur Morgenstunde, so hieß es in Rüschlikon, ihre «Schleierchen und Pelzchen», auch waren Mund und Augen perfekt geschminkt.

Als das Kind mit der Lehrerin verschwand, zündete sich Marianne Rieser eine ihrer langen Zigaretten an und begann auf der Weiterfahrt aus dem Textbuch auf ihren Knien zu lesen. Sie wurde in Zürich zur Probe im Pfauentheater erwartet, ihr Mann Ferdinand pflegte eine Stunde früher zu fahren und Gespräche mit den Angestellten der Verwaltung zu führen. Dann betrat er die Probebühne und hielt Ausschau nach seiner Frau Marianne, die man in Zürich als die heimliche Direktorin ansah.

 

Die Tochter der Riesers hieß eigentlich Marguerite, doch innerhalb der Familie wurde sie Mucki genannt, ein Kosename, den die Dorfkinder am Gitter des Rieserschen Tennisplatzes schnell aufgeschnappt hatten. Die Kinder fanden Mucki niedlich: dunkle, von rötlichen Lichtflecken durchsetzte Löckchen und schwarzblaue Gucklöcher, so stellten sie sich Johanna Spyris Heidi auf der Alp vor. Doch Mucki wohnte nicht beim Alpöhi, sondern beim Theaterdirektor und war, wie man im Dorf zu sagen pflegte, eins der Herrenkinder aus dem Rüschliker Villenviertel. Sie kam später als die gewöhnlichen Mädchen in die Dorfschule, war oft krank und fehlte lange, auch das gehörte, wie man dachte, zu einem feinen reichen Kind. Voriges Jahr, am Fest des achten Geburtstags, zu dem aus Prag die Großeltern und aus Wien Onkel Franz Werfel mit seiner Frau Alma Mahler angereist waren, schenkte man der Kleinen den Zunamen Alma, wohl zu Ehren der schönen Tante. Schon früh merkte sich das Kind aus der Vielfalt der Namen, dass man nicht jedem Ruf zu folgen habe.

Da die Eltern Rieser tagsüber im Schauspielhaus arbeiteten, kümmerte sich eine Bonne um Mucki. Man hatte die junge, phantasiebegabte Paulette aus Le Locle kommen lassen, damit sich das Mädchen, das mit den Eltern Hochdeutsch, mit den Dorfkindern Züritütsch sprach, beizeiten auch an die französische Sprache gewöhne.

Mucki hatte dem Pförtner eine aschfarbene kleine Hündin, die ihm zugelaufen war, abgebettelt, das Mädchen nannte sie Bellefleur. «Klingt edel», sagte die Mutter und verbiss sich ein Lächeln, «aber ich kann das hergelaufene Tier trotzdem nicht in der Villa dulden, auch Papas Katzen setzen sich zur Wehr.» Das Kind mochte Papas Katzen nicht, hochnäsige Tiere, die sich selbst genug waren, einzig die kleinste, von Papa das Zartchen genannt, ließ mit sich spielen. So versorgte die Neunjährige das Hündchen neben der Pförtnerbehausung, und die Ablehnung ihres Lieblings durch die Mutter ließ einen heimlichen Groll in ihr wachsen.

Einmal hatte Paulette eine Fabel vorgelesen von Vögeln, die ihre Eier in fremde Nester legen.

«Bin ich auch in ein fremdes Nest gelegt worden, Paulette?»

Paulette hob den Kopf mit dem streng gescheitelten Haar und blickte erstaunt in Muckis groß aufgesperrte, blaudunkle Augen. «Wenn, dann hast du dein Nest allerdings gut gewählt, ma petite.»

«Ja?»

«Nun, die feine Villa hier! Gibt es eine schönere in Rüschlikon?»

«Das Schloss der Schwarzenbachs», murmelte Mucki.

Doch Paulette überhörte es und sprach von dem Türmchen, von den blanken Fenstern, die auf den Zürichsee blicken. Daneben der moderne Tennisplatz. Und vorne das Pförtnerhaus …

«Oh, ich muss Bellefleur zurückbringen», sagte das Kind, das bei der Erwähnung des Pförtnerhauses erschrocken war. «Wann sind die Eltern zurück?»

Die Hündin, die immer ein bisschen nach feuchtem Laub roch, ruhte vor den neuen hellen Ledersesseln zu Muckis Füßen, das war gegen die Hausregel.

«Die Eltern kommen spät. Du weißt doch: Premiere!»

Mucki sah wieder die Eltern beim Abschied vor sich, Papa im Frack, Mama in ihrer Abendrobe.

«Sei brav, Mucki.» Die Mama hatte sich herabgebeugt, ihr stark geschminkter Mund streifte wie ein Windhauch Muckis Wange. «Es wird spät.»

Mucki nickte. Die Mama gefiel ihr, so prächtig hergerichtet, in dunkelroter Seide, der weiche, glänzende Stoff umfloss wie eine zweite Haut ihren Körper. Mama war schön, vielleicht zu schön, «Une belle dame de Vienne», sagte die Bonne. «Pragerin», widersprach Mama. Mucki inspizierte die roten Flecken auf ihren Wangen und erinnerte sich an die ovale Schachtel auf Mamas Frisiertisch.

«Nein, kein Rouge», Paulette lächelte. «Deine Mama ist erregt, sie hofft, dass heute Abend alles gut läuft, Feuerchen der Spannung sind es.»

