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Tanz des Todes - Bestsellerautorin Heather Graham

hier erhältlich:

IHR LETZTER TANZ

Tanzschule Moonlight Sonata in Miami: Heiße Rhythmen, ausgelassene Stimmung - dann ein Todesfall. Und ein zweiter. Zufall oder Mord? Quinn O'Casey ermittelt. Alle sind verdächtig. Selbst die temperamentvolle Tanzlehrerin Shannon Mackay, die Quinn mit ihren sinnlichen Bewegungen alles andere als unschuldig vorkommt ...

TANGO MIT DEM TOD

Wer steckt hinter den Anschlägen auf die beliebte Schauspielerin Kelly Trent - ein besessener Fan oder etwa ein Kollege? Der ehemalige Cop Doug O' Casey, offiziell als Tangolehrer, inoffiziell als Bodyguard angestellt, weicht keinen Moment von ihrer Seite. Trotzdem kann auch er nicht verhindern, dass der Täter Kelly im Verborgenen beobachtet, verfolgt und entschlossen ist, sie zu vernichten.


  • Erscheinungstag: 29.10.2015
  • Aus der Serie: E Bundle
  • Seitenanzahl: 619
  • ISBN/Artikelnummer: 9783955765064
  • E-Book Format: ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Cover

Heather Graham

Tanz des Todes - Bestsellerautorin Heather Graham

Heather Graham

Ihr letzter Tanz

Roman

Aus dem Amerikanischen von
Ralph Sander

Image

MIRA® TASCHENBUCH

MIRA® TASCHENBÜCHER
erscheinen in der Cora Verlag GmbH & Co. KG,
Axel-Springer-Platz 1, 20350 Hamburg
Deutsche Erstveröffentlichung

Titel der nordamerikanischen Originalausgabe:
Dead On The Dancefloor
Copyright © 2004 by Heather Graham Pozzessere
erschienen bei: MIRA Books, Toronto
Published by arrangement with
Harlequin Enterprises II B.V., Amsterdam

Konzeption/Reihengestaltung: fredeboldpartner.network, Köln
Umschlaggestaltung: pecher und soiron, Köln
Titelabbildung: by pecher und soiron, Köln
Autorenfoto: © by Harlequin Enterprise S.A., Schweiz
Satz: D.I.E. Grafikpartner, Köln

ISBN 978-3-95576-176-9

www.mira-taschenbuch.de

eBook-Herstellung und Auslieferung:
readbox publishing, Dortmund
www.readbox.net

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1. KAPITEL

South Beach hatte immer etwas zu bieten.

Wirklich immer.

Tagsüber war alles in warmen Sonnenschein getaucht, in der Nacht erstrahlte es im Glanz der Neonlichter. Die Reichen und Schönen kamen her, um sich die Zeit zu vertreiben, alle anderen, um ihnen dabei zuzusehen. Der Strand bot von allem etwas – Spektakuläres fürs Auge, Klatsch und Tratsch, Skandale, Blechlawinen und vieles mehr. Spärlich bekleidete, sonnengebräunte Körper, manche hübsch anzusehen, andere nicht ganz so hübsch.

Ob alt oder jung: Models, Rocker, Skater, Biker kamen her, sogar Möchtegern-Surfer, obwohl sie wussten, dass es hier keine brauchbaren Wellen gab.

Doch heute Abend war noch mehr los als üblich.

Einer der größten und angesehensten Tanzwettbewerbe der Welt wurde in einem der berühmtesten Hotels von ganz Miami Beach veranstaltet.

Und wo es einen Tanzwettbewerb gab, da fand man auch Lara Trudeau.

Sie schwebte anmutig über die Tanzfläche und drehte ihre Pirouetten so schnell, dass sie wie ein Wirbel aus kristallklaren Farben wirkte.

Mit anderen Worten: Sie war Schönheit in Vollendung.

Lara bewegte sich mit einer Eleganz und Perfektion, die nur wenige überhaupt nachzuahmen, geschweige denn zu erreichen versuchten. Sie hatte es einfach in sich. Sie besaß die Gabe, das Wesen eines jeden Tanzes exakt auf den Punkt zu bringen. Ihr Gesicht erwachte zu den Klängen der Musik zu einem einzigartigen Leben, und ihr Lächeln war einfach überwältigend. Mancher Preisrichter hatte über sie geäußert, es sei schwierig, den Blick nach unten zu richten und ihre Fußarbeit zu bewerten, und es sei noch schwieriger, neben ihr von den anderen Paaren auf der Tanzfläche Notiz zu nehmen. Laras Strahlen und ihr Gesicht hatten etwas derart Fesselndes, dass ein Preisrichter darüber seine eigentliche Aufgabe vergessen konnte. Der eine oder andere von ihnen gab hinter vorgehaltener Hand auch zu, dass er neben ihr andere Paare nicht so genau bewertete, wie es der Fall hätte sein sollen.

Auch an diesem Abend machte Lara es mit ihrer Anmut und Vollkommenheit den Juroren schwer, ihre Pflicht zu erfüllen.

Genau genommen machte sie es ihnen sogar noch schwerer als sonst, denn sie wirkte noch verführerischer, bezaubernder und strahlender. Ihr zuzusehen bedeutete, sich ihren Bewegungen mit allen Sinnen hinzugeben.

Sie tanzte allein, besser gesagt allein an der Seite ihres Partners Jim Burke. Während der Cabaret-Tänze hatte jedes Paar, das in die Finalrunde gekommen war, die Tanzfläche für sich. Und dann kam Lara, ihr Körper ein geschmeidiges Musterbeispiel weiblicher Grazie in einem figurbetonten Ballkleid, das in tausend Farben schillerte. Jims Darbietung konnte so meisterhaft sein, wie sie wollte, neben ihr war sie nichts weiter als Staffage.

Wer Lara liebte, sah ihr wie gebannt zu. Wer sie hasste, beneidete jeden ihrer präzisen Schritte.

Shannon Mackay beobachtete sie mit gemischten Gefühlen. Sie war die Managerin des Moonlight Sonata, jenes Tanzstudios, in dem Lara ihre Karriere begonnen hatte und in dem sie inzwischen selbst Unterricht gab. Shannon war sich nicht sicher, ob sie Lara lieben oder hassen sollte: Sie war zweifellos ein Naturtalent und übertraf mit ihrem Können selbst die besten und erfahrensten Schautänzer in aller Welt.

„Sie ist unglaublich“, murmelte Shannon vor sich hin.

Ben Trudeau, Laras Ex-Mann, stand neben ihr und schnaubte. „Oh ja, wirklich unglaublich.“

Jane Ulrich, die bis ins Halbfinale gekommen, dann aber wie üblich von Lara aus dem Rennen geworfen worden war, drehte sich zu Ben um und strahlte ihn an. „Ach, Ben, du kannst doch nicht immer noch sauer auf sie sein. Sie ist so gut, man könnte meinen, sie wäre nicht von dieser Welt.“

Shannon lachte leise in sich hinein. Jane sah heute Abend selbst auch atemberaubend aus. Sie war schlank und durchtrainiert, und das intensive Karmesinrot ihres Ballkleids hob sich wie funkelndes Feuer von ihrer tiefen Bräune ab.

„Ich tanze lieber mit dir“, hauchte Janes Partner Sam Railey und zog sie sanft an sich. „Du, meine Liebe, tanzt wirklich mit deinem Partner. Für Lara ist ein Partner doch nur Nebensache.“

„Trotzdem ist sie nun mal brillant“, erklärte Gordon Henson, Eigentümer des Studios. Er hatte Lara als Erster Tanzstunden gegeben, und sein Stolz auf sie war gerechtfertigt.

„Seien wir doch ehrlich: Sie ist ein gehässiges, ehrgeiziges Miststück und geht über Leichen, wenn sie dadurch schneller an ihr Ziel kommt“, warf Justin Garcia ein, einer der aufstrebenden Salsa-Spezialisten des Studios.

Rhianna Markham, die neben ihm stand und ebenfalls am Wettbewerb teilnahm, lachte amüsiert auf. „Komm schon, Justin. Sag doch, was du wirklich denkst.“

Shannon stieß Rhianna an. „Vorsicht. Wir stehen mitten zwischen unseren Schülern.“ Damit hatte sie Recht, denn das Hotel befand sich in unmittelbarer Nähe des Studios. Viele andere Tanzschulen beneideten das Moonlight Sonata um diese Lage – und nicht nur, weil es sich um ein beliebtes Viertel handelte. Im Erdgeschoss des Studiogebäudes befand sich ein Club, der sich in den letzten Jahren zu einer der angesagtesten Adressen entwickelt hatte, seit der charismatische junge Latino Gabriel Lopez neuer Eigentümer geworden war. Lopez war an diesem Abend natürlich auch anwesend, um seinen Freunden zur Seite zu stehen. Wegen der Nähe zum Studio waren sogar einige der Schüler gekommen, die eher unregelmäßig Tanzunterricht nahmen. Gebannt sahen sie zu, wie sich die Crème de la Crème der Schautänzer aus aller Welt einen unerbittlichen Wettkampf lieferte.

„Sie ist einfach wunderbar“, sagte Rhianna laut genug, um gehört zu werden. Sie warf Shannon einen verschwörerischen Blick zu, dann senkte sie den Kopf. Unwillkürlich musste Shannon grinsen.

Gordon beugte sich zu ihr hinüber und flüsterte: „Du solltest da auf der Tanzfläche stehen. Du wärst viel wunderbarer als sie.“

Sie schüttelte den Kopf. „Ich gebe gern Unterricht, aber ich mag keine Wettkämpfe.“

„Angsthase.“

Wieder grinste sie. „Ich weiß, wann ich chancenlos bin.“

„Du bist niemals chancenlos“, widersprach er und drückte ihre Hand.

Auf der Tanzfläche fand sich Lara nach einem weiteren perfekten Sprung in völliger Harmonie mit dem Rhythmus der Musik in den Armen ihres Partners wieder.

Plötzlich tippte jemand Shannon auf die Schulter. Zuerst reagierte sie nicht darauf. Schüler, Lehrer, Amateure, Profis, Reporter und interessierte Zuschauer drängten sich an der Tanzfläche. Die Berührung bedeutete nichts, da ständig irgendjemand versuchte, sich nach vorn zu schieben, um mehr sehen zu können.

Aber wieder tippte ihr jemand auf die Schulter. Irritiert drehte sich Shannon ein Stück weit um. Die Seitenbereiche der Bühne lagen im Schatten, da alle Scheinwerfer auf die Schautänzer gerichtet waren. Wer da etwas von ihr wollte, konnte sie nicht erkennen. Vielleicht war es einer der livrierten Kellner. Aber an diesem Abend trugen Ober, einige der Preisrichter und etliche Teilnehmer fast alle einen Frack, so dass man sie nicht voneinander unterscheiden konnte.

„Ja?“ flüsterte sie.

„Du bist die Nächste“, sagte eine Männerstimme.

„Die Nächste?“ erwiderte sie. Aber da war der Mann, dessen Gesicht sie nicht hatte erkennen können, schon wieder verschwunden. Er musste sich geirrt haben – sie nahm doch gar nicht am Wettkampf teil.

„Ooh!“ rief Jane unvermittelt. „Sie ist einfach phantastisch!“ Shannon sah zurück zur Tanzfläche und hatte im nächsten Augenblick den Mann vergessen, der sie mit jemandem verwechselt haben musste. Derjenige, der als Nächster tanzen sollte, würde schon wissen, dass er an der Reihe war und nur auf seinen Auftritt warten.

Abgesehen davon, dass das Warten an sich nervenaufreibend genug war, riss sich niemand darum, unmittelbar nach Lara anzutreten.

„Exzellent“, räumte Ben ein. „Jeder Schritt sitzt.“

Aus der Menge ertönte ein bewunderndes Raunen.

Dann jedoch erstarrte Lara Trudeau auf einmal in einer beinahe lyrischen Pose. Wie in Zeitlupe presste sie ihre langen Finger mit den makellos lackierten Nägeln an ihre linke Brust. Ein Wiener Walzer erfüllte die Luft, und die Zeit schien stillzustehen.

Einen Moment später sank die Tänzerin zu Boden. Selbst ihr Fall hatte noch die Eleganz ihrer so charakteristisch grazilen Bewegungen.

Lara lag auf der Tanzfläche und regte sich nicht mehr.

„Das gehört doch nicht zu ihrer Nummer“, flüsterte Gordon Shannon zu.

„Nein“, gab die verwundert zurück. „Meinst du, sie hat das in letzter Minute eingearbeitet, damit es noch spannender wirkt?“

„Wenn ja, dann übertreibt sie es jetzt aber gewaltig.“ Gordon schaute besorgt auf die Tanzfläche.

Für einige Sekunden herrschte im Saal gebannte Stille. Doch da Jim Burke einfach nur weiter neben ihr stand, setzte tosender Applaus ein, der aber schnell wieder abebbte. Diejenigen, die mit den Tänzen vertraut waren und die Lara kannten, spürten, dass sie nicht Zeuge eines dramatischen Finales geworden waren, sondern dass etwas nicht stimmte.

Die Zuschauer begannen, sich aufgeregt miteinander zu unterhalten.

Shannon trat vor, war sich aber nicht sicher, ob Lara nicht bloß ein neues Spiel mit ihren Bewunderern trieb. Gordon fasste sie am Arm.

„Da stimmt was nicht“, sagte er. „Ich glaube, sie braucht einen Arzt.“

Der Erste, der zu Lara eilte, war Dr. Richard Long, ein attraktiver Chirurg, der zudem im Moonlight Sonata Tanzunterricht nahm. Er kniete neben ihr nieder und fühlte nach ihrem Puls. Abrupt hob er den Kopf und rang für eine Sekunde um Fassung, bis er mit heiserer Stimme rief: „Ruft einen Krankenwagen!“ Sofort beugte er sich wieder zu Lara und begann mit den Wiederbelebungsmaßnahmen.

Der Schock lähmte die Gäste für einen Moment, im nächsten Augenblick griff jedoch jeder nach seinem Mobiltelefon, um die Notrufnummer einzutippen.

Richard versuchte zur gleichen Zeit unbeirrt, Lara aus der Bewusstlosigkeit zurückzuholen.

„Mein Gott, was ist los mit ihr?“ rief Gordon, dessen Blick verriet, dass er unentschlossen war, ob er zu Lara eilen sollte oder nicht.

„Drogen?“ überlegte Ben.

„Lara? Niemals!“ gab Jane mit Nachdruck zurück.

Shannon nickte zustimmend.

„Aber ja doch“, meinte Ben spöttisch. „Mal überlegen … Drogen in South Beach? In Miami, Florida? Nur einen Katzensprung weit von Südamerika entfernt? Nein, völlig un-denkbar.“

„Für Lara Trudeau schon“, herrschte Shannon ihn an.

„Vielleicht andere Drogen“, sagte Justin. „Medikamente.“

„Könnte sein“, stimmte Gordon ihm zu. „Sie ist bekannt dafür, dass sie schon mal ein paar Xanax einwirft, wenn sie nervös ist.“

„Oder Alkohol?“ fragte Justin besorgt.

„Wenn sie tanzt?“ hielt Rhianna dagegen und schüttelte ungläubig den Kopf.

„Sie betrachtet ihren Körper als Tempel“, sagte Sam voller Überzeugung. „Aber sie sagt selbst, dass auch ein Tempel ab und zu ein paar Opfergaben benötigt. Sie muss irgendetwas genommen haben. Seht sie euch doch an.“

„Ich hoffe, es ist nichts Schlimmes. Es darf nichts Schlimmes sein!“ presste Shannon hervor und war so unentschlossen wie Gordon, ob sie sich auf die Tanzfläche begeben sollte oder nicht.

Unvermittelt legte Gordon eine Hand auf ihre Schulter und sagte leise: „Nicht.“

Verwundert sah sie ihn an.

„Es ist zu spät“, flüsterte er.

„Was?“ Shannon wollte nicht glauben, was er da sagte, doch noch während sie redete, stand Richard Long auf.

„Räumen Sie bitte alle die Tanzfläche. Ich fürchte, ich kann nichts mehr tun“, sagte er traurig.

„Nichts mehr tun? Was soll das heißen?“ kam die angstvolle Frage aus der Menge.

„Sie ist … von uns gegangen“, erwiderte Richard mit belegter Stimme, als wolle er sich dafür entschuldigen, dass seine Worte das Unfassbare bestätigten.

„Sie ist tot?“

Richard seufzte niedergeschlagen, weil er nicht wusste, was er noch sagen sollte, damit die Menschen im Saal das Unbegreifliche realisierten. „Ja, sie ist tot.“

Von draußen durchbrach das Geräusch der Sirenen des nahenden Krankenwagens die fassungslose Stille im Saal.

Augenblicke später teilte sich die Menge, um die Sanitäter durchzulassen, die sofort ihre Geräte aktivierten, um die Wiederbelebungsversuche fortzusetzen. Doch wie sehr sie sich auch bemühten, es war vergebens. Die Umstehenden betrachteten das makabre Schauspiel, unfähig, sich davon abzuwenden.

Shannons Blick war starr auf die Sanitäter gerichtet. Sie konnte nicht glauben, was sie da sah. Auf einmal kamen ihr die mysteriösen Worte in Erinnerung.

Du bist die Nächste.

„Ach, Unsinn“, versuchte Shannon sich zu beruhigen. Jemand hatte sie für die nächste Schautänzerin gehalten, das war alles. Und Lara war nur gestürzt, weiter nichts. Die Wiederbelebungsversuche würden erfolgreich sein – jeden Moment würde sie wieder atmen, die Augen aufmachen und aufstehen. Und kurz darauf würden wieder alle über sie reden und sagen, ihr sei jedes Mittel recht, um von allen Teilnehmern am besten im Gedächtnis zu bleiben – um in den Köpfen der Menschen unsterblich zu sein.

Aber niemand lebte ewig.

Schließlich zogen sich die Gäste entsetzt und gedämpft miteinander diskutierend aus dem Saal zurück.

Lara Trudeau war tot. Unbegreiflich. Und doch war sie so gestorben, wie sie gelebt hatte – glanzvoll, wunderschön, anmutig … Sie war tot.

Gestorben auf der Tanzfläche.

2. KAPITEL

„Hey, Quinn, Besuch für dich.“

Quinn O’Casey war erstaunt, als er Amber Larkin am Kopf der Leiter stehen sah, die aus dem Wasser hinauf an Deck führte. Er trug seine komplette Taucherausrüstung, da er die letzten gut fünfundvierzig Minuten damit verbracht hatte, Entenmuscheln vom Rumpf seines Bootes Twisted Time abzukratzen.

Soweit er wusste, hätte sich Amber in Key Largo im Büro aufhalten und dort arbeiten sollen. Er war im Urlaub, sie nicht.

Er zog die Augenbraue hoch, um ihr deutlich zu machen, dass sie zur Seite gehen musste, wenn er an Bord klettern wollte. Sie machte Platz, ging aber über seinen Blick hinweg, der zugleich die unausgesprochene Frage beinhaltete, weshalb sie hier war, wenn er doch seine Ruhe haben wollte.

Als er endlich an Deck stand und sich seiner Schwimmflossen und der Taucherbrille entledigt hatte, sah er den Grund, weshalb sie hergekommen war. Sein Bruder stand ein Stück hinter ihr.

„Hey, Doug“, sagte er und warf beiden einen finsteren Blick zu.

„Du hättest mir auch sagen können, dass du deinen Urlaub hier verbringst. Dann hätte ich nicht bis nach Key Largo fahren müssen, um dann mit Amber den ganzen Weg nach Miami zurückzufahren“, erwiderte Doug mit anklagendem Unterton in der Stimme.

