×

Ihre Vorbestellung zum Buch »The Hunt - Die letzte Jagd«

Wir benachrichtigen Sie, sobald »The Hunt - Die letzte Jagd« erhältlich ist. Hinterlegen Sie einfach Ihre E-Mail-Adresse. Ihren Kauf können Sie mit Erhalt der E-Mail am Erscheinungstag des Buches abschließen.

The Hunt - Die letzte Jagd

Als Buch hier erhältlich:

Die Nazis waren doch im Besitz der Atombombe! Zu diesem Schluss kommt Will Jaeger, Abenteurer, Ex-Elitesoldat und neuestes Mitglied der Geheimen Jäger - jener im verborgenen agierenden Einheit, die Kriegsverbrecher aufspürt und zur Strecke bringt. Beweise dafür findet er in den österreichischen Alpen. Genauso wie ein ermordetes Kamerateam und Hinweise darauf, dass Hank Kammler und seine Schergen, die das "Vierte Reich" errichten wollen, sich Zugang zu diesem tödlichen Erbe verschafft haben. Kammler scheint mittlerweile verzweifelt genug, die Bombe einzusetzen. Und so machen sich Will und die Geheimen Jäger auf zur letzten Jagd.


  • Erscheinungstag: 25.06.2020
  • Aus der Serie: Will Jaeger
  • Bandnummer: 3
  • Seitenanzahl: 448
  • ISBN/Artikelnummer: 9783959674799

Leseprobe

ANMERKUNG DES AUTORS

Dieses Buch ist inspiriert vom Leben meines Großvaters, Brigadier William Edward Harvey Grylls, OBE, 15/19th King’s Royal Hussars, Befehlshaber der Target Force, einer auf Betreiben Winston Churchills am Ende des Zweiten Weltkriegs gegründeten Spezialeinheit, die so geheim war wie kaum eine andere des Kriegsministeriums. Aufgabe der Einheit war es, geheime Technologien, Waffen, Wissenschaftler und hochrangige Nazis aufzuspüren und zu beschützen, damit sie dem Westen gegen die neue Supermacht, die Sowjetunion, dienen konnten.

Niemand in unserer Familie wusste von seiner Geheimmission als Befehlshaber der T Force, »T« steht hier für »Target«, bis die Informationen nach Ablauf der im Official Secrets Act festgeschriebenen siebzigjährigen Sperrfrist viele Jahre nach seinem Tod an die Öffentlichkeit gelangten – und ich mich auf eine Entdeckungsreise begab, die mich zu diesem Buch inspirierte.

Mein Großvater war ein wortkarger Mann, aber ich verbinde viele schöne Kindheitserinnerungen mit ihm. Er rauchte Pfeife, war insgesamt ein rätselhafter Zeitgenosse und beliebt bei seinen Untergebenen. Doch für mich war er immer nur Opa Ted.

Daily Express, 21. Mai 1945

GEHEIME ARMEE KÄMPFTE GEGEN ATOMBOMBE DER NAZIS

Vier Männer verbargen sich drei Monate lang in weißer Hölle

Heute können wir enthüllen, dass britische und deutsche Wissenschaftler fünf Jahre lang einen eigenen Krieg innerhalb des Krieges führten. Es handelte sich dabei um einen Wettlauf um die Perfektionierung der Atombombe, der Waffe mit der größten Sprengkraft der Welt, die beiden Seiten eine erdrückende Überlegenheit verliehen hätte.

Allerdings war es nicht ausschließlich ein Krieg der Theoretiker. Auch britische und norwegische Fallschirmjäger waren an den Auseinandersetzungen mit Kräften der Wehrmacht und ihren verräterischen Unterstützern in der weißen Hölle des norwegischen Hardanger-Plateaus beteiligt.

Die Deutschen eröffneten den Kampf im Sommer 1940. Einige Wochen nach ihrem Einfall in Norwegen besetzten sie das gewaltige Wasserkraftwerk in Rjukan. Dieses vom berühmten »Rauchfall« gespeiste Kraftwerk produziert ungeheure Mengen Strom, der für den Plan der Deutschen ebenso unerlässlich war wie für die Waffenfabrik, die sie in Rjukan errichten wollten.

Ihr Plan war es, das Atom zu spalten.

In Rjukan stellten die Norweger große Mengen einer Substanz her, die als »schweres Wasser« bekannt ist.

Schweres Wasser enthält doppelt so schwere Wasserstoffatome wie normales, aus dem man es auf elektronischem Wege herstellen kann … Überall auf der Welt hatten Wissenschaftler mit schwerem Wasser experimentiert und glaubten, Uraniumatome spalten zu können, wenn sie das Metall dem schweren Wasser und massiver Krafteinwirkung aussetzten.

Damit würden sie unglaubliche Energien freisetzen – und eine katastrophale Explosion auslösen.

Es gibt dabei viele technische Schwierigkeiten, aber die Deutschen haben sie beinahe gelöst.

Mail Online, Allan Hall, 10. Juni 2014

Haben die USA in den letzten Tagen des 2. Weltkriegs den Selbstmord eines hochrangigen Nazis inszeniert, um an Hitlers Geheimwaffenprogramm zu kommen?

Das Blut Tausender klebte an seinen Händen. SS-General Hans Kammler brachte sich 1945 während des Untergangs von Hitlerdeutschland um.

So lautet zumindest die offizielle Version. Der Mann, der für die Schrecken der Konzentrationslager mitverantwortlich war, habe seine gerechte Strafe erhalten.

Doch jetzt wird behauptet, Kammler habe den Krieg überlebt; US-Behörden hätten ihn nach Amerika gebracht und ihm zu einer neuen Identität verholfen.

Denn der General war nicht nur ein Experte für groß angelegte Sklaverei und Massenmord, sondern auch eine der zentralen Persönlichkeiten des Geheimwaffenprogramms der Nazis. Einer Fernsehdokumentation zufolge waren die Amerikaner entschlossen, an sein Wissen zu kommen und ihn nicht in die Hände der Russen fallen zu lassen.

Sowohl die USA als auch die Sowjetunion versuchten nach dem Krieg, Hitlers Wissenschaftler für ihre Raumfahrt- und Militärprogramme zu rekrutieren. Doch es heißt, Kammlers Taten seien so ungeheuerlich gewesen, dass man seinen Tod habe fälschen und ihm eine neue Identität geben müssen.

»Die ganze Geschichte seines Selbstmordes ist inszeniert«, so der Berliner Historiker Rainer Karlsch. »Es gibt mehrere Dokumente, die klar belegen, dass die Amerikaner Kammler gefangen genommen haben.«

Ein weiterer Experte, Matthias Uhl vom Deutschen Historischen Institut in Moskau, sagt: »Die Berichte aus den USA sind glaubhafter als die über den angeblichen Selbstmord, die von Kammlers Mitarbeitern stammen.«

Der 1901 geborene Kammler war gegen Ende des Zweiten Weltkriegs fast so mächtig wie der Reichsführer SS, Heinrich Himmler, und der Reichsminister für Bewaffnung und Munition, Albert Speer. Er hatte Zugang zur fortschrittlichsten Technik der Nazis, darunter auch die »Vergeltungswaffen« – allen voran der Marschflugkörper V-1 und die Rakete V-2, die in Großbritannien Tod und Verwüstung anrichteten, aber zu spät die Bühne des Krieges betraten, um dessen Blatt noch zu wenden.

Zudem war er am Aufbau der Konzentrationslager beteiligt und entwarf unter anderem die Krematorien in Auschwitz, in denen die Nazis die Leichen der meisten der 1,2 Millionen in dem Lager im besetzten Polen Ermordeten verbrannten.

Den Geschichtsbüchern zufolge hat er sich einen Tag nach der Kapitulation des Dritten Reichs am 9. Mai 1945 in der früheren deutschen Stadt Stettin, dem heutigen Szczecin in Polen, entweder erschossen oder vergiftet. Seine Leiche wurde nie gefunden.

»Zwei seiner engsten Mitarbeiter, die ihm treu ergeben waren, haben diese ganze Selbstmordgeschichte inszeniert«, so Karlsch gegenüber dem deutschen Fernsehsender ZDF.

Bei Kriegsende beteiligte sich Amerika an der Aburteilung vieler führender Nazis bei den Nürnberger Prozessen, betrieb aber nebenher die Operation Paperclip – die geheime Verlegung führender Naziwissenschaftler in die USA.

In der ZDF-Doku heißt es: »Quellen belegen, dass die Amerikaner Kammler gefangen nahmen und dass ihn das US-Spionageabwehrkorps CIC befragte. Der dafür verantwortliche Geheimdienstler war Donald Richardson, ein persönlicher Vertrauter des Oberkommandierenden der alliierten Streitkräfte, General Dwight D. Eisenhower.«

Die Söhne des Geheimdienstlers vertrauten den Autoren der Dokumentation an, ihr Vater sei auch nach 1945 noch für den deutschen Waffenexperten verantwortlich gewesen.

Einer von ihnen, John Richardson, sagte: »Dieser Ingenieur brachte einen ganz besonderen Schatz des Dritten Reiches mit in die Vereinigten Staaten: moderne Waffen. Mein Vater erhielt den Befehl, diesen ›nützlichen‹ Deutschen in die USA zu bringen, damit er nicht dem russischen Nachrichtendienst in die Hände fiele.«

Es ist unklar, unter welchem Namen Kammler lebte oder wann er starb, doch findet sich Archivmaterial über einen »speziellen Gast«, der unter Richardsons Aufsicht lebte.