 

«Deine Eltern sind Herr und Frau Pfauentheater!» So wurde Mucki im Dorf von den Kindern geneckt. Und die kleine Else, eine Verwandte der Schwarzenbachs, mit der Mucki Federball spielte: «Mama Rieser ist das Theater, und der Papa ist der Pfau.»

«Hast du das von deinen Eltern?»

«Nein, von Cousin James.»

James Schwarzenbach, gut zwanzig Jahre alt, hatte Muckis Freundin Else an einem Nachmittag im Familienauto zu den Riesers gebracht. Mit seinen langen, mageren Beinen war er dann herumgegockelt und hatte mit süffisanter Miene das Landgut inspiziert, in Gedanken verglich er wohl den Tennisplatz mit dem seines berühmten Verwandten, dem General Wille auf dem Landgut Bocken bei Horgen. Die Bonne war von dem jungen Mann angetan, er sehe gut aus mit seiner vornehmen silbernen Brille, dem Mittelscheitel à la mode und den pomadisierten, an den Kopf gepappten Haaren. Marianne Rieser hingegen, die aus dem Haus getreten war und ihn kurz begrüßte, empfand ihn als lümmelhaft und arrogant, zudem war ihr bekannt, dass der Sohn des begüterten Seidenfabrikanten aus Rüschlikon sich abends in der Zürcher Innenstadt mit den Leuten aus der Partei der Frontisten traf. Junge, von faschistischen Ideen begeisterte Leute, die nur ins Theater kamen, um gegen die Tendenz des Stücks zu rebellieren.

 

 

2

 

DAS THEATER AM PFAUEN in Zürich, auch Pfauentheater genannt, war seit 1926 in privater Hand. Ferdinand Rieser, von Beruf zunächst Wein- und Liqueurgroßhändler wie sein Vater, hatte den Kauf zusammen mit seinem Bruder Siegfried, einem Juristen, getätigt. Früher war an dem Platz eine bayerische Bierhalle mit Kegelbahn gewesen, dann war ein Varietétheater daraus geworden mit rotem Plüsch und Goldleisten. In den ersten Jahren wurden unter den glücklosen Direktoren vorwiegend Stücke gespielt, von denen man annahm, sie würden dem großen Publikum gefallen und die klammen Kassen des Unternehmens füllen. Doch schon 1924, als Ferdinand Rieser die Mehrheit der Pfauenaktien erwarb und eine Prager Schönheit ehelichte, hatten sich die Ansprüche geändert. Marianne Werfel, nun Frau Rieser, war die Schwester von Franz Werfel, einem der meistgelesenen Schriftsteller deutscher Sprache.

Damals hieß es in Zürich: «Dass er die schöne Marianne bekommen hat, der Weinhändler mit dem nichtssagenden Gesicht!», und: «Kein Wunder, als Morgengabe hat er ihr ein Theater ins Ehebett gelegt.»

Dem Volksmund entging dabei, dass der theaterbesessene Kaufmann sein Ziel, das Pfauentheater zu seinem eigenen zu machen, mit stiller Verbissenheit über Jahre verfolgt hatte; Mitbeteiligte, meist ohne Ahnung von der wirtschaftlichen Seite des Unternehmens, wurden mit sachlichen Argumenten ausgeschaltet. Mehr und mehr machte Rieser auch die künstlerische Seite des Theaters zu seiner Herzensangelegenheit. Während sich das beim Bellevue gelegene Theater, das spätere Opernhaus, mehr dem Ballett und den Opern widmete, wurde das Schauspielhaus zu Zürichs Sprechtheater.

Mit Marianne Werfel kamen nicht nur neue literarische Ansprüche ins Spiel, sie war auch hellsichtig und fachlich kompetent. Zunehmend war sie es, welche die Stückwahl der Theaterprogramme bestimmte.

1933, als Hitler an die Macht kam, verfolgte Marianne als Tochter eines jüdischen Handschuhfabrikanten aus Prag mit großer Sorge die politische Entwicklung.

In diesem Jahr, während der Festigung der totalen Machtübernahme, ließ Goebbels in Deutschland die Theater von Kommunisten und Juden säubern, viele der Musentempel wurden geschlossen. Rieser engagierte die nun arbeitslosen besten deutschen Schauspieler für seine Bühne in Zürich. Nach dem Reichstagsbrand erschien zuerst der Regisseur Gustav Hartung, der den Dramaturgen Kurt Hirschfeld nachzog, und dieser wiederum machte Rieser aufmerksam auf die Elite: Leopold Lindtberg, Kurt Horwitz, Leonhard Steckel, Emil Stöhr und sein Bruder Karl Paryla, Therese Giehse, Grete Heger und viele andere. «Er kauft sie zusammen, wie man Weizen kauft bei schlechter Weltlage», hieß es in Theaterkreisen. «Rieser, der clevere Geschäftsmann!» Und dann, in milderem Ton: «Doch seine Frau vertritt die Kunst.»

Riesers Schauspielhaus, vergrößert und gefällig hergerichtet, war im Schicksalsjahr 1933 zu einem Schlachtschiff geworden.

Mit 939 Sitzplätzen, einem Foyer, mit Logen, die dem bürgerlichen Anspruch genügten, das Intérieur in Rot, Weiß und Gold gehalten, durchpflügte es mit der fragilen Fracht der Emigranten wehrhaft den politisch aufgewühlten Wellengang.

 

Ende November 1933, Schauspielhaus Zürich.

Premiere.