Vielleicht hätte er seinem Bruder wirklich von seinem Urlaub erzählen sollen, aber eigentlich sah er keinen stichhaltigen Grund dafür. Doug hatte vor nicht einmal einem Jahr die Polizeiakademie abgeschlossen. Als ein enthusiastischer und ehrgeiziger Streifenpolizist war er die Sorte jüngerer Bruder, auf die man stolz sein konnte. Er hatte seine Kindheit und Jugend ohne all die Schwierigkeit hinter sich gebracht, unter denen Quinn in jungen Jahren – und auch noch später – gelitten hatte. Aber deshalb war er auch zurück im Süden Floridas, obwohl sein Job keineswegs so locker war, wie er anfangs erwartet hatte.

Quinn schüttelte den Kopf. Er war froh, wieder zu Hause in Florida zu sein. Man konnte hier einfach ein phantastisches Leben führen.

Allerdings begegnete man hier den gleichen Formen unmenschlichen Verhaltens wie überall auf der Welt.

Und deshalb brauchte er auch diesen Urlaub. Nicht, dass er sich am Boden zerstört gefühlt hätte. Dafür wusste er viel zu gut, dass er das Böse auf der Welt ebenso wenig aufhalten konnte wie einen einzelnen Menschen, der anderen etwas antun wollte. Aber wer hätte jemals mit dem gerechnet, was Nell Durken zugestoßen war? Quinn konnte froh sein. Ihr Mörder war in Haft und schmorte entweder für den Rest seines Lebens in einer Zelle oder würde schon bald Bekanntschaft mit dem Tod machen. Doch es war bedeutungslos, welches Strafmaß Art Durken erwartete – Nell würde davon nicht wieder lebendig werden.

Womöglich fühlte er sich doch schuldig. Er fragte sich, ob er sie besser nicht hätte auffordern sollen, ihren Mann zu verlassen, denn sie war ja auch gerade erst zu Quinn gekommen, damit der ihren Ehemann beschattete. In welches Wespennest sie damit stechen würden, war ihnen erst bewusst geworden, als es bereits zu spät war. Schließlich hatte er sie gedrängt, sich von Art zu trennen. Angesichts der Informationen, die Quinn ihr über ihren Mann gegeben hatte, war er davon ausgegangen, dass sie diesen Schritt unternehmen würde.

Doch sie hatte ihn nicht schnell genug verlassen. Art war kein Typ, der seine Frau schlug, aber er hatte an Nell immer wieder sexuelle Forderungen gestellt. Er hingegen verbrachte nebenbei viel Zeit außerhalb der eigenen vier Wände – und zwar mit einer ganzen Reihe von Damen, mit denen er nicht verheiratet war.

Wer zum Teufel hätte wissen sollen, dass der Kerl auf einmal zum Mörder wird?

Quinn hätte es wissen sollen. Er hätte ahnen müssen, in welcher Gefahr Nell schwebte.

Es war dieser spezielle Fall mit seinen tödlichen Folgen, der Quinn wirklich zu schaffen gemacht hatte. Nur etwas Ruhe konnte ihm helfen, seine Verbitterung darüber zu verwinden, dass er Nell am Ende doch nicht hatte helfen können.

Etwas Ruhe und Urlaub. Von der Arbeit, der Familie, den Freunden.

Vielleicht vor allem Urlaub von der Familie. Denn Doug hatte es nicht verdient, dass er seine schlechte Laune und sein aufbrausendes Temperament an ihm ausließ.

Außerdem stand ihm nicht der Sinn danach, Zeit mit Doug zu verbringen. Sein Bruder konnte eine unglaubliche Nervensäge sein, weil er ihn unablässig mit Fragen aller Art bombardierte. So wie ein Praktikant in der Notaufnahme, der in jeder Reaktion des Körpers gleich eine schwere Krankheit vermutete, wollte Doug auch die kleinste sonderbare Regung seiner Mitmenschen als einen Hinweis auf boshafte Absichten deuten.

Für jemanden, der in Miami-Dade County seinen Dienst verrichtete, war das eine lästige Eigenschaft, da man das Verhalten gut der Hälfte aller Einwohner als sonderbar bezeichnen konnte.

Quinn wusste nicht, ob er seufzen oder sich tatsächlich Sorgen machen sollte. Doug hätte ihn nicht aufspüren lassen, wenn es lediglich um ein paar hypothetische Fragen ginge.

„Mom?“ fragte Quinn ein wenig nervös.

„Ihr geht’s gut. Das Herz tickt wie ein Uhrwerk“, versicherte Doug ihm rasch. „Allerdings sprach sie davon, dass du schon länger nicht mehr bei ihr warst. Sie würde sich freuen, wenn du wieder öfter zum Essen vorbeikämest. Vielleicht rufst du sie einfach mal an.“

„Ich habe ihr auf den Anrufbeantworter gesprochen, dass es mir gut geht und dass ich viel zu tun habe.“

„Sicher. Aber sie ist nicht auf den Kopf gefallen, und sie liest jeden Tag die Zeitung.“

„Bist du deshalb hier?“ wollte Quinn wissen und hob eine Braue.

„Ich habe einen Fall für dich“, entgegnete Doug und ging um Quinn herum, um ihm beim Abnehmen der Sauerstoffflaschen zu helfen.

„Soll ich dir was sagen, kleiner Bruder? Du musst für mich nicht nach Fällen suchen. Die Detektei leistet da gute Arbeit – mehr als gut, um genau zu sein. Außerdem habe ich Urlaub.“

„Ja, das sagte Amber mir schon. Darum dachte ich, es wäre doch eine schöne Sache, wenn du für mich eine private Sache übernimmst.“

Quinn stöhnte auf. „Verdammt, Doug. Du erwartest von mir, dass ich für dich den Schnüffler spiele?“ Er warf Amber einen finsteren Blick zu.

„Heh, er ist dein Bruder“, wehrte sie sofort ab. „Weißt du was? Nachdem wir dich jetzt gefunden haben, lasse ich euch zwei in Ruhe reden. Ich setze mich drüben bei Nick’s hin und esse eine Hamburger.“ Sie warf ihr langes blondes Haar über die Schulter, und bevor sie das Boot verließ, sah sie noch einmal zu Quinn, um einen Eindruck davon zu bekommen, wie wütend er wirklich auf sie war.

Doug trug derweil ein reumütiges Grinsen zur Schau. „Hey, ich mache dir auch deine Ausrüstung sauber“, sagte er, als wollte er damit etwas wiedergutmachen.

„Gut, mach das. Ich bin solange in der Kajüte.“

Quinn ging die zwei Stufen hinunter aufs Unterdeck der Twisted Time, zog sich aus, duschte rasch, und griff sich eine frische kurze Hose aus dem Wäschekorb in der Kabine. Barfuß und noch immer nicht ganz trocken, kehrte er in die Kajüte zurück, nahm ein kaltes Miller aus dem Kühlschrank in der Kombüse und ließ sich damit aufs Sofa fallen.

Als Doug zu ihm kam, war Quinns Miene noch immer finster, und er trommelte ungeduldig mit seinen Fingern auf das Polster.

Doug holte sich ebenfalls ein Bier und nahm gegenüber von Quinn Platz.

„Ich soll für dich etwas umsonst machen, stimmt’s?“ sagte Quinn ihm auf den Kopf zu.

„Na ja … so ungefähr. Ehrlich gesagt, es wird dich sogar etwas kosten“, druckste Doug.

„Wie bitte?“

„Du musst Tanzstunden nehmen.“

Sekundenlang starrte Quinn seinen Bruder an, ohne ein Wort herausbringen zu können. „Du hast den Verstand verloren“, entgegnete er dann.

„Nein, habe ich nicht. Und du wirst es verstehen, wenn ich es dir erklärt habe.“

„Das werde ich nicht.“

„Doch, du wirst es. Es geht um einen Todesfall.“

„Weißt du, wie viele Leute jeden Tag sterben, Doug? Du bist ein Cop, du solltest das eigentlich wissen. Wenn es nicht nach einem natürlichen Tod aussieht, beginnt die polizeiliche Ermittlung. Und wenn man es doch für einen natürlichen Tod hält, wirst du in der Abteilung sicher jemanden kennen, der der Sache nachgehen kann.“

Quinn schwieg, betrachtete seinen Bruder und dachte nach. Doug zu sehen war für ihn so, als würde er sein eigenes, jüngeres Spiegelbild betrachten. Der Altersunterschied zwischen ihnen betrug acht Jahre. Sie sahen sich ähnlich, waren mit 1,88 Meter gleich groß, aber Doug war mit Mitte zwanzig noch ein schlanker Mann, während Quinn schon ein wenig in die Breite gegangen war. Quinn hatte dunkles Haar, das von Doug war strohblond, doch beide hatten sie vom Vater die dunkelblauen Augen und das harte, kantige Gesicht geerbt. Manchmal bewegten sie sich sogar gleich und gestikulierten beim Reden, als würden Worte allein nicht genügen. Und wenn sie tief in Gedanken versunken waren, dann falteten sie die Hände wie zum Gebet oder tippten sich mit einem Finger ans Kinn.

Einen Moment lang sann Quinn über seine Verärgerung nach, dass er hier in seiner Ruhe gestört worden war. Aber Doug war immer ein verdammt guter Bruder gewesen, der zu ihm aufsah, der für ihn da war, der selbst dann nie den Glauben an ihn verlor, wenn Quinn schwere Zeiten durchmachte.

„Ich kann niemanden in der Abteilung dafür interessieren“, gestand Doug ihm ein. „In unserem Bezirk ist in letzter Zeit zu viel los. Wir jagen einen Serienvergewaltiger, der mit jedem Mal brutaler vorgeht. Und bei einem Überfall wurde ein Wachmann erschossen … Glaub mir, das Morddezernat hat alle Hände voll zu tun. Die sind zu beschäftigt, um sich mit einem Fall abzugeben, bei dem alles nach einem Unfalltod aussieht. Es ist einfach niemand frei.“

„Überhaupt niemand?“

Doug verzog das Gesicht. „Ja, okay. Der Tod wirft ein paar Fragen auf. Man hat einen Mann darauf angesetzt, aber der Kerl ist ein Arsch, Quinn, ganz ehrlich.“

„Wer ist es?“

Manche Leute waren einfach nicht sonderlich beliebt, also kursierten prompt Gerüchte, die ihr Können in Frage stellten. Es hatte zwar über die Jahre hinweg mit ein paar wirklich miesen Cops genug Probleme gegeben, aber mehrheitlich waren es gute Leute, die für viel zu viele Arbeitsstunden zu wenig Gehalt bekamen.

Andererseits gab es aber wirklich ein paar echte Ärsche.

„Pete Dixon.“

Quinn runzelte die Stirn. „Der alte Pete ist aber gar nicht so schlecht.“

„Oh, er ist sogar unglaublich gut. Drück irgendeinem Kerl eine rauchende Waffe in die Hand, dann weiß Pete sofort, wer der Täter war“, sagte Doug verächtlich.

„Und so was aus dem Mund eines Anfängers“, murmelte Quinn.

„Hör zu, Dixon ist nicht gerade ein Energiebündel. Und er hält sich daran, dass der Gerichtsmediziner einen Unfall für die Todesursache hält. Er wird nirgendwo schnüffeln. Es interessiert ihn nicht. Er wird am Schreibtisch sitzen bleiben und von dort seine Arbeit machen. Alles andere ist ihm egal.“

„Und stattdessen soll ich schnüffeln? Und auch noch Tanzstunden nehmen? Wie gesagt, Brüderchen: Du hast den Verstand verloren“, sagte Quinn ohne Umschweife.

Doug lächelte und zog seine Brieftasche aus der Gesäßtasche seiner Jeans. Er nahm einen sorgfältig gefalteten Zeitungsausschnitt heraus und hielt ihn hoch. Das war typisch Doug. Er war einer der ordentlichsten Menschen, die Quinn kannte. Der Ausschnitt war nicht ausgerissen, sondern herausgeschnitten worden, dann hatte er ihn präzise zusammengefaltet. Quinn musste unwillkürlich den Kopf schütteln, als er daran dachte, wie schlecht sein Organisationstalent war.

„Was ist das?“ fragte Quinn ungeduldig und nahm den Ausschnitt an sich.

„Lies es.“

Quinn faltete das Stück Papier auseinander und las die Schlagzeile: „Diva Lara Trudeau, 38, stirbt auf der Tanzfläche“. Er legte den Kopf schräg und sah Doug an.

„Lies weiter.“

Er überflog die ersten Zeilen des Artikels. Von einer Lara Trudeau hatte er noch nie gehört, doch das musste nichts bedeuten. Quinn war für viele Sportarten zu begeistern, aber in einem Salsa-Club hätte er sich allenfalls an der Bar aufhalten wollen.

Irritiert las er weiter. Lara Trudeau, die zahllose Tanzwettbewerbe gewonnen hatte, war dort gestorben, wo sich ihr Leben abgespielt hatte – auf der Tanzfläche. Eine Mischung aus Beruhigungsmitteln und Alkohol war die Ursache für ein plötzliches Herzversagen gewesen. Die engsten Freunde der Tänzerin zeigten sich entsetzt und fassungslos, dass es Lara trotz ihrer Leistungen für nötig gehalten hatte, Medikamente einzunehmen.

Quinn sah zu seinem Bruder und zuckte die Schultern. „Und? Eine Tänzerin, deren Stern langsam verglüht, wird nervös und schluckt ein paar Pillen zu viel. Das ist zwar tragisch, aber sicher kein diabolischer Mordplan.“

„Du liest nicht zwischen den Zeilen“, entgegnete Doug eindringlich.

„Dann muss ich wohl annehmen, dass im Morddezernat auch niemand ,zwischen den Zeilen‘ liest, wie?“ Quinn musste ein Grinsen unterdrücken.

Doug nahm ihm den Artikel aus der Hand. „Quinn, eine Frau wie Lara Trudeau würde keine Tabletten nehmen. Sie war eine Perfektionistin. Und sie war ein Siegertyp. Sie hätte die Meisterschaft gewonnen, sie hatte gar keinen Grund, nervös zu sein.“

„Doug, hast du überhaupt gelesen, was da steht? Wir reden hier über eine Sache, der niemand davonlaufen kann – dem Alter. Diese Lara Trudeau war achtunddreißig. Heerscharen von Zwanzigjährigen wollten ihr den Rang ablaufen. Da hat sie doch allen Grund gehabt, nervös zu sein.“

„Was denn? Glaubst du etwa, Leute geraten in Panik, wenn sie achtunddreißig sind?“ fragte Doug.

„Als Quarterback stehst du in dem Alter kurz vor der Pensionierung“, hielt Quinn dagegen.

„Sie war aber kein Quarterback.“

Quinn seufzte ungeduldig. „Es ist das Gleiche. Ob im Sport oder beim Tanzen, die Leute werden langsamer, wenn sie älter werden.“

„Manche Leute werden umso besser, je älter sie sind. Sie hat noch immer jeden Preis abgeräumt. Außerdem gibt es bei Tanzturnieren alle möglichen Altersklassen.“

„Das ist auch richtig so. Meinetwegen sollen sie das ruhig machen. Ich weiß nur nicht, warum du mich damit behelligst. Nach diesem Artikel und nach allem zu urteilen, was du mir erzählst, war es ein Unfalltod. Da steht es doch: Sie ist in der Öffentlichkeit tot auf der Tanzfläche zusammengebrochen. Es gab eine Autopsie, und die hat nichts Auffälliges ans Tageslicht gebracht.“

„Richtig. Man hat die körperliche Todesursache festgestellt: Herzstillstand, verursacht durch einen Cocktail aus Alkohol und Tabletten. Wie das aber in ihren Körper gelangt ist, findet sich nicht im Bericht des Gerichtsmediziners.“

Quinn atmete hörbar aus und griff nach der Tageszeitung, um den Lokalteil aufzuschlagen. „,Mutter und zwei Kinder erschossen in Apartment in North Miami aufgefunden‘“, las er vor und warf seinem Bruder einen eindringlichen Blick zu. „,Leiche in Kofferraum auf Parkplatz entdeckt‘. Soll ich weiterlesen? Gewalt gehört in einer Großstadt zum Alltag. Du hast die Akademie hinter dich gebracht. Dass da draußen auf den Straßen üble Sachen laufen, weißt du so gut wie ich. Es gibt genug Todesfälle, die gründlich untersucht werden müssen, und ich bin sicher, das Morddezernat kümmert sich darum. Aber hier ist eine Tänzerin gestorben, weil sie zu viele Tabletten geschluckt hat. Du willst mehr aus der Sache machen, als eigentlich dahinter steckt. Du wirst noch früh genug zum Detective befördert. Gib dir selbst etwas Zeit.“

„Quinn, das hier ist mir wichtig.“

„Wieso?“

„Weil ich befürchte, dass noch jemand sterben wird.“

Quinn zog die Augenbrauen zusammen und überlegte, ob sein Bruder nicht eine Spur zu dramatisch war. Doug aber wirkte ruhig und besonnen.

„Gibt es irgendeinen Grund für deine Annahme, Doug?“ fragte er. „Wurde jemand bedroht? Wenn ja – du bist der Cop. Du kennst die Jungs im Morddezernat, Dixon eingeschlossen. Er ist kein so übler Kerl. Er kennt sich mit dem Gesetz aus, und bei einer Mörderjagd ist er hervorragend.“

„Du kennst die Jungs besser.“

„Ich kannte sie besser“, korrigierte ihn Quinn. „Ich war schon lange Zeit fort, ehe ich mit Dane unten in den Keys anfing zu arbeiten. Aber das bringt uns vom Thema ab. Doug, sieh dir die Fakten an. Es gab eine Autopsie, der Gerichtsmediziner war überzeugt, dass es sich um einen Unfalltod handelte. Die Cops müssen das ganz genauso sehen, wenn sie nur in eingeschränktem Umfang ermitteln. Also? Hast du gehört, dass sie vor ihrem Tod von jemandem bedroht wurde? Hast du irgendeinen Grund, von einem Mord auszugehen? Und wenn dem so ist, hast du auch eine Ahnung, wer ihren Tod gewollt haben könnte?“

Doug zögerte kurz und erwiderte: „Das trifft auf einige Leute zu, wenn du es genau wissen willst.“

„Wie kommst du darauf?“

„Sie konnte ein unglaubliches Miststück sein.“

„Das weißt du ganz sicher?“

„Ja.“

„Woher?“

Doug schwieg einen Augenblick lang, dann legte er den Kopf ein wenig schräg, während er seinen Bruder ansah. „Ich habe mit ihr geschlafen.“

Quinn schloss frustriert die Augen, stellte sein Bier auf den Tisch und sah Doug an. „Du hast mit einer Frau geschlafen, die über zehn Jahre älter war als du?“

„Ist das verboten?“

„Das habe ich nicht gesagt.“

„Es hörte sich aber genauso an.“

„Na ja, ich finde es etwas eigenartig, das ist alles.“

„Sie war eine tolle Frau.“

„Wenn du das sagst, Doug, dann glaube ich dir das auch.“ Er hielt einen Moment inne. „Ging es nur um den Sex oder war das eine tiefer gehende Beziehung?“

„Ich würde nicht behaupten, dass ich den Rest meines Lebens mit ihr hätte verbringen wollen. Und umgekehrt sah das nicht anders aus. Aber ob sie nun ein Miststück war oder nicht, und ob wir füreinander bestimmt waren oder nicht … sie hat mir verdammt noch mal etwas bedeutet.“

„Und ich soll mich damit beschäftigen, weil deine Gefühle deinen Verstand ausgeschaltet haben?“ fragte Quinn mit ernster Miene.

Doug schüttelte den Kopf. „Wir beide waren kein Paar. Außerdem war ich nicht der Einzige, der etwas mit ihr hatte. Sie spielte nach ihren eigenen Regeln.“ Er zuckte mit den Schultern, sah aber Quinn nicht an. „Sie tat ein wenig so, als sei sie ein Geschenk für die Männer dieser Welt, und sie gab sich immer dann hin, wenn sie fand, es sei gerechtfertigt, oder wenn sie einer plötzlichen Laune folgte. Jedenfalls schlief sie nicht nur mit mir“, sagte er tonlos.