Daily Telegraph, Justin Huggler, 22. Januar 2015

NAZIS »BAUTEN MITHILFE VON SKLAVENARBEIT UNTERIRDISCHE NUKLEARWAFFENFABRIK«

Ein österreichischer Dokumentarfilmer glaubt, in der Ortschaft, in der sich das berüchtigte KZ Gusen II befand, einen versiegelten Komplex unterirdischer Tunnel gefunden zu haben, der größer ist als ursprünglich angenommen.

Jetzt sind neue Beweise für eine mögliche unterirdische Nuklearwaffenfabrik der Nazis aufgetaucht, die seit dem Zweiten Weltkrieg in Vergessenheit geraten war.

Andreas Sulzer, ein österreichischer Dokumentarfilmer, hat Beweise für seine Behauptung vorgelegt, er habe herausgefunden, dass ein von den Nazis in Österreich mithilfe von Sklavenarbeit angelegter, versiegelter unterirdischer Tunnelkomplex möglicherweise viel größer ist als bisher angenommen und auch Raketenabschussrampen umfasst.

Sulzer hat bisher behauptet, erhöhte Strahlenbelastung in der Gegend sei ein Beweis dafür, dass der Komplex zur Entwicklung von Nuklearwaffen diente – obgleich die örtlichen Behörden seine Messergebnisse als falsch bezeichneten.

Ob die Nazis am Ende des Zweiten Weltkriegs kurz vor der Entdeckung der Atombombe standen, ist nach wie vor eine der unbeantworteten Fragen der Weltgeschichte. Es halten sich hartnäckig unbewiesene Gerüchte über ein geheimes Atomwaffenprogramm in den letzten Kriegsjahren.

Sulzer glaubt, er habe den Beweis für diese Gerüchte in dem unterirdischen Tunnelsystem nahe der Marktgemeinde St. Georgen an der Gusen in Österreich, das seit den 1950er-Jahren praktisch niemand mehr betreten hat, gefunden.

In dieser Ortschaft lag das berüchtigte KZ Gusen II, Teil der KZ-Gruppe Mauthausen-Gusen, wo sich Zwangsarbeiter zu Tode schuften mussten. Man nimmt an, dass in den Lagern etwa 320.000 Menschen gestorben sind.

Die Insassen von Gusen II mussten den großen Stollenkomplex »Bergkristall« errichten, in dem die Nazis die V-2-Raketen und die Messerschmitt Me 262, das erste in Serie gebaute Düsenjagdflugzeug der Welt, bauten.

Sulzer glaubt, der von ihm ganz in der Nähe entdeckte Tunnelkomplex sei möglicherweise eine Einrichtung gewesen, die zum Projekt »Bergkristall« gehörte.

Doch während die Alliierten die Stollen nach Kriegsende ausführlich untersuchten, scheinen die Nazis sich bei der Tarnung des zweiten Komplexes weit größere Mühe gegeben zu haben, indem sie den Eingang mit riesigen Granitblöcken versiegelten, weswegen er bis heute praktisch unerforscht ist.

1

Österreich, 24. April 1945

Sie hatten stundenlang gefeiert. Mochten auch die alliierten Waffen die deutschen Stellungen gut dreißig Kilometer westlich unter Beschuss nehmen, diese Männer in den feschen Uniformen der Hitlerjugend tranken, als gäbe es kein Morgen. Patriotische Lieder hallten von den feuchten, grob behauenen Steinwänden wider – das beliebteste Lied war an diesem Abend »SS marschiert in Feindesland«, das sogenannte Teufelslied. Immer und immer wieder schmetterten sie die vielen Strophen.

SS marschiert in Feindesland

Und singt ein Teufelslied …

Wir kämpfen für Deutschland

Wir kämpfen für Hitler …

Die Bierkrüge waren schon lange leer, doch der Schnaps floss nach wie vor in Strömen, Glas um Glas wurde auf die rauen Holztische geknallt, und es hallte wie Schüsse von den grob behauenen Wänden wider.

SS-General Hans Kammler – ein Mann mit Adlernase, tief liegenden Augen und aus der hohen Stirn gekämmtem blonden Haar – hatte zwar so getan, als sei auch er in Feierlaune, hatte aber kaum einen Tropfen getrunken. Mit scharfem Blick sah er sich in dem riesigen Raum um, den ein Dutzend Laternen erhellte. Die Bestie, die hier im Geheimen in den Eingeweiden dieses Berges lauerte, ein gewaltiges Waffensystem, hatte Unmengen an Elektrizität verbraucht, doch 48 Stunden zuvor hatte man den Strom abgestellt und die Maschine heruntergefahren – daher rührte die flackernde Beleuchtung in dieser Nacht, die groteske Schatten an die Wölbung der Wände warf.

Ein ums andere Mal hatten die hier versammelten jungen Männer auf sich selbst getrunken. Erfüllt von nationalsozialistischem Gedankengut und ausreichend Schnaps, würden sie kaum Widerstand gegen das leisten, was ihnen bevorstand. Es würde vermutlich keine Einwände in letzter Minute, kein Zögern geben. Das konnte sich Kammler auch nicht leisten, denn tiefer in den Schatten dieses Tunnelkomplexes lag das größte Geheimnis des Reichs verborgen. Es handelte sich um die Früchte der Bemühungen der größten Wissenschaftler Nazideutschlands – des Uranvereins. Gemeinsam hatten sie eine Wunderwaffe ohnegleichen geschaffen. Kammlers großer Plan – zugleich unbestreitbar die machiavellistischste Operation des SS-Oberkommandos – setzte darauf, dass die herannahenden Alliierten das Werk des Uranvereins nicht entdeckten. Dafür war ein Opfer erforderlich – das der General, ohne jeden Skrupel zu bringen, bereit war.

Er warf einen kurzen Blick nach oben. Ein enger Belüftungsschacht führte fast senkrecht empor zum Firmament. Wenn diese sechzig jungen Männer mit dem schlimmsten Kater ihres Lebens aufwachten, würde die Morgenröte durch diesen Schacht in die Höhle fallen. Doch der Kater würde ihr geringstes Problem sein, dachte der General grimmig. Der große schlanke SS-Offizier erhob sich. Er ergriff seinen Zeremoniensäbel, dessen schweres Heft mit dem unverwechselbaren SS-Totenkopfemblem verziert war, und klopfte damit auf den Tisch. Langsam ließ der Lärm nach, und die jungen Männer skandierten etwas Neues.

»Werwolf! Werwolf! Werwolf!«

Immer und immer wieder schrien sie zunehmend lauter dieses Wort.

Das kleine Heer fanatischer junger Nazis glaubte, es bereite sich auf einen mit Zähnen und Klauen geführten Widerstandskampf gegen die Alliierten vor. Sie sahen sich als Mitglieder der Organisation Werwolf und betrachteten SS-General Kammler – den Werwolf persönlich – als Schlüsselfigur der heutigen Versammlung. »Kameraden!«, schrie Kammler, der noch immer versuchte, für Ruhe zu sorgen. »Kameraden!«

Nach und nach ebbte das Skandieren ab. »Kameraden, ihr habt tapfer getrunken! Ihr habt Trinksprüche ausgebracht, wie es sich für die Helden des Reichs gehört! Doch nun ist die Zeit des Feierns vorüber. Die Zeit für den alles entscheidenden Widerstand ist gekommen. Heute, zu dieser Stunde, werdet ihr einen ruhmreichen, entscheidenden Schlag führen. Was ihr hier bewacht, wird uns den Endsieg bringen. Durch eure Heldentat werden wir uns im Rücken des Feindes wieder erheben! Durch euren Einsatz werden wir über eine Waffe verfügen, die uns unbesiegbar macht! Durch euren Einsatz werden wir die Feinde des Reichs überwinden!«

Wieder brach wilder Jubel aus, der von den Wänden widerhallte. Der General hob sein Schnapsglas zu einem letzten Trinkspruch.

»Auf den Sieg, den wir dem Rachen der Niederlage entreißen! Auf das Tausendjährige Reich! Auf den Führer … Heil Hitler!«

»Heil Hitler!«

Kammler knallte sein Glas auf den Tisch. Vorher hatte er diesen einen Schnaps mitgetrunken, ihm gestattet, seine Kehle zu verbrennen: Genever als Mutmacher für das, was kommen würde, für den einzigen Teil der Geschehnisse dieser Nacht, der ihm wirklich widerstrebte. Aber dazu später.

»Auf eure Stationen!«, rief er. »Auf eure Stationen! Es ist fünf Uhr morgens, und wir sprengen bald.« Er ließ seinen Blick über die Gruppe schweifen. »Ich werde wiederkommen. Wir werden wiederkommen. Dann werden wir euch mit unbändiger Kraft von diesem Ort befreien.« Er hielt inne. »Unmittelbar vor dem Morgenrot ist die Nacht am tiefsten – und dieses Morgenrot wird sich als ruhmreiches Wiedererstarken des Nationalsozialismus erweisen!«

Wieder wilder Jubel.

