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Tage in Emerald Creek

Als Buch hier erhältlich:

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Niemand kennt dich so gut wie deine Schwester

Ava Howell schien alles zu haben. Sie verließ die Kleinstadt Emerald Creek, heiratete und veröffentlichte ihre Memoiren, die zum Bestseller wurden. Aber sie hätte nie erwartet, dass ihr Mann sie verlassen würde, sobald er von dem Geheimnis aus ihrer Vergangenheit die Wahrheit erfährt. Jetzt ist Ava wieder zu Hause in Emerald Creek und sucht Zuflucht bei der einzigen Person, die sie wirklich verstehen kann: ihre Schwester.

Nach Jahren der Heilung ist Madison Howell endlich glücklich. Das von ihr aufgebaute Tierheim erfüllt sie und auch der charmante Tierarzt Luke versüßt ihr die Zeit.

Als die Vergangenheit, die Ava und Madison hinter sich gelassen haben, alles bedroht, was sie sich aufgebaut haben, ist das Wiedersehen der Howell-Schwestern bittersüß. Sie versuchen, die Risse in ihrem Leben zu kitten und erkennen einmal mehr, dass nichts über die Liebe der eigenen Schwester geht.


  • Erscheinungstag: 15.04.2025
  • Seitenanzahl: 400
  • ISBN/Artikelnummer: 9783365009918

Leseprobe

RaeAnne Thayne

Tage in Emerald Creek

Wo wir uns wiedersehen

Roman

Übersetzt aus dem Englischen ins Deutsche
von Wenke Lewandowski für Nuanxed

HarperCollins

Mein herzlicher Dank gilt den Mitarbeitenden des Cache Employment and Training Center für ihr Engagement und ihren Einsatz zur Verbesserung des Lebens von Menschen mit Behinderungen.

1

Die Gegenwart ist ein heikler Drahtseilakt zwischen Befreiung und dem Spuk der Erinnerungen, der uns auf den Fersen ist. Der Duft der Freiheit ist berauschend und beängstigend zugleich, und jeder Schritt nach draußen fühlt sich an wie ein kleiner Sieg über die Dunkelheit, die uns zu verschlingen drohte.

Ghost Lake, Ava Howell Brooks

Madison

»Hier, lass mich das für dich machen. Du sollst keine schweren Futtersäcke alleine aus dem Regal nehmen. Nicht, dass du dir wehtust, Schätzchen.«

Angesichts der zwar gut gemeinten, wenn auch etwas misslungenen Bemühungen ihres siebzigjährigen Nachbarn gab sich Madison Howell Mühe, nicht mit den Zähnen zu knirschen.

Unter anderen Umständen hätte sie vielleicht gedacht, der alte Rancher sei frauenfeindlich, weil er annahm, dass jede junge Frau zu schwach und zerbrechlich wäre, um einen schweren Zweizentnersack Hundefutter auf ihren Wagen zu laden.

Leider wusste sie, dass dies nicht der Fall war. Calvin Warner war einfach der Meinung, dass sie es nicht konnte.

Wie konnte sie es ihm verübeln, wenn fast ihre ganze Nachbarschaft seiner Meinung war und glaubte, sie sei für immer und ewig geschädigt?

»Es ist in Ordnung. Hab ihn«, beharrte sie und klammerte sich fest an den Futtersack.

»Jetzt sei nicht so stur. Lass mich dir helfen.«

Er legte seinen Stock ab – ja, er hatte tatsächlich einen – und schubste sie fast damit beiseite.

Da sie sich nicht gleich hier im Futtermittelladen Hals über Kopf in einen griechisch-römischen Ringkampf mit einem Griesgram stürzen wollte, der Arthritis und kaputte Knie hatte, blieb Madi nichts anderes übrig, als frustriert zuzusehen, wie er den Futtersack auf ihren großen Einkaufswagen hievte.

»Danke«, sagte sie so liebenswürdig, wie sie nur konnte. »Jetzt brauche ich noch weitere fünf Säcke.«

»Fünf?« Calvin wirkte fassungslos.

»Ja. Wir haben im Moment zweiundzwanzig Hunde im Tierheim. Sie brauchen nicht zufällig einen neuen Australian Shepherd? Wir haben vier Welpen aus einem verwaisten Wurf.«

»Nein, ich fürchte nicht. Ich bin selbst Border-Collie-Vater und habe schon drei davon. Zweiundzwanzig Hunde. Meine Güte. Die machen sicher eine Menge Arbeit.«

Ja, der Arbeitsaufwand für die Pflege der Tiere im Emerald-Creek-Tierheim war unermesslich. Alle zweiundzwanzig Hunde, zehn Katzen, zwei Lamas, drei Hängebauchschweine, vier Ziegen, zwei Minipferde und ein Esel brauchten unentwegt Futter, Zuwendung, medizinische Versorgung, Auslauf, und natürlich mussten auch ihre Hinterlassenschaften entsorgt werden.

Madi machte das nichts aus. Sie liebte die Arbeit und vergötterte jedes einzelne ihrer Tiere. Nach Jahren des Träumens, Planens und Kämpfens war es für sie eine Art Wunder, dass das Tierheim nun voll einsatzfähig war.

In den letzten drei Monaten war sie auf Hochtouren gelaufen, hatte ihren Job als Tierarzthelferin und die vielen Stunden, die sie brauchte, um ihr Team von Freiwilligen zu organisieren, eine Vollzeit-Büroassistentin einzustellen und sich um die Tiere zu kümmern, unter einen Hut gebracht.

Jetzt war sie endlich bereit, ihr Vertrauen in das Projekt zu setzen. In nur wenigen Wochen würde sie ihren Job als Tierarzthelferin in der örtlichen Klinik aufgeben, um in Vollzeit als Leiterin des Tierheims arbeiten zu können.

Die Panik, die sie ergriff, wenn sie an den Sprung ins Ungewisse dachte, versuchte sie, zu ignorieren.

»Die Hunde sind pflegeleicht«, antwortete sie jetzt. »Aber die Ziegen und die Hängebauchschweine – davon will ich gar nicht erst anfangen.«

»Ich habe gehört, dass du drüben in Gene Pruitts altem Haus etwas angefangen hast. Ich hatte ja keine Ahnung, dass du bis über die Ohren mit den Tieren ausgelastet bist.«

»Ja. Wir haben das erste tötungsfreie Tierheim in dieser Gegend gegründet. Unser Ziel ist es, jedes ausgesetzte, verletzte oder misshandelte Tier in Not aufzunehmen, es aufzupäppeln und ihm ein neues Zuhause zu vermitteln.«

Er blinzelte überrascht, und seine buschigen Augenbrauen berührten sich in der Mitte. »Tatsächlich? Gibt es hier wirklich so viele hilfsbedürftige Tiere in der Nähe?«

»Ja. Zweifellos. In dieser Gegend von Idaho gibt es keine anderen tötungsfreien Tierheime. Ich bin froh, dass wir diesen dringenden Bedarf abdecken können.«

Seit Madi das College beendet hatte und nach Emerald Creek zurückgekehrt war, hatte sie sich jahrelang darum bemüht, das Tierheim gründen zu können. Sie verzeichnete ein paar Erfolge bei der Beantragung von Zuschüssen und der Suche nach nationalen und lokalen Spenden- oder Stiftungsgeldern, aber es schien immer noch ein unerreichbares Ziel zu sein.

Vor einem Jahr war das Tierheim der Verwirklichung näher denn je gekommen, als ein mürrischer alter Junggeselle aus der Gegend, der keine Familie mehr hatte, seine 20-Hektar-Farm sowie ein kleines Haus auf dem Grundstück der Emerald-Creek-Tierheim-Stiftung vermachte.

Sie war bis heute noch überwältigt von Eugene Pruitts Großzügigkeit.

Dennoch hatte es eine weitere, unglaublich großzügige anonyme Spende gebraucht, um die anfänglichen Betriebskosten des Tierheims tragen zu können, ohne das Grundstück mit einer großen Hypothek belasten zu müssen.

So hart sie auch gearbeitet hatte, um ihren Traum zu verwirklichen, es gab immer noch viele Menschen in der Stadt, die in ihr nichts anderes sahen als das arme Howell-Mädchen mit der Beinschiene und dem ständigen schiefen Lächeln.