„Wunderbar. Weißt du, mit wem sie noch schlief?“

„Ich weiß, mit wem sie alles geschlafen haben könnte – so ziemlich mit jedem im Studio.“

„Und wer wusste alles von eurer Beziehung?“

„Keine Ahnung“, antwortete Doug.

„Das ist ziemlich vage.“

„Das muss es nicht sein, wenn du dich einverstanden erklärst, in der Sache zu ermitteln.“

Quinn sah seinen jüngeren Bruder nachdenklich an. Doug war gefühlsmäßig in diesen Fall verstrickt, und vielleicht war das der Grund, warum er nicht wollte, dass der Tod auf die Weise eingetreten war, nach der es nun aussah.

„Vielleicht solltest du um das Morddezernat einen großen Bogen machen, Doug. Wenn die Polizei anfängt, sich die Verdächtigen anzusehen, dann könntest du ganz leicht zum Hauptverdächtigen werden.“

„Aber ich habe sie nicht umgebracht. Ich bin ein Cop. Und selbst wenn ich keiner wäre, würde ich niemanden umbringen, Quinn. Das weißt du.“

„Du hattest ein Verhältnis mit dieser Frau. Das wird im Fall einer näheren Untersuchung schnell ans Licht kommen. Wenn du also irgendjemanden davon überzeugst, dass sie ermordet wurde, könntest du selbst unter Verdacht geraten. Ist dir das klar?“

„Natürlich. Aber ich habe sie nicht umgebracht“, erwiderte Doug eindringlich.

Quinn studierte wieder den Zeitungsausschnitt. „Sie starb an einer Überdosis Xanax, einem verschreibungspflichtigen Medikament. Der Alkohol kann die Wirkung verstärkt und dann zum Herzstillstand geführt haben.“

„Ja“, sagte Doug. „Und der Kollege, der den Fall bearbeitet, ist sicher, dass ihr beharrliches Streben nach ewigem Ruhm – das ist meine Formulierung, nicht seine – sie nervös werden ließ.“

„Doug, ich sage das nicht gern, aber ich habe oft genug erlebt, auf welch verrückte Ideen Leute kommen können. Das Ganze ist ja tragisch, aber es sieht wirklich danach aus, als sei sie unsicher geworden, habe Tabletten genommen und dann etwas getrunken.“

„Nein“, beharrte Doug und stöhnte auf.

„Du hältst das in keiner Weise für möglich?“

„Auf gar keinen Fall.“

„Das Rezept lautete auf ihren Namen, ihr behandelnder Arzt erklärte, sie habe die Tabletten schon seit Jahren genommen. Es steht doch alles hier in diesem Artikel.“

„Ja, das stimmt“, pflichtete Doug ihm ruhig bei.

„Wenn du also nicht noch irgendetwas anderes weißt, dann begreife ich nicht, was ich für dich tun soll.“

„Ich weiß mehr. Aber es ist mehr ein … Gefühl. Nein, eine Gewissheit“, erklärte Doug nachdrücklich. Quinn kannte seinen Bruder. Er konnte so standfest wie eine Eiche sein, und genau das hatte ihn auch durch die Zeit an der Schule und an der Akademie gebracht, die er mit Auszeichnung abgeschlossen hatte. Er würde eines Tages einmal ein guter Detective sein.

„Manchmal muss man Dinge so akzeptieren wie sie sind“, sagte Quinn einfühlsam.

Mit einem Mal wirkte Doug, als würde er jeden Moment die Selbstbeherrschung verlieren. „Ich werde dich bezahlen!“ drängte er.

„Unsere Stundensätze sind viel zu hoch für dich“, gab Quinn ruhig zurück.

„Gib mir zwei Wochen“, bat Doug. „Verdammt, Quinn, ich brauche deine Hilfe! Sieh dich einfach mal im Studio um und sag mir, ob du nicht auch findest, dass manche Leute sich seltsam verhalten. Einige von ihnen sind übrigens auch der Meinung, sie sei ermordet worden.“

„Das haben sie dir gesagt?“

„Niemand hat es so direkt ausgesprochen. Wer sie gut kannte, der wusste, dass sie ab und zu Tabletten schluckte. Sie hat auch hin und wieder ein Glas getrunken. Und sie war eine Frau, die entschlossen war, ihren Meisterschaftstitel in den Kategorien ,Smooth‘, ,Rhythm‘ und ,Cabaret‘ zu verteidigen.“

„Doug, du könntest auch in einer völlig fremden Sprache reden“, warf Quinn ein wenig gereizt ein. „Ich verstehe kein Wort.“

„Also: ,Rhythm‘ sind die schnelleren Tänze, wie Rumba, Cha-Cha-Cha, Swing, Hustle, Merengue, West Coast Swing, Polka. ,Smooth‘ sind Tänze wie der Foxtrott, Walzer, Tango. ,Cabaret‘ ist eine Sache für Partner, die verschiedene Elemente kombiniert.“

„Schon gut, schon gut, vergiss, dass ich gefragt habe. Ich hab’s schon begriffen“, fiel Quinn ein.

„Und?“

„Doug …“

„Verdammt, Quinn. Es gab genug Leute, die sie hassten. Also genug Verdächtige. Aber wenn ich noch mehr nachhake, wird man misstrauisch und ein Ermittlungsverfahren gegen mich einleiten. Wird man jemals beweisen können, dass ich ihren Tod verursacht habe? Nein, weil ich es nicht war. Wird das meine Karriere ruinieren? Wird man mir je wieder in die Augen sehen und völlig sicher sein können, dass ich unschuldig bin? Nein, und das weißt du so gut wie ich. Ich bitte dich um keine große Sache. Nimm einfach ein paar Tanzstunden. Es wird dich nicht umbringen.“

Es wird dich nicht umbringen. Quinn lief bei diesen Worten eine Gänsehaut über den Rücken. Er hoffte, dass sein Bruder Recht behalten würde.

„Niemand wird mir abkaufen, dass ich Tanzunterricht nehmen will. Ich könnte nicht mal tanzen, wenn mein Leben davon abhängen würde.“

„Was glaubst du, warum Männer Tanzunterricht nehmen?“ wollte Doug von ihm wissen.

„Um in den Salsa Clubs am Strand Frauen abzuschleppen?“

„Siehst du? Ist doch ein schöner Nebeneffekt. Willst du dich denn für den Rest deines Lebens wie ein Einsiedler in ein Loch zurückziehen?“

„Ich habe mich überhaupt nicht wie ein Einsiedler zurückgezogen!“ Wieso klang das in seinen eigenen Ohren so unglaubwürdig?

Sein Bruder sah ihn nur schweigend an. Quinn lehnte sich zurück, dann sagte er: „Warte mal … hat das bei euch etwa so angefangen? Mit Tanzstunden?“ Genauso wenig hätte er es fassen können, wenn Doug sich auf einmal für Strickkurse interessiert hätte – Doug hätte fast eine Karriere als Profisportler eingeschlagen, er war immer noch ein außergewöhnlich guter Golfer, und einmal in der Woche trainierte er die Little League.

„Ja, ich habe Tanzunterricht genommen“, sagte Doug schließlich.

„Verstehe.“ Quinn machte eine Pause. „Moment, eigentlich verstehe ich überhaupt nichts. Warum hast du damit angefangen?“

Doug grinste ein wenig verlegen. „Randy Torres wird in Kürze heiraten, er hat mich gebeten, sein Trauzeuge zu sein. Er und seine Verlobte Sheila haben vor der Hochzeit Tanzstunden genommen. Da dachte ich mir, was soll’s? Ich gehe einfach ein paar Mal mit, um ein guter Trauzeuge zu sein. Wusstest du, dass viel mehr Frauen als Männer Tanzunterricht nehmen? Das war eine richtige Goldgrube, um attraktive Frauen kennen zu lernen. Das Studio befindet sich am South Beach, gleich über einem der besten Salsa-Clubs weit und breit. Ideal, um nach dem Unterricht das umzusetzen, was man gerade gelernt hat. Und so fing ich an, Tanzstunden zu nehmen.“

„… und bist mit einer älteren Diva im Bett gelandet.“

„So ist das gelaufen. Sie war in dem Laden eigentlich keine richtige Lehrerin, aber sie wurde gut dafür bezahlt, hin und wieder vorbeizukommen und für andere als Coach zu arbeiten. Darum galt für sie auch nicht die Lehrerregel.“

„Die ,Lehrerregel‘?“ fragte Quinn.

„Die Lehrer sollen sich mit den Schülern nicht privat treffen. Die Regel wird relativ locker gehandhabt, weil jeder doch irgendwann mal nach unten in den Salsa Club geht. Ich sage dir, das Moonlight Sonata hat den denkbar günstigsten Standort für eine Tanzschule. Manchmal kommen Paare hin, die gemeinsam tanzen können – und Singles … na ja, die sind anfangs immer erst mal nervös. Du kannst in einen der Clubs gehen, etwas trinken und dann mit einer Tanzlehrerin tanzen, was dich auf der Tanzfläche ziemlich gut aussehen lässt. Das ist ganz nett. Und es ist South Beach, da legen hin und wieder auch ein paar Rock- und Filmstars einen Zwischenstopp ein.“

„Das heißt also, da hängen viele wichtige Leute rum, richtig? Und Drogen gibt’s da sicher bis zum Abwinken, oder? Wie heißt der Laden?“

„Suede.“

Quinn zog erstaunt die Augenbrauen hoch. „Den Namen kenne ich, und ich treibe mich nie in South Beach herum. Ich hasse South Beach“, fügte er an. Das meinte er auch so. Das Ganze war unerträglich künstlich. Die Leute dort machten den ganzen Tag lang überhaupt nichts, sie kamen nur hin, um gesehen zu werden. Mit etwas Glück schafften sie es in die Klatschspalten, wenn sie gerade in dem Club waren, dem Madonna einen Besuch abstattete. Für wie wichtig sich diese Leute hielten, zeigte sich spätestens dann, wenn sie vom Türsteher verlangten, sie in den gerade angesagten Club einzulassen, obwohl noch eine Schlange vor ihnen war, die einmal um den Block reichte.

Das einzig Gute waren nach Quinns Meinung die Lincoln Road, wo manchmal gute ausländische Filme und Independent-Produktionen liefen und es ein paar akzeptable Restaurants gab. Außerdem ging jeder Tierliebhaber in der Stadt dort mit seinem Hund spazieren.

„Komm schon, so schlimm ist der Strand nun auch wieder nicht. Zugegeben, da geht es nicht so entspannt zu wie in deinen geliebten Keys, aber trotzdem … und was das Suede angeht, da gab es erst vor kurzem eine Untersuchung. Nur einen Block davon entfernt wurde eine Tote aufgefunden, eine Prostituierte. Das Mädchen war von zu Hause ausgerissen und dann auf dem Strich gelandet. Überdosis Heroin. Das Drogendezernat hat die ganze Gegend auf den Kopf gestellt, aber das Suede ist sauber. Kann sein, dass die Kleine ihren Stoff von irgendwem in der Bar gekauft hat, aber bewiesen ist nichts. Du weißt so gut wie ich, dass ein Dealer nicht unbedingt wie ein Dealer aussehen muss. Der Strand bringt viel Geld mit sich, und Leute mit richtig viel Kohle gehen auch ins Suede. Aber das Management und der Club selbst sind drogenfrei. Außerdem achtet man sehr genau darauf, dass niemand unter einundzwanzig in den Club kommt. Vor ein paar Monaten kam der Laden in die Schlagzeilen, weil sich ein Kellner geweigert hat, einem stark angetrunkenen Rockstar noch mehr Alkohol zu servieren. Ich sage dir, der Club ist gut, und Tanzschüler und Lehrer treffen sich, um zu tanzen, manchmal trinken sie zusammen noch was. Das macht das Studio zu etwas ganz Besonderem, weil du sofort das anwenden kannst, was du gelernt hast. Aber außerhalb des Clubs sollen Schüler und Lehrer keinen Kontakt halten.“

„Und wieso nicht?“

Doug seufzte, als sei sein Bruder schon alt und senil geworden. „Bevorzugung. Tanzstunden sind teuer. Irgendjemandem könnte das sauer aufstoßen, wenn sich ein Lehrer außerhalb des Studios mit einem Schüler trifft. Es könnte ja sein, dass da jemand kostenlosen oder preiswerteren Privatunterricht bekommt. Aber trotz allem wird gegen diese Regel immer wieder verstoßen. Du musst in den Laden kommen, Quinn. Wäre es denn wirklich so schlimm, wenn du ein paar Stunden buchst, hier und da die eine oder andere Frage stellst und dich ein bisschen umsiehst – weil mir das ja nicht möglich ist?“

Quinn zuckte bei dem Gedanken zusammen. „Doug, eines Tages möchte ich Skydiving lernen, und ich möchte meinen nächsten Tauchschein machen. Ich möchte meine Spanischkenntnisse verbessern, und ich möchte nach Afrika reisen, um an einer Safari teilzunehmen. Aber in meinem ganzen Leben habe ich noch nie daran gedacht, Tanzunterricht zu nehmen.“

„Vielleicht wärst du ja angenehm überrascht“, sagte Doug. „Bitte.“

Quinn sah auf seine Hände. Sein Plan war gewesen, das Boot gründlich sauber zu machen und dann in Richtung Bahamas abzulegen. Zwei Wochen lang nur umgeben von Fischen, Sonne und Sand. Den ganzen Tag Calypso-Musik und vielleicht auch etwas Reggae. Aber nur zum Hören, nicht zum Tanzen.

Doch die Sache schien Doug äußerst wichtig zu sein. Vielleicht stimmte ja wirklich irgendetwas nicht. Sein Bruder wäre nicht hergekommen, wenn er nicht tatsächlich ein komisches Gefühl hätte. Es war besser, wenn er der Angelegenheit auf den Grund ging, nicht die Polizei – erst recht nicht, wenn Doug zum Hauptverdächtigen erklärt werden konnte.

Er blickte Doug an, um ihm beizupflichten, dass es ihn wirklich nicht umbringen würde, sich dort umzusehen und ein paar Fragen zu stellen. Doch dann zögerte er. „Ich brauche eine Pause von meinem Job“, gestand er ihm ein. „Ich bin nicht mal sicher, ob ich der Richtige für den Fall bin, der dir so viel bedeutet.“

Doug schüttelte verärgert den Kopf. „Quinn, du weißt, dass du dir für das, was neulich passiert ist, nicht die Schuld geben musst. Du machst immer das Beste aus dem, was du gelernt hast und was du weißt. Manchmal funktionieren Wissen und Gesetz, manchmal nicht. Ich setze nach wie vor größtes Vertrauen in dich, auch wenn du das Vertrauen in dich verloren hast.“

„Ich habe nicht das Vertrauen in mich verloren“, gab Quinn trotzig zurück. Verdammt, das hörte sich nun wirklich nicht überzeugend an.

„Ach ja?“ fragte Doug. „Dann ist es ja gut. Ich weiß nämlich noch etwas, das dich dazu bringen wird, deine Meinung über diesen Fall zu ändern.“

„Und das wäre?“

„Dein Mädchen hat bis letzten November im Moonlight Sonata Tanzstunden genommen.“

Quinn runzelte die Stirn. „Mein ,Mädchen‘? Was redest du da?“

„Nell Durken. Ich konnte einen Blick in den Aktenschrank des Studios werfen, und da stieß ich auf ihren Namen.“

Von Nells Tanzstunden hatte Quinn überhaupt nichts gewusst. Allerdings hatte er ohnehin kaum etwas über sie gewusst. Sie hatte ihn nur angeheuert, damit er herausfand, was ihr Ehemann trieb.

Er hatte es herausgefunden.

Und dann war sie von diesem Bastard getötet worden.

„Um genau zu sein“, fuhr Doug fort, „gehörte Nell zu den Fortgeschrittenen. Letzten November hörte sie einfach auf. Ich nehme an, dass sie dir davon nichts gesagt hat. Aber merkwürdig war das schon. Den Unterlagen nach war sie eine sehr eifrige Schülerin, und dann kam sie einfach nicht mehr wieder. Seltsam, findest du nicht?“

„Na gut“, sagte Quinn ohne eine Gefühlsregung. „Ich werde mich da umsehen und ein paar Tanzstunden nehmen.“

3. KAPITEL

„Na, wie geht‘s?“

Ella Rodriguez klopfte kurz an die offen stehende Tür an, dann betrat sie Shannons Büro und setzte sich auf eine Ecke ihres Schreibtischs. Shannon hatte sich in ihrem Sessel zurückgelehnt und überlegte, was sie ihrer Empfangsdame antworten sollte.

„Ich weiß nicht. Was glaubst du, wie es geht? Ich persönlich finde ja, wir hätten wenigstens für diese Woche den Laden schließen sollen“, erwiderte sie endlich.

„Wir hatten doch immerhin drei Tage geschlossen“, machte Ella sie aufmerksam. „Das ist normalerweise das Äußerste, was andere Unternehmen ihren Mitarbeitern zugestehen, wenn jemand aus dem engsten Familienkreis stirbt.“

„Überall hängen hier ihre Fotos“, sagte Shannon.

„Stimmt. Und allen Lehrern wird sie genauso fehlen wie den wirklich engagierten Schülern. Aber da sind auch noch andere Schüler, die das Tanzen nicht so ernst nehmen, die niemals an einem Wettbewerb teilnehmen werden, die zwei linke Füße haben und einfach nur etwas lernen wollen, weil sie in ein paar Wochen heiraten werden. Für die muss die Tanzschule geöffnet sein.“ Ella trug ihr helles, fast platinblondes Haar modisch kurz. Sie hatte unglaublich dunkle Augen, dazu ein Lächeln, dem niemand widerstehen konnte. Ob sie wirklich – wie sie meinte – die am wenigsten begabte Angestellte des Studios war, stand auf einem anderen Blatt. Doch ihre Warmherzigkeit und ihr lässiger Charme kamen zweifellos bei vielen Schülern gut an.

Im Moment allerdings hatte ihre Miene weder etwas Warmherziges noch etwas Charmantes. „Shannon, ich weiß, man soll über Tote nicht schlecht reden. Aber wenn ich ehrlich sein soll, ich habe Lara nie gemocht. Und da bin ich nicht die Einzige. Es gibt sogar Leute, die finden, ihr Tod auf der Tanzfläche war eine Art poetische Gerechtigkeit.“

„Ella!“

„Ich weiß, es klingt schrecklich, und es tut mir auch Leid. Ich habe mir nicht gewünscht, dass ihr etwas passiert“, gab Ella zurück und sah Shannon eindringlich an. „Na, komm schon. Du wirst doch bestimmt nicht behaupten, dass sie in deinen Augen der liebste Mensch auf Erden war.“

„Darum geht es nicht, sondern darum, dass sie eine treibende Kraft in dieser Branche war. Und darum, dass sie hier begann. Das hier war sozusagen ihr Zuhause“, erklärte Shannon.