Der Gong ließ die Gespräche im Publikum verstummen, alle Augen waren nun auf den Theatervorhang gerichtet, der sich zu bewegen begann, sich einen Spaltbreit auftat für eine Frau, die einige für die heimliche Direktorin hielten. Marianne Rieser-Werfel, «die Pragerin», stöckelte auf die Bühne, sorgfältig geschminkt, die Kleidung von großstädtischer Eleganz. Als sie sich vor dem Publikum verneigte, erschien auf der Bühne der Direktor, er stellte sich so geschickt neben seine Frau, dass der Größenunterschied – er war einen halben Kopf kleiner – nicht zu erkennen war.

Gemeinsam begrüßte das Paar das Publikum, verharrte dann stumm, indem beide in dieselbe Richtung blickten, über Köpfe hinweg in die Tiefe des schon halb verdunkelten Raums, als gelte es, diesen Moment zu verlängern, wenn nach langer Vorbereitung die Aufmerksamkeit auf ihnen ruhte. In diesen zwei Minuten war noch alles möglich, jeder Mensch ist ein Welterfinder, und der Raum mit seinen verschatteten Rot- und Goldtönen lechzte mit den Wartenden nach Geschichten und Wörtern. Im Zwielicht des Parketts verschmolzen Körper und Gesichter, während oben in den Fauteuils der Logen da und dort ein bekannter Kopf zu erkennen war, Mitglieder bedeutender Familien, Professoren und Magistraten, doch auch gewichtige Vertreter der Literatur wie Thomas Mann und Carl Zuckmayer!

Der Direktor, jetzt erwacht aus seiner Trance, gab seiner Freude Ausdruck über die zahlreichen Besucher dieser Premiere. Außergewöhnlich seien heute, er blickte kurz zu dem preisgünstigen oberen Rang, auch die vielen jungen Leute. Höre man doch die Klagen der Kulturpessimisten, die junge Generation ströme nur in die Kinos, meide das Theater. Er wolle dagegenhalten, es komme auf die richtige Durchmischung der Programme an: Neben Klassischem – er erinnerte an die Aufführung von Shakespeares Maß für Maß im Frühjahr – sei Raum für das Aktuelle, das uns im Alltag beschäftige. «Ja, lassen wir die Zeit einbrechen in unsere Theater, geben wir Denkanstöße! In diesem Sinn haben wir ohne Scheu die Herausforderung angenommen, Ferdinand Bruckners Die Rassen zu geben, auch wenn wir wissen, dass wir da und dort auf Ablehnung treffen.»

Applaus. Von oben vereinzelte Buhrufe.

Das Ehepaar Rieser zog sich nun zurück, gleich musste sich der Vorhang öffnen. Mit Spannung erwarteten die Habitués das Stück in einer Inszenierung des neuen Regisseurs Gustav Hartung. Als einer der Ersten aus Deutschland geflohen, war er durch seine Begrüßung im Schweizer Landessender Beromünster bekannt geworden. Oft wurde aus dieser Rede der Satz zitiert: Ich bleibe dem Dritten Reich fern, nicht dem deutschen Volke.

Als weitere Novität erwartete man mit Neugierde Emil Stöhr in der Hauptrolle. Der in Wien Geborene trug als Künstlername den Namen der Mutter, während sein Bruder Karl unter dem eigentlichen Familiennamen Paryla auftrat. Rieser hatte in Wien Stöhr spielen gesehen und ihn schon vor dem deutschen Umsturz für ein Engagement als Wunschkandidat ins Auge gefasst. Nun war dem Wiener die Hauptrolle zugefallen, und in einer Erinnerung sagte Stöhr über Die Rassen: Das Stück ist nicht so gut wie Professor Mannheim – das man im Jahr darauf spielte –, ich gebe es zu, aber es war der größere Mut, es zu spielen, denn es war das erste Stück auf der ganzen Welt, das sich gegen den Nationalsozialismus wandte.

Auf der Bühne werden Mechanismen sichtbar, die sich versteckt in der neuen deutschen Realität abspielen: Student Karlanner schließt sich nach langem Überlegen den Nationalsozialisten an. Als Beweis für seinen Gesinnungswandel wird ihm befohlen, seine jüdische Freundin zu verhaften. Der Student gerät in einen Gewissenskonflikt. Schließlich ermordet er den Befehlshaber, seinen ehemaligen Freund. Und fällt selbst dem System zum Opfer.

Als die Premiere schon in vollem Gang war, kam es zu einem Zwischenfall: Der Protagonist befand sich im Stück vor einem Warenhaus, sein Monolog bestand aus leisen Gedanken. Plötzlich drang in die leise Szene hinein vom Rang herunter ein Sprechchor: «Dieses Stück ist dazu angetan, Deutschland in den Dreck zu ziehen. Dieses Stück ist dazu angetan …»

Der Chor wollte nicht mehr verstummen, und Stöhr konnte sich nur wehren, indem er mit seinem Monolog immer leiser wurde. Da entstand im Publikum eine Gegenbewegung, erst ein Zischeln, das immer lauter wurde, bis schließlich das ganze Störkommando niedergezischt war.

Dieser Sabotageversuch, der bei jeder Aufführung wiederholt wurde, bewirkte, dass in der Stadt über die Inszenierung gesprochen wurde, so gelang es, Die Rassen im Programm zu behalten und noch viele Male zu spielen.

Weniger günstig war die Reaktion des deutschen Generalkonsulats. Es drang bei der Stadtverwaltung auf Absetzung des Stücks und warnte, den Schauspielern werde eine Rückkehr nach Deutschland verwehrt. Da die Schauspieler aber bereits auf Druck der Nazis im Exil waren, konnte das kaum Eindruck machen. Nur das Gerücht, der Konsul habe nach Berlin gemeldet, man müsse die Emigranten gründlicher überwachen, versetzte viele in Alarmbereitschaft.

