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The Point - Entfesselte Sehnsucht

Prickelnde Gefahr und düstere Romantik mischen sich in dieser brandheißen Serie von New York Times-Bestsellerautorin Jay Crownover!

Willkommen in The Point - der Stadt der Außenseiter, der Gesetzlosen, der gebrochenen Herzen. Düster und verwegen: Shane Baxter ist ein echter Bad Boy, dem Gewalt nicht fremd ist. Eine falsche Entscheidung zu viel brachte ihm fünf Jahre Gefängnis ein. Jetzt ist er wieder frei und will herausfinden, wer ihn verraten hat - um jeden Preis. Doch eine unschuldige Rothaarige stellt sich ihm in den Weg … Dovie kennt das Leben auf der falschen Seite des Gesetzes. Aber sie hat eine andere Wahl getroffen und versucht, sich an die Spielregeln zu halten. Jetzt ist ihr Bruder verschwunden - und nur Baxter kann ihr helfen, ihn zu finden. Doch der Exhäftling macht ihr Angst. Denn er weckt Gefühle, die es in ihren dunkelsten Fantasien nicht gab … Manche Typen sind eben gerade gut, wenn sie gefährlich sind!


  • Erscheinungstag: 10.11.2015
  • Aus der Serie: Welcome Point
  • Bandnummer: 1
  • Seitenanzahl: 304
  • ISBN/Artikelnummer: 9783956495014
  • E-Book Format: ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Jay Crownover

The Point — Entfesselte Sehnsucht

Roman

Aus dem Amerikanischen von
Tess Martin

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MIRA® TASCHENBUCH

MIRA® TASCHENBÜCHER
erscheinen in der HarperCollins Germany GmbH,
Valentinskamp 24, 20354 Hamburg
Geschäftsführer: Thomas Beckmann

Copyright © 2015 by MIRA Taschenbuch
in der HarperCollins Germany GmbH
Deutsche Erstveröffentlichung

Titel der nordamerikanischen Originalausgabe:
Better When He’s Bad
Copyright © © 2014 by Jennifer M. Voorhees
erschienen bei: William Morrow, New York

Published by arrangement with
William Morrow, an imprint of HarperCollins Publishers, LLC.

Konzeption/Reihengestaltung: fredebold&partner gmbh, Köln

Umschlaggestaltung: any.way Hamburg / Barbara Hanke und Cordula Schmidt

Redaktion: Mareike Müller

Titelabbildung: Corbis / Hans Neleman; Shutterstock / Oleksandr Horiainov

Autorenfoto: © Sassymonkey.net

ISBN 978-3-95649-501-4

www.mira-taschenbuch.de

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eBook-Herstellung und Auslieferung:

readbox publishing, Dortmund

www.readbox.net

VORWORT

Viele Leute denken, ich schreibe über den Inbegriff des Bad Boy. Es stimmt, die Männer in meinen Romanen haben meist eine große Klappe, sind ganz schöne Angeber und meistens an interessanten Stellen tätowiert, aber deswegen finde ich sie noch lange nicht schlecht. Es sind Männer, die so leben, wie es ihnen passt, die sich in ihrer Haut wohlfühlen und keine Angst haben, ihre eigenen Regeln aufzustellen. Ich finde, ich schreibe über interessante Jungs. image

Dies vorausgeschickt, ging es mir diesmal nicht nur darum, über einen Bad Boy zu schreiben, sondern über einen Jungen, der böse ist … und zwar richtig böse. Über einen Antihelden, der ständig in Schwierigkeiten steckt, jede Menge Probleme hat, über einen Mann, der stolz auf seine Herkunft und auf sich selbst ist, der hinter den Entscheidungen steht, die er nun mal treffen musste … Ich konnte einfach nicht genug davon bekommen. Außerdem überlegte ich, was für eine Frau sich wohl in einen solchen Typen verlieben würde.

Auftritt Shane Baxter. Er ist ein Kerl, den man nur schwer lieben und in den man sich kaum hineinversetzen kann, der ganz und gar TOUGH ist. Ich wollte herausfinden, ob ich um einen solchen … nun, verdorbenen Charakter herum eine bittersüße Liebesgeschichte spinnen könnte. Ich hoffe sehr, dass es mir gelungen ist … Ich jedenfalls habe Bax am Ende dieser Reise geliebt, auch wenn ich ein bis fünf Minuten brauchte, um es so weit zu schaffen.