„Es tut uns allen Leid. Wir wissen, dass sie so gut war wie kein anderer, und ich glaube, es gibt niemanden, der keinen Respekt vor ihrem Talent hatte.“ Ella blickte Shannon tief in die Augen. „Das habe ich auch alles erklärt, als der Detective mir Fragen stellte.“

„Du hast ihm erzählt, du mochtest Lara nicht?“

„Ich war nur ehrlich, weiter nichts. Was soll’s denn auch? Er hat seine Fragen gestellt, weil er das machen muss. Du weißt doch, wie das läuft, wenn jemand auf solche Art und Weise stirbt. Es gibt eine Autopsie, alle möglichen Leute werden befragt. Na und? Alle haben gesehen, was passiert ist.“ Ella hob fragend eine Augenbraue. „Hast du der Polizei vielleicht erzählt, du hättest Lara bewundert?“

„Nein, ich war auch nur ehrlich“, erwiderte Shannon. „Jedenfalls während der viereinhalb Minuten, in denen ich verhört wurde.“

Ella schüttelte den Kopf. „Was erwartest du von der Polizei? Die Sache ist offensichtlich. Ihr Tanz wurde auf Video mitgeschnitten, und ihr Tod ebenso.“ Ihr schauderte. „Irgendwie unheimlich, das Ganze. Aber Lara hätte es sicher geliebt. Sogar ihr Abgang war an Dramatik nicht zu überbieten, und er wurde für alle Ewigkeit auf Film gebannt. Sie hat sich von ihrer Begeisterung mitreißen lassen, und dann ist sie gestorben. Regelrechte Vergeudung. Aber jetzt kann niemand mehr etwas für sie tun. Du hast das Studio im Andenken an sie ein paar Tage geschlossen gelassen, aber nun muss es weitergehen. Und außerdem hast du in einer Viertelstunde einen neuen Schüler.“

„Ich habe einen neuen Schüler?“

„So ist es.“

Shannon runzelte die Stirn. „Augenblick mal, ich nehme gar keine neuen Schüler an. Als Managerin habe ich genug Arbeit! Ich muss mich um den Papierkram und die komplette Verwaltung kümmern. Dazu kommt die Planung für die Gator Gala. Erinnerst du dich, was wir bei unserer letzten Besprechung vereinbart haben?“

„Natürlich weiß ich das. Aber du hast sicher gemerkt, dass Jane noch nicht da ist. Sie hat einen Zahnarzttermin, auf den sie bei genau diesem Treffen hingewiesen hat. Rhianna kann ihren Zeitplan nicht umstellen, weil ihr Typ Nachtschicht hat. Und der Neue ist von Doug für einen Schnupperkurs angemeldet worden. Übrigens ist er Dougs Bruder. Also ich kann es kaum erwarten, ihn zu Gesicht zu bekommen.“

„Wie oft soll ich dir bloß noch sagen, dass du endlich deinen Schein machen sollst, damit du hier auch Unterricht geben kannst?“ fragte Shannon kopfschüttelnd. Ella war ein Naturtalent, und sie hatte das Zeug zu einer hervorragenden Lehrerin. Aber vor zwei Jahren war sie auf der Suche nach einem Verwaltungsjob gewesen, den sie im Moonlight Sonata bekommen hatte, und war nach wie vor nicht dazu zu bewegen, sich aufs Unterrichten zu verlegen.

Was Shannon selbst anging, wollte sie im Moment einfach keine Tanzstunden geben. Eigentlich genoss sie es von Herzen, mitzuerleben, wie ein Schüler besser und besser wurde, doch seit Laras Tod schien ihr alles aus dem Lot geraten zu sein.

Natürlich reagierte die ganze Tanzwelt mit Erschütterung auf einen so tragischen Tod, aber dennoch stimmte es, dass Lara Trudeau nicht zu den Menschen zählte, die sie besonders gut hatte leiden können.

Ganz gleich, wie viele Tanzwettkämpfe man gewann, seinen Lebensunterhalt konnte man davon nicht zwangsläufig bestreiten, jedenfalls nicht in den USA. Lara hatte nebenher Unterricht erteilt, um ihre Einnahmen aufzubessern. Gordon Henson war ihr erster Lehrer für Gesellschaftstänze gewesen, der auf seine preisgekrönte Schülerin immer sehr stolz war. Man musste ihr hoch anrechnen, dass sie immer dann als Aushilfe ins Moonlight Sonata gekommen war, wenn er sie darum bat. Nachdem aber Shannon so weit war, dass sie das Management des Studios übernehmen konnte, gehörte es zu ihren Aufgaben, für Tanzlehrer zu sorgen.

Da Lara einfach herausragend war und neue Schüler in Scharen anzog, hatte Shannon sie regelmäßig eingeplant. Laras Problem war allerdings die Tatsache, dass sie sich entgegen den Gepflogenheiten des Studios nach der Tanzstunde gerne mal über ihre Schüler oder manche Lehrer lustig machte.

Daneben gab es für Shannon aber noch andere, persönlichere Gründe, Lara nicht zu mögen. Und doch machte ihr deren Tod zu schaffen. Vielleicht lag es daran, dass sie der Ansicht war, niemand sollte so jung sterben müssen. Womöglich war es für sie einfach unbegreiflich, kein Gefühl von tiefer Trauer oder echtem Verlust zu spüren, obwohl jemand von ihr gegangen war, der so sehr einen Teil ihres Lebens ausgemacht hatte. Sie verspürte eine gewisse Verwirrung, aber vielleicht war es auch Unglaube. In jedem Fall kam es Shannon so vor, als stehe sie neben sich, was ihr Schwierigkeiten bereitete, sich auf ihre Arbeit zu konzentrieren und sich um die anstehende Gator Gala zu kümmern. Wie sollte sie unter solchen Umständen, mit einem Lächeln auf den Lippen und dem unverzichtbaren Enthusiasmus einem Anfänger das Tanzen beibringen?

„Sie ist erst seit knapp einer Woche tot“, sagte Shannon. „Man hat sie noch nicht einmal beerdigt.“ Da Laras Tod automatisch eine gerichtsmedizinische Untersuchung nach sich gezogen hatte, war sie bis zur Freigabe im Leichenschauhaus untergebracht worden. Nachdem inzwischen allerdings ein Fremdverschulden ausgeschlossen werden konnte, hatte Laras Ex-Mann Ben zusammen mit Gordon alle Vorbereitungen für die Beisetzung getroffen. Lara war vor fast zwanzig Jahren nach Miami gekommen, um aufs College zu gehen, wenige Jahre darauf waren ihre Eltern gestorben. Kinder hatte sie nie gehabt, und falls es engere Verwandte gab, dann hatten die sich in all der Zeit nie hier blicken lassen. Da Lara durchaus als prominent bezeichnet werden konnte, waren die beiden Männer zu dem Entschluss gekommen, sie an einem Samstagmorgen beisetzen zu lassen.

„Shannon, sie kam hier reingeschneit, um dann und wann mal zu tanzen. Wir kannten sie, aber sie war für keinen von uns wie eine Schwester. Du musst darüber hinwegkommen“, beharrte Ella. „Wenn jemand behaupten kann, sie wirklich gekannt zu haben, dann ist das Gordon. Aber sogar er hat den Blick nach vorn gerichtet.“

Shannon musste zugeben, dass Ella damit Recht hatte. Den gestrigen Tag hatte er in seinem Büro verbracht und sich Stoffmuster angesehen, um zu überlegen, welcher ihm am besten für neue Vorhänge in seinem Wohnzimmer gefiel.

„Aus dir werde ich nicht schlau“, unterbrach Ella Shannons Gedanken und schüttelte den Kopf. „Du warst auch nach Nell Durkens Tod völlig aufgelöst, und sie war seit fast einem Jahr nicht mehr zum Tanzunterricht gekommen.“

„Nell Durken starb aber nicht einfach so. Ihr Ehemann brachte sie um. Vermutlich war er in Panik geraten, als er begriff, er könnte seine Köchin und Putzfrau verlieren“, gab Shannon verbittert zurück. Nell war eine der erstaunlichsten Schülerinnen gewesen, die sie je hier im Studio erlebt hatte. Sie war unbekümmert, hübsch und so voller Leben gewesen. Allen anderen Schülern gegenüber hatte sie sich immer freundlich verhalten, sie reagierte mit Ironie auf die Tatsache, dass ihr Mann einfach nicht mitkommen wollte. Doch sie war entschlossen gewesen, dann eben allein Tanzen zu lernen. Dass ihr Ehemann sie umgebracht hatte, war für Shannon entsetzlich gewesen.

„Mein Gott“, hauchte sie auf einmal.

„Was ist?“ fragte Ella.

„Es ist doch schrecklich, findest du nicht?“

„Schrecklich? Was denn?“ Ella schüttelte fragend den Kopf.

„Nell Durken starb, weil ihr Mann sie zwang, eine Überdosis Schlaftabletten zu schlucken.“

„Ja, der Kerl war ein Bastard. Das haben wir alle gedacht“, sagte Ella. „Dass er so gefährlich sein könnte, hätte wohl niemand für möglich gehalten. Aber wenigstens ist die Polizei ihm auf die Schliche gekommen. Wahrscheinlich dachte er, wenn er sie all diese Tabletten schlucken lässt, würde es wie ein Unfall oder ein Selbstmord aussehen. Dann hätte er ihre Lebensversicherung kassieren können.“ Nach einer kurzen Pause fuhr sie fort: „Aber sie haben ihn ja geschnappt. Er könnte sogar die Todesstrafe bekommen, weil sein Motiv offensichtlich war und sich seine Fingerabdrücke auf dem Fläschchen mit den Tabletten befanden.“

„Hast du dir in letzter Zeit zu viele Polizeiserien angesehen?“ drang auf einmal eine Stimme durch die offene Tür. Gordon stand vor dem Büro und sah die beiden Frauen amüsiert an.

„Nein, Gordon“, erwiderte Ella. „Ich habe nur erzählt, was Nell Durken zugestoßen ist. Und dass ich hoffe, dass der Bastard dafür schmoren wird.“

„,Schmoren wird‘?“ wiederholte Gordon.

„Ja, okay, normalerweise gibt es die Giftspritze. Aber er war so gemein zu ihr, lange bevor er sie umbrachte, er hat es verdient.“

Gordon machte einen ratlosen Eindruck. „Wie kommt ihr jetzt überhaupt auf Nell Durken?“

„Wir sprachen über Lara“, antwortete Ella.

Er schien den Zusammenhang nicht zu sehen. „Wir haben Lara verloren. Das ist eine Sache. Sie war ein wenig so wie Ikarus und versuchte, zu hoch zu fliegen. Aber Nell … verdammt, wir alle wussten, dass sie diesen Kerl hätte verlassen sollen. Zu schade, dass sie es nicht tat. Ich hätte sie gern weiter tanzen gesehen.“

„Sie hörte damit auf, als er für sie beide diesen Karibikurlaub plante, wisst ihr noch?“ sagte Shannon gedankenverloren. „Sie wollten in die zweiten Flitterwochen fahren. Er wollte sie für alles entschädigen.“

„Tja, und wir dachten alle, es läuft wieder bestens zwischen den beiden, weil sie nach dem Urlaub anrief und für die nächste Zeit alle Tanzstunden absagte, da sie auf Reisen gehen wollten. Als gute Empfangsdame habe ich natürlich regelmäßig nachgehakt, aber immer nur den Anrufbeantworter erwischt. So nach ungefähr sechs Monaten ist sie dann von der Wiedervorlage verschwunden.“

„Es ist doch schrecklich, nicht wahr?“ murmelte Shannon wieder. „Ich hoffe nicht, dass wir vom Pech verfolgt werden. Erst wird eine Ex-Schülerin von ihrem Mann umgebracht, und jetzt … jetzt bricht Lara tot zusammen.“

„Willst du damit etwa sagen, wir sind verflucht?“

Shannon sah über Gordons Schulter in den Korridor und entdeckte Sam Railey, der gerade hinter ihm aufgetaucht war.

„Verflucht?“ wiederholte Gordon. „Komm nicht mal auf die Idee, so etwas zu denken. Nell war schon längst keine Schülerin mehr, als sie umgebracht wurde. Und Lara … das war einfach eine Tragödie.“ Er hielt ihm drei Finger hin. „Das Broward Studio hat im letzten Jahr zwei Schüler und einen Lehrer verloren.“

Shannon musste sich ein Lächeln verkneifen. „Gordon, die beiden Schüler waren Mr. und Mrs. Hallsly, neunzig und dreiundneunzig Jahre alt. Niemand war wirklich überrascht, dass die beiden innerhalb weniger Monate starben. Und Dick“, fügte sie leise an, da sie den Tanzlehrer Dick Graft wirklich gut hatte leiden können, „litt an einem Aneurysma.“

„Ich wollte darauf hinweisen, dass Leute nun einmal sterben und wir nicht verflucht sind.“

„Das will ich auch nicht hoffen“, gab Sam zurück. „Wenn das nämlich der Fall wäre, dann würde das Unglück immer dreimal zuschlagen. Und uns würde noch ein Schlag bevorstehen.“

„Sam!“ ermahnte Gordon ihn verärgert.

„Oh, entschuldige. Aber keine Sorge, so was würde ich vor den Schülern niemals von mir geben.“

„Davon gehe ich aus“, raunte Gordon. Zwar hatte er Shannon die Leitung des Studios übertragen, doch wenn er bei einem Tanzlehrer das Gefühl bekommen sollte, er schade dem Betrieb, würde er ihn auf der Stelle feuern.

„Hey“, ertönte die Stimme von Justin Garcia. Der schlanke, 1,70 Meter große Mann musste sich auf Zehenspitzen stellen, um über die Schultern der anderen blicken zu können, die sich vor Shannons Büro versammelt hatten. „Psst.“ Er sah zu Ella, die immer noch auf der Schreibtischkante saß. „Vorne wartet ein neuer Schüler. Ich würde ihn ja selbst übernehmen, aber er ist ein Riese von Kerl, und ich glaube, er würde mich zerquetschen, wenn ich’s versuchen sollte.“

„Dougs Bruder“, sagte Ella und rutschte vom Schreibtisch. Die anderen grinsten viel sagend.

Doug zählte eindeutig zu den beliebtesten Neuzugängen der letzten Zeit. Er war hergekommen, um für die Hochzeit eines Freundes Salsa zu lernen. Anfangs war er so unbeweglich wie ein Brett gewesen, doch nach nicht einmal einer Woche hatte er sich in den kubanischen Tanz verliebt und wollte mehr lernen.

Er war Polizist, aber er lachte nur darüber, dass seine Kollegen ihn wegen seiner Tanzstunden auf den Arm nahmen. Nicht nur bei den zahlreichen Schülerinnen des Studios kam er sehr gut an, sondern auch bei seiner Lehrerin Jane Ulrich. Jane liebte das Dramatische, und mit Doug konnte sie springen, sich drehen und buchstäblich abheben. Sie war eine exzellente Tänzerin, und er besaß die Kraft, sie für jede Figur genau so hochzuheben, wie es erforderlich war. Dass er groß, blond und blauäugig war, stellte einen weiteren Vorteil dar, und seine Lernbegeisterung war eine Freude für jeden Lehrer.

Ella zwängte sich zwischen den Männern hindurch nach draußen und eilte zum Eingang, um den Neuzugang zu begrüßen und seine Daten aufzunehmen.

Als Shannon gerade aufstand, stürmte Ella zurück ins Büro und flüsterte: „Oh Mann, Jane wird sich schwarz ärgern, dass sie einen Zahnarzttermin hat. Komm schon! Diesen Mann musst du gesehen haben!“ Dann war sie schon wieder aus dem Büro verschwunden.

„Der ist mir eine Nummer zu groß“, meinte Justin schulterzuckend.

Neugierig folgte Shannon der Gruppe nach draußen und sah, wie Ella den Mann freundlich begrüßte, während die anderen dastanden und darauf warteten, dass er zu ihnen kam. Normalerweise stellten sie sich zum Empfang eines neuen Kunden nicht im Halbkreis auf.

Dougs Bruder. Ja, die Ähnlichkeit war ihm anzusehen. Sie waren etwa gleich groß, doch während Doug schmale Schultern hatte und verhältnismäßig geschmeidig war, wirkte sein Bruder so, als sei er einem Film über muskelbepackte Barbaren entsprungen. Sein Haar war dunkel, seine blauen Augen hatten etwas Durchdringendes. Sein Gesicht sah hübsch aus, zwar ein wenig kantig, aber ebenmäßig.

Noch bevor Shannon einen Schritt nach vorn machen konnte, legte Sam seine Hände auf ihre Schultern und zog sie an sich. „Zu schade, dass wir uns mit unseren Schülern nicht privat treffen dürfen, nicht wahr?“

„Sam“, gab sie mit einem leisen, gelangweilten Seufzer zurück. Die Vorschrift lautete so, das stimmte. Aber Gordon hatte es immer vorgezogen, von den Dingen nichts zu wissen, von denen er nichts wissen wollte. Die gleiche Haltung traf auch auf Shannon zu.

Als sie sich von Sam entfernte, hörte sie Justin flüstern: „Nicht privat treffen? Für ein paar von uns mag das ja gelten, aber für einige andere nicht.“

Noch während sie ihre Hand ausstreckte, überlegte sie, was Justin damit meinte. Wer hatte sich mit wem privat getroffen? Und warum bereitete ihr diese simple Frage mit einem Mal ein solches Unbehagen?

Sie zwang sich zu einem Lächeln. „Sie sind also Dougs Bruder. Freut mich, Sie hier zu sehen. Doug ist bei uns etwas ganz Besonderes, müssen Sie wissen.“ Einen Moment lang zögerte sie. „Hat er Sie mit vorgehaltener Waffe hergebracht?“

Der Mann reagierte mit einem Lächeln, und in seiner linken Wange zeichnete sich ein kleines Grübchen ab. „So ungefähr“, sagte er. „Er hat ein gutes Gespür dafür, wie man jemanden von einer Sache überzeugt.“ Er begrüßte sie mit einem kraftvollen Händedruck. „Ich bin Quinn. Quinn O’Casey. Ich fürchte, Sie werden mich wohl als den Bruder mit den zwei linken Füßen in Erinnerung behalten. Ich werde für Sie eine gewaltige Herausforderung sein.“

Shannon lächelte weiter, doch in ihrem Inneren machte sich abermals Unbehagen breit.

Eine gewaltige Herausforderung.

Sie hatte so ein Gefühl, dass er Recht hatte, und zwar nicht nur im Hinblick auf die Tanzstunden.

Was zum Teufel treibt ihn wirklich her? fragte sie sich.

„Ella, kann ich für Mr. O’Casey bitte einen Fragebogen haben?“ sagte sie laut. „Kommen Sie mit in den Konferenzraum. Dann werden wir sehen, was wir für Sie tun können.“

Der so genannte Konferenzraum war nichts weiter als ein abgeteilter Raum, der vielleicht zweieinhalb Meter lang und ebenso breit war. In der Mitte stand ein runder Tisch, an dem im äußersten Fall fünf Personen Platz nehmen konnten. Ringsum gab es einige Schautafeln und ein paar Regale, in denen Pokale verschiedener Lehrer des Studios standen, unter anderem auch einige, die Shannon gewonnen hatte. Zwei andere Pokale zeigten, dass das Moonlight Sonata in den letzten beiden Jahren in Folge zum besten unabhängigen Studio gekürt worden war.

Ella reichte Shannon den Fragebogen, während die anderen einfach stehen blieben und ihr zusahen. Erst auf einen knappen, unmissverständlichen Blick hin löste sich die Gruppe auf. Shannon schloss die Tür und zeigte auf einen Stuhl.

„Nehmen Sie doch Platz.“

„Ich lerne hier tanzen, wenn ich mich an einen Tisch setze?“ fragte Quinn O’Casey amüsiert.

„Ich lerne erst etwas über Sie“, gab sie zurück. „Nämlich an welchen Tänzen Sie interessiert sind.“ Natürlich wollte das Studio Tanzkurse an den Mann und an die Frau bringen, und deshalb wurde der Konferenzraum im Spaß auch schon mal als der ,Abzockerraum‘ bezeichnet. Shannon war aber wichtig, dass sie immer nur den besten Kurs anbot und nie einen neuen Schüler zu irgendetwas drängte. Wer das Gefühl bekam, dass man ihn über den Tisch gezogen hatte, kam einfach nicht mehr her. Die Schüler jedoch, die dem Studio treu blieben, waren diejenigen, die sich zu Wettbewerben meldeten und die die Tanzschule ins Gespräch brachten.