Kammler schlug mit der freien Hand auf den Tisch, eine Geste der unumkehrbaren Endgültigkeit. »Zur Tat! Zum Sieg!«

Die letzten Schnäpse wurden gekippt, und Gestalten eilten in alle Richtungen. Kammler beobachtete das Treiben mit kaltem Blick. Sie schienen sich geschäftig ans Werk zu machen, und genau so wollte er es. Er konnte sich nicht leisten, dass auch nur ein Soldat Zweifel bekam oder zu entkommen versuchte.

Nach einer letzten Überprüfung des Inneren der Höhle, bei der er sich überzeugt hatte, dass die gewaltigen stählernen Sprengtüren fest geschlossen und verriegelt waren, trat Kammler in die Schatten des Eingangs, wo Männer über Drahtspulen und Fernzünder gebeugt standen und letzte Vorbereitungen trafen. Nach einem letzten Wort der Ermutigung schritt der General durch den Eingang zu Tunnel 88. In Wirklichkeit hatte Kammler keine Ahnung, aus wie vielen Tunneln dieser gewaltige Komplex bestand. Es waren sicher Hunderttausende von KZ-Insassen beim Bau des wabenartigen Tunnelsystems im Inneren des Gebirges gestorben. Nicht, dass ihm das etwas ausgemacht hätte; er hatte einen großen Teil des Massenmordes organisiert. Er war das Genie dahinter. Hier waren Juden, Slawen, Zigeuner und Polen gestorben. Diese Untermenschen hatten bekommen, was sie verdienten. Seiner Auffassung nach war der Tod ihr einziges Geburtsrecht. Nein, der Name Tunnel 88 hatte ganz andere Gründe. H war der achte Buchstabe des Alphabets, und deshalb stand 88 bei der SS für »HH« – oder »Heil Hitler«. Den Namen hatte der Oberste Führer der Schutzstaffel, Hitler selbst, persönlich ausgewählt. Hier ruhte die größte Errungenschaft Nazideutschlands, etwas, was dem Tausendjährigen Reich neues Leben einhauchen konnte. Kammler hielt einen Augenblick inne, um seine Mütze zu richten. Sie schien aufgrund der Feier ein wenig schief zu sitzen. Dabei streiften seine Finger das vorn prangende SS-Totenkopfemblem: leere Augenhöhlen, die in die Ferne starrten, ein zu einem wahnsinnigen Grinsen verzerrter Mund ohne Lippen.

Ein mehr als passendes Symbol für das, was kommen würde.

2

Nachdem Kammler seine Kappe gerichtet hatte, wandte er sich an den Mann an seiner Seite, der die Uniform eines SS-Scharführers trug. Auch er hatte kaum einen Tropfen Alkohol getrunken. »Konrad, meinen Wagen bitte. Wir brechen unmittelbar nach der Sprengung auf.«

Scharführer Konrad Weber knallte die Hacken zusammen und eilte davon. Weber war ziemlich alt für seinen Rang – nicht viel jünger als Kammler –, unverheiratet und kinderlos. Das Reich und vor allem die SS waren sein Ein und Alles. Seine Ersatzfamilie. Kammler wandte sich wieder der Gebirgsflanke zu, die sich vor ihm erhob. Die Vorboten des Morgenrots färbten den Himmel bereits bläulich und erinnerten ihn daran, dass er in Eile war. Um diese Stunde – zur Hexenstunde – sollten die Explosionen nur wenigen auffallen, wobei mit Zeugen eigentlich überhaupt nicht zu rechnen war. Tagelang hatte Kammler seine Leute das Gelände zu allen Seiten gründlich absuchen und es von ahnungslosen Zivilisten säubern lassen.

Hinter sich hörte er das Knirschen von Reifen auf dem einspurigen Waldweg, der in diese abgelegene Gegend führte. Verdeckte Scheinwerfer, die zum Teil auch noch geschwärzt waren, um sie vor marodierenden Nachtabfangjägern der Alliierten zu verbergen, drangen durch das Halbdunkel. Kammler lächelte. Hervorragend: der stets loyale Konrad am Steuer seines Dienstwagens. Die Frontscheinwerfer erleuchteten die Szenerie vor ihm, tauchten sie in mattes Licht und tiefe Schatten. Dichte Nadelbänke bedeckten die unteren Hänge und machten den gähnenden Zugang zu Tunnel 88 – und die weiteren ähnlichen Öffnungen links und rechts davon – praktisch unsichtbar. Aus jeder ragte ein Bündel von Drähten, die über die Felsoberfläche gespannt waren.

Kammler wartete, bis sein Fahrer den Wagen angehalten hatte, und bemerkte, dass dieser wie befohlen den Motor laufen ließ. Scharführer Weber war ein guter Mann und hatte sich als überaus loyaler Untergebener erwiesen. Zwischen ihnen hatte sich ein wortloses Verständnis entwickelt – eine Art instinktive Empathie. In Anbetracht dessen war das, was Weber bevorstand, bedauerlich.

Eine Hand tauchte aus der Dunkelheit auf: Es war die Scharführer Webers, die ihm den Hörer des Feldtelefons hinhielt. »Herr General.«

Kammler nahm ihn entgegen. »Danke. Warten Sie im Wagen. Sobald ich fertig bin, brechen wir auf – auf demselben Weg, auf dem wir auch hergekommen sind.«

»Jawohl, Herr General.« Die Autotür schlug zu.

Kammler sagte in den Hörer: »Herr Obersturmführer, sind Sie bereit?«

»Jawohl, Herr General.«

»Sehr gut. Machen Sie weiter, wenn Sie meinen Dienstwagen am Rande der Lichtung anhalten sehen. Aber geben Sie mir Zeit auszusteigen, damit ich dieses glorreiche Spektakel mit eigenen Augen sehen kann.«

»Jawohl, Herr General. Verstanden. Heil Hitler.«

»Heil Hitler.«

Kammler öffnete die Beifahrertür des Wagens und glitt auf den polierten schwarzen Ledersitz, dann bedeutete er Scharführer Weber loszufahren. Der leistungsstarke Horch-Achtzylinder-V-Motor röhrte kehlig, als der Wagen sich vom Treffpunkt entfernte. Eine Minute später ließ Kammler ihn anhalten, wo der sandige Waldweg sich zwischen den dicht an dicht stehenden Tannen verlor.

»Hier ist gut.«

Er schwang seine polierten Lederstiefel aus dem Wagen und wandte sich dem Steilhang zu. Als im Osten die ersten Sonnenstrahlen des Morgenrots über die Gipfel blitzten, tauchten sie den Felshang vor ihm in einen goldenen Bronzeton.

Kammler stützte sich auf die Beifahrertür, bereitete sich auf das vor, was gleich geschehen würde. Dabei öffnete sich sein dicker Ledermantel ein wenig, und die kompakte Walther PPK, die er in einem Holster an der Hüfte trug, wurde sichtbar. Er strich mit der Hand darüber, genau wie zuvor über seine Mütze mit dem Totenkopfemblem, um sicherzugehen, dass er sie leicht erreichen konnte. Bald. Kammler öffnete den Mund weit und bedeutete seinem Fahrer, dasselbe zu tun, dann wandten sich die beiden SS-Männer mit fischartig aufgerissenen Mündern dem Berg zu. Selbst auf diese Distanz mussten sie Vorsichtsmaßnahmen treffen, denn eine so gewaltige Explosion konnte ihnen das Trommelfell zerreißen.

Als die Explosion erfolgte, übertraf sie Kammlers kühnste Erwartungen. Vom Zündpunkt – Tunnel 88 – ging eine Reihe von Detonationen nach beiden Seiten aus, wobei die Lunten sich so schnell entzündeten, dass sie nicht mehr voneinander zu unterscheiden waren. In einem Bereich von vierhundert Metern schien sich der Fels gleichzeitig aufzulösen, verwandelte sich in eine wirbelnde Masse zermalmter Gesteinsbrocken.

Der gesamte Steilhang schien sich kurz anzuheben, dann löste er sich in pulverisierten Granit und Felsbrocken auf. Die Explosion schleuderte Hunderte von Tonnen zerschmetterten Gesteins nach außen, die sich in einer verheerenden Flutwelle bergab ergossen.

Sekunden später traf die Schockwelle die beiden Beobachter, ließ den Wagen alarmierend auf seinen Stoßdämpfern schaukeln und zerrte an Kammlers Mütze und seinem dicken schwarzen Ledermantel, ehe sie hinter ihnen in den Wald fegte. Fast augenblicklich folgte die Schallwelle – ein unglaubliches Dröhnen und Fauchen, das über ihren Köpfen zusammenzuschlagen und sich in diese hineinzubohren schien.

Schließlich verhallte sie, und Kammler richtete sich wieder auf. Die schiere Wucht der Explosion hatte ihn sich instinktiv Deckung suchend niederkauern lassen – nicht, dass für ihn oder Scharführer Weber große Gefahr bestanden hatte. Er klopfte die dünne weiße Staubschicht von seinem Mantel, die die Explosion auf dem Leder abgelagert hatte.

Kammlers Blick war weiterhin auf die Gebirgsflanke gerichtet. Als sich der Staub schließlich lichtete, konnte er über den sich ihm bietenden Anblick nur staunen. Genau wie beabsichtigt sah es aus, als hätte ein gewaltiger Steinschlag eine Seite des Gebirges verwüstet.