»Danke für Ihre Hilfe, Mr. Warner«, sagte sie, nachdem sie den Transportwagen gemeinsam beladen hatten.

Er schien leicht außer Atem zu sein, und seine Hand zitterte, als er nach seinem Stock griff. Sie hätte sich nicht von ihm helfen lassen sollen. Die starke, selbstbewusste Frau, die sie sein wollte, hätte ihn höflich gebeten, weiterzugehen. Danke, aber nein danke. Sie konnte es alleine schaffen, alle Herausforderungen meistern, seit ihre Mutter gestorben war, als Madi zwölf Jahre alt war.

Doch sie hatte noch einen weiten Weg vor sich, um wirklich diese starke, selbstbewusste Frau zu werden.

»Ich bin froh, dass ich hier war.« Calvin ergriff seinen Stock. »Weißt du, sie haben hier Personal, das dir nächstes Mal helfen kann. Sie können dir die Sachen zu deinem Auto bringen. Dafür sind sie schließlich da.«

Sie zwang sich zu einem Lächeln. »Das werde ich mir merken. Vielen Dank. Und wenn Sie einen Australian Shepherd brauchen, sagen Sie Bescheid. Sie sind wirklich schlaue Tiere und haben schon alle Impfungen. Dr. Gentry kümmert sich vorbildlich um jedes einzelne Tier im Tierheim.«

»Er ist ein guter Mann. Nicht ganz der Tierarzt, der sein Vater war, aber er ist auf dem besten Weg.«

Bevor sie für Luke Partei ergreifen und erwidern konnte, dass er selbst ein ausgezeichneter Tierarzt war, weiteten sich die Augen des Ranchers, und er schien plötzlich über seine eigenen Worte entsetzt zu sein.

»Es tut mir leid. Ich habe nicht nachgedacht. Ich hätte den alten Doc Gentry dir gegenüber nicht erwähnen sollen.«

Madi spürte, wie sich jeder Muskel entlang ihrer Wirbelsäule anspannte. »Warum nicht?«, brachte sie hervor.

Calvin warf ihr einen bedeutungsvollen Blick zu. »Du weißt schon. Wegen … wegen des Buches.«

Das Buch. Dieses verfluchte Buch.

»Meine Frau hat am selben Tag ein Exemplar gekauft, als es herauskam, nachdem sie die ganze Aufregung im Internet mitbekommen hatte. Sie ist eine eifrige Leserin. Ich nicht so sehr. Ich mag Hörbücher, aber wir haben es an einem einzigen Abend gemeinsam gelesen. Es ist furchtbar, was dir alles passiert ist.«

Madi umklammerte den Griff des Transportwagens und kämpfte gegen den Drang an, ihn umgehend zur Kasse zu schieben.

Das Letzte, worüber sie sprechen wollte, waren die Memoiren ihrer Schwester, die sich vor zwei Wochen in den Buchläden zum Dauerbrenner des Sommers entwickelt hatten und bereits auf die dritte Auflage zusteuerten.

Madi wollte nicht über Ghost Lake sprechen, nicht hören, wie andere Leute darüber redeten, nicht einmal daran denken.

»Richtig. Nun, nochmals vielen Dank für Ihre Hilfe, Mr. Warner. Ich sollte jetzt weiter ein-ein-einkaufen.«

Jetzt griff sie fester nach dem Wagen und biss die Zähne zusammen.

Sie hasste ihr Stottern, das manchmal wie aus dem Nichts kam. Sie hasste es, dass ihr Mund die ganze Zeit zu einem schiefen Lächeln erstarrt war, dass sie ihre linke Hand nur teilweise benutzen konnte und dass ihr Bein manchmal komplett versagte, wenn sie die Schiene nicht trug.

Und ganz besonders hasste sie es, dass ihre Schwester ihre gemeinsame Geschichte, ihre Vergangenheit, ihren Schmerz vor der ganzen Welt offengelegt hatte.

»Pass auf dich auf«, sagte Calvin mit einer Sanftheit in seinem barschen Ton, der ihr das Gefühl gab, gleichzeitig schreien und weinen zu wollen.

»Danke«, sagte sie so freundlich, wie sie nur konnte, und steuerte den unhandlichen Wagen in Richtung Kasse.

Als sie ankam, schob die Frau, die auf einem hohen Hocker an der Kasse saß, ein Buch mit weiß-blutrotem Einband, der ihr sehr bekannt vorkam, unter den Tresen.

Dieses verflixte Buch war überall. Es gab kein Entkommen.

»Hallo, Madi.« Jewel Littlebear, deren Familie der Futtermittelladen gehörte, lächelte ihr etwas nervös zu, während ihr Blick in Richtung des Buches wanderte.

Jewel war eine ehemalige Klassenkameradin von Ava. Die beiden waren einmal befreundet gewesen, bevor Madis Schwester allem, was ihr in Emerald Creek einmal etwas bedeutet hatte, den Rücken kehrte.

»Hi, Jewel. Wie geht es dir? Was machen die Jungs?«

Jewel hatte drei Söhne, richtige kleine Teufelsbraten. Sie wohnte mit ihrer Familie in der gleichen Straße wie Madis Großmutter in einem kleinen ranchartigen Haus, dessen Vorgarten mit Spielzeug, Fahrrädern und Basketbällen übersät war.

»Es geht ihnen gut. Alle drei spielen diesen Sommer Baseball. Ich schwöre, ich verbringe mehr Zeit im Park, um bei den Spielen zuzusehen, als in meinem eigenen Haus.«

Sie lächelte, erhob sich von ihrem Hocker und trug den Handscanner um die Theke herum, damit sie die Codes auf den großen Futtertüten erfassen konnte, ohne dass Madi sie auf die Theke heben musste.

»Ähm. Das wären dann hundertfünfundsechzig Dollar und fünfzehn Cent. Es tut mir leid.«

Was genau tat ihr leid? Dass der Preis für hochwertiges Hundefutter so hoch war? Oder dass Madi sie beim Lesen DES Buches erwischt hatte?

Madi beschloss, nicht zu fragen. Sie zog die Kreditkarte des Tierheims durch das Lesegerät und verspürte einen Anflug von Stolz, als die Karte im Nu akzeptiert wurde.

Einen Moment später spuckte die Kasse ihren Kassenbon aus, den Jewel ihr lächelnd überreichte.

»Bitte sehr«, sagte sie.

»Danke. Bis bald.«

Sie war keine zwei Meter von der Kasse entfernt, als Jewel das Buch wieder herauszog und dort weiterlas, wo sie aufgehört hatte.

War sie gerade beim Autounfall ihrer Mutter angekommen und dem tiefen Leid, das ihre Familie danach durchlebte?

Oder bei der stetigen, aber unaufhaltsamen Abwärtsspirale ihres Vaters in Richtung Besessenheit, Depression und Geisteskrankheit?

Oder bei den letzten schrecklichen Tagen, als sie und Ava, vierzehn beziehungsweise sechzehn Jahre alt, einer grauenvollen Situation entkommen waren, die nicht mehr zu ertragen gewesen war, nur, um sich in noch schlimmeren Verhältnissen wiederzufinden?

Sie wollte es nicht wissen.

Madi eilte zu ihrem Pick-up, dem klassischen, wenn auch klapprigen petrolfarbenen 1961er Chevrolet Stepside Pick-up, den sie Frank nannte und den sie von ihrem Großvater mütterlicherseits geerbt hatte.

Vor ein paar Monaten hatte sie für Franks Seite ein Schild mit Klebebuchstaben und dem stilisierten petrolgelben Tierheim-Logo bestellt. Jetzt benutzte sie Frank nur noch für Besorgungen für das Tierheim und Social-Media-Aktivitäten. Er ließ sich wunderbar fotografieren und half ihr, Aufmerksamkeit für ihre Mission zu wecken.

Sie hatte überlegt, nächsten Monat mit dem Pick-up bei der Parade zum 4. Juli mitzufahren, vielleicht mit ein paar Tieren in Kisten auf der Ladefläche, aber jetzt wurde ihr bei dem Gedanken ein wenig übel. Sie konnte sich vorstellen, wie alle auf sie zeigen und über sie reden würden.