„Also, Mr. O’Casey, welche Tänze möchten Sie denn lernen?“

„Welche Tänze?“

Der dunkelhaarige Mann, der Shannon gegenübersaß, hob die Augenbrauen, als hätte sie ihm eine Fangfrage gestellt.

„Wir unterrichten hier viele verschiedene Tänze“, erklärte sie. „Darunter auch Polka und Country and Western. Normalerweise haben die Leute, die herkommen, eine gewisse Vorstellung davon.“

„Oh ja, klar. Tja, also eigentlich habe ich gar keine Vorstellung. Doug hat mich dazu überredet. Welche Tänze …? Na ja, ich … ich kann überhaupt nicht tanzen“, sagte er. „Und … Doug sagte irgendetwas von langsamen Tänzen. Ich nehme an, dass ich das dann wohl machen soll.“

„Also möchten Sie sich auf Walzer, Foxtrott und Tango konzentrieren.“

„Tango?“

„Ja, Tango.“

„Den Tanz nennen Sie langsam?“

„Es gibt dabei schnelle Schritte, und ausgeprägte, spritzige Bewegungen sind ein wichtiges Merkmal. Trotzdem gilt der Tanz als langsam. Möchten Sie Tango lieber auslassen?“

Er zuckte mit den Schultern. „Ich habe nichts gegen Tango.“ Er hätte ebenso gut über das Wetter reden können, so gleichgültig wirkte er. Ein ironisches Lächeln umspielte seine Lippen, und sie nahm erschrocken zur Kenntnis, wie anziehend er war. Er hatte ein markantes, attraktives Gesicht – und dazu dieses Grübchen. Seine dunklen Augen waren nicht weniger ansprechend, und sein Blick wich dem ihren nicht ein einziges Mal aus. Shannon spürte, wie ihr unwillkürlich heiß wurde. Eine ganz normale Reaktion auf sein gutes Aussehen, rief sie sich zur Räson. Sie war ein Profi, sie war erwachsen – und sie war in der Lage, jegliche Regung unter Kontrolle zu halten. Aber sie war nicht tot, also durfte ihr Körper reagieren.

Plötzlich lehnte er sich zu ihr vor. „Ich glaube, Tango würde ich doch gern lernen“, sagte er, als hätte er gerade intensiv darüber nachgedacht.

Und wahrscheinlich würde jede Frau der Welt für ihr Leben gern einen Tango mit dir tanzen, Freundchen, ging es ihr durch den Kopf.

Auf einmal begann sie zu lächeln. „Sind Sie sich wirklich sicher, dass Sie Tanzstunden nehmen wollen?“

„Ja … nein.“ Wieder zuckte er mit den Schultern. „Doug hat mich dazu überredet.“

Sie fühlte sich mit einem Mal ein wenig unentschlossen. Warum, das wusste sie nicht. Dieser Mann war körperlich so beeindruckend, dass jede Tanzlehrerin sich seiner annehmen würde, und wenn es nur darum ging, sich dieser Herausforderung zu stellen.

Ja, genau. Das war er in ihren Augen: eine Herausforderung. Auf der einen Seite fühlte sie sich von ihm angezogen, gleichzeitig weckte er in ihr aber auch das Gefühl, auf der Hut sein zu müssen. Sie verstand nicht, warum das so war.

Shannon lehnte sich nach hinten, lächelte und klopfte mit dem Bleistift auf die Tischplatte. „Ihr Bruder ist Polizist“, sagte sie beiläufig. „Haben Sie den gleichen Beruf, Mr. O’Casey?“

„Quinn. Sagen Sie doch bitte Quinn zu mir. Cop bin ich nicht. Besser gesagt: nicht mehr.“

Weiter ins Detail ging er nicht.

„Und was machen Sie?“

„Ich habe einen Charterservice unten in den Keys.“

„Fischen? Tauchen?“

Er lächelte flüchtig. „Beides. Aber warum fragen Sie? Muss man einer bestimmten Berufsgruppe angehören, wenn man Tanzstunden nehmen will?“

Sie schüttelte den Kopf und war auf sich selbst wütend, weil sie spürte, dass sie rot geworden war. Ihr Blick war starr auf den Fragebogen vor ihr gerichtet. „Nein, natürlich nicht. Tut mir Leid. Wir versuchen nur, unser Programm auf den Kunden abzustimmen.“

„Tja, ich möchte eigentlich nur in der Lage sein, bei irgendwelchen gesellschaftlichen Anlässen zu tanzen. Und ich mache keine Witze, wenn ich sage, dass ich nicht tanzen kann.“

Diese Worte waren sein voller Ernst.

„Doug kam her und war ungefähr so beweglich wie ein tief verwurzelter Baum“, sagte sie lächelnd. „Er machte unglaubliche Fortschritte.“

„Tja, er hat sich ins Tanzen verliebt, nicht wahr?“

Ihr Lächeln wurde noch breiter, während sie ihm zunickte. „Dass Sie sich ins Tanzen verlieben könnten, halten Sie wohl nicht für möglich, oder?“

Schon wieder reagierte er mit einem Schulterzucken. Ihr Blick fiel auf seine Hände, makellose schlanke Hände mit langgliedrigen Fingern. Kein Wunder. Fischen und Tauchen. Dieser Mann verbrachte die meiste Zeit im Wasser. Sein Gesicht war gebräunt und ließ das Blau seiner Augen noch intensiver wirken. „Und was ist mit Ihnen?“

„Wie bitte?“ fragte sie, erschrocken darüber, dass mit einem Mal die Rollen vertauscht waren.

„Wann haben Sie sich ins Tanzen verliebt?“

„Als ich anfing zu laufen“, erklärte sie.

„Ah, dann sind Sie eine von diesen großen Wettkämpferinnen.“

Sie schüttelte den Kopf. „Nein, ich bin Lehrerin.“

Abermals fühlte sie sich unbehaglich, als sie merkte, dass er sie prüfend ansah.

„Ich möchte wetten, Sie wären im Wettbewerb gut.“

„Mir gefällt, was ich hier mache.“

„Ja, so ein Wettbewerb kann eine gefährliche Sache sein.“

Es klang völlig beiläufig, und doch versteifte sich Shannon. „Gefährlich? Ein Tanzwettbewerb? Was meinen Sie denn damit?“

„Doug erzählte davon, dass beim letzten großen Wettkampf irgendjemand einen Herzinfarkt erlitten hat und gestorben ist.“

Abwehrend schüttelte Shannon den Kopf. „Das war ein tragischer Vorfall, aber es war ein absoluter Ausnahmefall. So etwas habe ich noch nie miterlebt. Natürlich sind wir alle erschüttert, aber ein Wettbewerb ist normalerweise keine besonders gefährliche Angelegenheit.“ Sie wollte mehr sagen, hielt sich aber zurück. Schließlich wollte sie nicht wie ein Trottel dastehen. Und ganz bestimmt würde sie nicht über ihr Unbehagen mit einem Mann reden, den sie erst seit ein paar Minuten kannte, auch wenn es sich bei ihm um Dougs Bruder handelte. Doug war ein Schüler, sogar ein viel versprechender Schüler, aber er war niemand, dem sie vertrauliche Informationen geben würde. „Ich denke, Bootfahren und Tauchen dürften weitaus gefährlicher sein als Tanzen, Mr. O’Casey.“

„Oh, ich bin nicht besorgt“, gab er zurück. „Nur … na ja, mir tut es Leid um die Frau. Und ich bin neugierig.“

Es war kein Wunder, wenn die Menschen bestürzt waren und Anteil nahmen. In der Welt des Tanzes war Lara die Königin gewesen. Auch wenn jemand, der sich für andere Dinge interessierte, nicht ihren Namen kennen musste – so wie Shannon im Gegenzug nicht wusste, wie der führende NASCAR-Rennfahrer hieß –, machte ein solcher Tod dennoch Schlagzeilen. Und in Laras Fall dürften unterschiedliche Fernsehsender darüber berichtet haben, da Kamerateams die Veranstaltung aufgenommen hatten.

Nein, es war wirklich kein Wunder, dass die Leute wissen wollten, was geschehen war. Sie verstand bloß nicht, warum sie es als so ärgerlich empfand, diesem Mann die Situation zu erklären.

„Wir stehen alle vor einem Rätsel“, sagte sie dann aber mit ruhiger Stimme. „Lara Trudeau war eine erstaunliche Frau. Sie trank keinen Alkohol, nahm keine Tabletten, weder ärztlich verschriebene noch frei erhältliche. Was an dem Tag geschehen ist, weiß hier keiner. Sie war phantastisch, und sie wird uns fehlen – sie und ihr Talent. Aber Tanzen ist alles andere als gefährlich. Es ist eine körperliche Betätigung, und wir haben sogar Herzpatienten hier, die als therapeutische Maßnahme tanzen. Es ist gefährlicher, sich zu Hause aufs Sofa zu setzen, um fernzusehen.“ Mit einem Mal wurde sie wütend, so als würde sie persönlich angegriffen. Warum, war ihr nicht klar. Sie war fast im Begriff, aufzustehen und ihm zu sagen, sie werde Doug das Geld für den Schnupperkurs erstatten. In dem Moment aber sagte er: „,Rhythm‘.“

„Wie?“

„Ich glaube, ich hatte mich vorhin geirrt. Ich möchte in einen Club wie das Suede hier im Haus gehen können und nicht wie ein völliger Trottel dastehen müssen. Salsa, nicht wahr?“

„In vielen Clubs dieser Art wird Salsa gespielt. Aber auch Mambo, Samba, Merengue … Dienstagabends findet immer eine Swingparty statt.“

„Aber auf einer Hochzeit wird Walzer getanzt, nicht wahr?“ Er machte den Eindruck, als überlege er wirklich gründlich, was er machen sollte.

„Ja.“

„Muss ich bestimmte Tänze auswählen?“

„Nein, aber es wäre praktisch, wenn ich weiß, wo Sie anfangen wollen.“

„Wo fängt man denn normalerweise an?“

Shannon erhob sich. „Normalerweise am Anfang. Kommen Sie. Wenn Sie keine bestimmten Vorlieben haben, dann machen wir es auf meine Art.“

„Sie werden meine Lehrerin sein?“ Er war überrascht, doch sie glaubte zu spüren, dass es ihm nicht gefiel.

„Ja. Gibt es da ein Problem?“

„Nein, es ist nur … Doug sagte, Sie übernehmen keine neuen Schüler.“

„Normalerweise hat er damit Recht. Aber es läuft so – vorausgesetzt, es gibt keine ernsthaften Schwierigkeiten –, dass der Lehrer, der einen Anfänger annimmt, ihn auch auf Dauer unterrichtet.“ Sie hatte ihn gar nicht unter ihre Fittiche nehmen wollen, aber jetzt … jetzt wollte sie ihn nicht wieder hergeben. Er hatte irgendetwas an sich, das …

Eine Stimme in ihrem Kopf flüsterte ihr zu, er sei der interessanteste Mann, dem sie seit langem begegnet war. Der bestaussehendste, sinnlichste Mann.

Ja, das alles hatte sie auf den ersten Blick zur Kenntnis genommen.

Doch darum ging es nicht. Es war nicht sein Aussehen, so eindrucksvoll das auch sein mochte.

Da war noch etwas anderes.

Es war lächerlich, dass sie so paranoid empfand, doch dieser Mann musste unter Beobachtung bleiben. Dieses Gefühl, auf der Hut zu sein, wollte sie einfach nicht loslassen.

Vielleicht …, ging es ihr eine halbe Stunde später durch den Kopf … vielleicht hatte sie in letzter Zeit einfach nicht mehr oft genug Unterricht gegeben. Vielleicht konnte sie auch bloß nicht Unterricht erteilen und ihn gleichzeitig im Auge behalten.

Ihr fehlte es an der erforderlichen Geduld. Es war unmöglich, dass irgendjemand ihn wirklich führen konnte. Schon als sie eine Hand auf seinen Arm gelegt hatte, war ihr das klar gewesen. Es war, als würde sie eine massive Wand berühren. Er war so versteift, dass sie tun konnte, was sie wollte – sie brachte ihn einfach nicht dazu, sich zu entspannen.

Er schien sogar links und rechts zu verwechseln.

Dabei war es doch nur ein Box Step, ein einfacher Box Step.

„Nein, Quinn, erst bewegen Sie den linken Fuß nach vorn. Den Fuß, mit dem wir die letzten fünfundzwanzig Minuten gearbeitet haben.“ Ließ ihre Stimme erkennen, wie sehr ihre Bemühungen an ihren Nerven zerrten? Es hatte mal eine Zeit gegeben, da war sie für ihre Geduld bekannt gewesen.

Er hatte nicht gelogen, als er ihr sagte, er habe zwei linke Füße.

„Wir beschreiben ein Quadrat… ein Kästchen. Linker Fuß nach vorn, rechter Fuß zur Seite – ein Kästchen.“

„Ja, stimmt. Ein Kästchen. Wie viele Lehrer arbeiten hier eigentlich insgesamt?“

„Haben Sie Angst, dass ich mit Ihnen nicht fertig werde, Mr. O’Casey?“

„Nein, nein, keineswegs. Sie machen das großartig. Ich war nur neugierig, wie viele Tanzlehrer Sie für ein solches Studio haben.“

„Nun gut. Da ist zuerst einmal Ben Trudeau – er unterrichtet jetzt Vollzeit.“

„Trudeau?“ fragte er verwundert.

„Er war mal mit Lara verheiratet, aber sie ließen sich vor einigen Jahren scheiden. Er war früher vor allem bei Wettkämpfen dabei und kümmerte sich ums Coaching. Vor ein paar Monaten ließ er sich hier in Strandnähe nieder. Er ist ein hervorragender Lehrer.“

„Laras Tod hat ihn sicher schwer getroffen.“

„Es hat uns alle schwer getroffen, Mr. O’Casey.“

„Oh, entschuldigen Sie. Das kann ich mir gut vorstellen. Sie ist sicher etwas ganz Besonderes gewesen – so begabt und so gut mit jedem hier befreundet, nicht wahr? Doug sagte mir, sie unterrichtete hier manchmal.“

„Sie übernahm gelegentliches Coaching“, korrigierte Shannon ihn.

„Das muss doch schwierig für Sie alle sein, jetzt schon wieder Tanzstunden zu geben.“

„Das Leben geht weiter – und die Arbeit auch.“

„Dann sind alle Lehrer zurück?“

„Ja.“

„Wer sind denn die anderen?“

„Justin Garcia und Sam Railey, außerdem Jane Ulrich, die Ihren Bruder unterrichtet, dazu eine weitere Trainerin, Rhianna Markham.“

Sein Fuß landete abermals auf ihrem.

„Sorry. Ich sagte ja gleich, ich habe zwei linke Füße“, entschuldigte er sich.

Shannon atmete tief durch. „Wir wollen Sie natürlich an den Punkt bringen, an dem Sie sich unterhalten können, während Sie tanzen. Aber es wäre vielleicht besser, nicht so viele Fragen zu stellen, wenn ich Ihnen etwas beizubringen versuche.“

„Tut mir Leid. Ich wollte mich hier nur eingewöhnen, damit ich mich etwas wohler fühle.“

„Dafür gibt es die Übungsstunden und die Partys“, murmelte sie.

„Partys?“

„Und Übungsstunden“, wiederholte sie nachdrücklich. „Anfänger kommen montag-, dienstag- und freitagabends her, manchmal auch an den anderen Abenden, wenn wir viel zu tun haben, und dann werden in der Gruppe zusammen neue Schritte gelernt. Danach verfeinern Sie diese Schritte mit Ihrem Lehrer.“

„Ist es Pflicht, da zu erscheinen?“

„Natürlich nicht. Aber Einzelunterricht ist teurer. Die Gruppenstunden sind für alle eingeschriebenen Schüler kostenlos. Sie lernen viel schneller, wenn Sie den gemeinsamen Unterricht mitmachen, und Ihr Geld geben Sie damit auch sinnvoller aus.“

„Und wann sind die Partys? Dürfen da alle Schüler hingehen?“

„Mittwochabends von acht bis zehn. Ja, Anfänger sind da willkommen. Sie sollten hingehen.“

„Das werde ich machen.“

Abermals trat er ihr auf den Fuß, diesmal so heftig, dass sie nach Luft schnappen und einen Aufschrei unterdrücken musste. Wie lange noch? Fünfzehn Minuten. Sie war sich nicht sicher, ob sie das noch durchhielt.

Ihr Blick wanderte durch den Raum. Jane war von ihrem Arzttermin noch nicht zurück. Rhianna war mit David Mercutio beschäftigt, dem Ehemann der Designerin Katarina Mercutio, die die restlichen Räume im ersten Stock gemietet hatte. Sie leistete wunderbare Arbeit und war auf Hochzeiten spezialisiert, für die sie einzigartige Kleider für die Braut und die Hochzeitsgäste kreierte. Sie entwarf zudem Kleider für Gesellschaftstänze, und konnte bereits eine ganze Reihe wirklich atemberaubender Arbeiten vorweisen. Es war nicht nur ideal, gleich über einem Club gelegen zu sein, es war auch äußerst praktisch, dass Katarinas Atelier sich gleich nebenan befand.

David war ein Stammkunde, der zweimal in der Woche herkam, um mit Rhianna zu arbeiten. Mit Lara hatte er ebenfalls getanzt. Er und Rhianna waren in eine Unterhaltung vertieft, während sie seine Tangoschritte verbesserte. Vermutlich ging es um Lara. Sam Railey hatte im Augenblick keinen Schüler und war damit beschäftigt, seine CDs zu ordnen.

Quinn O’Caseys linker Fuß quetschte wieder schmerzhaft Shannons Zeh ein.

„Sam!“ rief sie und löste sich von ihrem Partner.

„Ja?“ Er sah zu ihr.

„Kann ich dich für eine Minute ausborgen?“

„Sicher.“

Shannon ging zur Stereoanlage, wartete, bis der Tango vorüber war, dann legte sie einen Klassiker ein – Peggy Lees „Fever“. Sam begab sich zu ihr, während sie mit ihrem Schüler sprach. „Im Augenblick versuchen Sie nur, den einfachen Box Step in den Griff zu bekommen. Aber wenn Sie sich die Schritte zur Musik vorstellen, dann hilft Ihnen das vielleicht.“

Sam führte sie während der Grundschritte, sie sah unterdessen zu Quinn. Irgendwie hatte sie das Gefühl, dass er sich nicht sehr viel Mühe gab.

Zu ihrer Überraschung sagte Sam auf einmal zu Quinn: „Es sieht vielleicht nach einem langweiligen Tanz aus, aber er kann sehr viel Spaß machen.“

Ehe sich Shannon versah, hatte Sam die Initiative ergriffen. Sie machte die Schritte für einen Grapevine, ließ einen Spin und dann eine Reihe von Drehungen auf der Stelle folgen. Allesamt Schritte, die viel zu weit über das hinausgingen, was ihr neuer Schüler zu leisten imstande war.

„Okay, Sam“, sagte sie leise. „Wir wollen ihm doch keine Angst einjagen.“

„Ich finde, er sollte sehen, was er lernen kann“, erwiderte Sam.

Dagegen war nichts einzuwenden. Sie führten oft solche Tanznummern vor, um ihren Schülern zu demonstrieren, auf welche Ziele sie hinarbeiten konnten. Was diesen speziellen Schüler anging, hatte Shannon allerdings ihre Zweifel.

Doch Quinn nickte verstehend und sah aus, als hätte er mit einem Mal etwas begriffen. Er kam zu ihr und nahm seine vorherige Position wieder ein. Dieser Kerl konnte seine Tanzpartnerin wahrhaftig halten, und sein Aftershave duftete einfach phantastisch. Es sollte eigentlich ein Vergnügen sein, ihm Unterricht zu erteilen.

Doch seine Blicke verunsicherten sie.

Aber war es nicht der Sinn der Sache, dass ein Schüler sich ansah, was er lernen sollte?