Hier und da verriet ein dunkelroter Streifen, wo eine reiche Mineralader – vielleicht Eisen –, die durch den Hang verlief, freigelegt worden war. Entwurzelte Bäume lagen wie verstreute Splitterhaufen umher, zermalmt von der Wucht der Felsen. Aber was das Wichtigste war: Nichts – absolut gar nichts – wies auf den Tunnelkomplex hin, der jetzt hinter einer Mauer aus Gesteinsbrocken verborgen lag, von den sechzig dort eingeschlossenen jungen Soldaten ganz zu schweigen.

Kammler nickte zufrieden. »Gut. Wir können fahren«, verkündete er schlicht.

Scharführer Weber glitt auf den Fahrersitz und betätigte den Gashebel. Kammler stieg neben ihm ein, warf einen letzten Blick auf die in eine Staubwolke gehüllte Szenerie und bedeutete dem Scharführer loszufahren.

Der dunkle Wald verschluckte sie. Ein paar Minuten lang fuhren sie lautlos oder zumindest annähernd lautlos dahin. Selbst um diese Uhrzeit hörte man noch das dumpfe Krachen von Artilleriefeuer in der Ferne. Diese verfluchten Amerikaner! Wie sie es liebten, der Wehrmacht ihre militärische Überlegenheit unter die Nase zu reiben. Webers Stimme durchbrach das Schweigen. »Wohin, Herr General? Wenn wir erst einmal auf der befestigten Straße sind?«

»Ja, wohin, Konrad? Das ist die große Frage«, sinnierte Kammler. »An wen wenden wir von der Schutzstaffel uns, wenn die Amerikaner und Briten auf der einen und die Russen auf der anderen Seite stehen?«

Lange schien Weber nicht zu wissen, was er antworten sollte oder ob der General überhaupt eine Antwort von ihm erwartete. Schließlich ging er wohl davon aus, dass Letzteres der Fall war.

»Zu den Werwölfen, Herr General? In ihr Hauptquartier?«

»In der Tat ein kluger Gedanke, Konrad«, antwortete Kammler, der aus dem Fenster die dunklen Bäume anstarrte. »Ein guter Vorschlag. Wenn sie denn eines hätten. Ein Hauptquartier. Aber ich fürchte, das werden wir nicht finden.«

Scharführer Weber schaute erstaunt. »Aber Herr General, eine Gruppierung wie die Werwölfe … hat doch sicher …«

Kammler sah seinen Fahrer an. Der jüngere Mann war zweifellos auch körperlich leistungsfähiger, er musste also vorsichtig sein. »Hat sicher was, Konrad?«

Webers Hände schlossen sich fester um das Steuerrad. »Nun, Herr General, wie lange können unsere Kameraden unter dem Berg ausharren? Sie werden Entsatz brauchen. Man muss sie dort herausholen. Wie wir es versprochen haben.«

»Nein, Konrad. Ich muss Sie korrigieren. Wie ich versprochen habe. Sie haben gar nichts versprochen.«

Weber nickte, ohne den Blick von der Straße zu wenden. »Natürlich, Herr General.«

Der Weg führte abwärts durch ein steiniges Flussbett. Scharführer Weber musste hier besonders vorsichtig sein, damit er keinen Platten bekam und keine der Achsen Schaden nahm.

Kammler starrte nach vorn, sein Blick durchdrang das Halbdunkel des frühmorgendlichen Waldes. »Können Sie bitte kurz anhalten, Konrad?« Er tat, als lächle er. »Selbst ein SS-General muss manchmal pinkeln.« Er deutete auf die Furt. »Vielleicht auf der anderen Seite.«

»Natürlich, Herr General.«

Sie bewegten sich im Schneckentempo über den unebenen Boden, das Auto ächzte und ruckelte mit jeder Umdrehung der Räder. Drüben hielt Weber an, und Kammler stieg aus und ging ein paar Schritte in den Wald, um sich unbeobachtet zu erleichtern. Sobald er außer Sicht war, zog er die Walther PPK aus seinem Holster und spannte sie. Er war bereit.

3

Kammler glitt wieder auf seinen Platz.

»Soll ich weiterfahren, Herr General?«, erkundigte sich Scharführer Weber.

Kammler ignorierte die Frage. »Leider, Konrad, ist es keinem der jungen Männer in diesem Tunnel bestimmt zu überleben. Wie so viele andere werden sie ihr Leben zum Ruhme des Reichs gegeben haben.«

»Aber Herr General, wir haben ihnen gesagt …«

»Wieder falsch, Konrad«, fiel ihm Kammler ins Wort. »Ich habe es ihnen gesagt. Wenn jemand sie hinters Licht geführt hat, dann ich.«

»Natürlich, Herr General. Aber …«

»Sie wollen den Grund wissen. Nun gut. Ich werde ihn Ihnen nennen.« Kammler deutete nach vorn. »Fahren Sie bitte los.«

Weber legte den Gang ein, während das Licht der Morgensonne seine Strahlen zwischen den dicht stehenden Bäumen hindurchwarf und den Innenraum des Horchs in scharfe Hell-Dunkel-Kontraste tauchte. »Leider darf niemand am Leben bleiben, der weiß, wo die Uranmaschine steht«, fuhr Kammler fort, »und zwar aus einem ganz einfachen Grund: Genau wie wir würde der Feind Gefangene zum Reden bringen. Das darf nicht passieren.«

Weber schaltete hoch und beschleunigte, als der Weg ebener wurde. Ein von ihrem Auftauchen aufgeschrecktes Reh sprang davon, als sie vorbeifuhren.

»Die ranghohen Mitglieder der Schutzstaffel werden unauffällig und auf geordnete Weise verschwinden«, setzte Kammler seinen Monolog fort. »Wir planen das schon eine ganze Weile, genauer gesagt: seit klar ist, dass diese Phase des Krieges an den Feind gehen wird. Wir werden verschwinden, um uns neu zu formieren und dann abermals zu kämpfen. Das wird dauern. Jahrzehnte. Die Vorbereitungen laufen seit vielen Monaten: Gelder, Waffen, Personen – führende Wissenschaftler und die oberste Führungsspitze –, all das wird in sorgsam ausgewählte geheime Zufluchten geschafft. Wir bezeichnen das als Aktion Werwolf – eine langfristige Strategie zur Neuformierung des Reichs. In Wirklichkeit sind wir die Werwölfe.«

Kammler hielt inne. Unter seinem Mantel stellte er sicher, dass er eine Kugel im Lauf hatte, und sein Zeigefinger ertastete das kalte Metall des Spannabzugs.

»Ich fürchte, Widerstand wird nicht stattfinden«, sprach er weiter. »Es ist niemand mehr übrig, der ihn leisten könnte. Wir haben alles in die Verteidigung des Vaterlandes investiert: die Alten, die Jungen, die Kriegsverletzten und die Lahmen. Sogar Frauen und Mädels. Aber es hat alles nichts gebracht. Nur die Aktion Werwolf birgt noch eine Chance auf den Endsieg.«

Der Scharführer sah ihn aus dem Augenwinkel an. »Aber diese jungen Männer … denen Sie versprochen haben …«

»Verloren«, unterbrach ihn Kammler kalt und sachlich. »Sie werden weder ersticken noch verhungern. Sondern verdursten.« Er zuckte die Achseln. »Ein paar Dutzend Verluste zum Ruhme des Reichs. Ein bescheidenes Opfer, finden Sie nicht, Konrad? Wir alle müssen bereit sein, dieses ultimative Opfer zu bringen.«

Scharführer Weber nickte, als ihm langsam ein Licht aufging. »Ja, Herr General, natürlich, wenn es dem Reich nützt …« Er warf seinem Vorgesetzten einen Blick zu. »Sagen Sie mir, wie ich Teil dieser Aktion Werwolf werden kann. Wie kann ich zu Diensten sein?«

Kammler seufzte. »Gute Frage. Natürlich werden kriegsgefangene SS-Mitglieder vom Feind wahrscheinlich nicht gut behandelt werden. Wir haben ja alle die Geschichten gehört, vor allem die über die verfluchten Roten. Wir sind die Auserwählten des Führers, und deshalb hassen uns die Russen. Die Briten und Amerikaner können uns auch nicht viel besser leiden … Deshalb tue ich Ihnen höchstwahrscheinlich sogar einen Gefallen, Konrad.«

Damit zog der General seine verborgene Waffe hervor und schoss seinem Fahrer in den Kopf. Rasch stieß er die Leiche beiseite, packte das Lenkrad, und der Wagen kam zum Stehen, weil der Fuß des toten Fahrers vom Gaspedal gerutscht war.

Kammler starrte die blutige Leiche an. »Ich fürchte, niemand bedeutet wirklich niemand. Niemand, der reden könnte … Sie, mein lieber Konrad, haben das ultimative Opfer gebracht, aber es bleibt Ihnen noch ein letzter Dienst.«

Er glitt vom Beifahrersitz, öffnete die Fahrertür und zerrte die Leiche aus dem Wagen. Dann zog er Weber die blutige Uniform aus, ehe er sich seiner eigenen entledigte und die des Scharführers anlegte. Danach zog er seinem früheren Fahrer seine eigene Kleidung an und schob dem Toten eine Brieftasche und Papiere in die Taschen. Das SS-Oberkommando hatte umfassende Vorbereitungen getroffen: Die Papiere bestanden aus gefälschten Dokumenten, die Kammlers wahre Identität mit einem Foto seines Fahrers verbanden. Als er fertig war, trug SS-General Kammler die blutbespritzte Uniform eines Mannes, der sechzehn Dienstränge unter ihm gestanden hatte. Wenn der Feind ihn gefangen nahm – was er allerdings nicht zuzulassen gedachte –, war die Wahrscheinlichkeit groß, dass man ihn nicht erkennen und er so jeglichen Vergeltungsmaßnahmen entgehen würde.