 

 

3

 

DER PREMIERE VON Die Rassen wohnte auch der am Zürichsee im Exil weilende Schriftsteller Thomas Mann bei. In seinem Tagebuch findet sich am 30. November 1933 folgender Eintrag: Sehr günstige Aufnahme. Große Demonstration des Publikums bei dem Worte: «Im Augenblick ist es nicht deutsch, die Wahrheit zu sagen.»

Thomas Mann war oft Gast bei den Premieren, Rieser hielt ihm zusammen mit der Freikarte einen Ehrensessel in der besten Loge bereit. Das Schauspielhaus mit seiner gepflegten deutschen Sprache, dem exzellenten Ensemble von Schauspielern, die Mann noch aus Deutschland kannte, wurde für den Dichter eine Art Oase des Heimatgefühls.

Seit September 1933 wohnte Thomas Mann mit seiner Frau Katja in Küsnacht bei Zürich. Auch das Haus an der Schiedhaldenstrasse 33, von Lux Guyer gebaut, war gewissermaßen ein Ehrensessel. Wie alle von der bekannten Architektin gestalteten Bauten an den Hängen des Zürichsees strahlte es Leichtigkeit aus, durch die Poren der Räume drang das milde Licht der Gegend, aus großzügigen Fenstern ging der Blick auf die verschneiten Berge und auf den See. Thomas Mann verglich es erst mit der Behäbigkeit seiner Münchner Villa, empfand das elegante, feminine Haus als dilettantisch gebaut, doch nach kurzer Zeit wollte er es nicht mehr missen, er habe sich an das Haus attachiert.

Ein Haus im Grünen, und doch in Stadtnähe. Ein Umstand, den Erika Mann, zeitweise auch die Schauspielerin Therese Giehse, die in den oberen Zimmern der Villa Unterkunft fanden, nach den Vorstellungen auf ihrer Bühne «Die Pfeffermühle» in Zürich zu schätzen wussten.

Doch im Exil sind auch Paradiese ein Exil.

Da gab es Tage, die den Dichter schwer atmen ließen: viel Nervenqual und belastete Brust, einschlafen nur nach Einnahme von Phanodorm möglich. Für den achtundfünfzigjährigen Thomas Mann war der Verlust seiner gewohnten Lebensbasis zu schnell gekommen. Vergangenes Jahr am 11. Februar, an ihrem Hochzeitstag, waren die Eheleute ahnungslos aus München abgereist, zu Wagner-Vorträgen in Amsterdam, Brüssel und Paris. Anschließend erfolgte ein Aufenthalt in Arosa, wo Katja mit ihrer Lungenschwäche die Höhenluft genoss. Hier wurden sie aufgescheucht durch einen Telefonanruf der ältesten Kinder Erika und Klaus. Gehetzte Worte, Formulierungen, die auf Ergänzung warteten – eindringlich wurden die Eltern gewarnt vor einer Rückkehr in ihr Haus an der Poschingerstraße in München. So ging die Reise ohne Wiederkehr weiter: die wichtigsten Stationen Lugano, Sanary in Südfrankreich, Zürich.

Ein Autor kann sich an ein anderes Schreibzimmer gewöhnen, doch er ist entwurzelt, wenn er das begonnene Manuskript und seine intimsten Aufzeichnungen zurücklassen muss im eigenen Haus, das nun von Feinden bewacht wird.

Arosa an Schneetagen. Der Schriftsteller möchte am Joseph-Manuskript weiterarbeiten, doch er vermisst das bisher Geschriebene, das Weiße des Blatts blendet ihn, Schweiß tritt ihm auf die Stirn. Erika, für ein paar Tage zu Besuch, folgt ihm auf seine Bitte hinaus ins Schneetreiben, sie gehen hintereinander, die Köpfe in dicke Kapuzen gehüllt, auf dem vereisten Trampelpfad, immer darauf bedacht, keinen Fehltritt zu machen, begleitet von vereinzelten Dohlen, vom Knirschen des Schnees unter dem groben Schuhwerk. Vater hat seine festen Gewohnheiten, seine Wege, sie kennt das seit ihrer Kindheit, ein fein austariertes Netzwerk aus Spuren wäre zu erkennen, über seine Lieblingsorte gelegt, wenn es denn sichtbar würde. Man trinkt im Prätschli Kaffee. Man hat die nassen Jacken bei der Garderobefrau abgegeben, der Schriftsteller sitzt in seinem kamelhaarfarbenen Kaschmirpullover und trinkt, immer noch leicht fröstelnd, in kleinen Schlucken rasch die Tasse Kaffee aus, nippt anschließend, eine neue Gewohnheit, an einem Gläschen Wermut. Endlich kann man sich unterhalten. Sie möchte wissen, wie es mit seinem Schreiben steht, erntet auf die Frage nur einen flattrigen Blick, einen Seufzer.

Wenn er leidet, bemerkt es, ohne Worte, die feinfühlige Erstgeborene, dieses Kind, das die Eltern sich als Junge gewünscht hatten. Er erinnert sich, als sei es gestern gewesen, und Katja berichtet davon in Meine ungeschriebenen Memoiren (Sie fragte ihn: Na, Tommy, was wünschst du dir nun, Junge oder Mädchen? Da sagte er: Natürlich einen Jungen. Ein Mädchen ist doch nichts Ernsthaftes). Also, dieser Erstling, als Mädchen zur Welt gekommen, war nun ständig daran, seine Ernsthaftigkeit zu beweisen: fährt Autorennen, reist um die Welt, wird Vaters Tochter-Adjutantin.