Grundsätzlich ja. Bloß dann nicht, wenn es jemand wie er war, der so stechend blaue Augen hatte. Sie begegnete seinem Blick und musste sich selbst daran erinnern, dass sie eine Tanzlehrerin war – und eine verdammt gute dazu.

„Hören Sie hin, fühlen Sie es, und bewegen Sie Ihre Füße. Denken Sie daran, dass Sie nur ein Quadrat beschreiben.“

Zu ihrer Verwunderung hatte er es in diesem Moment geschafft. Ein Box Step. Ein einfacher Box Step. Es kam ihr wie ein Wunder vor.

„Kopf hochnehmen“, sagte sie leise, als habe sie Angst, ihr Glück herauszufordern. „Sehen Sie nicht auf Ihre Füße, das bringt Sie nur durcheinander.“

Ihre Blicke trafen sich, und er schaffte es, die Schritte dem Rhythmus der Musik entsprechend zu machen. Er lächelte zufrieden, und wieder zeichnete sich in seiner Wange dieses Grübchen ab. Er hielt sie genau richtig. Zwar war er ein Stück weit von ihr entfernt, dennoch spürte sie die heißen Wellen, die durch ihren Körper fuhren, obwohl sie beide sich fast nicht berührten. Das war kein gutes Zeichen.

Tanzlehrer mussten freundlich sein, sie mussten an Körperkontakt gewöhnt sein. Je besser ein Schüler war, umso enger wurde dieser Kontakt. Damit war sie vertraut.

Doch so wie jetzt war es noch nie gewesen.

Auf einmal sehnte sie das Ende der Unterrichtsstunde herbei, aber nicht, weil ihre Füße schmerzten.

Als die Zeit endlich um war, machte er einen ehrlich begeisterten Eindruck. „Wann kann ich wiederkommen?“ fragte er.

„Wann immer Sie Zeit haben.“

„Morgen?“

„Das müssen Sie mit unserer Empfangsdame Ella absprechen.“

Sie befanden sich in der Nähe des kleinen Schreibtisches, der auf einem Podest stand. Ella hatte die beiden reden gehört. „Morgen um zwei Uhr hättest du Zeit für ihn.“

„Ich dachte, ich habe morgen einen Termin im Hotel, um mir die Räume für die Gator Gala anzuschauen“, erwiderte Shannon irritiert. „Und ich bin sicher, dass Dr. Long für seinen normalen Unterricht herkommt.“

„Das Hotel hat das Treffen auf Mittwoch verschoben“, erklärte Ella gutgelaunt. „Du möchtest bitte trotzdem noch zurückrufen. Und Dr. Long ist erst für Viertel nach drei eingetragen.“

„Dann also um zwei“, sagte Shannon.

„Danke, bis morgen.“

Ihr neuer Schüler verließ das Studio, Shannon sah ihm nach.

An der Tür begegnete er Jane, die soeben vom Zahnarzt zurückkam. „Wer zum Teufel war denn das?“ wollte sie wissen, als sie bei Shannon ankam.

„Dougs Bruder.“

„Dougs Bruder? Wow! Jetzt weiß ich, wie Doug in ein paar Jahren aussehen wird. Klar, die Augen … so was! Wer unterrichtet ihn?“

„Ich“, antwortete Shannon.

„Oh. Und? Willst du ihn behalten?“ Sie gab sich Mühe, unbeschwert zu klingen.

Shannon zögerte kurz. „Ja.“

Sam tanzte an ihnen vorbei, um allein einen Wiener Walzer zu üben. „Hey“, rief er Jane zu. „Du hast doch schon den anderen Bruder.“

Jane warf ihm einen stechenden Blick zu. „Oh ja. Und ich habe auch den fiesen alten Mr. Clinton mit seinen achtundneunzig Jahren, der bei jedem Tanzschritt ein bisschen mehr verwest.“ Sie sah Shannon an. „Ich dachte, du nimmst keine neuen Schüler.“

„Tue ich auch nicht. Aber du weißt ja, wie das läuft.“

„Du bist die Managerin“, sagte Jane. „Du musst ihn nicht behalten.“

„Ich weiß. Aber diese fünfundvierzig Minuten kamen mir wie zehn Stunden vor. Dieser Mann ist eine Herausforderung, die ich mir nicht entgehen lassen möchte. Ach“, fügte sie rasch an und deutete zur Eingangstür, „übrigens, dein Oldtimer ist gerade eingetroffen.“

Jane sah zu ihrem weißhaarigen, lächelnden Schüler.

Ben war bereits zu ihm gegangen, um ihn mit Handschlag zu begrüßen. Das war im Studio so üblich: Jeder Angestellte begrüßte die Schüler, wenn er nicht gerade anderweitig beschäftigt war. Alle Schüler wurden gleich freundlich und höflich behandelt, ohne Rücksicht auf Geschlecht, Alter, Hautfarbe oder Können.

Das Studio war praktisch eine Miniaturausgabe der Vereinten Nationen.

Hinzu kam, dass sie sich in South Florida befanden, dem Tor nach Lateinamerika. Das hieß, dass Umarmungen hier an der Tagesordnung waren. Man umarmte sich, wenn man sich begegnete und wenn man sich verabschiedete. Man küsste sich auf die Wangen. Es war freundlich und warmherzig, und für die Menschen, die hier aufgewachsen waren, war es ein ganz normales Verhalten.

Mr. Clinton war eigentlich ein netter Kerl, der von allen immer herzlich begrüßt wurde. Er war weder fies, noch verweste er. Er war nur ein wenig schwerhörig, so dass es manchmal so schien, als würde er andere anbrüllen.

Jane seufzte. „Ja, da ist mein Oldtimer.“

„Vergiss nicht, er bringt dir immer Kaffee mit“, sagte Shannon.

„Ich weiß, er ist ein Goldstück.“

Jane sah sie einen Moment lang an – sagen musste sie nichts, da sie beide wussten, was sie in diesem Augenblick dachte.

Der alte Mann war ein Goldstück, aber er war nun mal kein Quinn O’Casey.

„Du bist der Boss“, sagte Jane und setzte ein Lächeln auf, dann wandte sie sich ab. „Mr. Clinton! Schön, Sie zu sehen. Was sollte es heute noch mal sein? Eine Samba? Fühlen Sie sich dafür auch fit genug?“

„Darauf können Sie wetten, Janie“, versicherte er ihr mit dem breitesten Grinsen. „Ich habe den besten Schrittmacher, den es gibt. Also, legen Sie ruhig los.“

Shannon beobachtete die beiden und musste lächeln. Nein, Mr. Clinton war ganz bestimmt kein Quinn O’Casey. Aber andererseits …

Was wollte Quinn wirklich hier im Studio?

Auf einmal lief ihr ohne erkennbaren Grund eine Gänsehaut über den Rücken.

4. KAPITEL

Quinn fand, dass der Strand am Nachmittag gar nicht so übel war. Es ging recht ruhig zu, während an den Wochenenden regelmäßig die Hölle los war. Dann waren die Straßen, die zum Strand führten, so überlastet, dass es für Stunden weder vor noch zurück ging.

Doch jetzt am Nachmittag …

Obwohl es auf den Herbst zuging, waren die Temperaturen noch hoch, doch die kühlende Brise, die vom Ozean an Land wehte, sorgte dafür, dass es nicht zu warm wurde. Auf dem Weg vom Studio, das zwischen Alton Road und Washington lag, kam er an alten Häusern im Art déco-Stil vorüber, an denen man kaum etwas verändert hatte, so dass sie noch immer viel von ihrem ursprünglichen Charme bewahrt hatten. Auch einige Geschäfte befanden sich zwischen den kleinen Apartmentgebäuden und vereinzelten Einfamilienhäusern, darunter ein Café, das nicht zu einer der großen Ketten gehörte, und ein schöner kleiner Blumenladen. Der Strand selbst war lediglich drei Blocks entfernt, und Quinn fühlte sich versucht, am Boulevard entlangzuspazieren, um die Umgebung kennen zu lernen.

An dem Strandabschnitt, der zur Bucht hin gelegen war, hatten sich die Sonnenhungrigen versammelt. Ein Volleyballspiel war im Gange, und ein Stück weiter war eine Mutter damit beschäftigt, zusammen mit ihren beiden Kindern eine Sandburg zu bauen. Ein junges, tiefgebräuntes Pärchen rieb sich gegenseitig mit Sonnenschutzcreme ein. Quinn musste eingestehen, dass der Strand während der Woche durchaus seinen Reiz hatte. In den Keys fanden sich weit weniger Sandstrände, dafür konnte man dort seine Zeit in völliger Abgeschiedenheit verbringen.

Auf einem Strandstück vor einem eleganten Art déco-Hotel mischte sich unter die Gebräunten und die Schönen auch das „gewöhnlichere“ Volk. Eine beleibte Frau, deren Badeanzug deutlich zu knapp geschnitten war, spazierte neben einem hageren Mann, der in einem Scooter saß. Beide lächelten zufrieden und nickten Quinn zu, als sie an ihm vorbeikamen. Er erwiderte den Gruß dachte bei sich, dass man so glücklich war, wie man sich selbst im Geiste sah – und dieses Paar machte einen rundum glücklichen Eindruck. Wer war er schon, dass er über sie urteilen konnte, ob sie angemessen angezogen waren oder nicht? Er selbst ging in teuren Schuhen, langer Hose und maßgeschneidertem Hemd am Strand entlang.

Etwas den Strand hinunter brach gerade eine Gruppe Jugendlicher auf. Sie packten Handtücher, Liegestühle und Verpflegung zusammen und verabschiedeten sich lautstark. Während er weiterging, beobachtete er, dass sie fast alle den Strand verließen – bis auf eine junge, hochgewachsene Frau, die so schlank war, dass es fast an Magersucht grenzte. Sie hatte langes, dunkelbraunes Haar, und ihre großen Augen nahmen einen traurigen Ausdruck an, als auch der Letzte der Gruppe gegangen war. Quinn dachte darüber nach, zu ihr zu gehen und sie anzusprechen, da sie so völlig einsam wirkte. Aber das hier war South Beach, und sie konnte theoretisch ein Undercover-Cop sein.

Nein, dafür ist sie nicht alt genug, entschied er.

Als er sich ihr näherte, drehte sie sich zu ihm um und sah ihn an. Sie musterte ihn von oben bis unten, schluckte einmal und sprach ihn an: „Hey, Mister, hast ’n Dollar?“

„Bist du von zu Hause weggelaufen?“

Sie errötete ein wenig, erwiderte aber: „Nicht wirklich. Ich bin achtzehn. Ehrlich.“

„Aber du bist weggelaufen.“

„Ich bin ausgezogen. Ich hab’ die High School abgeschlossen, hab’ aber noch keinen Job gefunden. Keinen richtigen Job jedenfalls.“

„Dann lebst du also auf der Straße.“

„Der Strand ist nicht so mies wie die Straße“, gab sie grinsend zurück. „Echt nicht. Wenn man schon obdachlos ist, dann ist das hier genau richtig.“

„Aber du hast ein Zuhause, oder?“

„Bist du ’n Cop oder was?“

„Nein, nur ein besorgter Bürger. Ich möchte nicht dein Foto in der Zeitung sehen, und gleich daneben die Schlagzeile: ,Wer kennt diese Frau? Ihre Leiche wurde am Samstagabend gefunden.‘“

Sie schüttelte nachdrücklich den Kopf. „Ich pass’ schon auf. Also? Hast ’n Dollar oder nicht? ’Ne Moralpredigt brauch’ ich nicht.“

„Nur die Ruhe.“ Er holte seine Brieftasche heraus und hielt einen Fünfer hoch.

Sie kniff die Augen zusammen und kam näher. „Was willst du von mir?“ fragte sie ein wenig verunsichert. „Ich bin nicht irgend so ’ne billige Nutte.“

Quinn schüttelte den Kopf. „Ich will nur von dir hören, dass du dir davon etwas zu essen holst und dass du kein Junkie bist.“

„Hey, siehst du vielleicht an meinen Armen irgendwelche Einstiche?“ Sie trug einen Tanktop zu einer Jeans, von der sie die Beine abgeschnitten hatte. Ihre Worte klangen stolz und überzeugt zugleich.

„Dann kauf’ dir was zu essen. Und hör zu. Wenn du Hilfe brauchst, dann kannst du sie bekommen. Geh zu den Cops, die Jungs hier am Strand sind anständige Typen. Und wenn du das nicht willst, dann kannst du auch zur Wache South Beach gehen. Da arbeitet eine Frau, die Opferanwältin ist. Sie ist wirklich erstklassig. Warte, ich gebe dir ihre Visitenkarte. Falls du mal irgendwelche Schwierigkeiten hast, ruf sie an.“

Einen Moment lang sah es so aus, als würde sie mit dem Fünfer davonrennen, doch dann wartete sie und nahm die Karte entgegen. „Du hast doch gesagt, du bist kein Cop.“

„Bin ich auch nicht.“

„Tja, aber für ’n Strand bist du ziemlich overdressed.“ Dann wurden ihre Augen größer. „Ich möcht wetten, du warst in der Tanzschule dahinten.“

Als er nichts erwiderte, begann sie zu lachen. „Oh Mann, da würd’ ich auch hingehen, wenn ich genug Geld hätte. Gott, ich liebe das Tanzen.“ Wieder wurden ihre Wangen rot, dann wedelte sie mit dem Fünfer herum. „Danke.“

„Pass auf dich auf, okay?“

„Keine Sorge, ich bin härter im Nehmen, als ich ausseh’. Ich weiß, dass man hier schnell Ärger kriegen kann.“

Sie wandte sich ab und lief los, blieb aber nach gut zehn Metern noch einmal stehen und rief ihm zu: „Du bist echt okay, weißt du? Ich heiß’ übrigens Marnie.“ Dann drehte sie sich wieder um, als hätte sie schon zu viel über sich verraten, und rannte in Richtung Straße.

Quinn sah ihr nach und hoffte, dass sie wirklich so hart im Nehmen war, wie sie glaubte.

Miami Beach war immerhin das Tor zu jeder Sünde, die man sich vorstellen konnte.

Er betrachtete den Stand der Sonne am Himmel, und nach einem Blick auf die Uhr stellte er fest, dass es Zeit war, sich auf den Weg zu machen. Er ging zurück zu seinem Wagen, der auf der Alton geparkt war. Aus einem unerfindlichen Grund hatte er nicht näher am Studio parken wollen. Wieder sah er auf die Uhr, überlegte kurz und gelangte zu der Ansicht, dass die Zeit noch reichte, um einen Abstecher zum Gerichtsmediziner zu machen.

Das komplett renovierte und neu benannte Hotel, in dem die Gator Gala stattfinden sollte, hatte angerufen, als Shannon mit ihrer ersten Unterrichtsstunde für Quinn O’Casey beschäftigt gewesen war. Als sie zurückrief, fand sie zu ihrer großen Freude heraus, dass sie sich während der Verhandlungen unnachgiebig genug gegeben hatte – das Hotel war auf die von ihr verlangten Übernachtungspreise eingegangen, die günstig genug waren, um auch viele Teilnehmer aus dem Norden für das Tanzturnier zu interessieren, das für die zweite Februarwoche geplant war.

Trotz der düsteren Wolke, die seit Laras Tod über allem zu hängen schien, war Shannon sehr erfreut. Im Laufe der Woche würden sie die Verträge mit dem Hotel unterschreiben können. Sie eilte ins Hauptbüro, um Gordon davon zu erzählen.

„Wunderbar“, lobte er sie. „Das wird uns eine große Hilfe sein. Wer würde schon darauf verzichten wollen, mitten im Winter nach Miami zu kommen? Vor allem bei so günstigen Preisen. Und wie sieht es mit den Mahlzeiten aus?“

„Das verhandeln wir noch“, antwortete sie.

„Was verhandeln wir noch?“ wollte Ben Trudeau wissen und steckte seinen Kopf durch die Tür.

„Die Mahlzeiten.“

„Ah.“ Ben gehörte zu der Art Männer, die so gut aussahen, dass sie fast schon zu schön waren. Früher einmal war das Shannon nicht so vorgekommen. Früher, da war er für sie wie ein Gott gewesen – groß, geschmeidig, elegant, in der Lage, sich so schnell und energiegeladen zu bewegen wie der Blitz oder so sanft zu sein wie ein leichter Windhauch.

Er war ein unglaublich guter Tänzer und ein außerordentlicher Wettkämpfer. Sein Haar war so pechschwarz wie seine Augen, die Gesichtszüge klassisch zeitlos, makellos. Er war ein hervorragender Techniker und ein brillanter Darsteller. Mehrere Jahre in Folge war er immer mit Lara angetreten, doch dann war ihre Ehe in die Brüche gegangen. Vor etwa fünf Jahren hatten sie sich schließlich scheiden lassen. Seitdem war Lara meist mit Jim Burke zu Wettkämpfen gegangen, während Ben immer wieder wechselnde Partnerinnen hatte. Als Folge davon war er längst nicht so erfolgreich wie Lara.

„Das ist Verschwendung“, sagte er, nachdem er einen Moment lang Shannon angesehen hatte.

„Was?“

„Die ganze Zeit, die du als Managerin zubringst.“

„Hey“, warf Gordon ein.

„Ich finde nur, dass sie an Wettkämpfen teilnehmen sollte.“

Gordon sah zu Shannon und lächelte flüchtig. „Sie kann jederzeit an Wettkämpfen teilnehmen, wenn sie das möchte.“

„Meine Herren, ich bin mir dessen völlig bewusst, aber ich will nicht.“

„Das ist albern, und das weißt du“, ließ Ben nicht ab und strich sich eine Haarsträhne aus der Stirn. „Du bist auch die ganze Zeit bei deinen Schülern, wenn sie im Wettkampf antreten. Wo ist da der Unterschied?“

„Es sind meine Schüler.“

„Die Glücklichen“, meinte Gordon amüsiert. „Du lässt sie gut aussehen.“

„Und ich bin sehr stolz auf sie, wenn sie etwas Gutes leisten. Wieso könnt ihr zwei das nicht verstehen? Nicht jeder ist von ungebändigtem Ehrgeiz gepackt.“ Sie stieß einen Seufzer aus. „Seit ich mir damals den Knöchel gebrochen habe, ist nichts mehr so, wie es war. Ich weiß nicht, wie lange er durchhält. Und wenn ich zu lange übe, habe ich höllische Schmerzen. Er macht nicht mit, wenn ich so viel trainiere, wie ich es müsste, um im Wettkampf wieder eine Chance zu bekommen. Das Schöne an allem ist, dass mir das Unterrichten Spaß macht. Es bereitet mir einfach Freude, mit meinen Schülern zu arbeiten.“

„Anfänger“, sagte Ben mit einer Spur von Verachtung in seiner Stimme.

„Jeder von uns war mal ein Anfänger.“

Ben lachte auf. „Klar. Dann wirst du also deinen neuen Schüler – diesen Riesen – dazu überreden, in der Anfängergruppe bei der Gator Gala mitzumachen? Ist das die Art von Herausforderung, die du suchst?“

„Vielleicht werde ich ihn ja dazu überreden“, erwiderte sie.

„Du benutzt das doch alles nur als Ausflucht, um dir nicht einzugestehen, dass du dich vor der Konkurrenz fürchtest“, meinte Ben.

Bevor sie darauf etwas sagen konnte, summte die Sprechanlage auf Gordons Schreibtisch. „Dr. Long ist hier für seine Tanzstunde bei Shannon“, meldete sich Ellas Stimme aus dem Lautsprecher.

„Bin schon unterwegs.“ Ehe sie das Büro verließ, wandte sie sich ein letztes Mal den beiden Männern zu. „Nur, damit ihr zwei das endlich begreift: Ich bin zufrieden mit dem, was ich mache. Jane und Rhianna sind jung, hübsch und talentiert. Wir sollten sie unterstützen.“ Sie warf jedem von ihnen einen eindringlichen Blick zu.