Sieh mal da, die arme Madi Howell. Hast du gelesen, was mit ihr passiert ist?

Ich wusste, dass sie seltsam war, mit ihrem Dauerlächeln und diesem Hinken und ihrer verkrümmten Hand. Ich denke, jetzt kennen wir den Grund.

Die Wut auf ihre Schwester brodelte erneut in ihr auf. Sie tat ihr Bestes, um dieses Gefühl zu unterdrücken, während sie den großen Transportwagen zu ihrem Pick-up manövrierte und die Heckklappe öffnete.

Obwohl mehrere Fahrzeuge auf dem Parkplatz standen, waren alle leer. Wenigstens musste sie sich nicht gegen weitere Hilfsangebote wehren.

Sie lud die Säcke allein auf die Ladefläche des Pick-ups, hielt dann einen Moment inne, um die Anstrengung wegzuatmen, und versuchte, sich stattdessen auf diesen herrlichen Junitag zu konzentrieren, an dem die Berge schon sattgrün waren, aber die Gipfel sich weiß dagegen abzeichneten, da in den höheren Lagen der Schnee noch nicht geschmolzen war.

Sie liebte es sehr, in Emerald Creek zu leben. Diese kleine Gemeinde, eine halbe Stunde von Sun Valley entfernt, war ihr Zuhause. Sie würde nie vergessen, wie warmherzig und hilfsbereit alle gewesen waren, als sie und Ava nach allem, was passiert war, wieder zu ihrer Großmutter Leona zogen.

Sie hatte hier wunderbare Freunde, einen Job in der Tierklinik, den sie acht Jahre lang geliebt hatte, und jetzt ihr leidenschaftliches Projekt, das Tierheim.

Sie hatte nie ernsthaft in Erwägung gezogen, woanders zu leben.

Aber manchmal fragte sie sich doch, wie es wohl wäre, sich an einem Ort häuslich einzurichten, wo es ein wenig … anonymer wäre.

Gab es so einen Ort überhaupt noch, jetzt, da ihre Schwester ihr gemeinsames geheimes Trauma in die ganze verdammte Welt hinausposaunt hatte?

Sie kletterte in das Führerhaus des Pick-ups, versuchte, einen Kopfschmerz zu unterdrücken, und fuhr vom Viehfutterladen durch die Stadt in Richtung Tierheim.

Es war ein schöner sommerlicher Nachmittag. Ein paar ältere Männer saßen auf einer Bank vor der Rustic-Pine-Markthalle und gaben Geschichten zum Besten, und sie sah eine lange Schlange von Touristen, die darauf warteten, dass das stets gut besuchte Restaurant Fern & Fir öffnete.

Als sie in die Mountain View Road einbog, fuhr sie langsamer, da sie eine Mädchengruppe auf Fahrrädern bemerkte. Vier Mädchen, stellte sie fest. Auf jedem Fahrrad saßen zwei. Ein kurzer, stechender Schmerz durchfuhr sie. Wie oft waren sie und Ava auf diese Weise gemeinsam durch die Straßen ihrer Stadt im Osten Oregons gefahren? Öfter, als man zählen kann, aber da war ihre Mutter noch nicht gestorben, was mit einem Schlag alles veränderte.

Sie winkte den Mädchen zu, als sie vorbeifuhr, und erkannte Mariko und Yuki Tanaka sowie Zoe Sullivan und Sierra Gentry. Sierra und Zoe arbeiteten beide ein paar Stunden pro Woche ehrenamtlich im Tierheim.

Sie brachte den Pick-up vor ihnen zum Stehen, und die Mädchen hielten neben ihr an. »Hey, Mädels. Was habt ihr an diesem schönen Tag vor?«

Sierra lehnte sich in das offene Beifahrerfenster, ihr braunes Haar funkelte im Sonnenlicht. »Wir waren bei mir zu Hause und dachten dann, wir fahren zu Dixons Bauernstand und holen uns ein paar frische Erdbeeren.«

»Wir stehen total auf Erdbeeren«, sagte Zoe kichernd.

Madi hatte den starken Verdacht, dass die eigentliche Attraktion nicht so sehr die Erdbeeren waren, sondern vielmehr Ash Dixon, der umschwärmte Fünfzehnjährige, dessen Familie einen beliebten Bauernstand betrieb und auch einen Verkaufsstand auf dem Emerald-Thumbs-Bauernmarkt am Samstagmorgen hatte.

»Klingt nach Spaß. Iss einen Crêpe für mich mit.«

»Mach ich. Tschüs, Mad. Bis später.«

Sie winkte und legte wieder den Gang ein, doch bevor sie weiterfuhr, war ihr, als hörte sie durch das offene Fenster die Mädchen Buch und Ghost Lake sagen.

Nein. Sie bildete sich das nur ein. Dieses verdammte Buch schien allgegenwärtig zu sein, aber nur eine Narzisstin würde denken, dass jeder in der Stadt über sie sprach, oder?

2

Ich bin ein Feigling. Das ist eine bittere, demütigende Erkenntnis für jemanden, der sich immer für stark hielt.

Ghost Lake, Ava Howell Brooks

Ava

Jeder in der Stadt schien sie anzustarren.

Als sie die Main Street in Emerald Creek, Idaho, entlangfuhr, versuchte Ava, sich klarzumachen, wie lächerlich es war. Warum sollten sie sie wohl anstarren?

Sie hatte in Emerald Creek nur ein paar Jahre bei ihrer Großmutter gelebt, zwischen ihrem sechzehnten und achtzehnten Lebensjahr, und war nun mehr als ein Jahrzehnt lang weg und nur gelegentlich zu Besuch gewesen. Wahrscheinlich kannte sie nur noch wenige Leute, die hier lebten, und selbst die würden sie wahrscheinlich nicht mehr wiedererkennen.

Als sie an der Neu- und Gebraucht-Buchhandlung Meadowside Book Nook vorbeifuhr, wäre sie beinahe einem großen schwarzen Pick-up aufgefahren.

Aus dem Augenwinkel heraus war Avas Aufmerksamkeit auf die Schaufensterauslage des Buchladens gefallen. Die gesamte Schaufensterfront zierte das rot-weiße Cover von Ghost Lake – mit seiner düsteren Strichzeichnung eines Bergsees.

Oh, das war übel. Wirklich schlimm.

Madi musste so wütend auf sie sein.

Was dachte ihre Schwester, wenn sie jeden Tag an dieser Auslage vorbeifuhr?

Vielleicht hatte sie es gar nicht bemerkt.

Ava wusste, dass das eine vergebliche Hoffnung war. Natürlich würde Madi es bemerkt haben. Und wahrscheinlich schäumte sie jedes Mal vor Wut, wenn sie es sah.

Ava erfuhr aus einem der vielen Zoom-Gespräche mit ihrer Großmutter Leona, dass Madi wegen des Buches außer sich war vor Wut.

Sie verstand nicht ganz, warum. Es war ja nicht so, als hätte Madi nicht gewusst, dass es kommen würde. Ava hatte versucht, ihre Schwester ausreichend vorzuwarnen, dass das Buch Ende Mai erscheinen würde.

Als sie zum ersten Mal selbst begriff, dass ihr Buch tatsächlich veröffentlicht werden sollte – viel schneller, als sie es sich hätte vorstellen können –, war Ava ihrer Schwester gegenüber sehr ehrlich gewesen.

Sechs Monate zuvor hatte Ava ihr ein Vorabexemplar des Manuskripts geschickt und dann auf eine Antwort gewartet. Und gewartet. Und gewartet.

Als sie ein paar Wochen später fast ein Nervenbündel war und anrief, zeigte Madi sich gleichgültig, ja geradezu gelangweilt. Sie hatte sich damit herausgeredet, wie beschäftigt sie war, da sie immer noch in der Tierklinik arbeitete und nebenbei sämtliche Vorbereitungen für die Eröffnung des Emerald-Creek-Tierheims treffen musste.

»Wie dem auch sei, ich habe es ja alles selbst erlebt«, hatte Madi schließlich gesagt, als sich ihr unangenehmes Gespräch dem Ende zuneigte. »Es tut mir sehr leid, aber ein Mal hat mir gereicht. Ich brauche das alles nicht noch mal.«

Ava hätte sie dazu drängen sollen, das Buch zu lesen. Sie hätte dafür sorgen müssen, dass Madi nicht aus allen Wolken fiel, als das Buch schon vor seiner Veröffentlichung plötzlich in aller Munde war.