Ihr Bravourstück wird ihr, dem Vater zuliebe, in Kürze gelingen: eine schnelle Autofahrt nach München. Im Morgengrauen, mit Kopftuch und Brille, so will es die Familiensaga, erreicht sie die heimatliche Gartenpforte. In einem Wagen ganz in der Nähe zwei schlafende Männer der Volkswehr. Ohne Lärm zu machen, dringt sie mit Hilfe von Vaters Schlüssel ins Haus, rafft im Schreibzimmer die Blätter vom dritten Teil des Joseph-Romans zusammen, fährt, als entführe sie Diebesgut, in ihrem Ford davon.

Wie sehr die Szene später, wohl auch durch Erika, romantisch eingefärbt sein mag – ihr Vater notiert am 15. März 1933 in sein Tagebuch: Erika hat mir viel Lektüre mitgebracht, auch die «Corona» mit meinem Goethe-Vortrag, dazu das Joseph-Manuskript des 3. Bandes nebst dem Material.

Manns zweiter Sohn Golo wird die Tagebücher retten.

Der Vierundzwanzigjährige, für kurze Zeit noch im Münchner Haus, wird vom Vater angewiesen, dem Schließfach im Flur, für das Thomas Mann den Schlüssel früher immer bei sich trug und das die privaten Dinge sicherte, eine Reihe von Schriften zu entnehmen und das Konvolut, ohne es zu lesen, in einem Koffer nach Lugano zu schicken.

Als Golo den Koffer zur Spedition zum Bahnhof bringen will, nimmt ihm der Chauffeur der Familie, Hans Holzner, die Arbeit ab. Der schon zu den Nazis übergelaufene Angestellte wittert im Inhalt des Koffers Politisches und bringt ihn nicht zur Bahn, sondern in das sogenannte braune Haus. Thomas Mann wartet unterdessen wochenlang bang auf den Koffer mit seinen persönlichsten Notizen. Nur durch die intensiven Bemühungen des befreundeten Anwalts Valentin Heins gibt die politische Polizei in München schließlich das Eigentum des Dichters heraus.

 

Hat der Emigrant Thomas Mann Privilegien, gibt es Kräfte, die den Dichterfürsten zurückgewinnen möchten für die öde gewordenen Kulturhallen des Dritten Reichs? Jedenfalls werden im Oktober überraschend aus dem Freilager in Süddeutschland und dem Schweizer Zollamt einige Möbel freigegeben. Zu Thomas Manns Erleichterung sind es sein Mahagonischreibtisch und sein Lesesessel, Katja bemüht sich, das Schreibzimmer ihres berühmten Manns an der Schiedhaldenstrasse getreu dem alten in der Poschingerstraße nachzubilden.

So wird der Zürcher Aufenthalt langsam zur Rückkehr ins Gewohnte, doch diese Zeit, die unter dem Hagel politischer Nachrichten voranstürzt, verbindet sich mit dem Ungewohnten und sorgt für Störungen.

 

 

4

 

AM VORABEND WAR im Schauspielhaus ein Stück der leichten Unterhaltung über die Bühne gegangen, am Morgen nach der Premiere beobachtete Mucki, wie Papas dunkelgelockter Kopf hinter der Zeitung verschwand.

Behaarte Finger krochen über die Tischplatte, begannen aus dem Brotinnern Kügelchen zu drehen. Die Zeitung senkte sich, Papa schob sie beiseite, griff nach einem neuen Bündel. Es schien Mucki, immer zorniger schlage der angespannte Leser die Blätter zurück, das schneidende Geräusch der von Papa gequälten Seiten schmerzte.

Auch Mama las. Sie trug ihre giftgrüne Lesebrille auf der Nase, nun schürzte sie den Mund und schien ebenfalls unzufrieden mit den Berichten.

«Ferdi.» Sie setzte sich aufrecht hin, fixierte ihr Gegenüber.

Und Rieser, der diesen Auftakt kannte: «Nun schieß schon los.»

Mucki wartete jetzt in ihrer Ecke gespannt auf das verbale Pingpong.

«Die leichte Muse hat ausgedient.»

Er blickte sie fragend an.

«Mehr wagen. Texte, die bellen.»

«Du denkst an unsere Uraufführung Die Rassen

«Ja. Ein Erfolg. Im heiklen Jahr dreiunddreißig!»

«In diesem Herbst also Wolfs Professor Mannheim

Sie nickte. «Mit unserem hochkarätigen Team. Der antifaschistische Gedanke eint und motiviert die Spieler.»

«Nur ein jugendlicher Held fehlt uns noch …»

«Wolfgang Langhoff?»

«An den habe ich auch gedacht!» Er lachte. «Könnten wir ihn kriegen, was denkst du?»

Marianne zog die Stirne kraus. «Langhoff ist in Düsseldorf vor einer Aufführung verhaftet worden. ‹Sie machen den begabten Menschen in einem Lager kaputt›, hat die Erika Mann gesagt, ‹nur ihr schafft es, ihn herauszuholen!›»

«Eine riskante Aktion», brummte Rieser.

«Nun, engagiere ihn einfach. Richte die Anfrage gleich an …»

«Hinkel, den deutschen Staatskommissär?»

«Genau. Betone, dass wir Theater und keine Politik machen.»

Riesers Stirn jetzt in Falten.

«Woran denkst du?»