Da keiner von ihnen etwas dazu sagen wollte, verließ Shannon das Büro, doch Ben folgte ihr und packte sie an der Schulter, sobald sie im Flur waren.

„Wir waren einmal richtig gut, und das weißt du“, sagte er.

„Ja, mit Betonung auf ,waren‘.“

„Du hast wirklich Angst. Vielleicht ja sogar vor mir.“

„Ben, glaub mir, ich habe vor dir keine Angst.“

„Zusammen könnten wir wieder gut sein“, flüsterte er heiser in ihr Ohr.

„Nicht mehr in diesem Leben, Ben“, erwiderte sie lächelnd, dann entzog sie sich seinem Griff um ihre Schulter. „Wenn du mich jetzt entschuldigen würdest – mein Schüler wartet auf mich.“

„Es ist viel Zeit verstrichen, Shannon, sehr viel Zeit.“

„Mein Schüler wartet.“

„Du musst nicht uns beide mit deiner Verbitterung verletzen. Du könntest mir verzeihen.“

„Das habe ich schon vor langer Zeit gemacht, Ben.“

„Dann zier dich nicht so.“

„Willst du nur mit mir tanzen, oder willst du dich wieder an mich ranmachen?“

„Vielleicht beides?“ Er lachte auf diese vertraute, charmante Weise, doch es zog sie längst nicht mehr so an wie damals.

„Es tut mir Leid. Ich weiß, du wirst das kaum glauben wollen, aber ich bin weder hasserfüllt noch verbittert, und ich ziere mich auch nicht. Ich bin nur einfach nicht interessiert.“

„Das wirst du noch bereuen“, entgegnete er spöttisch.

Sie hielt inne und sah ihn an. „Ben, du hast doch eine neue Partnerin. Wie heißt sie noch gleich? Vera Thompson!“

Er schüttelte den Kopf. „Sie ist ganz gut, aber nicht das Kaliber, das ich benötige.“

„Hast du ihr das auch gesagt?“ wollte Shannon wissen.

„Natürlich nicht. Noch nicht.“

„Und warum nicht?“

„Weil du noch nicht wieder eingewilligt hast, mit mir zu tanzen.“

„Ben“, gab sie kopfschüttelnd zurück. „Wenn ich je wieder professionell tanzen würde, dann sicher nicht mit dir.“

„Wieso nicht?“

Sie hätte ihm sagen können, die Gründe dafür seien doch offensichtlich. Aber andererseits war für Ben nichts so offensichtlich, wie man glauben sollte.

Also reagierte sie mit einem Schulterzucken und einer Bemerkung, die ihr unwillkürlich über die Lippen kam: „Du bist nicht das Kaliber, das ich benötige.“ Dann wandte sie sich ab und beeilte sich, zu Richard zu kommen, der bereits auf sie wartete.

Quinn kannte den Polizeibericht, da Doug ihm eine Kopie gegeben hatte. Und er kannte den Bericht des Gerichtsmediziners, der sich als Glücksfall erwies. Dem Polizeichef unterstanden insgesamt acht Gerichtsmediziner, doch es war ausgerechnet Anthony Duarte, der die Autopsie an Lara Trudeau vorgenommen hatte.

Er hatte auch die Autopsie an Nell Durken durchgeführt.

Dixon war im Morddezernat vielleicht wirklich keine große Leuchte, aber Duarte war ein Spitzenmann mit einer angeborenen Neugier, die ihn selbst bei einer noch so offensichtlichen Todesursache übergründlich arbeiten ließ.

Am Empfang zeigte Quinn seinen Ausweis, obwohl er die Dame kannte, die dort saß. Die winkte kurz ab und rief sofort Duarte an.

Es war zwar bereits kurz vor fünf, trotzdem kam Duarte Augenblicke später mit einem Lächeln auf den Lippen den langen Korridor entlang. „Hey, ich dachte, du machst Urlaub.“

„Stimmt, das war der Plan.“

„Und was machst du dann hier?“

„Im Moment? Im Moment freue ich mich darüber, dich zu sehen.“

„Hm, die wenigsten Menschen freuen sich, wenn sie mich sehen. Zumindest, solange ich bei der Arbeit bin“, gab Duarte ironisch zurück.

„Dann lass es mich anders formulieren. Da ich so oder so mit einem Gerichtsmediziner sprechen muss, bin ich froh, dass ich dich erwische. Du hast doch die Autopsie an Lara Trudeau vorgenommen.“

Duarte, ein großer, schlanker Mann, der seinen Rücken stets so gerade hielt, als hätte er einen Stock verschluckt, zog erstaunt die Augenbrauen hoch. „Du interessierst dich für Lara Trudeau?“

„Wie ich sehe, überrascht dich das.“

„Eigentlich überrascht mich längst nichts mehr. Dafür mache ich den Job schon viel zu lange. Ich bin zu dem Schluss gekommen, dass es ein Unfalltod war, weil ich beim besten Willen keine andere Ursache erkennen konnte. Wegen der Todesumstände ist Dixon noch mit dem Fall befasst. Allerdings glaube ich, dass es sich bloß noch um ein wenig Papierkram handelt.“

„Wegen der Umstände? Wie meinst du das?“

„Na ja, eine gesunde Frau schluckt zu viele Beruhigungstabletten, kippt ein paar Gläser und fällt tot um. Das passiert nicht jeden Tag, nicht mal in Miami“, sagte er müde und in seinen Worten schwang eine gehörige Portion Ironie mit. „Aber um ehrlich zu sein, es sterben mehr Leute an Medikamentenmissbrauch, als man meinen sollte.“

„Tatsächlich?“

„Ja, die Leute nehmen zu viel durcheinander. Und dann denken sie: ,Hey, wenn eine Schlaftablette wirkt, dann kann ich doch auch ein paar mehr nehmen, damit ich mal so richtig gut durchschlafen kann.‘ Wer weiß schon, was Lara Trudeau gedacht hat? Vielleicht hielt sie sich für unsterblich.“

„Mich wundert nur, dass sich das nicht aufs Tanzen ausgewirkt hat.“

„Ja. Sie muss einen eisernen Willen gehabt haben.“

„Sie brach vor dem Publikum tot zusammen.“

„Und von der laufenden Kamera ganz zu schweigen. Aber niemand hat irgendetwas Verdächtiges gesehen.“

„Es gab keinen Hinweis auf …?“ begann Quinn, stockte aber, weil er keine Ahnung hatte, worauf es keinen Hinweis geben sollte.

„Auf Fremdverschulden? Du meinst, ob sie jemand gezwungen hat, die Tabletten zu schlucken? Für so etwas konnte ich keine Anzeichen entdecken. Die Polizei hat das Tablettenfläschchen nach Fingerabdrücken untersucht, aber nichts gefunden.“

„Gar nichts?“ fragte Quinn verwundert. „Nicht mal Laras Abdrücke?“

„Bei ihrem Auftritt trug sie Handschuhe.“

„Und deshalb sind alle Abdrücke vom Glas gewischt?“

„Nun, wenn sie nervös war, könnte es sein, dass sie das Tablettenfläschchen in der Hand gehalten und gedreht hat. Das wäre eine Erklärung.“

„Trotzdem …“

Duarte zuckte mit den Schultern. „Ich vermute, das ist einer der Gründe, weshalb die Polizei sich noch ein wenig mit dem Fall befasst. Sie war berühmt und offenbar nicht ganz so beliebt. Es könnte also einige Leute geben, die ihren Tod gewollt haben. Das Problem ist nur, es gibt nicht den geringsten Hinweis. Sie ist vor Hunderten von Menschen lächelnd auf die Bühne gegangen. Mit niemandem hatte sie unmittelbar vorher Streit gehabt … aber du hast ja bestimmt den Bericht gelesen.“ Er sah Quinn an. „Sie ist noch hier. Falls du sie sehen willst …“

„Ich dachte, du hättest den Leichnam freigegeben.“

„Habe ich auch. Aber das Bestattungsinstitut holt sie erst irgendwann heute Abend ab. Komm mit, ich lasse sie für dich rausholen.“

Sie gingen durch Korridore, in denen der Tod fast greifbar schien. Als sie in einem kleinen Raum angelangt waren, sagte Duarte einem Assistenten Bescheid. Das Zimmer, in dem er mit Quinn wartete, verfügte über eine Kamera, so dass Angehörige vom Foyer aus auch dann einen Blick auf einen Verstorbenen werfen konnten, wenn sie die unmittelbare Nähe nicht ertrugen.

Der Assistent schob eine Bahre herein, Duarte schlug das weiße Laken zurück.

Lara Trudeau war eine schöne Frau gewesen. Selbst im Tod strahlte sie eine sonderbare Eleganz aus. Sie wirkte so, als würde sie schlafen – jedenfalls bis zu dem Moment, als Quinns Blick auf die Autopsienarbe fiel.

Er ging um die Trage herum, aber von dem Y-förmigen Schnitt auf ihrer Brust abgesehen war keinerlei Verletzung zu erkennen. Sie hatte sich nicht einmal einen blauen Fleck zugezogen, als sie tot zu Boden gesunken war.

„Außer dem verschriebenen Medikament und dem Alkohol konnte ich nichts finden. Sie hatte kaum etwas gegessen, was ihr Herz natürlich noch mehr belastete. Genau das hat auch ihren Tod ausgelöst – die Wirkung von Medikamenten und Alkohol auf ihr Herz.“

„So wie bei Nell.“

Duarte sah ihn verwundert an. „Nicht genauso. Nell hatte keinen Alkohol getrunken. Wie kommst du darauf?“

„Ich weiß nicht.“

„Bist du an der Sache dran, weil es einen Zusammenhang gibt?“

„Kann sein. Ich habe herausgefunden, dass Nell Durken in genau dem Studio Tanzunterricht nahm, in dem auch Lara Trudeau des Öfteren anzutreffen war.“

„Aber die Polizei hat doch Nells Ehemann festgenommen. Seine Fingerabdrücke waren schließlich auf dem Tablettenfläschchen. Du selbst hast den Mann beschattet und der Polizei deine Unterlagen überreicht, oder nicht?“

„Ja, schon.“

„Art Durken sitzt seit über einer Woche in der Zelle und wartet auf sein Verfahren. Er kann den Tanzwettbewerb nicht besucht haben.“

„Ich weiß.“

„Aber?“

„Keine Ahnung. Da ist … irgendetwas. Mehr kann ich nicht sagen.“

„Bestreitet Durken noch immer den Mord an seiner Frau?“

„Ja.“ Quinn sah Duarte lange an. „Er gibt zu, dass er immer wieder fremdgegangen ist. Aber er schwört, er habe sie nicht umgebracht.“

„Hältst du etwa irgendeinen der Tänzer für den Mörder?“ Duarte schüttelte den Kopf. „Quinn, die Umstände waren zwar ungewöhnlich genug, um eine polizeiliche Ermittlung in die Wege zu leiten, aber du musst dir die Fakten vor Augen halten. Lara Trudeau hatte während des Wettkampfs mit niemandem Streit, und als sie die Tanzfläche betrat, war sie die Ruhe selbst. Als sie zu Boden fiel, geschah das vor unzähligen Augenzeugen. Die Medikamente, die sie nahm, wurden ihr von einem Arzt verschrieben, bei dem sie über zehn Jahre lang in Behandlung gewesen war. Und soweit ich weiß, hat der Mann noch nie einen Tanzsaal betreten.“

„Ja, das weiß ich alles aus dem Polizeibericht. Ich werde auch Dr. Williams einen Besuch abstatten, obwohl er bereits befragt wurde und sich kein Fehlverhalten feststellen lässt.“

Duarte verzog den Mund. „Wenn die Polizei jeden Arzt belangen würde, nur weil seine Patienten ihre Medikamente falsch einnehmen, dann wären die Gefängnisse noch voller, als sie es jetzt schon sind. Das ist ein komplizierter Fall, Quinn. Ich wüsste nicht, wo du ansetzen könntest. Es gibt einfach keine forensischen Indizien, die in irgendeine Richtung weisen. Wenn es ein Verbrechen war, dann grenzt es an ein perfektes.“

„Es gibt kein perfektes Verbrechen.“

„Und trotzdem wird nicht jedes Verbrechen auch bestraft.“

„Stimmt. Und diesmal muss ich dir zustimmen, dass es keinen brauchbaren Ansatzpunkt gibt. Es sei denn, ich finde jemanden, der etwas weiß.“

„Ich wünschte, ich könnte dir da helfen“, sagte Duarte.

Quinn nickte. „Nell Durken hatte in den letzten sechs Monaten vor ihrem Tod keine Tanzstunde mehr genommen. Bei ihr war doch nichts weiter aufgefallen, richtig? Auch keine illegalen Drogen … Gras, Speed oder so?“

„Tut mir Leid, nein. Keine der beiden Frauen hatte irgendwelche zusätzlichen Substanzen im Körper. Lediglich eine hohe Überdosis an verschriebenen Medikamenten – und in Trudeaus Fall zusätzlich Alkohol.“

„Okay, danke“, erwiderte Quinn. „Ich wollte dir nicht deine Zeit stehlen.“

Duarte lächelte ihn an. „Das machst du nie. Ich glaube an die Dinge, die man liest und im Fernsehen sieht. Die Toten können nicht mehr reden, darum müssen wir das für sie machen. Aber manchmal übersetzen wir das, was sie uns sagen wollen, nicht so gut, wie es uns lieb wäre. Wenn ich irgendetwas übersehen oder vergessen habe, nach etwas Ausschau zu halten, dann will ich das wissen.“

„Ja. Nochmals danke.“

„Kehrst du heute noch in die Keys zurück?“ wollte Duarte wissen.

„Nein, mein Boot liegt oben im Hafen bei Nick’s. Ich bin noch eine Weile hier.“

„Vielleicht komme ich später noch bei dir vorbei. Ich sterbe vor Hunger. Es war ein verdammt langer Tag, aber wenn ich so in die Arbeit vertieft bin, vergesse ich manchmal das Essen. Mein Magen knurrt schon seit Stunden, wenn ich drüber nachdenke … Für einen Hamburger würde ich töten.“

Quinn nickte, auch wenn er selbst im Moment nicht den geringsten Hunger verspürte. Er hatte schon einer Reihe von Autopsien beigewohnt, aber nie war ihm übel geworden, noch war er ohnmächtig umgekippt. Doch es war ihm nie gelungen, dieses flaue Gefühl in den Griff zu bekommen, wenn er vor einem Toten stand. Daran konnte auch jahrelange Erfahrung nichts ändern. Duarte dagegen war in der Lage, genussvoll zu essen, während er Leichen sezierte.

„Also, wie sieht’s aus? Hast du nachher Zeit?“ fragte der Gerichtsmediziner.

„Klar“, erwiderte Quinn. So wie er Duarte kannte, stand ,nachher‘ für ,viel später‘.

Lara wurde von dem Assistenten wieder zugedeckt und weggebracht, während die beiden Männer den Raum verließen.

Die Fahrt zum Polizeirevier in der Kendall hätte sich Quinn auch sparen können. Wie er bereits vermutet hatte, hatte sich Detective Pete Dixon um Punkt fünf Uhr in den Feierabend verabschiedet und ging Überstunden konsequent aus dem Weg.

Er grüßte im Vorbeigehen einige alte Bekannte, dann verließ er das Gebäude. Auf dem Parkplatz begegnete er Jake Dilessio, mit dem er zusammengearbeitet hatte, ehe er nach Quantico gegangen war. Er wünschte, Dilessio wäre auf den Trudeau-Fall angesetzt worden, dann würde er jetzt keine Tanzstunden nehmen müssen.

„Hey, Fremder, lange nicht mehr gesehen“, begrüßte Dilessio ihn. „Scheint so, als würden uns nur ein paar Meter trennen. Du hast im Hafen bei Nick’s festgemacht, nicht wahr? Ich dachte, du bist in Richtung Bahamas unterwegs.“

„War ich auch“, gab Quinn zurück. „Ich ermittle in der Sache Trudeau.“

„Trudeau?“ wiederholte Dilessio. „Kommt mir bekannt vor.“

„Die Tänzerin, die auf der Tanzfläche starb.“

„Ich dachte, das war ein Unfall. Soweit ich weiß, will Dixon den Fall zu den Akten legen.“

„Es soll ein Unfall gewesen sein.“

„Aber jemand glaubt, es steckt mehr dahinter?“

„Ja, etwas in der Richtung.“

„Und für wen arbeitest du?“

„,Arbeiten‘ würde bedeuten, dass ich dafür bezahlt werde.“

„Ja, da hast du allerdings Recht“, Jake grinste breit. „Übrigens: Hier auf dem Revier hat dein Bruder seinen Spitznamen schon weg. Aber da schwingt bestimmt einiger Neid mit, denn nach allem, was ich weiß, ist der Kleine verdammt gut.“

„Keine Ahnung. Ich habe ihn noch nie tanzen sehen.“

„Nicht?“

„Bevor er mit diesem Fall zu mir kam, wusste ich nicht mal, dass er überhaupt tanzen kann.“

Jake nickte beiläufig. „Ich habe ihn vor kurzem noch gesehen. Er sagte, du würdest in Arbeit untergehen. Ach, meinen Glückwunsch! Ich hörte, dass deine Überwachungsarbeit den Jungs alle nötigen Anhaltspunkte geliefert hat, um Art Durken festzunehmen und anzuklagen. Gute Arbeit.“

„Die hätte besser sein können. Wäre ich wirklich gut gewesen, dann würde Nell heute noch leben.“

„Quinn, wie lange bist du in dieser Branche? Du darfst dir für so etwas nicht die Schuld geben!“

„Ich weiß. Aber ich kann das auch nicht einfach so abschütteln …“

„Das glaube ich dir“, stimmte Jake ihm zu. „Aber es ist immer noch besser, als wenn ein Mörder ungestraft davonkommt.“

„Schätze, da hast du Recht. Im Übrigen hatte die tote Tänzerin mit dem Studio zu tun, in das Doug geht. Ich gehe der Sache auf eigene Faust nach.“

„Dixon ist dafür bekannt, dass er abends ins Nick’s geht. Keine Frau, keine Kinder – keine Küche. Er isst da fast jeden Abend einen Hamburger. Ich mache jetzt Feierabend. Wenn du nichts vorhast, lade ich dich zum Essen ein.“

„Wenn du mich zum Essen einlädst, dann habe ich wohl besser etwas vor. Ich will dich schließlich nicht ausnehmen. Aber wenn wir zu Nick’s gehen, kommt es dich wenigstens nicht so teuer. Was ist mit deiner Frau? Kommt sie auch? Ich sah sie, als ich im Hafen anlegte. Das Baby müsste doch jeden Tag kommen.“

„Sie hat noch drei Wochen. Aber sie ist im Moment in Jacksonville, weil sie sie dort für Phantomzeichnungen benötigen.“

„Ich dachte, sie hat die Forensik hinter sich gelassen und den Abschluss an der Akademie gemacht.“

„Oh, den Abschluss hat sie gemacht, aber sie ist in der Forensik geblieben. Sie ist die beste Phantombildzeichnerin im ganzen Bundesstaat, vielleicht sogar im ganzen Land. Man bat sie, nach Jacksonville zu kommen, und sie hat sich sofort auf den Weg gemacht.“

„Du weißt ja, was dabei herauskommt, wenn man einen Cop heiratet“, sagte Quinn amüsiert.

„Ja, das weiß ich“, seufzte er.

Um kurz vor sechs trafen sie bei Nick’s ein.

Es war die ideale Tageszeit, um sich am Hafen aufzuhalten. Der Abend rückte immer schneller vor, doch der Himmel über dem Ozean war in einen grandiosen Farbenrausch getaucht. Rot, Orange und Spuren von Gold vermischten sich über dem dunklen Wasser. Die abendliche Brise war angenehm kühl und stellte nach der Hitze des Tages eine Wohltat dar.