Wie hätte Ava denn wissen können, dass es derart durch die Decke gehen würde? Alle, die mit dem Buch zu tun hatten, hofften auf einen Erfolg, aber dann musste ihr Verleger sogar in aller Eile weitere Exemplare in Druck geben, um der Nachfrage gerecht zu werden.

Ava klammerte sich förmlich ans Lenkrad, während sie durch die Stadt fuhr und schließlich in die Einfahrt einbog, die zum zweistöckigen Haus ihrer Großmutter führte, mit dem ausgefallenen, farbenfrohen Garten, der gerade in voller Blüte stand.

Sie war erleichtert, weder den kleinen Geländewagen von Madi noch den uralten Pick-up ihres Großvaters zu sehen, den ihre Schwester gelegentlich fuhr.

Irgendwann würde sich Ava ihrer Schwester stellen müssen. Aber jetzt noch nicht. Sie war viel zu erschöpft, um sich mit Madi zu befassen. Vielleicht später, nachdem sie sich ausgeruht hatte. Sie war müde genug, um eine ganze Woche lang zu schlafen, war sich aber nicht sicher, ob das ausreichen würde, um die Erschöpfung, die ihr tief in den Knochen steckte, zu vertreiben.

Als sie aus dem Wagen stieg, tat ihr alles weh, und ihr wurde übel.

Sie schluckte das alles hinunter, als sie ihre Großmutter erblickte, die im Overall und mit einem Schlapphut aus Stroh auf dem Kopf in einem der Gärten am Haus arbeitete.

Ihre Großmutter hatte Ohrstöpsel in den Ohren, hatte den Rücken Ava zugewandt und summte leise die Musik mit, während sie ihre Tränenden Herzen zurückschnitt. Wahrscheinlich hat sie das Auto nicht einmal bemerkt, dachte Ava dann, als ihre Großmutter ihr nicht entgegenkam, um sie zu begrüßen.

Sie bewegte sich auf ihre Großmutter zu, als sich plötzlich ein Schäferhundmischling von der Veranda erhob und ein kurzes Bellen von sich gab. Ava erstarrte, eiskalte Panik überkam sie. Nach ein paar Sekunden zwang sie sich zur Ruhe. Das war nur Oscar. Er würde ihr nicht wehtun.

Hoffentlich.

Der Gruß des Hundes hatte anscheinend Leonas Aufmerksamkeit geweckt. Ihre Großmutter drehte sich um, und Ava sah den Schock in ihren Augen, ehe Leona mit einem Schrei ihre Gartenschere fallen ließ und mit ausgestreckten Armen auf sie zustürzte.

»Ava! Mein Schatz! Was machst du denn hier? Warum hast du nicht angerufen und mir gesagt, dass du kommst? Oh, meine Liebe. Es ist so schön, dich zu sehen, auch wenn du viel zu dünn bist.«

Leona erreichte sie, schlang die Arme fest um sie, und Ava wollte einfach nur in dem Wohlbehagen dieser Umarmung versinken.

Was würde ihre Großmutter tun, wenn Ava einfach ihren Kopf an ihre Schulter legte und weinte und weinte und weinte?

Leona schien zu spüren, dass etwas nicht stimmte. Sie schob Ava ein Stück von sich weg und betrachtete sie eingehend mit ihren blauen Augen hinter der dicken Brille, denen nichts entging. Ava schaute sie an und war sich bewusst, dass sie dunkle Ringe unter den Augen hatte, dass sich tiefe Linien der Erschöpfung in ihren Gesichtszügen abzeichneten.

»Was ist los? Was stimmt nicht?«

So vieles. Alles.

Sie konnte es ihrer Großmutter noch nicht sagen. Sie würde es tun, aber sie brauchte Zeit, um die richtigen Worte zu finden.

»Ich brauche einen Ort, an dem ich ein paar Wochen bleiben kann. Vielleicht sogar den ganzen Sommer. Wäre das in Ordnung?«

Sorge und Beunruhigung huschten über Leonas faltiges Gesicht. »Du weißt, dass du immer willkommen bist, meine Liebe. Und Cullen ebenso. Kommt er auch?«

Den Namen ihres Mannes zu hören, versetzte ihr einen Stich mitten ins Herz, als würde ein Pfennigabsatz darauf treten, und sie hielt sich nur mit Mühe aufrecht.

»Nein«, brachte sie hervor. »Er wird nicht mitkommen. Cullen arbeitet diesen Sommer nicht weit von hier bei einer Ausgrabung in den Bergen. Man hat ein paar versteinerte Knochen auf staatlichem Forstgebiet gefunden, und Cullen und sein Team sind der Meinung, es könnte sich um eine völlig neue Dinosaurierart handeln.«

Sie bemühte sich, möglichst beiläufig zu klingen und nicht gleich alles auf einmal herauszusprudeln. »Er ist überglücklich, dass er das Team leiten darf. Für ihn geht ein Traum in Erfüllung. Du weißt, was für ein Dinosaurier-Nerd er ist.«

»Allerdings.« Leona lächelte, obwohl ihr die Besorgnis noch immer ins Gesicht geschrieben stand. »Es ist doch gut, dass er Dinos mag. Wenn nicht, wäre es schon seltsam für jemanden, der Paläontologie unterrichtet. Was für eine wunderbare Gelegenheit.«

»Ja. Ich freue mich riesig für ihn. Wir hoffen beide, dass er dadurch zum ordentlichen Professor aufsteigen kann und einen Lehrstuhl bekommt.«

»Wie aufregend!«

»Ja. Aber er wird fast den ganzen Sommer über unterwegs sein, und ich … ich wollte nicht allein in unserer Wohnung in Portland bleiben. Schon nach ein paar Tagen habe ich es nicht mehr ausgehalten, also habe ich alles gepackt und bin hergekommen. Ich hoffe, das ist in Ordnung.«

Sie wusste nicht, wie sie ihrer Großmutter beibringen sollte, dass ihre Ehe möglicherweise genauso tot war wie diese Fossilien.

»Oscar und ich würden uns freuen, wenn du bei uns bleiben würdest. Stimmt’s, Oscar?«

Die Zunge des Hundes hing aus seiner Schnauze heraus, als er Ava musterte. Oscar. Wie hatte sie nur vergessen können, dass es ihre Großmutter und den Hund nur im Doppelpack gab?

Jedes Mal, wenn sie zu Besuch war, hatte sie das Gefühl, dass er sie mit ebenso scharfen Augen wie Leonas beobachtete und nur auf den Moment wartete, um sie anzuspringen.

Die Hunde kommen immer näher. Ich kann ihr Gebell von der nächsten Bergspitze her hören. Kann unsere Witterung so weit reichen? Ich habe keine Ahnung, und ich glaube auch nicht, dass ich Madi noch mal überreden kann, wieder durch den Fluss zu gehen, um unsere Fährte zu verschleiern. Wir haben ihn schon Dutzende Male durchquert. Jedes Mal zehrt es noch mehr von dem bisschen an Kraft, was noch übrig ist.

Sie bellen wieder, und mein Herz klopft so laut, dass ich an die scharfen Zähne, geifernden Zungen und wilden Blicke denken muss. Bestimmt können die Hunde jeden einzelnen Pulsschlag meines Blutes hören, jeden Fetzen meines stockenden Atems.

Schnell verdrängte sie die Erinnerung, die Worte.

»Danke, Oma Leelee.«

Das Gesicht ihrer Großmutter wurde weich, als sie ihren Spitznamen hörte, den Ava sich als kleines Kind ausgedacht hatte.

»Gern geschehen, mein Schatz. Du kannst in deinem alten Zimmer oben schlafen. Ich muss nur noch ein paar Kisten wegräumen. Ich habe meine Schränke ausgemistet und alles in dein Zimmer gestellt, damit ich nur eine Fahrt zum Goodwill-Second-Hand-Laden machen muss.«

»Du musst nichts wegräumen. Ein paar Kisten stören mich nicht.«

»Das ist kein Problem. Ich bringe sie erst einmal in Madis Zimmer, da sie zurzeit ganz im Bauernhaus auf dem Tierheimgelände lebt.«

Ava spürte, wie sich ihr Körper beim Namen ihrer Schwester anspannte, obwohl Madi nicht mehr aus ihren Gedanken gewichen war, seit sie die Stadtgrenze passiert hatte. »Wie geht es ihr?«, fragte sie mit leiser Stimme.