Die Welcome-to-the-Point-Serie spielt in einem fiktiven Stadtteil, den ich „The Point“ genannt habe. Dahinter steckt die Idee, dass sie in jeder Stadt spielen könnte, in jedem rauen Viertel, in jeder heruntergekommenen Nachbarschaft, die der Leser sich vorstellen kann. Der Schauplatz ist schlicht und ergreifend das, was wir „auf der falschen Seite der Stadt“ nennen. Diese Serie ist düsterer, ein wenig härter und viel ungewöhnlicher als meine Marked-Men-Serie.

Viel Spaß!

Jay

1. KAPITEL

Bax

Es gibt nur wenige Dinge, die einem den Spaß nach dem Sex in Sekundenschnelle verderben. Ein Schlag an die Schläfe, und zwar mit etwas, das sich wie ein Schlagring anfühlte, steht sicher ganz oben auf der Liste. In meinen Ohren begann es zu rauschen, als mein Kopf von der Wucht des Treffers zur Seite flog. Ich hätte ja reagiert, aber ein Aufwärtshaken riss mein Kinn hoch, und mein Schädel knallte hart gegen die Backsteinwand hinter mir. Ich sah Sterne und schmeckte Blut. Diese Typen waren eindeutig nicht auf einen fairen Kampf aus, und sobald ich wieder klarer denken konnte, würde ich ihnen die Hölle heißmachen. Ich spuckte Blut und nahm die Zigarette, die mir der für die Prügel verantwortliche Typ reichte.

„Lange nicht gesehen, Bax.“

Ich betastete mit einer Hand meinen Kiefer, um zu prüfen, ob er gebrochen war. Nichts ruinierte einem die sanfte Postorgasmus-Stimmung mehr als ein Haufen planloser Idioten und die Befürchtung, ein paar Zähne zu verlieren.

„Wie habt ihr mich gefunden?“ Ich stieß den Rauch aus und lehnte mich an die Wand des Mietshauses, aus dem ich gerade gekommen war. Der kupferartige Geschmack von Blut lag scharf auf meiner Zunge. Ich achtete darauf, dass das Blut diesmal direkt auf den Budapestern meines Angreifers landete, als ich erneut ausspuckte.

„Fünf Jahre ohne Sex sind eine lange Zeit für einen Mann.“ Er zog die Augenbrauen hoch und öffnete und schloss die Hände, mit denen er weitaus Schlimmeres anstellen konnte, als ein paar Kinnhaken auszuteilen. „Keine Pussy, kein Alkohol, kein Koks, keine schnellen Autos und niemanden, den es einen Dreck interessiert, wer du bist, Bax. Ich wusste, dass du nach der Entlassung zuerst an deinen Schwanz denkst. Ich habe Roxie gesagt, sie soll mich anrufen, wenn du bei ihr auftauchst.“

Er irrte sich. Als Erstes hatte ich an mein Auto gedacht. Gut, mit dem war ich dann sofort zu Roxie gefahren, bei der ich todsicher auf meine Kosten kommen würde, doch dennoch waren mir schnelle Wagen wichtiger als Pussys.

„Also hast du es dir nicht nehmen lassen, mir meine Willkommensparty zu versauen.“

„So wie ich Roxie kenne, und ich kenne sie gut, kannst du dich nicht beklagen.“

Die aufgedrehte Meute um ihn herum begann zu lachen, während ich nur die Augen verdrehte. Es gab natürlich einen Grund, warum ich, obwohl die letzten fünf Jahre außer Gefecht gesetzt, bei Roxie todsicher auf meine Kosten kam – und nicht nur ich.

„Ich bin nicht meinetwegen hier. Novak will dich sehen.“

Novak. Allein die Erwähnung des Namens ließ einen normalen Menschen vor Angst erzittern. Meistens wurde er im Zusammenhang mit Mord, schwerer Körperverletzung oder ähnlichen Delikten genannt. Er war unbarmherzig. Er war kaltblütig. Er war unantastbar, eine Legende in The Point und über die Grenzen hinaus. In den dunklen Straßen und Hintergassen war er der König. Niemand stellte sich ihm in den Weg. Niemand machte sich einfach aus dem Staub. Niemand wagte, ihm die Stirn zu bieten … niemand außer mir. Ich wollte Novak ebenfalls treffen, aber unter meinen Bedingungen.