Er zerrte die Leiche zum Beifahrersitz und lud sie in den Wagen. Dann setzte er sich auf den blutverschmierten Sitz hinter das Steuerrad und fuhr los. Dreißig Minuten später bog der Horch von dem holprigen Weg auf eine geteerte Nebenstraße ein. Kammler fuhr weiter, bis er schließlich eine passende Biegung erreichte. Er hielt am Straßenrand an und suchte sich einen schweren Stein. Dann verfrachtete er die Leiche wieder auf den Fahrersitz, stellte sich vor den Wagen und leerte das restliche Magazin der Walther – insgesamt acht Patronen – durch die Windschutzscheibe des Horchs.

Für einen unaufmerksamen Beobachter – und sogar für einen einigermaßen begabten Militärermittler – würde es aussehen, als habe jemand den Dienstwagen von vorn angegriffen, die Windschutzscheibe unter Feuer genommen und dabei den Fahrer getroffen.

Anschließend beschwerte er mit dem Stein das Gaspedal, legte einen Gang ein und ließ den Wagen ruckelnd weiterfahren. Langsam nahm er Tempo auf.

Hundert Meter bergab erreichte der Horch mit recht hoher Geschwindigkeit die scharfe Rechtskurve. Er kam von der Straße ab, rumpelte den Hang hinunter, holperte über ein unebenes Feld und krachte schließlich gegen eine kleine Felsgruppe, wodurch er auf die Seite kippte.

Kammler beobachtete das Schauspiel zufrieden. Allem Anschein nach war SS-General Hans Kammler gerade in einem blutigen Hinterhalt unbekannter Angreifer zu Tode gekommen. Er ging zu Fuß weiter und arbeitete dabei geistig an seiner Geschichte. Sollte er Deutschen begegnen, würde er ein vergleichsweise alter Mann sein, den man in letzter Minute zur Verteidigung des Reiches zwangsrekrutiert hatte. Er hatte tapfer gekämpft – das bewies das Blut auf seiner Uniform –, war aber in dem Durcheinander von seinen Kameraden getrennt worden.

Falls es zu Feindkontakt kam, würde er eine ganz ähnliche Geschichte erzählen. Etwas weniger Tapferkeit. Etwas mehr Granatenschock und Verwirrung. Die Andeutung, die SS-Uniform sei das Einzige gewesen, was die Not leidende Wehrmacht für ihn gehabt habe. Gott bewahre, natürlich war er nie selbst Mitglied der gefürchteten Schutzstaffel gewesen. Ja, das sollte hinkommen. Mit etwas Glück würde er all diese Geschichten jedoch gar nicht erzählen müssen. Er wollte querfeldein gehen, bis er eine mit Vorräten gut ausgestattete Hütte im Hochgebirge erreichte. Von dort konnte er seine SS-Kameraden kontaktieren, die ebenfalls gerade damit beschäftigt waren unterzutauchen.

Er hatte Kontakte ins Ausland geknüpft und Absprachen getroffen. Große Mengen des Vermögens der Nazis waren auf diskrete ausländische Konten geflossen, um sicherzustellen, dass den Auserwählten Fluchtrouten offenstanden. Kammler hatte keinen Zweifel daran, dass eine ersprießliche Zukunft an fremden Gestaden seiner harrte – und irgendwann würde sich Deutschland für diese Schmach rächen.

Irgendwann würden seine Waffenbrüder von der SS das ruhmreiche Reich wiederaufbauen.

4

Heute

Erich Isselhorst aufzugabeln war ein Kinderspiel gewesen. Heidelberg – sein Wohnort – war eine romantische deutsche Stadt mit langer Geschichte, über der auf einem Hügel eine Schlossruine thronte. Die engen, gewundenen Gässchen und die Straßencafés der Altstadt hatten Irina Narov viele Gelegenheiten geboten, ihrer Beute unauffällig aufzulauern.

Sie hatte ihre Vorgehensweise wie bei jeder militärischen Operation geplant. Irina hatte ihr Ziel tagelang beobachtet, ein Bewegungsmuster erstellt, seinen Tagesablauf und seine kleinen Sünden in Erfahrung gebracht. Sie wusste, dass sie genau sein Typ war – blond, blauäugig, schlank und sehr sportlich –, vor allem, wenn sie eine gewisse Sympathie für seine Neonazi-Ansichten durchblicken ließ.

Isselhorst war Mitte vierzig, alleinstehend und kinderlos. Vielleicht hatte er die perfekte arische Frau noch nicht gefunden, die seine extreme Ideologie teilte. Die bereit war, bei seinen dunklen Geschäften ein Auge zuzudrücken. Seinem aktuellen Verhalten nach zu urteilen, schien es Narov, als käme sie dafür durchaus infrage.

Sie versuchte, nicht zu erschauern, als er sie zum Taxi zog. Dankenswerterweise dauerte die Fahrt durch den dichten Wald am Ufer des Neckars – der Hauptlebensader Heidelbergs – bis zu Isselhorst nach Hause nicht lange. Er wohnte in einem modernen kubistischen Gebäude aus Glas und Stahl mit Blick auf den Fluss. Isselhorst lebte in Heidelbergs teuerstem Stadtteil, und das Haus musste ein kleines Vermögen gekostet haben. Aber er konnte es sich zweifellos leisten, und diese Tatsache – genauer gesagt: die Herkunft seines Vermögens – war der Anlass für Narov gewesen, an diesem Abend die Verführerin zu spielen. Sie spürte, wie sich seine Brust hob und senkte, als er sie an sich drückte. Er war zweifellos gut in Form. Isselhorst war einen Meter fünfundachtzig groß, hatte dichtes blondes Haar und legte eine Arroganz an den Tag, die es ihr wahrscheinlich nicht leicht machen würde. Sie hatte ihn aus ihrem Versteck im Wald heraus beim Krafttraining in seinem Fitnessraum beobachtet, jeden Morgen eine Stunde ab genau elf Uhr, gefolgt von fünfundvierzig Minuten Jogging am Fluss entlang. Er bewegte sich schnell, sicher und kraftvoll.

Sie war zehn Jahre jünger als er, doch er wog sicher ein gutes Drittel mehr als sie. Sie würde Abstand wahren und hart zuschlagen müssen und durfte ihm auf keinen Fall eine Chance geben, ihr seinerseits nahe genug zu kommen, um einen Treffer zu landen. Narov war schmerzlich bewusst, dass sie diesmal ganz auf sich allein gestellt war und auf keinerlei Verstärkung hoffen durfte. Doch sie hatte ihrem Gegner gegenüber einen großen Vorteil: Isselhorst hatte größere Mengen Alkohol getrunken, während sie ihren Schwips nur vortäuschte.

Sie war stocknüchtern.

Natürlich hätte sie ihren Verdacht mit den anderen Geheimen Jägern – Peter Miles, Onkel Joe und Will Jaeger – teilen können. Die vier waren die aktuellen Mitglieder einer informellen Gruppe von Nazijägern, die seit dem Krieg bestand. Doch sie bezweifelte, dass die anderen ihr geglaubt hätten. Zunächst sprachen alle Fakten dagegen, dass Hank Kammler noch lebte und auf Rache sann. Aber der Sohn des SS-Generals Hans Kammler – des nach Hitler möglicherweise mächtigsten Mannes des Dritten Reichs – war nicht tot, dessen war Narov sicher.

Nun, heute Nacht würde sie dafür entscheidende Beweise sammeln.

Isselhorst beugte sich zu ihr herüber. Sie roch den Alkohol in seinem Atem.

»Jetzt ist es nicht mehr weit … Sie werden feststellen, dass ich einen speziellen Einrichtungsgeschmack habe … eine gewisse nostalgische Ader. Für die Kriegsjahre. Als Deutschland wirklich groß war. Ein Reich. Ein Volk. Ich hoffe, das stört Sie nicht.«

Narov riss sich zusammen. »Im Gegenteil.« Sie sah ihm tief in die Augen. »Noch immer haben Menschen Angst, seinen Namen zu sagen. Doch ich finde die ursprünglichen Absichten Hitlers seltsam faszinierend.« Sie hielt inne. »Wir alle wissen, was er für ein Mann war. Kennen sein Vermächtnis. Seine Überlieferung an die Nachwelt. Auch heute können wir noch von ihm lernen.«

»Genau. Ganz meine Meinung«, schwärmte Isselhorst. Er redete Englisch, was seine Worte etwas gestelzt klingen ließ. Narov hatte ihm nicht verraten, dass sie fließend Deutsch sprach. Er seufzte zufrieden. »Ich bin so froh, dass wir einander begegnet sind«, flüsterte er ihr ins Ohr. »Das Schicksal, die Götter – sie müssen uns gewogen sein.«

»Sie sind ein hoffnungsloser Romantiker«, spottete Narov.

»Vielleicht, doch wenn uns danach ist … ich besitze ein paar nostalgische Uniformen … überaus schneidig …« Suggestiv ließ er die Worte in der Luft schweben.