Leona wischte sich den Schmutz von ihrem Overall. »Nun, du bist im Moment nicht gerade ihre Lieblingsperson. Sagen wir es mal so.«

Sie schluckte heftig. »Ich habe ihr von dem Buch erzählt. Ich habe ihr ein Vorabexemplar geschickt. Sie wurde ausreichend vorgewarnt.«

»Ja. Sie wusste, dass es erscheinen würde. Aber du kennst Madi. Sie neigt dazu, sich nur auf das zu konzentrieren, was sie gerade vor der Nase hat. Sie war so mit der Eröffnung des Tierheims beschäftigt, dass es wahrscheinlich einfacher für sie war, dein Buch zu ignorieren und so zu tun, als würde das alles gar nicht passieren. Jetzt, wo es erschienen ist, kann sie davor nicht mehr davonlaufen.«

Sie hatte gewusst, dass die Veröffentlichung ihrer Geschichte über die Monate in den Bergen und sämtliche Ereignisse, die dazu geführt hatten, ein einschneidendes Ereignis in ihrem Leben sein würde. Allerdings hatte sie nicht geahnt, wie sich das auf jede einzelne ihrer Beziehungen auswirken würde, von ihren losen Bekanntschaften über den Tankwart, der ihr immer das Auto volltankte, bis hin zum Kollegium an der Mittelschule, an der sie Englisch unterrichtete.

Sie war sich nicht sicher, ob sich ihre Ehe jemals ganz davon erholen würde.

Du hast mir nicht mal die Hälfte der Dinge erzählt, die du durchgemacht hast.

Cullens Stimme schien durch ihr Gedächtnis zu hallen, fassungslos und verärgert und … verletzt, während er sein Exemplar von Ghost Lake ansah, als wäre es eine Giftschlange, die plötzlich in ihr Bett eingedrungen war.

Es kommt mir vor, als wäre ich in den letzten drei Jahren mit einer Fremden verheiratet gewesen.

Es war sein Vorschlag gewesen, während er nicht weit von hier in den abgelegenen Bergen arbeitete, ihre räumliche Trennung zu nutzen, um herauszufinden, welche Art von Zukunft sie möglicherweise noch retten konnten.

Ich liebe dich, Ava. Das hat sich nicht geändert. Aber ich denke, wir brauchen beide Zeit, um uns klarzumachen, wo die Reise hingehen soll.

Die Worte, die sie geschrieben hatte, brachten ihre ganze Welt zum Einsturz. Dieselbe schonungslose, schmerzhafte Ehrlichkeit, die beim Rest der Welt Anklang zu finden schien, drohte nun die beiden Dinge zu zerstören, die ihr am meisten am Herzen lagen: ihre Beziehung zu ihrer Schwester und ihre Ehe mit Cullen Brooks.

»Komm mit. Wir bringen deine Sachen hinein. Richte dich erst mal ein, bevor du mir noch umfällst«, sagte Leona mit einem warmen Lächeln, das Ava wieder fast zum Weinen brachte.

Ihre Großmutter trug ihre Laptoptasche ins Haus, während Ava mit ihrem Koffer hinterherging.

Im Haus roch es nach Vanille und Erdbeerkuchen, ein Duft, der ihren Magen rumoren ließ und sie daran erinnerte, dass sie den ganzen Tag nichts anderes als ein paar Kekse gegessen hatte.

Diese Abreise war völlig spontan gewesen. Um nicht zu sagen, Hals über Kopf. Nachdem sie drei Nächte allein in ihrer Wohnung in Portland verbracht hatte, hatte sie beschlossen, dass sie die ohrenbetäubende Stille keine Sekunde länger ertragen konnte. Heute Morgen war sie nach einer unruhigen Nacht, in der sie sich hin und her gewälzt hatte, mit brennenden Augen aufgewacht. In einem Augenblick hatte sie sich noch die Zähne geputzt, und im nächsten hatte sie schon ihren Koffer unter dem Bett hervorgezogen und alles hineingeworfen, was sie eventuell benötigen könnte.

Nachdem sie ihre Nachbarin gebeten hatte, ein Auge auf ihre Wohnung zu haben und die Post einzusammeln, brach Ava auf und hielt während der gesamten neunstündigen Fahrt nur zweimal an, um zu tanken.

Was hätte sie sonst tun können? Sie konnte die Lesereise nicht fortsetzen und so tun, als wäre alles in Ordnung, wenn sich ihre ganze Welt … zerstört anfühlte.

Sie hätte Cullen alles erzählen sollen. Sie vermutete, dass sie ihm die Wahrheit vorenthalten hatte, weil ein Teil von ihr, genau wie Madi, so tun wollte, als wäre nichts davon passiert. So tun, als wären sie zwei Durchschnittsmädchen mit einer Durchschnittskindheit, deren Durchschnittseltern beide im Abstand weniger Jahre auf tragische Weise gestorben waren.

Letzteres war definitiv wahr, auch wenn es nur einen winzigen Bruchteil der ganzen komplizierten, verkorksten Geschichte ausmachte.

Man könnte behaupten, dass der erste Teil – zwei durchschnittliche Mädchen mit einer durchschnittlichen Kindheit – ebenfalls der Wahrheit entsprach … bis zu dem Sommer, in dem sie vierzehn wurde und Madi zwölf; der Sommer, in dem ihre Mutter starb, wodurch sich alles änderte.

Hier zu sein, im Elternhaus ihrer Mutter, ließ sie Beth nur noch mehr vermissen. Ihre Mutter war ein Sinnbild an Ruhe, Stärke und Anmut gewesen. Sie war zu jedem freundlich gewesen; die Art von Mensch, von der sich andere angezogen fühlten, die sich von ihrer hellen Freude wärmen lassen wollten.

Ava vermisste sie an jedem einzelnen Tag.

Ihr Telefon klingelte, als sie ihren Koffer in das Zimmer trug, in dem sie die letzten zwei Jahre der Highschool verbracht hatte.

Nachdem sie ihr ganzes Leben lang ein Zimmer mit ihrer Schwester geteilt hatte, war dieser Raum der erste, den Ava für sich ganz allein beanspruchen konnte, und das auch nur, weil Madis Zimmer im Erdgeschoss mit all den Geräten ausgestattet werden musste, die sie für ihre Reha benötigte.

Sie schob die Erinnerungen beiseite und holte ihr Handy heraus. Das Display zeigte, dass es sich um ihre Literaturagentin handelte.

Sylvia Wittman war eine tolle Frau, die unbedingt das Beste für Ava wollte. In diesem Moment waren sie sich aber nicht ganz einig, was das sein sollte.

Sie seufzte und ließ den Anruf auf die Mailbox laufen, so wie alle anderen zuvor an diesem Tag.

Sylvia rief zweifellos an, um ihr von diversen Film- und Fernsehangeboten zu berichten, die man an sie herangetragen hatte, oder um ihr mitzuteilen, dass ein weiterer Buchclub Ghost Lake vorstellen wollte.

Für die meisten Schriftsteller würde ein Traum in Erfüllung gehen, wenn sich ihr Werk derart viral verbreiten und im In- und Ausland so viel Interesse wecken würde.

Ava nahm an, dass sie wohl nicht zu den meisten Schriftstellern zählte.

Sie wollte nur noch ihre alte Kuscheldecke vom Bett nehmen, sie zum Schrank hinübertragen und sich dort in einer Ecke verkriechen, bis alles vorbei war.

Morgen. Sie würde sich morgen um alles kümmern, nachdem sie die Erschöpfung weggeschlafen hatte, die tief in ihre Knochen und Sehnen gedrungen war.

Dann war es an ihr, herauszufinden, ob sie irgendetwas tun konnte, um ihre Ehe zu retten oder die Kluft zwischen ihr und ihrer Schwester zu kitten, oder ob die Wunden, die sie geliebten Menschen mit ihren Worten zugefügt hatte, jemals würden heilen können.