Ich drückte die Zigarette auf der Sohle einer meiner schweren schwarzen Stiefel aus. Jetzt war ich um einiges kräftiger als damals, als ich verhaftet wurde, und fragte mich, ob das den Typen aufgefallen war. Ein Leben mit zu viel Alkohol, Drogen und leichten Mädchen diente nicht gerade der Gesundheit – egal, wie jung und fit man war. Wenn einem all das mit einem Schlag weggenommen wurde, veränderte man sich nicht nur mental, sondern auch körperlich, ob es einem passte oder nicht.

„Ich will Novak nicht treffen.“ Zumindest nicht jetzt. Endlich hörten meine Ohren auf zu klingeln, nur die hämmernden Kopfschmerzen blieben. Nachdem die Kerle nicht länger das Überraschungsmoment auf ihrer Seite hatten, würde es ganz schnell blutig und hässlich werden, falls sie die Sache weiterverfolgten. Das kümmerte mich nicht, obwohl ich wusste, dass sie höchstwahrscheinlich bewaffnet waren.

Der, der mir die Schläge verpasst hatte, starrte mich bloß an, während ich zurückstarrte. Ich war kein verängstigter Junge mehr, der irgendwo dazugehören wollte … der Gestalten wie sie unbedingt beeindrucken wollte. Fünf Jahre seines Lebens für einen Haufen Abschaum zu opfern hinterließ eben Spuren. Das hätte Novak eigentlich klar sein müssen.

„Race ist verschwunden.“

Nun, das erzielte die erwünschte Wirkung. Ich versteifte mich und kniff die Augen zusammen. Danach stieß ich mich von der Wand des Mietshauses ab und strich mir grob über das kurz rasierte Haar. Im Knast Haare zu haben ist eine schlechte Idee. Trotz der schlimmen Narbe, die sich über eine Seite meines Schädels zog, hatte ich nicht vor, meine rabenschwarzen Locken wieder wachsen zu lassen. In meiner Branche war geringer Pflegeaufwand wichtig – nun, in meiner ehemaligen Branche –, doch über dieses Thema wollte ich im Moment nicht nachdenken. Oder überhaupt jemals.

„Was soll das heißen, er ist verschwunden? Im Sinne von er ist verreist oder im Sinne von Novak hat ihn verschwinden lassen?“ Wäre nicht das erste Mal, dass Novak ein Problem mit einer Kugel zwischen die Augen löste.

Der Typ verlagerte sein Gewicht, aber ich war mit meiner Geduld am Ende, warf mich nach vorn und packte ihn am Kragen seines schicken Button-up-Hemdes. Ich war keine achtzehn mehr und auch nicht mehr dürr, und ich sah Angst in seinem Blick aufflackern, als ich ihn buchstäblich hochhob, bis er auf den Zehenspitzen stand, und ihm ins Gesicht schauen konnte. Ich hörte, wie der Abzug einer Waffe gespannt wurde, doch ich ließ ihn nicht aus den Augen. Er umklammerte Halt suchend meine Handgelenke.

„Antworte, Benny. Was soll das heißen, Race ist verschwunden?“

Race Hartman war überwiegend ein guter Kerl. Zu gut und zu klug für so ein Leben. Er hätte sich niemals auf Novak einlassen dürfen, hätte niemals zusammen mit mir in dieser Nacht unterwegs sein dürfen, als alles den Bach runterging. Ich hatte bereitwillig fünf Jahre geopfert, um Race aus den Fängen eines Arschlochs wie Novak zu befreien. Falls der Idiot meinem Rat nicht gefolgt und nicht abgehauen war, während ich in Handschellen gelegt wurde, würde ich die ganze Stadt dem Erdboden gleichmachen.

Benny versuchte, mir mit seinen weibischen Budapestern gegen das Schienbein zu treten, und ich stieß ihn von mir. Danach warf ich Schläger Nummer eins, der eine Waffe auf mich richtete, einen finsteren Blick zu und zeigte ihm den Stinkefinger.