»Rollenspiele?« Narov lächelte. »Erich, Sie ungezogener Bursche. Aber warum nicht? Sagen Sie – Sie haben nicht zufällig Hanna Reitschs Fliegerjacke? Das wäre großartig.«

Wenn sie zu jemandem keine besondere Verbindung hatte, war Narov eine perfekte Schauspielerin. Dann konnte sie ein unvergleichliches Chamäleon sein. Aber Menschen, die ihr nahestanden, vermochte sie nicht zu täuschen. Das machte Beziehungen zur Herausforderung. Doch in diesem Fall war das kein Problem. Dies war eine einfache Angelegenheit. Diesen Mann verachtete sie zutiefst, und da fiel ihr die abendliche Scharade leicht.

»Meine Liebe, Sie erstaunen mich immer wieder«, murmelte Isselhorst und streichelte ihr Haar. »Sie kennen Hanna Reitsch? Mein Gott, was für eine Frau! Was für eine Pilotin. Was für eine Heldin des Reichs.«

»Sie klingen, als seien Sie regelrecht besessen von ihr. Oder von ihrem Andenken.« Narov lachte. »Aber Sie haben ein Problem, Erich. Sie wäre jetzt hundertundvier Jahre alt. In Hanna Reitsch verliebt zu sein wäre eine unglaubliche Verschwendung eines Mannes von Ihrer … Potenz.«

Isselhorst lachte, aber ehe er antworten konnte, hielt das Taxi vor seinem diskret auf einem Waldgrundstück gelegenen Haus an. Er hatte eine Putzfrau und Haushälterin – die uralte Frau Helliger mit dem grimmigen Gesicht, die aussah, als würden ihre Züge Risse bekommen, wenn sie auch nur lächelte –, aber Narov wusste, dass sie um diese Zeit nicht mehr im Haus war. Auch Frau Helliger hatte sie aus dem Wald heraus beobachtet und ihre Bewegungsmuster und ihren Tagesablauf festgehalten. Sie wusste, die Haushälterin würde ihr bis zehn Uhr morgens nicht in die Quere kommen, denn erst dann würde sie eintreffen und ihr Tagwerk beginnen.

Isselhorst bezahlte den Fahrer, und sie gingen zum Haus. Drinnen bestand es gänzlich aus poliertem Chrom, Granit, Holz und klaren, minimalistischen Linien. Aber das war es nicht, was den Besuchern ins Auge stechen musste. Es waren die Kunstwerke und Nazidevotionalien an den Wänden. Sein Heim wirkte eher wie eine Galerie oder ein Museum – oder vielleicht ein Schrein – als wie ein normales Wohnhaus.

Narov tat überrascht. Aus ihrem Versteck heraus hatte sie einige der unbezahlbaren Gemälde schon gesehen, allerdings nicht das lebensgroße Adolf-Hitler-Porträt in der Eingangshalle. Es hatte einen schweren vergoldeten Rahmen und zeigte den Führer in Prunkuniform vor einem Schlachtfeld in strenger, heroischer Pose, den Blick in weite Ferne gerichtet.

Darunter prangte ein schwarzes Hakenkreuz in einem goldenen Kreis mit einer Spitze am einen Ende und einer Halterung am anderen. Das war wohl der oberste Teil irgendeines zeremoniellen Nazistabes. Sie drehte sich um und tat, als sei sie in Ehrfurcht erstarrt. Isselhorst gefiel das offensichtlich.

In einer Vitrine an der gegenüberliegenden Wand lag eine in Silber gebundene Ausgabe von Mein Kampf, Hitlers hasserfüllter programmatischer Schrift aus der Vorkriegszeit. Darüber erhob sich ein kunstvoll geschnitzter Adler aus Holz, die Flügel gespreizt und die Krallen ausgestreckt, als wolle er das Meisterwerk des Führers ergreifen und sich damit dann siegreich in den Himmel aufschwingen.

Die ganze Präsentation verursachte bei Narov einen plötzlichen heftigen Brechreiz, den sie aber unterdrückte. Sie war im Haus. Ihr Ziel war es, Isselhorst seine dunkelsten Geheimnisse zu entreißen.

Er deutete auf die Stahltreppe, die zum Wohnzimmer im Obergeschoss hinaufführte. »Nach Ihnen.« Als Narov nach oben ging, spürte sie, wie sich Isselhorsts Blicke an ihrem Körper weideten.

Soll er doch gaffen, sagte sie sich ruhig. Bald ist es so weit.

5

Isselhorst führte sie zu dem Panoramafenster, das eine ganze Wand des Wohnzimmers einnahm. Auf Knopfdruck fuhren die dunklen Jalousien hoch, und unter ihnen breitete sich die Stadt aus: der schöne, bei Nacht beleuchtete Neckar, dessen Wasser und die Brücken, die ihn überspannten, in ein prachtvolles oranges Licht getaucht waren.

Zu jedem anderen Zeitpunkt hätte Narov die Aussicht als atemberaubend empfunden. Aber nicht in dieser Nacht.

Isselhorst entfernte sich und kam gleich darauf mit zwei Schnapsgläsern wieder. Pfirsichschnaps, roch sie.

Den Blick auf das Panorama gerichtet, hob er sein Glas. »Auf die Schönheit. Auf die Schönen dieser Welt. Auf uns.«

»Auf uns«, wiederholte sie und trank den starken Alkohol in einem Zug.

Isselhorst lächelte bewundernd. »Sie trinken auf jeden Fall wie Hanna Reitsch, das ist mal sicher!« Er nahm die Flasche und schenkte ihr und sich nach, dann beugte er sich näher heran. »Dann verrate ich Ihnen mal ein kleines Geheimnis: Ich schlafe in Hitlers Bett. Dem aus dem Berghof. Ich habe es unlängst bei einer ziemlich außergewöhnlichen Versteigerung erworben. Hat mich … ein Vermögen gekostet, wie man so schön sagt. Möchten Sie es vielleicht sehen?«

»Sehr gern«, antwortete Narov zögernd, »doch zuerst möchte ich Oscar begrüßen. Ich liebe Tiere einfach, und ich denke, das gilt auch für Sie, sonst hätten Sie sich wohl kaum hier im Wald niedergelassen.«

»Sie möchten meinen Hund kennenlernen? Aber natürlich. Kommen Sie.« Isselhorst führte sie zu einer Tür. »Aber sagen Sie – woher wissen Sie von Oscar? Habe ich ihn erwähnt?«

Einen kurzen Moment lang befürchtete Narov, einen Fehler gemacht zu haben, doch sie fing sich schnell wieder. Sie nickte in Richtung Haustür. »In der Diele hängt ein Hundehalsband mit Leine, das seinen Namen trägt.«

Isselhorst lächelte. »Sehr aufmerksam. Klug und schön. Kommen Sie. Ich stelle Ihnen Oscar vor. Er ist sehr groß, aber sehr liebenswert, wie Sie gleich feststellen werden.«

Narov hatte beobachtet, dass Isselhorst das Tier – einen großen, kräftigen Deutschen Schäferhund – zum Joggen mitnahm. Sie liebte zwar Tiere über alles, aber deswegen hatte sie den Hund nicht kennenlernen wollen. Sie musste ihm in Gegenwart seines Herrchens zum ersten Mal begegnen, damit Oscar sie als Freundin abspeicherte.

Sie kamen an einem großen Ölgemälde vorbei, das Narov für einen Matisse hielt. Zweifellos Beutekunst, die jetzt an der Wand eines ultrareichen deutschen Anwalts hing. Große Teile der illegalen Kriegsbeute der Nazis waren ihren rechtmäßigen Besitzern nie zurückgegeben worden, und zwar in erster Linie dank Männern wie Isselhorst.

Sie blieb davor stehen. Es zeigte eine nackte Frau auf einem gelb-grün gestreiften Sofa, deren Beine provokativ über einer Lehne hingen. Über dem Schoß der Frau lag ein Streifen eines leichten chiffonartigen Stoffs, der ihren Intimbereich bedeckte.

»Schön. Faszinierend«, bemerkte sie. »Kenne ich den Künstler?«

Isselhorst zögerte einen Augenblick. »Tatsächlich handelt es sich um einen Matisse«, prahlte er dann und zog arrogant die Lippe hoch. »Die Sitzende Frau von 1923.«

Narov tat erstaunt. »Ein echter Matisse? Wow. Was für ein Anwalt bist du eigentlich genau?«

Isselhorst schenkte ihr ein strahlendes, vollkommenes Lächeln. »Ein sehr talentierter. Einige meiner Klienten bezahlen auch entsprechend.«

Sie gingen in die Küche, wo Isselhorst Narov einen eindeutig schläfrig aussehenden Oscar vorstellte. Sie konnte sehr gut mit Tieren umgehen. Immer schon. Sie und der Deutsche Schäferhund freundeten sich rasch an, aber Isselhorst zog sie schon bald in Richtung des Schlafzimmers und Hitlers Bett weiter. Er konnte es kaum abwarten, zum eigentlichen Ziel ihres Treffens heute Abend zu kommen … zumindest glaubte er, das eigentliche Ziel zu kennen.

Als sie das Schlafzimmer gerade betreten wollten, blieb Narov stehen und neigte den Kopf in Richtung Wohnzimmer. »Der Schnaps. Komm! Nur noch einen.«

Sie merkte, dass Isselhorst – ein Mann, der es gewohnt war, seinen Willen zu bekommen – langsam ungeduldig wurde. Aber gleichzeitig schien ihn die unverhohlene Unkonventionalität seiner Besucherin zu faszinieren.