3

Blut versickert im Erdboden unter uns, während die Wirklichkeit unserer Flucht auf schmerzhafte Weise greifbar wird. Das Streben nach Freiheit ist mit einem hohen Preis verbunden.

Ghost Lake, Ava Howell Brooks

Luke

Wenn er nicht aufpasste, lief er Gefahr, von einer Ziege einen Tritt zwischen die Beine zu kriegen.

Luke Gentry taumelte, während er versuchte, sich an dem verärgerten Tier festzuhalten. »Ich werde dir nicht wehtun«, murmelte er. »Ich will dir doch nur helfen, damit du wieder ohne Schmerzen laufen kannst. Ich verspreche dir, wenn ich fertig bin, wird es dir besser gehen.«

Er redete weiter auf die Ziege ein, während er vorsichtig ihre Hufe beschnitt.

Lange Zeit war er unsicher gewesen, ob dies der richtige Beruf für ihn war. Obwohl er Tiere immer geliebt hatte und es ihm nichts ausmachte, in der Tierklinik seines Vaters auszuhelfen, hatte es ihn geärgert, dass alle automatisch davon ausgingen, dass er in die Fußstapfen von Dan Gentry treten wollte.

Luke hatte einmal andere Träume gehabt. Er wollte ein Abenteurer werden, die höchsten Gipfel der Welt besteigen und auf Skiern die steilsten Hänge hinuntersausen.

Wo, war ihm egal gewesen, Hauptsache, er würde nicht hier in Emerald Creek, Idaho, festsitzen.

Em-C, wie die Einheimischen es nannten, war ein hübsches kleines Städtchen mit vielen Freizeitmöglichkeiten, aber es hatte sich immer zu klein für all seine Träume angefühlt. Die Welt war so viel größer als diese Gemeinschaft aus echten Ranchern und Farmern, Outdoor-Fans und Wochenend-Cowboys in der Nähe von Sun Valley.

Im Laufe der Jahre hatte sich seine Sichtweise jedoch geändert. Er liebte es, der einzige Tierarzt der Stadt zu sein, sich hier mit seiner Tochter ein Zuhause und eine Karriere aufzubauen, und er konnte sich sein Leben nicht anders vorstellen – zumindest, solange diese Ziege ihn nicht entmannte.

Endlich hatte er auch den letzten Huf fertig beschnitten und ließ Martha los. »So, fertig. Alles erledigt. Siehst du? Das war doch gar nicht so schlimm.«

Die Ziege blökte ihn an und zog sich auf die andere Seite des Stalls zurück. Er öffnete die Stalltür nach draußen, und sie entschlüpfte mit einem übermütigen Sprung hinaus in die Sonne von Idaho.

Er war gerade auf dem Weg zum Büro im Stall des Emerald-Creek-Tierheims, als die Doppeltür aufsprang und Madison Howell hereinstürzte, die unter einem riesigen Beutel Hundefutter, der wahrscheinlich halb so schwer war wie sie selbst, ins Wanken geriet.

Luke musste sich zwingen, ihr den Sack nicht instinktiv wegzunehmen. Er kannte Madi gut genug, um zu wissen, dass das keine gute Idee war.

Sie ließ den Sack in der Scheune fallen, richtete sich auf und bog ihren Rücken nach hinten, um ihn zu strecken. Ihr Gesicht hellte sich auf, als sie ihn sah. »Luke! Hey! Ich hätte nicht erwartet, dass du heute Abend noch vorbeikommst, nach so einem langen Tag.«

»Den hattest du ja auch«, stellte er fest. Das wusste er nur zu gut, denn wenn sie nicht gerade hier im Tierheim Hundefutter von A nach B schleppte, war sie Tierarzthelferin in seiner Klinik. »Ich hatte ein paar freie Stunden, also bin ich vorbeigekommen, um nach Barnabas Wunde zu sehen und mich um Marthas Hufe zu kümmern. Es geht ihm gut, und Martha sollte jetzt wieder fit sein und richtig losfegen können.«

Sie schenkte ihm ihr halbes Lächeln, mit dem sie es immer schaffte, seinen Tag zu erhellen.

»Danke. Mir war auch schon aufgefallen, dass ihr die langen Dinger zu schaffen machten.«

»Sie hat sich tapfer geschlagen, zumindest größtenteils.« Er deutete mit dem Kopf auf den Sack, den sie an der Wand abgestellt hatte. »Hast du noch viel auszuladen?«

»Noch vier Säcke. Das war alles, was es im Futtermittelladen gab.«

»Ich kann dir helfen, sie reinzutragen. Dann musst du nicht ganz so oft laufen.«

Erwartungsgemäß sah Madi aus, als wollte sie zu streiten anfangen. Dieser Dickschädel! Genauso stur wie diese Ziege – obwohl er es nie wagen würde, so etwas zu ihr zu sagen.

Schließlich biss sie sich auf die Lippe, auf die Seite, die nicht nach oben gezogen war. »Danke«, sagte sie stattdessen.

Ihr Oldtimer-Pick-up wirkte in der Abendsonne regelrecht fröhlich mit seinem türkisfarbenen und gelben Lack. Sein Anblick zauberte ihm beinahe dasselbe Lächeln ins Gesicht wie der Anblick von Madison.

Luke hievte sich auf jede Schulter einen Sack und ging damit zurück in die Scheune, wo er sie beide an dieselbe Wand stellte, an der auch ihr Sack lehnte.

»Ich hole noch die letzten.«

Er dachte, sie würde ihm widersprechen, aber sie nickte nur. »Bitte lass einen im Wagen. Der ist für Leonas Hund. Ich fahre ihn später am Abend oder morgen früh rüber.«

Als er in die Scheune zurückkehrte, sah er, dass sie ein kleines dreifarbiges Kätzchen im Arm wiegte. Er kannte alle Tiere des Tierheims, da er sie normalerweise bei ihrer Ankunft einem Gesundheits-Check unterzog. Doch dieses Kätzchen hatte er noch nie gesehen.

»Wo hast du die denn gefunden?«

»Als ich auf dem Rückweg vom Futtermittelladen war, rief mich Charla Pope an. Sie hatte ein jammerndes streunendes Kätzchen in ihrem Blumenbeet gefunden, von der Mutterkatze keine Spur. Es lag dort seit gestern Abend. Ich bin auf dem Heimweg eben hingefahren, und das arme Ding sieht halb verhungert aus.«

Madi hatte ein unglaubliches Talent dafür, verlorene Streuner aufzufinden. Er hatte den Verdacht, dass es diese zu ihr hinzog, weil sie spürten, dass sie ein Freund und Retter sein würde.

Sie hatte sich nicht verändert. Sie versuchte immer noch, jedes herumstreunende Tier, das sie finden konnte, nach Hause zu holen, nur tat sie es jetzt offiziell, im Namen des Emerald-Creek-Tierheims.

»Soll ich sie mir mal ansehen?«

Sie schenkte ihm ihr einzigartiges Lächeln, und ihre Augen leuchteten vor Dankbarkeit. »Macht es dir nichts aus?«

»Ganz und gar nicht. Ich habe Zeit. Bringen wir sie ins Untersuchungszimmer.«

Noch immer das winzige Kätzchen im Arm, holte Madi ihren Laptop aus dem Büro und folgte Luke in den kleinen Behandlungsraum des Heims.

Sie öffnete ihren Laptop und legte eine Akte für das Kätzchen an. »Willst du ihr einen Namen geben?«, fragte sie ihn.

Er war schlecht im Aussuchen von Tiernamen. »Du hast sie gerettet. Such du einen aus.«

Sie betrachtete das Kätzchen. »Wie wäre es, wenn wir sie erst einmal Callie nennen?«

»Klingt gut.«

Sie tippte ein paar Dinge auf den Bildschirm, und zwar mit solcher Geschwindigkeit, dass man die leichte Kontraktur ihrer linken Hand leicht übersehen konnte und nicht bemerkte, dass sie nicht so gut funktionierte wie die rechte. Es handelte sich um einen Nervenschaden, der von einer vor fünfzehn Jahren erlittenen Verletzung herrührte, aber Madi ließ sich davon nicht stören.