„Bax …“ Seufzend strich sich Benny das Hemd dort glatt, wo ich ihn zuvor gepackt hatte. „Race ist in dem Moment untergetaucht, in dem du eingefahren bist. Niemand hat was von ihm gehört; er war wie vom Erdboden verschluckt. Keins der Mädchen hat ihn gesehen. Novak hat nach ihm suchen lassen, für den Fall, dass der Mist, den ihr beide verzapft habt, uns am Arsch packt, aber nix. Letzte Woche, als es hieß, dass du rauskommst, tauchte er plötzlich auf. Er kam an, hat irgendwelche Drohungen von sich gegeben und Novak gesagt, was für ein Scheiß es sei, dass du für diese Sache eingebuchtet worden warst. Ich dachte, er hätte vielleicht ’ne Todessehnsucht, doch dann … puff, nachdem er ins Wespennest gestochen hatte, war er wieder weg. Und jetzt erklär mir mal, warum ein cleverer Typ wie Race so was machen sollte?“

Das wusste ich nicht, und es gefiel mir ganz und gar nicht. Außer Race Hartman hatte ich keine Freunde auf dieser Welt, niemanden, dem ich vertraute. „Richte Novak aus, er soll sich zurückhalten. Ich werde schauen, was ich tun kann, um ihn aufzuspüren, aber falls Novak irgendwas mit Races Verschwinden zu tun hat, wird er es bereuen.“

„Ziemlich mutig, Drohungen auszustoßen, wenn man noch nicht mal vierundzwanzig Stunden aus dem Knast raus ist.“

Ich schnaubte und lief an Benny vorbei, als wollte ich keine Sekunde mehr mit ihm verschwenden, was tatsächlich der Fall war.

„Fünf Jahre ohne Sex sind eine lange Zeit. Und auch eine lange Zeit, um richtig viel Wut aufzustauen und verdammt noch mal erwachsen zu werden. Du kennst mich nicht, Benny. Novak kennt mich nicht. Meinetwegen kann er eine ganze Armee aufmarschieren lassen. Wenn er was mit Races Verschwinden zu tun hat, wird er dafür bezahlen. Dafür sorge ich. Richte Roxie meinen Dank dafür aus, dass sie mich verpfiffen hat.“

„Man kriegt, wofür man bezahlt.“

Mir war nicht klar, ob das ein Hieb gegen mich oder gegen Roxie sein sollte.

„Ich habe keine Ahnung, wie das bei dir und deinen hässlichen Kumpels ist, doch ich habe in meinem ganzen Leben noch nie dafür bezahlen müssen.“

Ich bemerkte, wie er die Stirn runzelte, und nutzte diesen Moment, um vorzustürzen und den härtesten Teil meines Kopfes voll auf seine Nase zu schmettern. Ich hörte ein befriedigendes Knirschen und einen Schmerzensschrei. Seine Freunde eilten zu ihm, damit er nicht auf der schmutzigen Straße in die Knie ging. Ich schüttelte mich kurz, damit ich wieder klar sehen konnte. Meine Kopfschmerzen waren dadurch auch nicht gerade besser geworden. Ich trat um meinen jammernden und blutenden Gegner herum. Während ich die Gasse hinunterschritt, rief ich ihm über die Schulter zu: „Du solltest mich nicht unterschätzen, Benny. Das war immer schon dein Problem.“

Mein Name ist Shane Baxter, meist Bax genannt, und ich bin ein Krimineller.

Hast du ein Mädchen? Ich werde es dir wegschnappen. Hast du eine hübsche Karre? Ich klaue sie dir. Besitzt du teuren elektronischen Kram, von dem du denkst, er sei sicher? Ich werde ihn dir wegnehmen, weil du ihn wahrscheinlich sowieso nicht brauchst. Alles, was nicht niet- und nagelfest oder an dich gekettet ist, wird meins.

Das war das Einzige, was ich wirklich gut konnte. Mir Dinge unter den Nagel zu reißen, die mir nicht gehörten, war zu meiner zweiten Natur geworden; nun, das und mich in die schlimmsten Schwierigkeiten zu bringen. Ich war erst dreiundzwanzig und direkt nach meinem achtzehnten Geburtstag für fünf Jahre in den Knast gewandert. Wobei ich natürlich auch schon vorher mit dem Gesetz in Konflikt geraten und erwischt worden war. Zwar war ich kein Meister darin, gute Entscheidungen zu treffen oder ein anständiges Leben zu führen, doch ich kannte meine Stärken, und an die hielt ich mich. Und ich sorgte für mich selbst. Koste es, was es wolle.