«Nicht an Düsseldorf, sondern an Zürich. Wir sind in einem freien Land, jetzt noch … Doch die schweizerischen Faschisten nehmen sich immer mehr heraus.»

«Dann spielen wir erst recht!»

Da war sie wieder, ihre Entschlossenheit. Er kannte das, wie sie die Brille entschlossen auf den Tisch warf, mit zitternden Fingern eine Zigarette zwischen die Lippen steckte. Sie war in letzter Zeit schwer zu besänftigen, war aufgekratzt und zugleich übermüdet, vermutlich hatte sie für die Programmauswahl die halbe Nacht lang Stücke gelesen.

Er gab ihr Feuer, angelte sich dann auch eine Zigarette aus der Schachtel. «Ein Privattheater, ohne Unterstützung von Kanton und Stadt …»

«… duldet keinen Maulkorb, nicht?» Nachdenklich blies sie den Rauch in die Luft.

Und er: «Wer von amtlichen Stellen finanziert wird, den lehrt man kuschen.»

Und sie: «Das Argument?»

«Das faschistische Deutschland darf nicht provoziert werden!»

«Ach? Die freie Schweiz?» Sie lachte auf, bitter.

 

Wolfgang Langhoff wurde im Frühjahr 1934 aus dem Konzentrationslager entlassen.

Eine Fügung, die kaum Riesers Brief zu verdanken war, eher einer Osteramnestie, welche die schon dreizehn Monate andauernde Haft beendete. Wieder zu Hause, stellenlos und ohne Mittel, zeigte ihm seine Frau die Einladung des Schauspielhauses Zürich. Er war bereit, das Angebot anzunehmen, doch eine Ausreiseerlaubnis aus Deutschland wurde ihm verweigert.

Rieser hörte davon. Entwarf einen Fluchtplan. Der Schauspieler sollte mit gefälschtem Pass im Kofferraum eines Autos bei Basel über die Grenze geschafft werden. Als Fluchthelfer dienten der Autor Charles Vaucher und der Architekt Artaria aus Zürich.

Der zur Flucht bestimmte Tag war trocken und mild, Vaucher am Steuer des Wagens kam gut voran und gab am späten Nachmittag aus Basel telefonisch an Rieser durch, der Coup sei gelungen. Rieser bat ihn, Langhoff nach Rüschlikon zu bringen, er erwarte das Trio zu einem gemeinsamen Nachtessen.

Darauf herrschte in der Rieserschen Villa Aufregung. Sogar die Köchin geriet in Eifer und Begeisterung, hatte sie doch vor einiger Zeit Bilder des jugendlichen Helden aus einer Illustrierten ausgeschnitten und herumgezeigt. So fieberte mit der Herrschaft das ganze Personal der Ankunft des Publikumslieblings entgegen. Was für ein strahlendes und doch männlich herbes Gesicht, von dem man sich auch auf der Zürcher Bühne seine Wirkung versprach!

 

 

5

 

DER WAGEN FUHR unter einem heiteren Abendhimmel am Pförtnerhaus vorbei in den Hof.

Das Hausmädchen eilte zur Tür, und der Diener nahm den Ankömmlingen beflissen das Gepäck ab. Im Salon, unter den farbig getönten Gläsern des Muranoleuchters suchten die Blicke der Riesers unter den drei Eintretenden nach Langhoff. Doch neben den Bekannten Vaucher und Artaria stand nur ein kahlgeschorener Mann unbestimmten Alters mit fahler Gesichtshaut, hohlwangig, die Augen entzündet und der Mund eingesunken.

Gespenstisch. Doch er musste es ja sein!

«Wolfgang Langhoff?», fragte Rieser vorsichtig.

Der Mann in einem alten Militärmantel nickte matt, die Reise hatte ihn offensichtlich mitgenommen.

Marianne fragte in die verlegene Pause: «War die Reise anstrengend, Herr Langhoff?»

Der Mann öffnete den Mund, eine zahnlose Höhle.

Er bemühte sich, zwei, drei Sätze zu sprechen.

Vaucher, nun dicht hinter Rieser, flüsterte ihm ins Ohr: «Dreizehn Monate im Konzentrationslager! Die Nazis haben ihm alle Zähne ausgeschlagen.»

Ferdinand Rieser atmete tief ein, ging dann mit ausgestreckter Hand auf den Schauspieler zu. «Willkommen, Herr Langhoff. Wenn es Ihnen recht ist, werden Sie erst ein paar Wochen in unserem Haus wohnen, im hinteren Teil der Villa sind Sie ungestört. Unsere Köchin» – Rieser versuchte eines seiner raren Lächeln – «wird sich Mühe geben. Zudem kenne ich in Zürich einen guten Zahnarzt, Sie benötigen für seine Arbeit etwas Geduld, aber er wird ein kleines Wunder wirken.»

Marianne blickte ihren Mann dankbar an. Auch das war Ferdinand Rieser, der bei so vielen nur als berechnender Kaufmann galt.

 

Um Langhoff Zeit zu lassen, hatte man die Premiere von Professor Mannheim auf den November verschoben. In der Zwischenzeit erholte sich der Gast erstaunlich rasch. Der Chauffeur der Riesers brachte den Schauspieler jeden zweiten Tag in eine Zahnarztpraxis nach Zürich, mit den neuen Zähnen gewann er sein Selbstvertrauen zurück und lernte erneut einwandfrei sprechen.