Sanft wog er das Tier und maß seine Größe, während er Madison die Werte zu Protokoll gab.

»Ich sehe keine Anzeichen einer offensichtlichen Krankheit oder Verletzung«, sagte er nach der ersten Untersuchung. »Sie scheint gesund zu sein, wenn auch ein wenig unterernährt.«

»Was glaubst du, wie alt sie ist?«

»Reine Vermutung, aber ich würde sie auf fünf oder sechs Wochen schätzen.«

»Das habe ich auch gedacht. Sie sollte also noch ein paar Wochen lang nicht geimpft werden – und sie ist alt genug, um entwöhnt zu werden.«

»Ja, aber ich würde ihr trotzdem Milchersatz für Kätzchen füttern, zusammen mit etwas weichem Futter.«

»Ich habe welches im Haus. Das klingt nach einem guten Plan.«

»Ich vermute, dass sie zu irgendeinem wilden Wurf gehört. Hat nicht Charlas Nachbar am Ende der Straße ein paar Stallkatzen? Vielleicht ist die hier weggelaufen. Oder vielleicht ist der Mutter etwas zugestoßen.«

»Da hast du wahrscheinlich recht. Ich werde Charla und die anderen in ihrer Nachbarschaft bitten, nach weiteren streunenden Katzen Ausschau zu halten. Danke, dass du sie in Augenschein genommen hast.«

»Das habe ich gern getan, aber du hast mich nicht wirklich gebraucht.«

Sie zuckte mit den Schultern. »Du bist der Profi.«

»So wie du.«

Für ihn war die Veterinärmedizin sein Beruf. Für Madi war es eine Berufung, sich um Tiere zu kümmern. Sie liebte sie mit einer derart tiefen Leidenschaft, dass es ihn immer wieder in Erstaunen versetzte.

»Auf dem Papier bin ich vielleicht der Tierarzt«, fuhr er fort. »Aber du weißt genau, was zu tun ist. Du wirst mit allem fertig, ob ich nun hier bin oder nicht.«

Sie zog ein Gesicht. »Sag das mal allen in der Stadt, die mir nicht einmal zutrauen, einen Beutel Hundefutter zu tragen. Cal Warner hat heute darauf bestanden, meinen Einkaufswagen zu beladen. Wahrscheinlich hat er sogar daran gezweifelt, dass ich seinen Stock halten könnte, so labil, wie ich bin. Und Ava mit ihrem blöden Buch hat die Dinge nicht besser gemacht.«

Der Frust strömte förmlich aus ihr heraus. »Sie hat alles noch viel schlimmer gemacht. Warum musste sie auch diese alten Wunden aufreißen? Uns ging es doch gut.«

Er war sich nicht ganz sicher, ob das stimmte. Madi präsentierte der Welt eine ausgeglichene und glückliche Fassade, aber Luke wusste, dass sie tiefe Narben hatte, die sie vor fast jedem verbarg.

Er schätzte sich glücklich, einer der wenigen Menschen zu sein, die die wahre Madison kannten.

»Wen hast du dieses Mal beim Lesen erwischt?«

»Calvin sagte mir, dass er und seine Frau es zusammen gelesen haben. Und Jewel Littlebear im Futtermittelladen hat ein Exemplar unter die Kasse geschoben, als ich bezahlen wollte. Ich weiß nicht, warum sie sich die Mühe gemacht hat. Ich habe es so oder so gesehen. Lesen es nicht alle in der Stadt?«

»Nicht ganz.«

Sein Telefon klingelte, und er blickte auf das Display. »Das ist Sierra. Sie liest es nicht.«

»Nein. Aber ich glaube, ihre Freundinnen schon«, sagte Madi düster. »Oder zumindest die Familie ihrer Freundinnen.«

Sein Telefon klingelte wieder, und sie deutete darauf. »Du solltest rangehen. Ich habe sie auf dem Weg hierher mit ihren Freundinnen gesehen. Sie schienen sich zu amüsieren.«

Während sie ins Büro zurückkehrte und das Kätzchen absetzte, damit es die Umgebung erkunden konnte, nahm er den Anruf seiner Tochter entgegen.

»Hey, Sierra. Was gibt’s?«

»Kann ich heute Nacht bei Zoe übernachten?«

Er runzelte die Stirn. »Ich dachte, wir hätten besprochen, dass wir in die Stadt fahren, uns Sandwiches zum Mitnehmen holen und dann zu den Hidden Falls wandern, um dort ein Picknick zu machen.«

»Ich weiß, und das würde ich auch gerne tun. Aber Zoe reist morgen ab und bleibt sechs Wochen bei ihrem Vater in Utah. Das ist eine Ewigkeit. Es ist sozusagen unsere letzte Chance, in diesem Sommer etwas zusammen zu machen. Wir wollten eine Pyjamaparty mit Mari und Yuki veranstalten. Ihre Mutter sagt, es ist okay, und sie wird die ganze Nacht bei uns zu Hause sein und Zoes Grandma auch.«

Er wusste, dass die Scheidung von Zoes Eltern nicht gerade harmonisch verlaufen war. Ihre Mutter lebte derzeit bei Zoes Großmutter am anderen Ende der Stadt.

»Klar. Das ist in Ordnung. Ich kann dich hinfahren.«

»Nicht nötig. Ich habe mein Fahrrad. Ich packe zu Hause ein paar Sachen in meinen Rucksack und fahre sofort los. Danke, Dad. Hab dich lieb. Mach’s gut.«

»Hab dich auch lieb«, antwortete er.

Am Klicken des Telefons erkannte er, dass sie bereits aufgelegt hatte. Er konnte sich glücklich schätzen, dass sie daran gedacht hatte, sich zu verabschieden, da sie mit ihren Gedanken überall gleichzeitig war.

Er spürte wieder dieses kleine Ziehen in seinem Herzen. Sein kleines Mädchen wurde erwachsen. In den letzten vier Jahren, seit dem Tod ihrer Mutter, waren sie eine ziemlich in sich geschlossene Einheit gewesen. Auch wenn er nicht sagen konnte, dass sie allein gegen den Rest der Welt standen, denn ohne die Hilfe seiner Mutter und seiner Schwester sowie lieber Freundinnen wie Madi wäre er verloren gewesen.

Er und Sierra standen sich jedoch sehr nahe, und er freute sich immer auf die seltenen Momente, in denen sie nur zu zweit etwas unternehmen konnten.

Offenbar würde es an diesem Abend nicht so sein, wie er es sich erhofft hatte.

Sein Seufzen blieb Madi nicht verborgen. »Klingt, als wärst du versetzt worden. Hat Sierra aufregende Pläne?«

»Sie will die Nacht bei Zoe verbringen, mit Mariko und Yuki. Warum nicht? Das macht doch viel mehr Spaß, als mit diesem langweiligen Alten rumzuhängen.«

»Ich glaube nicht, dass sie es so sehen würde. Sie vergöttert dich, das weißt du. Es klingt aber so, als hätte sie ein besseres Angebot bekommen.«

»Stimmt. Ich kann nicht wirklich mit einer Nacht YouTube-Videos und TikTok-Tänzen konkurrieren.«

»Das tut mir leid.« Sie schenkte ihm ihr halbes Lächeln. »Du kannst ja heute Abend mit Nic und mir in den Burning Tree kommen. Die Rusty Spurs spielen. Das wird wild. Wenn du die Karte des langweiligen Alten spielen willst, kannst du unser auserwählter Fahrer sein.«

Er schnaubte. »Ich glaube nicht, dass du und meine Schwester wirklich einen Anstandswauwau braucht, oder?«

»Nein. Auf gar keinen Fall«, sagte sie so schnell, dass er grinsen musste. »Aber du kannst trotzdem mitkommen, etwas trinken und Musik hören. Du verdienst etwas Spaß in deinem Leben, Luke. Betrachte es als Selbstfürsorge.«

»Ich werde darüber nachdenken, Dr. Howell«, sagte er, obwohl er davon ausging, es würde beim Darübernachdenken bleiben. Wahrscheinlich würde er den Abend damit verbringen, Popcorn zu machen, ein Bier zu schlürfen und Baseball zu gucken.

Kein schlechter Freitagabend, seiner Meinung nach. Hörte sich das jetzt erbärmlich an?