Es gab zwei Menschen, die mir wichtig waren: meine Mom und Race. Einmal waren es drei gewesen, doch der dritte hatte mich viel zu oft hängen lassen, und ich hatte mir geschworen, ihn fertigzumachen, sobald sich die Gelegenheit bot. Meine Mom war leidgeprüft und stur, der einzige Mensch, der zu mir hielt, als ich ins Gefängnis wanderte. Sie hatte einen schrecklichen Geschmack, was Männer betraf, die schlechte Angewohnheit, mehr zu trinken, als ihr guttat, und Schwierigkeiten, einen Job zu behalten. Sie war völlig fertig, obwohl ich ihr jede Menge Rettungsleinen zugeworfen hatte.

Ich habe schon Sachen geklaut, bevor ich überhaupt kapierte, was ich da machte, weil ich es satthatte, nichts zu besitzen. Als ich älter und besser darin wurde, tat ich es, um die Rechnungen zu bezahlen und damit wir ein Dach über dem Kopf hatten. Meine Mom hatte mich nie verurteilt, mich nie im Stich gelassen, und sie war der einzige Mensch auf der Welt, der sich über meine Entlassung aus dem Knast tatsächlich freute.

Race und ich waren so unterschiedlich, wie man es sich nur vorstellen konnte. Er hatte einen Schulabschluss und Computerkenntnisse und stammte aus einer Familie, die über alle wichtigen Beziehungen und die richtige Herkunft verfügte. Er konnte mit Worten umgehen und war charmant, immer angezogen, als wäre er auf dem Weg zu einem Vorstellungsgespräch, er war geduldig und vernünftig. Er war wie eine warme Sommerbrise in meinem Schneesturm der Zerstörung. Ich hatte nicht mal die Highschool abgeschlossen, konnte kaum einen vollständigen Satz lesen, hatte außer Mom keine Familie und war genau das, wonach ich aussah: ein kleiner Schläger. Selbst vor der schweren Zeit im Knast war ich muskulös gewesen, ein kräftiger Typ, mit dem sich niemand anlegen wollte. Niemand außer Race.

Ich hatte eines Nachts, als wir beide Teenager waren, probiert, sein Auto zu klauen. Er fuhr einen hübschen Roush Mustang, eine sogar noch hübschere Blondine saß auf dem Beifahrersitz. Ich hatte keine Ahnung, was er in diesem gefährlichen Stadtteil zu suchen hatte, allerdings konnte ich eine solche Gelegenheit nicht verstreichen lassen. Kurzerhand hielt ich ihm ein Messer an die Kehle, zerrte ihn vom Sitz und wollte mir seinen Wagen unter den Nagel reißen. Nur war Race überhaupt nicht scharf darauf, ihn mir einfach so zu überlassen. Ich weiß bis heute nicht, ob es ihm um das Mädchen oder um die Karre ging, doch wie auch immer, wir prügelten uns gegenseitig die Scheiße aus dem Leib. Ich brach ihm ein Handgelenk, er mir ein paar Rippen, und er schlug mir zudem zwei Schneidezähne aus. Es war ein mörderischer und langer Kampf, und am Ende waren wir Blutsbrüder.

Auf der Fahrt ins Krankenhaus erhielt ich den Sitz der Blondine und hatte einen neuen Bruder. Nie war ich in seinem schicken Haus in „The Hill“ gewesen, nie hatte ich seinen guten Namen in seiner noblen Privatschule beschmutzt. Er setzte nie einen Fuß ins Getto und kriegte auch nie einen der dem Alkohol geschuldeten Wutausbrüche meiner Mom mit. Als ich anfing, regelmäßig für Novak Luxuskarren zu klauen, und mit den Computersystemen in den Autos nicht zurechtkam, die irgendwas im sechs- und siebenstelligen Bereich kosteten, war er der Einzige, dem ich vertraute. Wir ließen es uns gut gehen, hatten jede Menge heiße Mädchen und feierten Partys mit dem ganzen Kram, von dem Kids in unserem Alter noch gar nichts wissen sollten. Ich bereute es jeden Tag, ihn jemals um Hilfe gebeten und damit auf mein Niveau hinuntergezogen zu haben. Fünf Jahre waren eine verdammt lange Zeit, um an einer Entschuldigung zu stricken. Eine genauso lange Zeit, um auf die Entschuldigung zu warten, die er mir schuldete und die, wenn ich sie hörte, hoffentlich nicht dazu führte, dass ich meinen besten Freund mit eigenen Händen erwürgte. Wir beide hatten ein paar schwerwiegende Fehler gemacht, für die wir büßen mussten.