Mucki war begeistert von dem Gast, der in einem der Bedienstetenzimmer über der Werkstatt wohnte. Ohne die herrschaftlichen Treppen benutzen zu müssen, gelangte er ins Freie. Wenn die Eltern tagsüber im Theater waren, spielte Langhoff oft mit ihr Federball. Er zeigte, wie sie aus ihrer geringen Körpergröße Vorteile ziehen konnte, lehrte sie Handgriffe, die Treffer brachten und sie, vielleicht weil Langhoff es wollte, dann und wann gewinnen ließen. Wenn die Köchin zum Essen rief, folgte Mucki dem Schauspieler wie ein Hündchen in die kleine, holzgetäferte Küchenstube, die Langhoff dem herrschaftlichen Esszimmer vorzog.

Die Köchin war stolz, den Gast so nahe bei der Küche unter ihrer Kontrolle zu wissen, denn es war ihr Ehrgeiz, dass der magere Herr schnell an Gewicht zulegte. «Noch eins von den Hühnerschlegelchen, Herr Langhoff? Nach Jägerart, mit kleingehacktem Gemüse. Schmeckt‘s?» Sie kannte bald seine Lieblingsspeisen, und es machte sie froh, dass der Gast einen wählerischen Geschmack zeigte, der ihre Berufserfahrung herausforderte. Dies ganz im Gegensatz zum gnädigen Herrn Rieser, der zu ihrem Verdruss am liebsten Würstchen mit Meerrettich und Kartoffelsalat aß.

Die Proben für das neue Stück begannen. Rieser hörte, dass man aus Deutschland demnächst Langhoffs Ehefrau Renate ausreisen lassen werde. Langhoff, erfreut, bat um einen Vorschuss auf seine Gage und machte sich sofort in Zürich auf Wohnungssuche. Beschwingt kam er abends nach Rüschlikon zurück und erzählte von den verschiedenen besichtigten Unterkünften.

«Eine Dachwohnung an der Dufourstrasse, die scheint mir geeignet.»

«Aber hat es ein Bad?»

«Eine Badewanne mit Löwenfüßen steht in der Waschküche. Auch ein Münzautomat für das Aufheizen des Wassers.»

Rieser ließ sein meckerndes Lachen hören. «Sie sind ja in Eile, unsere Villa zu verlassen!»

«Ach, Villen sind nicht unbedingt meine bevorzugte Bleibe», grinste Langhoff. «Da bin ich zu sehr Proletarier.»

«Und Mitglied der sozialistischen Partei?»

«So ist es.»

Marianne verbat sich politische Themen und meinte, sie sollten vor Langhoffs Umzug einige der Theaterleute einladen, schließlich müsse er noch seine Kollegen kennenlernen.

Es wurde ein etwas peinlicher Abend. Die Schauspieler saßen in den ungewohnt ausladenden Ledersesseln, entdeckten den Drehmechanismus, rotierten sanft weg und bewegten sich kreisend wieder aufeinander zu, wie Sternbilder am Nachthimmel. Mit stummem Einverständnis blickten sie einander an und hielten in den Fingern die feinen, leider noch ungefüllten Kristallgläser. Da eilte der Diener mit Weißwein herbei und erlöste die Gläser von ihrer Leere. Marianne hatte Theophil inständig gebeten, heute die weißen Handschuhe aus der Werfelschen Fabrik in Prag nicht zu benutzen. Der Wein schmeckte köstlich, es lagerte ja noch einiges aus Großvater Riesers Firma unten in den Kellern. Zudem kamen aus der Küche auf großen Silbertabletts leckere Nydelküchlein, eine Sahnespezialität aus Rüschlikon, die auch dem Hausherrn schmeckten.

Als die Riesers sich ins Büro zurückzogen, um mit einem der neuen Schauspieler den Vertrag zu vereinbaren, schenkte Theophil flink nochmals ein, der allgemeine Stimmungspegel stieg. Schauspieler Parker, vom komischen Fach, imitierte Riesers Ansprache von neulich: «Mitarbeiter, ich bin einer von euch!»

«Nein, Herr Direktor. Wir sind Arbeitnehmer, und Sie sind der Arbeitgeber.»

«Ist dieser Unterschied wichtig?»

«Und ob! Wohnen wir vielleicht in Rüschlikon?»

Mucki, die man ein bisschen vergessen hatte, verstand nicht, warum einige dröhnend lachten, bis Horwitz, als befinde man sich im Proberaum des Theaters und warte auf Regieanweisung, aufstand und das Zeichen für Ruhe gab. Das alles war seltsam, ein bisschen unheimlich für das Kind, und es drückte sich wie die Hündin Bellefleur, wenn sie bei Abwesenheit der Eltern im Salon bleiben durfte, rat- und ziellos zwischen den Ledersesseln herum. Schließlich fand es auf der Armlehne des Freundes Langhoff Platz, wo es als Trost die vom Arbeitslager noch schwielige Hand des Schauspielers auf seinem Scheitel spürte. «Geht es so, Mucki?» Sanft zog er an den Zöpfen. Ja, sie trug ihr dunkelblondes Haar neuerdings zu Zöpfen geflochten wie die Mädchen in ihrer Schulklasse, auffallen wollte sie, mit einem modischen Haarschnitt von Mamas Friseuse, hingegen nicht.

«Nun bist du ein echtes Seemaitli», lobte die Lehrerin, die Marguerite Alma schlicht Margritli nannte. Nicht der berühmten Eltern wegen, sondern wegen der vielen Krankheiten war Margritli eine Ausnahmeschülerin, im letzten Halbjahr konnte ihr die Schule aufgrund der häufigen Absenzen kein ordentliches Zeugnis ausstellen.