»Nochmals vielen Dank für deine Hilfe«, sagte Madi, als sie die Scheune verließen. Das Kätzchen hatte sie sich wieder tief in ihre Tasche gesteckt.

»Gern geschehen.«

Draußen wurden die Schatten des Spätnachmittags bereits lang, das Licht war golden und schimmerte in den Baumkronen und tanzte in ihrem Haar.

»Im Ernst«, sagte sie, als sie seinen Transporter erreichten. »Du solltest heute Abend mitkommen. Die Band fängt um acht an. Wenn du uns nicht fahren willst, können wir uns ja dort treffen. Dann kannst du jederzeit früher gehen und bist kein Gefangener.«

Er schüttelte den Kopf und legte die Hand auf den Türrahmen seines blauen Pick-ups. »Seit wann ist das denn eine beschlossene Sache?«

»Gib es zu, Luke. Es würde dir guttun, mal auszugehen. Du arbeitest zu hart. Wenn du nicht arbeitest, kümmerst du dich um Sierra oder hilfst hier im Tierheim aus. Sag mir die Wahrheit. Wann hast du das letzte Mal etwas getan, nur weil du Lust dazu hattest?«

Er schnaubte. »Wer sagt denn, dass ich in einer lauten Bar mit einem Haufen halbbetrunkener Cowboys abhängen will?«

»Und mit deiner Schwester und mir«, betonte sie. »Wir werden auch dort sein. Willst du nicht mit uns abhängen, wenn es außerhalb der Arbeit ist?«

»Du wirst nicht lockerlassen, bis ich zusage, hab ich recht?«

Sie grinste. »Du wirst Spaß haben, versprochen. Das ist besser, als allein zu Hause zu sitzen und sich langweiligen Ballsport anzuglotzen.«

»Ich sehe mir zufällig ganz gerne langweiligen Ballsport an.«

»Ich weiß, aber wie oft hast du Gelegenheit, Live-Musik zu sehen, inmitten von zweihundert Nachbarn und Fremden?«

»Du willst es mir ja nicht gerade schmackhaft machen.«

»Dein erster Drink geht auf mich.«

Sein Mund verzog sich. »Oh, warum hast du das nicht gleich gesagt? Wie kann ich zu Gratisschnaps nein sagen?«

Sie lachte. »Wir halten dir einen Platz an unserem Tisch frei. Wir sehen uns dort. Und zieh deine Tanzschuhe an!«

Zufällig besaß er keine Tanzschuhe. Und auch sonst nichts Geeignetes außer Wanderstiefeln, die auf einer Tanzfläche wahrscheinlich nicht allzu hilfreich waren.

»Ich schau mal«, sagte er, aber sie lief schon den Schotterweg entlang zum Farmhaus, in dem sie mit seiner Schwester lebte.

4

In einer grauenvollen Nacht kraxeln wir einen steinigen Geröllhang hinauf, unter unseren Füßen stürzen lose Steinbrocken in die Tiefe. Das schroffe Gelände droht uns im Stich zu lassen, ich spüre, wie mir die Hand meiner Schwester entgleitet, wir stolpern und rutschen den erbarmungslosen Abhang hinab. Zerkratzt und voller blauer Flecken stehen wir immer wieder auf, mit ungebrochener Entschlossenheit.

Ghost Lake, Ava Howell Brooks

Madison

Nachdem sie ihre Hunde Mabel und Mo begrüßt hatte, die sich am Ende eines langen Tages beide auf ihre Heimkehr freuten, legte Madi das Kätzchen in eine kleine Kiste in ihrem Schlafzimmer und hatte nach der Begegnung mit Luke immer noch ein Lächeln im Gesicht.

Sie hatte keine Ahnung, ob er an diesem Abend tatsächlich in den Burning Tree kommen würde. Sie hoffte es. Er musste wirklich mal auf andere Gedanken kommen.

Der Mann setzte sich unerbittlich für seine Patienten, seine Familie und seine Mitmenschen ein. Sie war sich nicht sicher, ob er seit dem Tod seiner Frau Johanna vor vier Jahren jemals wieder mit jemandem ausgegangen war. Wenn ja, dann hatte er es vor allen geheim gehalten, sogar vor seiner Familie. Madi war sich ziemlich sicher, dass seine Schwester Nicki ihr davon erzählt hätte.

Was hätte sie getan, wenn er nicht Teil ihres Lebens gewesen wäre? Darüber dachte sie oft nach.

Zum einen wäre sie nie in der Lage gewesen, das Tierheim zu eröffnen. Luke und sein teilpensionierter Partner, Ray Gonzales, bestanden beide darauf, die Tiere, die im Heim landeten, kostenlos zu versorgen. Wann immer sie auf etwas Ungewöhnliches oder Unvorbereitetes stieß, war Luke stets bereit, alles stehen und liegen zu lassen, um ihr zu Hilfe zu eilen.

Luke war Vorstandsmitglied der Emerald-Creek-Tierheim-Stiftung und war auch maßgeblich daran beteiligt gewesen, Eugene Pruitt, einen großen Tierliebhaber und Naturschützer, davon zu überzeugen, sein Grundstück dem Tierheim zu stiften.

Sie stand tief bei Dr. Gentry in der Schuld.

Ihr Lächeln verblasste, als sich die Erinnerungen aufdrängten. Ihre Schuld gegenüber Luke und dem Rest seiner Familie war gigantisch, so ungeheuer groß, dass sie wusste, dass sie sie niemals würde zurückzahlen können.

Sie war immer wieder erstaunt darüber, wie seine gesamte Familie – Luke, Nicki, ihr Bruder Owen, ihre Mutter Tilly und sogar Sierra – sie derart akzeptierte und umsorgte. Die Gentrys hätten eigentlich allen Grund gehabt, sie zu hassen. Ihretwegen hatte die Familie einen so schweren Verlust erlitten, dass sie auch jetzt, fünfzehn Jahre später, noch immer trauerten.

Warum hassten sie sie nicht?

Das hatte sie sich in den letzten fünfzehn Jahren oft gefragt. Niemand konnte ihnen einen Vorwurf machen, vor allem nicht nach der Lektüre von Avas dummem Buch, in dem die ganze schreckliche Geschichte in bitteren, schmerzhaften Details geschildert wurde.

An Ghost Lake erinnert zu werden, trübte ihre Stimmung aufs Neue.

Es war dumm von ihr gewesen, zu glauben, alles würde einfach in Vergessenheit geraten. Als Ava ihr zum ersten Mal von dem Buch erzählt hatte, das sie ursprünglich als Masterarbeit geschrieben hatte, war Madi blöderweise davon ausgegangen, dass es sich um einen dieser verstaubten akademischen Wälzer handelte, den niemand jemals lesen würde.

Und wieder einmal hatte sie sich geirrt.

Stattdessen war die Welt begeistert von der Geschichte der beiden verlorenen Mädchen, die versuchten, inmitten von Menschen, Gruppen und Verhältnissen zu überleben, auf die sie keinen Einfluss hatten.

Madi warf einen Blick auf ihre Uhr. Sie hatte noch zwei Stunden, um sich auf den Abend mit Nicole vorzubereiten. Was ihr genügend Zeit gab, das Hundefutter bei ihrer Großmutter vorbeizubringen und ihr vielleicht noch auf einen kurzen Sprung einen Besuch abzustatten.

Nachdem sie sich vergewissert hatte, dass das Kätzchen in seiner Kiste schlief, schnappte sie sich die Schlüssel ihres Pick-ups aus der Holzschale auf dem Tresen.

Obwohl sie normalerweise ihren eigenen kleinen Geländewagen benutzte, weil der weniger Benzin verbrauchte, freute sie sich über jede Gelegenheit, sich hinter das Steuer des alten Pick-ups ihres Großvaters setzen zu können. So konnte sie das Kuppeln und Schalten üben, und außerdem war es fahrende Werbung für das Tierheim, sodass es in den Köpfen der Leute von hier wie außerhalb gleichermaßen präsent blieb. Erst vor ein paar Wochen hatte sie eine nette PayPal-Spende von einem Touristenpaar aus Virginia erhalten, das sie in dem Pick-up gesehen hatte und sich daraufhin über d...

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