Er lächelte. »Warum nicht? Einen Absacker, wie man so schön sagt …«

Isselhorst hielt Narov für eine Amerikanerin. Als solche hatte sie sich ihm gegenüber ausgegeben, und tatsächlich war sie das zumeist ja auch. Sie hatte seit Neuestem die US-Staatsbürgerschaft, war aber in Großbritannien geboren und hatte ihre Jugend in Russland verbracht, woher ihre Familie ursprünglich stammte.

Diesen Teil ihrer Lebensgeschichte hatte sie ihm vorenthalten. Die Russen und die Nazis waren noch nie beste Freunde gewesen.

Er goss nach. Als er Narov ihr Glas gab, tat sie so, als sei sie beschwipst und deswegen ungeschickt, und ließ es fallen. Es zerschellte mit einem lauten Knallen am Boden in winzige Splitter, und der Schnaps spritzte über den Marmor.

Narov sah einen Anflug von Wut, fast schon Zorn über Isselhorsts Miene huschen. Obwohl er sich schnell wieder fing, hatte sie den Mann hinter der Maske gesehen. Er war genauso, wie sie ihn sich vorgestellt hatte: amoralisch, die Brust geschwellt vom Stolz auf sein Geld und seine Macht, vor allem aber ein Kontrollfreak.

Allerdings hatte er sich gut im Griff. »Keine Sorge.« Er zuckte die Achseln. »Ich habe eine Haushälterin. Frau Helliger. Sie wird hier morgen früh sauber machen.«

Er ergriff die Flasche und schickte sich an, ein neues Glas zu holen, wodurch er die Hände voll hatte und leicht aus dem Gleichgewicht war.

Ehe er sich wieder umdrehen und Narov ansehen konnte, schnellte sie vor wie eine aufgerollte Schlange, riss die rechte Hand in einem geschmeidigen, aber verheerenden Schlag schräg nach vorn und hämmerte Isselhorst den Handballen direkt von unten ans Kinn.

Sie hatte diesen Schlag während ihrer Dienstzeit bei der Spetsnaz – der Spezialeinheit des russischen militärischen Nachrichtendienstes GRU – tausendmal geübt. Sie legte all ihre Kraft und den angestauten Hass in diesen Schlag und spürte, wie sie Isselhorsts Unterkiefer brutal in den Oberkiefer rammte.

Er taumelte rückwärts, spuckte Blut. Sekunden später lagen die Schnapsflasche und das Ersatzglas ebenfalls auf dem Boden des Wohnzimmers. Dieser Hieb hätte die meisten Männer zu Boden geschickt, er aber hielt sich irgendwie auf den Beinen.

Narov zögerte nicht. Mit der flachen rechten Hand schlug sie zu, traf genau den gewünschten Punkt rechts an seinem Hals, knapp acht Zentimeter unter dem linken Ohr, wo die Halsschlagader Blut in Richtung Gehirn transportierte, und schaltete ihn damit aus.

Die Zeit schien stehen zu bleiben, doch dann rollte Isselhorst die Augen nach innen, seine Knie gaben nach, und er stürzte zu Boden.

Atemlos sah Narov auf ihn hinunter. Er war bewusstlos, und Blut rann aus seinem Mund und vermischte sich mit der Schnapslache.

Sie nahm sich ein paar Sekunden Zeit, um sich zu beruhigen, ehe sie die nächste Phase ihres Plans einläutete.

6

Will Jaeger konnte nicht leugnen, dass er Spaß hatte.

Als sein fünfundneunzigjähriger Großonkel ihm diese Reise vorgeschlagen hatte, hatte Jaeger seine Zweifel gehabt. Doch er musste zugeben, dass er diese Pause gebraucht hatte; und wo hätte er sie besser verbringen können als an dem Ort, an dem alles angefangen hatte?

Näher als im Hotel Zum Türken in Berchtesgaden konnte man Hitlers Berghof, dem Landhaus, von dem aus er Nazideutschland regiert hatte, heute nicht mehr kommen. Das Hotel hatte dicht neben dem Berghof gestanden und war im Krieg von Nazigrößen beschlagnahmt worden. Tatsächlich waren die beiden durch ein Tunnelnetzwerk unter dem Gebirge verbunden gewesen, doch während alliierte Luftschläge den Berghof zerstört hatten, hatte das Hotel weitgehend unbeschädigt überdauert.

Heute herrschte in der ganzen Gegend eine starke antifaschistische Grundstimmung. Andrea Munsch, die Besitzerin des Hotels, war das beste Beispiel dafür. Als Jaeger telefonisch Zimmer zu buchen versucht hatte, hatte sie ihn gewarnt, dass ihnen das Hotel vermutlich nicht gefallen würde. Für einen Augenblick hatte er befürchtet, Zum Türken könne zu einer Art Pilgerstätte für die perverse Ideologie der Nazis geworden sein, doch Andrea hatte dieses Missverständnis schnell aufgeklärt.

1933 hatte Martin Bormann – der damals als »Hitlers Bankier« bekannt war – das Hotel Zum Türken beschlagnahmt und dessen langjährige Besitzer, Andreas Eltern, von seinen brutalen Schlägern hinauswerfen lassen. Nach Kriegsende waren sie zurückgekehrt und hatten ein geplündertes, ausgebranntes Gebäude vorgefunden. Sie hatten beschlossen, das Hotel wiederaufzubauen, es aber im Gedenken an die, die von Hitlers Hand gestorben waren, in dem Zustand belassen, in dem es bei Kriegsbeginn gewesen war. Infolgedessen gab es kaum moderne Annehmlichkeiten, weder Wi-Fi noch Internet, und die einzige musikalische Unterhaltung bot ein altes Grammofon. Das war der Grund für Andreas Warnung gewesen.

An diesem Morgen hatte sie Jaeger und Onkel Joe vom Keller des Türken aus in die Tunnel geführt. Immer tiefer waren sie über Betonstufen und in den Fels geschraubte Eisenleitern in die Eingeweide des Berges vorgedrungen, waren in der luftlosen Feuchtigkeit der Tiefe durch Pfützen gelblichen Wassers gewatet.

Das unterirdische Netzwerk war so ausgedehnt, dass die bayerische Regierung es immer noch kartografierte, um eine Ausstellung zu etablieren, die sich mit den finsteren Exzessen des Naziregimes befasste.

Einmal war Andrea stehen geblieben, damit Onkel Joe zu Atem kommen konnte, und hatte die Zeit genutzt, um eine Geschichte zu erzählen. Sie sprach hervorragend Englisch und war offenbar sehr daran interessiert, solche Kriegsgeschichten nicht in Vergessenheit geraten zu lassen.

Sie hatte auf den Tunnel gedeutet. »Als Bormann das Hotel beschlagnahmte, gab es das hier alles noch nicht. Mit der Zeit wurde es zum Hauptquartier der SS und einem der wichtigsten Entscheidungsstandorte des Reichs. Infolgedessen geschahen hier unaussprechliche Dinge. Vielleicht spüren Sie es ja noch, die Atmosphäre hier unten ist erfüllt davon. Zumindest sagen das viele Besucher. Ein Gefühl des Bösen liegt in der Luft.«

Jaeger dachte einen Augenblick darüber nach. Beim Betreten der Tunnel hatte er sich unwohl gefühlt, und je tiefer sie gekommen waren, desto stärker war diese Empfindung geworden.

»Meine Eltern waren Zeugen einer der frühen Gräueltaten«, hatte Andrea weitererzählt. »Bormann beschlagnahmte das Haus eines Ortsansässigen. Der Mann war völlig verzweifelt, deshalb wartete er, bis Hitlers Konvoi vom Berghof herunterkam, trat dann in einer Kurve vor Hitlers Wagen, als dieser bremsen musste, und wandte sich persönlich an ihn, bat ihn, seiner Familie nicht das Heim wegzunehmen. Hitler tat, als höre er ihm verständnisvoll zu, und versprach dem Mann, sich am nächsten Tag darum zu kümmern. Der Mann brachte seiner Familie die guten Neuigkeiten: Der Führer persönlich würde sich für sie starkmachen. Am nächsten Morgen kam die Gestapo. Sie nahm ihn fest, verschleppte ihn in diese Tunnel, um ihn zu foltern, und schickte ihn dann ins KZ. Das war nur ein Beispiel.« Andrea hatte innegehalten. »Eines von Tausenden.«

Die Tour durch den labyrinthartigen Tunnelkomplex hatte fast den gesamten Morgen in Anspruch genommen, vor allem, weil sie sich in Onkel Joes Tempo fortbewegen mussten. Am Nachmittag war Jaeger auf einem der großartigen Wanderwege, die es hier im Gebirge überall gab, joggen gegangen, während Onkel Joe seinen Mittagsschlaf gemacht hatte.

Er war mit der Erwartung hergekommen, eine Atmosphäre der Bedrücktheit und der Finsternis vorzufinden, doch das Gegenteil war der Fall. Die atemberaubende Schönheit der dramatischen Gipfel und Täler hatte ihm tatsächlich gutgetan.

Genau, was er jetzt brauchte.

Die zurückliegenden Monate waren alles andere als einfach gewesen.