Wie Jake vermutet hatte, saß Pete Dixon im Nick’s und aß offenbar bereits seinen zweiten Cheeseburger, da auf dem Tisch vor ihm bereits ein leerer Teller stand.

Quinn zog ohne Dixon zu fragen einen Stuhl an dessen Tisch zurück, drehte ihn um und setzte sich entgegengesetzt darauf. „Mein Gott, Pete! Du könntest auch einmal die Woche deinen Cholesterinspiegel schonen und stattdessen einen Salat essen“, sagte er.

Dixon wischte sich den Mund ab und sah Quinn an, als hätte er einen Barrakuda vor sich. Dann wanderten seine Augen, die in seinem faltigen Gesicht fast winzig wirkten, weiter zu Jake Dilessio und sahen ihn vorwurfsvoll an. „Nehmt doch ruhig Platz, ihr zwei. Setzt euch zu mir, und wenn ihr schon dabei seid, dann könnt ihr euch auch ruhig über meine Essgewohnheiten auslassen.“

„Danke“, meinte Jake und setzte sich ebenfalls an den Tisch.

„Du stehst so dicht vor deiner Pensionierung. Meinst du nicht, dass du von deinem Ruhestand wenigstens ein paar Jahre lang etwas haben solltest?“ fragte Quinn.

„Du redest wie ein Vegetarier“, murmelte Pete.

Quinn grinste ihn an. „Keineswegs. Ich glaube, ich nehme auch einen Cheeseburger. Aber nur einen.“

„Du hast ihn mitgeschleppt“, sagte Pete zu Jake. „Pass auf, dass sein Essen auf deine Rechnung geht.“

„Sogar dein Essen geht auf meine Rechnung“, erwiderte Jake. „Quinn würde dir gern ein paar Fragen stellen.“

Pete stöhnte so laut auf, dass sein dicker Bauch bebte. „Verdammt, ich habe Feierabend. Musstest du unbedingt einen Privatdetektiv mitbringen, damit der mich hier belästigt?“

„Mein Boot liegt gleich da vorn“, protestierte Quinn. „Das Lokal hier ist für mich am nächsten gelegen.“

„Und was willst du?“ fragte Pete unvermittelt. Bevor Quinn ihm aber antworten konnte, sah er wieder Jake an. „Du bezahlst wirklich meine Rechnung? Dann kannst du mir noch ein Bier bestellen.“

„Geht klar“, erwiderte Jake und zog ein Gesicht in Quinns Richtung. Er sah sich um und entdeckte am Nebentisch eine der Kellnerinnen. „Debbie, wenn du kurz Zeit hast …“

Die junge Frau drehte sich und hob den Notizblock. „Noch ein Cheeseburger für Pete?“

„Sehr witzig“, murmelte der.

„Nein, aber für Quinn und mich je einen, dazu drei Millers“, sagte Jake.

„Kommt sofort.“ Debbie war jung und gut gelaunt, sie war braun gebrannt und trug knappe weiße Shorts. Pete sah ihr nach, als sie Richtung Küche ging.

„Pete, hier spielt die Musik. Wie läuft der Fall Lara Trudeau?“

Dixon runzelte die Stirn. „Trudeau? Seid ihr deshalb hier?“

„Ja, wieso fragst du?“

„Weil ich den Fall heute abgeschlossen habe.“

„Jetzt schon? Wieso?“ warf Quinn ein.

„Weil der Fall kein Fall war. Wenn du dir ansehen willst, was passiert ist, komm, wann immer du willst, vorbei, und ich zeige dir das Band. Sie geht freudestrahlend auf die Tanzfläche, im nächsten Moment fällt sie um. Ein Arzt aus dem Publikum versucht, sie wiederzubeleben. Der Krankenwagen trifft ein, die Sanitäter versuchen ebenfalls ihr Glück. Sie wird ins Krankenhaus gebracht, aber noch auf dem Weg dorthin wird sie für tot erklärt. Der Gerichtsmediziner stellt fest, dass sie Tabletten und Alkohol geschluckt hatte. Das hat wohl ihr Herz nicht mitgemacht. Den Drink hat sie selbst an der Bar bestellt, dafür gibt es ein Dutzend Zeugen. Und die Tabletten wurden ihr von einem Arzt verschrieben, der sich noch nie etwas hat zuschulden kommen lassen. Fingerabdrücke gab es keine, weil die Lady Handschuhe trug. Wir haben die Kellner befragt, die Preisrichter, die Tänzer, das Publikum. Dutzende von Menschen haben sich mit ihr unterhalten. Niemand hat sie mit jemandem streiten sehen. Darum habe ich den Fall abgeschlossen – weil es keinen verdammten Fall gibt. Die Frau ist gestorben. Punkt.“

Debbie brachte ihnen das Bier, stellte die Gläser auf dem Tisch ab, dann war sie auch schon wieder weg. Bei Nick’s ging es lässig zu, aber allmählich füllte sich das Lokal, und es schien so, als müsse sich Debbie um den gesamten Bereich des Patios allein kümmern.

„Du findest also nicht, dass an ihrem Tod irgendetwas merkwürdig war?“ wollte Quinn wissen.

„Merkwürdig? Du solltest meine anderen Fälle sehen. Merkwürdig ist, dass ein Mann sein Kind, seine Frau und dann sich selbst erschießt. Merkwürdig ist, dass aus heiterem Himmel ein Schuss die Ruhe in North Miami zerreißt und ein Kind tot zu Boden fällt. Aber was diese Trudeau-Sache angeht, da gibt es nichts Merkwürdiges. Außer du findest es merkwürdig, dass es nichts Merkwürdiges gibt. Na und? Es ist nicht verboten, dass etwas merkwürdig ist.“

„Wenn ich das richtig verstanden habe“, fuhr Quinn ruhig fort, „dann gab es einige Leute, die Lara Trudeau hassten.“

Pete Dixon sah ihn lange an, dann nahm er einen Schluck aus seiner Flasche. „Vielleicht gibt es auch Leute, die dich hassen, Quinn. Wir sind hier in Amerika. Da ist so etwas erlaubt.“

„Ich bin aber nicht tot“, hielt er dagegen.

„Wir bei der Polizei befinden uns in einer anderen Situation als du. Dir gibt jemand einen Auftrag und bezahlt dich dafür, dass du dich mit ,merkwürdigen‘ Dingen beschäftigst. Ich habe genug mit den Fällen zu tun, bei denen es sich ganz sicher um Morde handelt. Wenn du etwas ,Merkwürdigem‘ nachjagen willst, bitte. Ich habe keine Zeit dafür.“

„Hey, wir stehen alle auf der gleichen Seite“, versuchte Jake ihn zu beschwichtigen. „Wir kämpfen alle gegen das Verbrechen, nicht wahr?“

„Ja, genau. Und unser großer Mr. Quinn kommt geradewegs vom FBI. Wie war’s da eigentlich, Quinn? Wieso hast du den Job hingeschmissen? Denkst du vielleicht, wenn du beim FBI warst, kannst du zurückkommen, weil du besser als jeder andere bist?“

Quinn war nicht davon ausgegangen, dass Dixon ihm eine große Hilfe sein würde, doch mit einer so unverhohlenen Feindseligkeit hatte er nicht gerechnet. Er bemerkte, wie sein Griff um die Bierflasche fester wurde und er sich zwingen musste, sein Temperament zu zügeln.

„Du hast völlig Recht, Pete. Du musst viele Fälle bearbeiten, während ich mich im Moment nur um einen kümmern muss. Falls du irgendetwas weißt, was mir weiterhelfen könnte, wäre ich dir dankbar, wenn du es mir sagen würdest.“

Vielleicht hätte er doch mehr auf den FBI-Psychologen hören sollen – die Sache mit der Selbstbeherrschung schien zu funktionieren. Zu seinem großen Erstaunen wurde Pete rot.

„Ja, sicher“, murmelte er kleinlaut und nahm noch einen Schluck Bier. „Verdammt, die ganze Angelegenheit war merkwürdig, da hast du Recht. Ich weiß noch immer nicht, wie sie das ganze Zeugs schlucken konnte und dann noch so unglaublich tanzte, bis sie einfach zusammenbrach. Sie kann davon eigentlich überhaupt nichts richtig wahrgenommen haben. Weißt du was? Komm vorbei, dann gebe ich dir eine Kopie von dem Band. Vielleicht siehst du ja was. Ich habe es mir bestimmt ein Dutzend Mal angesehen, aber nichts entdecken können. Ich muss jetzt übrigens los. Mein Neffe spielt bei irgendeiner dämlichen Schulaufführung Saxophon. Das soll ich nicht verpassen.“ Er stand auf. „Danke fürs Essen, Dilessio.“

„Gern geschehen“, gab Jake zurück.

„Du weißt ja, dass er hier Rabatt bekommt?“ sagte Pete an Quinn gewandt. „Schließlich hat er die Nichte des Besitzers geheiratet. Wann kommt das Kind, Dilessio?“

„Bald.“

„Ich hoffe, es wird ein Junge.“

„Ach ja? Wieso?“ fragte Jake.

„Weil Frauen immer nur Ärger machen. Vom ersten Augenblick an.“

Sie sahen ihm beide nach, wie er zum Parkplatz ging, dann musste Jake lachen. „Quinn, du hast schwer an dir gearbeitet.“

„Tatsächlich?“

„Einen Moment lang dachte ich, du würdest ihn zusammenschlagen.“

Quinn zuckte mit den Schultern. „Psychologie-Grundkurs“, sagte er lässig, hatte aber das Gefühl, dass Jake ihn durchschaut hatte. „Weißt du, ich denke, er glaubt auch, dass mehr dahinter steckt. Aber er hat das gleiche Problem wie alle anderen auch.“

„Und das wäre?“

„Er versucht zu erkennen, inwieweit das ,Merkwürdige‘ etwas Illegalem und damit einem Mord entspricht.“

„Na ja, wenn du Hilfe brauchst, ich bin für dich da“, sagte Jake.

„Wieso? Hast du etwa zu wenig zu tun?“

Jake schüttelte den Kopf und knibbelte am Etikett seiner Bierflasche. „Nein, aber Mord ist Mord. Ob er nun offensichtlich ist oder nicht. Wenn du auf irgendetwas stößt, dann werde ich für dich nachfragen.“

„Gut, danke.“

„Wir spielen heute Abend bei Nick zu Hause Poker. Wenn du willst, kannst du hinkommen.“

„Ich glaube, ich gehe heute Abend lieber in einen Club.“

„Lass mich raten. Ins Suede?“

„Genau. Willst du das Pokerspiel absagen und mitkommen?“

Jake schüttelte den Kopf. „Man könnte mich wiedererkennen.“

„Wieso das?“

„Ich war da, als ganz in der Nähe eine tote Nutte gefunden wurde.“

„Wurde der Fall aufgeklärt?“

„Nein.“ Jake sah ihn an. „Die Kleine wies kaum Einstichstellen auf, aber sie hatte es geschafft, sich eine Überdosis zu spritzen.“

„Mord oder kein Mord?“

„Ich habe den Fall noch nicht abgeschlossen“, erwiderte Jake. „Gefunden habe ich noch nichts, aber ich habe ihn auch noch nicht als ungeklärt abgelegt. Manchmal sind Drogenfälle die einfachsten, weil die Jungs vom Drogendezernat die Junkies kennen. In diesem Fall jedoch nicht. Sie haben in allen einschlägigen Clubs nachgefragt, aber nichts herausfinden können. Sie hieß Sally Grant und sprach ihre Freier auf der Straße an. Keine Stammkunden, so wie es aussieht. Zeugen gab es keine, es fand sich niemand, der sie in den Tagen zuvor gesehen hatte. Einfach ein totes Mädchen mit einer Nadel im Arm.“

„Fingerabdrücke?“ fragte Quinn.

„Nur ihre eigenen, aber das lässt sich arrangieren.“

„Verdammt viele Tote mit einer Überdosis, muss ich sagen“, merkte Quinn an.

„Jeder Gerichtsmediziner wird dir bestätigen, dass Tag für Tag Dutzende von der Sorte auf den Obduktionstischen landen. Legale Substanzen genauso wie illegale. Aber merkwürdig ist das Ganze schon. Zwei tote Tänzerinnen durch eine Überdosis Xanax, eine tote Nutte durch zu viel Heroin. Es kann eigentlich keine Verbindung geben, aber vielleicht gibt es die ja doch. Könnte doch sein, dass Tanzen der Gesundheit schadet.“

„Die Prostituierte hat auch getanzt?“

„Nicht, dass ich wüsste. Sie wurde bloß in der Nähe des Studios aufgefunden, aber das muss nichts bedeuten.“

„Wurden die Mitarbeiter des Studios dazu befragt, ob die junge Frau mal da war?“

„Ja, aber keiner von den Lehrern hat je mit ihr zu tun gehabt.“

„Okay. Danke fürs Essen, Jake.“

„Halt mich auf dem Laufenden.“

„Werde ich machen.“

Quinn verließ das Lokal und ging zu seinem Boot, um sich umzuziehen. Es war eine Ewigkeit her, dass er das letzte Mal einen Strandclub besucht hatte.

Was sollte er dafür bloß anziehen? Was trug man heutzutage in einem Club?

5. KAPITEL

„Ist es Ihre Absicht, dass ich neben Ihnen glänze?“

„Wie bitte?“ erwiderte Shannon.

Sie war heute wirklich nicht bei der Sache. Erst diese eigenartige Unterrichtsstunde mit Quinn O’Casey, vor der sie am liebsten schreiend die Flucht ergriffen hätte, wenn ihre Geduld nicht stärker gewesen wäre.

Und jetzt Richard.

Wenn sie mit Richard tanzte, wollte sie allerdings nicht schreiend davonlaufen. Er war gut, sehr gut sogar. Von Beruf war er Arzt, und er hatte gemerkt, dass Tanzen für ihn ein idealer Ausgleich zu seiner Arbeit war. Zwar arbeitete er nicht als Neurochirurg, aber aus Sicht seiner Patienten war das, was er machte, sogar noch viel anspruchsvoller, wie er einmal im Scherz erklärt hatte – er war Schönheitschirurg. Ihm vertrauten Menschen ihr Aussehen an – das Wichtigste auf der Welt für sie. Er „reparierte“ die Alten und die Jungen, die Berühmten und die Reichen. Sein Name tauchte quer durch die Zeitschriftenlandschaft in allen Klatschspalten auf, und ein Magazin hatte ihm sogar den Titel „König des Botox“ verliehen.

Wie alt er war, wusste Shannon nicht, tippte aber auf Anfang vierzig. Er war körperlich in bester Verfassung, und wenn er nicht operierte oder tanzte, dann verbrachte er seine Zeit gern auf dem Golfplatz. Seine Bräune war das ganze Jahr über immer gleich intensiv und betonte sein volles, fast platinblondes Haar und die grauen Augen. Richard war mit einer Kinderärztin verheiratet, die gelegentlich auch mitkam, aber keine so begeisterte Tänzerin wie ihr Mann war. Sie ging lieber tauchen und verbrachte ihre Freizeit am liebsten auf einem Boot. Es schien so, als würden sie die perfekte Beziehung führen. Wenn sie zusammen sein konnten, dann waren sie es auch. Wenn einer von beiden etwas machen wollte, was dem anderen nicht zusagte, gingen sie eben getrennte Wege. Mina Long war zierlich und genauso durchtrainiert, gebräunt und platinblond wie ihr Mann. Nur ihre braunen Augen unterschieden sie von Richard. Shannon sagte sich insgeheim amüsiert, sie müssten sich wohl in den vielen Jahren ihrer Ehe immer ähnlicher geworden sein.

Er war sehr umgänglich, und es machte Shannon Spaß, ihn zu unterrichten. Seit dem letzten Jahr, als er zum ersten Mal ins Studio gekommen war, hatte Richard bemerkenswerte Fortschritte gemacht. Allerdings konnte er sich auch den Einzelunterricht leisten, während die Schüler, die über ein bescheideneres Einkommen verfügten, sich mit ein oder zwei Stunden in der Woche begnügen und stattdessen den Gruppenunterricht besuchen mussten.

„Erde an Shannon, hallo.“

„Oh, Entschuldigung. Sie brauchen niemanden, der Sie glänzen lässt, Richard, dafür sind Sie viel zu gut. Sie sind sogar so gut, dass ich mit meinen Gedanken ganz woanders war und gar nicht mehr daran gedacht habe, Ihnen Unterricht zu erteilen. So was sollte einem Lehrer nicht passieren.“

Er lächelte sie an. „Laras Tod macht Ihnen noch immer zu schaffen, nicht wahr?“

„Ja, natürlich“, gab sie zu.

„Sie wissen, ich habe getan, was ich konnte“, sagte er leise. „Ich bin zwar Schönheitschirurg, aber in meinem Jahrgang war ich der beste Medizinstudent. Und ich habe mein Praktikum in der Notaufnahme absolviert.“

„Oh, Richard, das weiß ich doch. Es ist nur so … traurig.“

„Ja, sie wird uns allen sehr fehlen. Ihnen wird sie doch fehlen, oder?“

„Selbstverständlich.“ Sie sah ihn irritiert an. „Warum betonen Sie das so?“

„Ach, nur so.“

Sie hatten einen Walzer getanzt. Als sie sich in der Nähe der Stereoanlage befanden, blieb sie stehen und betrachtete den Arzt abermals. „Richard, warum haben Sie das gesagt?“

„Oh Gott, es tut mir Leid.“

„Richard.“

„Es ist schon eine Weile her, da trug mir ein Vögelchen zu, dass Sie und Ben Trudeau früher einmal Partner waren – und ein heißes Paar dazu. Bevor Ben Lara heiratete.“

„Verstehe.“

„Sie waren doch Partner, oder? Ich hörte davon, dass Sie bei jedem Wettkampf abgeräumt haben und es niemand mit Ihnen aufnehmen konnte.“

„Wir gewannen ein paar Preise, das stimmt. Aber das ist lange her, sehr lange.“

„Tut mir Leid, tut mir wirklich Leid, Shannon, ich hätte wohl besser den Mund gehalten.“

„Wer hat es Ihnen erzählt?“

„Nein, aus mir bekommen Sie jetzt kein Wort mehr heraus.“

„Ist auch egal, Richard. Es ist kein düsteres Geheimnis, von dem niemand etwas wissen darf. Ich war nur neugierig.“

„Meine Lippen sind jetzt versiegelt … Aber Sie haben meine Frage noch immer nicht beantwortet.“

„Welche Frage?“

Er seufzte mit gespielter Ungeduld. „Ob es Ihre Absicht ist, dass ich neben Ihnen glänze?“

„Ich habe Ihre Frage beantwortet. Sie brauchen mich nicht, um zu glänzen.“

Er schüttelte den Kopf und lächelte sie an. „Es gibt da im Vorstand eine Reihe von Leuten, die ich heute Abend ins Suede mitbringen werde. Ich möchte sie ein wenig beeindrucken. Könnten Sie kurz hinkommen?“

„Richard, ich wollte heute Abend früh nach Hause gehen. Rhianna oder Jane werden aber sicher im Club sein.“

Wieder schüttelte er den Kopf. „Sie sind meine Lehrerin, und wir wissen beide, dass selbst die Spitzenprofis immer nur mit ihrem Partner arbeiten. Mit Ihnen tanze ich am besten. Kommen Sie auf einen einzigen Tanz und einen Drink ins Suede. Spätestens um halb elf lasse ich Sie gehen, ich schwöre es. Bitte.“

„Richard, betteln Sie mich nicht an.“

„Ich flehe Sie aber an.“

„Also gut. Aber nur, wenn Sie mir den Namen des Vögelchens sagen, das Ihnen von Ben und mir erzählt hat. Dann werde ich vielleicht in den Club kommen.“

„Das ist Erpressung.“

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