Das Problem war nur, dass ich nicht wusste, wo ich anfangen sollte. Als ich in den Bau wanderte, hatte er sich gerade auf einer Eliteuni im Osten eingeschrieben. Ich hatte keine Ahnung, ob er jemals dort angekommen war. Zwar war ich aus diesem Grund freiwillig in den Knast gegangen, doch im Leben gab es nun mal keine Garantien. Diese Lektion hatte ich auf die harte Weise lernen müssen.

Ich nahm eine Zigarette aus der Packung, die ich Roxie abgeknöpft hatte, und holte das kurz zuvor auf dem Weg zu meinem Auto gekaufte Prepaid-Handy heraus. Ich lief um den Block herum zu dem Parkplatz, auf dem ich diese Schönheit abgestellt hatte, gut geschützt vor neugierigen Blicken und Langfingern. Ich wusste, auf welche Autos Diebe aus waren und welche sie für sich selbst haben wollten. Beides traf auf meinen Plymouth Roadrunner Baujahr 1969 mit gelb-schwarzen Rallyestreifen, aufgemotztem Motor und dem Scoop zu. Der Wagen war laut. Er war stark. Er war schneller als schnell, und er war das Einzige, was noch mir gehörte, nachdem ich eingebuchtet worden war. Ich hatte meine Mutter gebeten, ihn zu verkaufen, doch sie hatte sich geweigert. Sie wusste, wie viel Arbeit, wie viel Schweiß und Tränen ich in dieses Auto gesteckt hatte. Wenn es hieß, Miete oder mein Baby, dann gewann mein Baby.

Ich sog den Rauch in meine Lunge und blinzelte hinauf in den Himmel. Ich hätte mein Leben für ein paar Schmerztabletten gegeben, damit das hämmernde Pochen in meinem Kopf verschwand, aber im Moment hatte ich Dringenderes zu erledigen. Ganz zu schweigen davon, dass einige Runden mit Roxie die brennende Begierde tief in mir nicht hatten stillen können. Ich mochte Mädchen, und Mädchen mochten mich. Wenn man in ärmlichen Verhältnissen und ohne jegliche elterliche Aufsicht aufwuchs, hatte man Sex, um die Zeit totzuschlagen und das monotone Gefühl von Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit zu verjagen. Zwei Menschen konnten sich gegenseitig eine gute Zeit bereiten, was ich öfter gemacht hatte, als man eigentlich sollte. Ich war nicht daran gewöhnt, ohne auszukommen … nun, jetzt war ich es, doch in meinem alten Leben war Sex haben wie atmen gewesen. Man brauchte nicht nachzudenken und sich kein bisschen zu bemühen.

Ich war groß, weit über eins achtzig. Ich hatte dunkles Haar und dunkle Augen, die mich laut den Frauen geheimnisvoll wirken ließen. Ich redete nicht viel, wenn ich nichts Wichtiges zu sagen hatte, was zu meinem nicht unberechtigten Ruf, ein knallharter Typ zu sein, beitrug. Außerdem besaß ich einen Spiegel, ich wusste also, dass ich ziemlich nett anzuschauen war. Vielleicht würde ich in naher Zukunft keinen Model-Vertrag angeboten bekommen, aber die Girls standen dennoch auf mich. Trotz der Narbe quer über meinem Schädel und meiner schiefen, mehrfach gebrochenen Nase. Der auffälligste Unterschied zwischen mir und jedem anderen gut aussehenden Typen in der Gegend war die Tätowierung direkt neben meinem linken Augenwinkel, ein kleiner schwarzer Stern. Mit sechzehn – und high – hatte ich das für eine brillante Idee gehalten. Ich fand sie nach wie vor cool und einschüchternd im Sinne von: Ich bin verrückt genug, mir das Gesicht tätowieren zu lassen. Wie gesagt, ich wirkte wie ein Schläger, ein recht ansehnlicher Schläger zwar, aber eben ein Schläger.