Vier Jahre zuvor hatte man seine Frau Ruth und ihren achtjährigen Sohn Luke entführt. Jaeger hatte die ganze Welt nach den Kidnappern abgesucht. Die Spur hatte zum Sohn eines früheren Nazigenerals geführt, der nach dem Krieg als hochrangiges Mitglied der US-Nachrichtendienste Karriere gemacht hatte. Man hatte ihn rekrutiert, um beim Kampf gegen den Aufstieg Sowjetrusslands zu helfen, weil die Deutschen die Einzigen gewesen waren, die Erfahrung mit dem Krieg gegen die Roten hatten.

Dieser Nazigeneral war schon lange tot, doch sein Sohn, Hank Kammler, hatte bedingt durch eine gemeinsame familiäre Vergangenheit allen Grund, Jaeger zu hassen. Kammler hatte Jaegers Frau und seinen Sohn aus Rache entführt und ihr Verschwinden als Mittel genutzt, um Jaeger auf die Entfernung zu foltern, indem er ihm Videos von Ruth und Luke in Gefangenschaft geschickt hatte, gefesselt, kniend und um Hilfe bettelnd. Jede quälende Botschaft hatte mit dem eiskalten Satz »Wir sind die Zukunft« geendet.

Nach einer weltumspannenden Jagd hatte Jaeger seine Familie gerettet, doch zuvor hatte Kammler sie mit einem Supervirus infiziert, das den Großteil der Menschheit hatte ausrotten sollen, um eine schöne neue Welt zu schaffen: ein Viertes Reich. Die wenigen Auserwählten waren geimpft gewesen, um die Auswirkungen dessen zu überleben, was er als Gottvirus bezeichnet hatte.

Im letzten Augenblick hatten Jaeger und sein Team Kammlers Pläne durchkreuzt, und die Militärs und Justizbehörden der Welt hatten sich auf ihn gestürzt. Aus seinem unterirdischen Kommandobunker hatte man eine verbrannte Leiche – deren DNS später als mit der Kammlers übereinstimmend identifiziert worden war – geborgen. Er schien Hitler nachgeeifert und Selbstmord begangen zu haben, möglicherweise indem er sich in Brand gesetzt hatte.

Doch das hatte Jaegers Leiden nur bedingt gelindert. Luke hatte sich zwar erstaunlich gut erholt, Ruth hingegen nicht. Sie hatte scheinbar unrettbar in geistiger Umnachtung gelebt.

Schließlich hatte Jaeger sie in eine Londoner Klinik eingeliefert, die auf Traumapatienten spezialisiert war. Aber inzwischen dauerte die Therapie schon Monate an und zeigte keinerlei Wirkung. Wenn überhaupt, dann wurden Ruths Stimmungsschwankungen, ihre Unberechenbarkeit und ihre Gewalttätigkeit – sie schlug gerne mal zu – nur noch schlimmer.

Jaeger hatte diese Pause definitiv dringend gebraucht.

7

Jaegers Frau hatte ein fürchterliches Trauma erlitten. Drei Jahre lang hatte Kammler sie auf grausamste Weise psychisch und physisch gefoltert, und bei ihrer Rettung war sie nur noch ein Schatten ihrer selbst gewesen.

Noch immer musste sie sich zahllosen Tests unterziehen, aber niemand bezweifelte, dass sie an PTBS – posttraumatischer Belastungsstörung, einer schrecklichen psychologischen Erkrankung, die durch ein Übermaß an Schrecken entstand – litt. Körperlich hatte sie sich zwar erholt, doch die seelische Narben waren noch längst nicht verheilt.

Jaeger hatte versucht, geduldig, verständnisvoll und heiter zu sein. Den Zorn und die Gewaltausbrüche zu ertragen.

In Wirklichkeit hatte aber all das seinen Tribut gefordert.

Er war einfach nur froh, dass Luke und ihr Adoptivsohn Simon ein staatliches Internat auf dem Lande besuchten und so von den extremeren Ausbrüchen ihrer Mutter nichts mitbekamen.

Simon Chucks Bello, eine Waise aus einem ostafrikanischen Elendsviertel, hatte eine Schlüsselrolle beim Sieg über Kammler und bei der Neutralisierung seines Gottvirus gespielt. Luke hatte sich schon immer einen Bruder gewünscht, und da Simon keine Eltern mehr hatte, hatte die Familie Jaeger beschlossen, ihn zu adoptieren.

Aber im Augenblick brauchte Ruth Raum, um sich zu erholen, und Jaeger hatte dringend eine Auszeit nötig – daher sein spontaner Besuch des Berghofs.

Als er auf der Terrasse des Hotels saß, ließ er die Heiterkeit und atemberaubende Schönheit dieses Ortes auf sich wirken. Damit hatte er am wenigsten gerechnet: Trost gerade dort zu finden, wo Hitler so viel Böses in Gang gesetzt hatte.

Als sein Blick über die dramatischen Gesteinsformationen der bewaldeten Hügel schweifte, kam ihm noch ein weiterer Gedanke: Wie konnte jemand all das vor Augen haben, das überwältigende Untersberg-Massiv betrachten und dabei den Massenmord an so vielen Menschen planen? Es war unvorstellbar.

Und doch war es geschehen.

Ein höfliches Hüsteln holte sein Denken in die Gegenwart zurück.

Als er sich umdrehte, stand Andrea mit der Speisekarte fürs Abendessen neben ihm.

»Hat sich Ihr Onkel noch nicht wieder sehen lassen?«, erkundigte sie sich. »Wird er mit Ihnen essen? Wenn nicht, kann er das Abendessen auch in seinem Zimmer einnehmen. Er muss nach dem Tunnelspaziergang doch müde sein. Was für ein wunderbarer Mann. Wie alt ist er eigentlich, wenn ich fragen darf?«

»Fünfundneunzig … bald volljährig«, scherzte Jaeger. »Keine Sorge, er wird zum Abendessen erscheinen. Ich habe uns zwei Herrengedecke bestellt. Das wird Onkel Joe auf keinen Fall verpassen wollen.«

Andrea lächelte. »Haben Sie von der neuesten Entdeckung gehört? Die Nachrichten sind voll davon. Ein österreichischer Filmemacher hat gerade ein bisher komplett unbekanntes Nazi-Tunnelsystem hier ganz in der Nähe entdeckt.«

»Wirklich? Die haben überall Tunnel gegraben, was?«

»Sieht so aus. Aber diese Tunnel taugen zur Schlagzeile, weil sie verborgen waren. Offenbar handelt es sich um eine streng geheime Waffenfabrik der Nazis. Sie haben dort sehr fortschrittliches Kriegsgerät versteckt.«

Andrea reichte Jaeger eine Zeitung. Er überflog die Titelseite. »Entdeckungen von Nazigeheimnissen«, sinnierte er. »Immer für eine Schlagzeile gut.«

Andrea lächelte. »In der Tat.«

Da sprang ihm ein vertrauter Name ins Auge: SS-Obergruppenführer Hans Kammler.

»Nur aus Neugier«, bemerkte er. »Was steht da über General Kammler?«

Andrea las laut vor und übersetzte dabei: »Hitlers Geheimfabrik gefunden. Gewaltiger unterirdischer Komplex, in dem die Nazis an streng geheimen Waffensystemen arbeiteten … Der gesamte 0,3 Quadratkilometer große Komplex war geplant von SS-General Hans Kammler, der Wissenschaftler rekrutierte, die dort gegen Ende des Krieges an einem geheimen Waffenprogramm arbeiteten … Der österreichische Filmemacher Andreas Sulzer sagte, es handle sich ›wahrscheinlich um die größte geheime Waffenfabrik des Dritten Reichs‹. Kammler, der die Krematorien und Gaskammern in Auschwitz entwarf, war auch für Hitlers V-Waffenprogramme zuständig. Experten sagen, die Nazis könnten in den Tunneln eine Variante der V-2 mit einer Massenvernichtungswaffe als Sprengkopf entwickelt haben.«

Jaeger schüttelte den Kopf. »Verrückt. Ich frage mich, wie viel Wahrheit darin steckt.«

»Na ja, der Tunnelkomplex ist gar nicht weit von hier, in St. Georgen an der Gusen. Vielleicht zwei Stunden Fahrt. Warum schauen Sie es sich nicht mit eigenen Augen an?«

Jaeger nickte nachdenklich. Er konnte nicht leugnen, dass er neugierig war. Die Möglichkeit, dass SS-General Kammler in letzter Minute eine Nazi-Superwaffe hatte entwickeln lassen, die bis heute unentdeckt geblieben war, faszinierte ihn.

»Ich werde das mit Onkel Joe besprechen.« Über Andreas Schulter hinweg sah er jemanden näher kommen. »Wenn man vom Teufel spricht!«

Onkel Joe mit seinem weißen Haarschopf über den Knopfäuglein kam über die Terrasse, sein dünner Gehstock war das einzige Zugeständnis an sein Alter. Jaeger dachte, er würde sich glücklich schätzen, wenn er mit fünfundneunzig auch nur halb so vital und tatkräftig sein würde wie Joe heute.

Sie sprachen über die Entdeckung in St. Georgen. Eigentlich sollten sie am nächsten Morgen nach Großbritannien zurückkehren, doch Jaeger hielt es für möglich, ihre Rückreise um achtundvierzig Stunden zu verschieben. Sie konnten am nächsten Tag die geheimen Höhlen besuchen und dann die lange Heimfahrt antreten.

Autor