Mama kam als Erste aus dem Büro zurück. Sie sah das Kind auf der Armlehne thronen und rief streng: «Mucki, Zeit fürs Bett!»

 

Langhoff und seine Renate bewohnten nun eine Dachwohnung mit zweieinhalb Zimmern. Für die Nachbarn blieb der Schauspieler vorläufig unsichtbar. Es hieß, er schreibe intensiv an einem Buch über seine Lagererlebnisse. Es solle den Titel Moorsoldaten tragen, für die Drucklegung habe er die Zusage des Schweizerspiegel Verlags bekommen.

Als die Proben begannen, ließ Rieser den Publikumsliebling von seinem Chauffeur abholen, noch war er nicht in Hochform und sollte sich den Zuschauern erst später zeigen. Die Spannung auf die Premiere aber stieg. Noch nie hatte sich das Ensemble mit solcher Hingabe vorbereitet, mit Stolz stellte man fest, dass man eine brisante Politik- und Gesellschaftskritik in die Öffentlichkeit trug. Auch der Direktor und seine Frau widmeten ihre ganze Zeit dem Theater, erste Proteste, die man über die politisch motivierte Stückewahl hörte, bewiesen die Wichtigkeit von Professor Mannheim, und die Riesers zeigten sich bereit, das Risiko zu tragen.

 

 

6

 

IN DIESER PHASE kämpften Marianne und Ferdinand Seite an Seite, so hatte sich Marianne ihre Ehe vorgestellt. Sie ließ ihren Ferdinand Rieser gelten in seiner uncharmanten, spröden Art, er liebte das Theater genau wie sie, und sie stellte es über alles andere.

«Eine unromantische Verbindung», hatten damals die Eltern geurteilt. «Marianne, du wirst dich innerhalb von zwei Jahren scheiden lassen.»

Ihr Bruder Franz, der die Werfelschen Kommentare als herzlos empfand, hatte die Eltern daran erinnert, dass Marianne Jahre gebraucht hatte, um über ihre erste leidenschaftliche Liebe hinwegzukommen. Der tschechische Journalist M. hatte zu Franz Werfels Kreis gehört im Literaturcafé Arco. Der damals noch sehr jungen Marianne war das Arco abends verboten worden, heimlich am Nachmittag mussten sich die Liebenden treffen.

Durch Indiskretion flog die Beziehung auf. Die Eltern waren entsetzt: «Ein junger Mensch, mittellos, aus prekären Verhältnissen. Dazu noch Tscheche! Du weißt doch, Marianne, dass in Prag gemischte Ehen geächtet werden!»

«Wir wollen ja nicht heiraten», gab sie zurück.

«Umso schlimmer!», befand der Vater.

Der junge M. zog sich dann von selbst zurück, er sah keine gemeinsame Zukunft mit der deutsch-österreichischen höheren Tochter.

«Zukunft? Wir leben in der Gegenwart!», begehrte sie auf. Es brach ihr fast das Herz.

«Wie kann man einzig dem Gefühl folgen, ohne Vernunft und Familiensinn?», tadelten die Eltern. Und aus der Ecke der verheirateten Schwester Hanna mit ihrem Papierfabrikanten tönte es ähnlich.

Nur Franz Werfel, ihr Dichterbruder, hielt zu ihr. Das gab ihr Mut, in eigener Verantwortung zu handeln. Da die Eltern das Studium an der Kunstakademie zahlten, brach Marianne es ab und arbeitete als Krankenschwester. Sie wohnte unter gewöhnlichen Leuten im tschechischen Viertel und bestritt ihr Leben selbständig.

Dann, nach etlicher Zeit, ließ Marianne die Eltern wissen: Sie gedenke den Schweizer Geschäftsmann Ferdinand Rieser zu heiraten. Man möge sich an den Mann erinnern, der vorübergehend die väterliche Zweigfabrik Werfel und Böhm geleitet hatte. Sie sei mit ihm abends oft im Theater gewesen. Das Theater habe sie zusammengebracht.

Erneutes Kopfschütteln.

Nun lastete man ihr an, sie höre nur auf die Stimme der Vernunft. Zwar sei Rieser ein tüchtiger Geschäftsmann, Jude wie die Werfels, Geld vorhanden. Doch …

Die Mutter hielt inne. Sagte dann: «Was ist denn mit dem Wiener von voriger Woche, dem gelernten Bankfachmann?»

Marianne verbiss sich ein Lachen. «Wer soll hier heiraten, du oder ich, Mutter?»

Auf Mariannes Wunsch hin machte Ferdinand Rieser eines Abends den Eltern seine Aufwartung. Mit seinem netten, aber unauffälligen Gesicht, den etwas öligen Löckchen über der Stirn saß er am Familientisch, erzählte nüchtern von seiner Heimkehr in die Schweiz. Von dem Schauspielhaus Zürich, einem kleinen Juwel, das er erworben habe. Wie seiner geliebten Marianne bedeute auch ihm das Theater die Welt.

Schön gesagt.

«Was denn noch?», fragte Marianne ihre Mutter, als der Besuch gegangen war.

Von einem Freier ihrer jüngeren Tochter erwarte sie mehr Esprit und Lebensart. Sie sei ja nun eine geborene Kussi und eben andere Umgangsformen gewohnt: «Gnä’ Frau hier, gnä’ Frau da. Küss die Hand. Das gehört sich.»

Rieser spürte auch beim nächsten Besuch Vorbehalte, kämpfte aber nicht dagegen an. Er blieb, wie er war, höflich, etwas unterkühlt.

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