Ich musste Race finden und mit irgendeinem hübschen jungen Ding in die Kiste steigen. Roxie stand nicht zur Debatte, da sie mich verraten hatte. Ich hatte ihr noch nie getraut. Sie spielte die Rolle des unschuldigen netten Mädchens von nebenan perfekt. Zumal ich niemanden kannte, der weniger unschuldig sein konnte als sie. Verärgert darüber, wie sich meine ersten Stunden in Freiheit gestalteten, rief ich einen meiner alten Kontakte an.

„Hey.“

Schweigen herrschte am anderen Ende der Leitung. Ich warf die Zigarette weg und glitt hinter das Steuer meines Autos. Das fühlte sich mehr nach Nachhausekommen an, als mit Roxie zu vögeln oder Benny zu verprügeln.

„Wer ist da?“

Jeder, den ich kannte, war ein misstrauischer Kerl. Das galt im Besonderen, wenn es sich bei der Person am anderen Ende zufällig um einen ziemlich erfolgreichen Drogendealer handelte.

„Bax.“

„Seit wann bist du draußen?“

„Seit heute.“

„Und schon scharf auf ’nen Trip?“

Zur Hölle, nein. Nach fünf Jahren ohne Drogen hatte ich kein Bedürfnis, jemals wieder mit diesem Dreck anzufangen. Der machte schlechte Entscheidungen sogar noch schlechter. Wenn ich jetzt Mist baute, dann nur clean und nüchtern.

Ich antwortete ausdruckslos: „Nein. Ich bin auf der Suche nach Race. Wie ich hörte, ist er abgehauen, als ich geschnappt wurde, und ist erst vor Kurzem bei Novak aufgetaucht, um Ärger zu machen. Niemand hat ihn seitdem gesehen. Du?“

Wieder Schweigen. Die Chancen standen fünfzig zu fünfzig, dass ich von ihm eine ehrliche Antwort erhielt. Ich hoffte, mein Ruf war noch schlecht genug, um den Leuten Gottesfurcht einzujagen. Wenn nicht, musste ich eben einige Köpfe aneinanderknallen und mir meinen Ruf zurückerobern.

„Nein. Ich habe ein paarmal versucht, ihn zu erreichen, nachdem du eingefahren bist. Ich dachte, er könnte mich zu den ganzen College-Partys mitnehmen und wir würden uns den Gewinn teilen. Doch er hat mich nicht zurückgerufen.“

Gut gemacht, Race.

„Ist er noch auf dem College?“

„Das weiß niemand. Ich hab nur gehört, dass Novak ihn gesucht hat, als alles den Bach runterging, aber auf einmal war er wie ein Geist.“

„Ich muss ihn finden.“ Ich stellte sicher, dass ich die Dringlichkeit deutlich zum Ausdruck brachte.

Am anderen Ende hörte ich Gemurmel und ein Rascheln, als würde er aus dem Bett steigen. Selbst Drogendealer brauchten wohl ihren Schlaf.

„Hör zu, das Letzte, was ich von ihm gehört habe, ist, dass er bei irgendeiner Frau in The Point wohnt. Eine Rothaarige. Benny hat ein paar Leute losgeschickt, um ihn zu Novak zu schleppen, doch er war schon weg, als sie eintrafen.“

The Point ist der Stadtteil, in dem ich aufgewachsen bin. Das Gegenteil von The Hill, wo Race groß wurde. Das alles gefiel mir überhaupt nicht.

„Eine Prostituierte?“

„Nein. Einfach nur ein Mädchen. Kein eingebildetes College-Girl, aber auch keine Schlampe. Einfach ein Mädchen. Bennys Jungs haben sie zu Tode erschreckt, und deswegen ist Race auf Novak losgegangen. Du hast dem adretten kleinen Scheißer wirklich beigebracht, wie man jemandem droht, und jetzt fragt sich jeder, ob du ihm auch gezeigt hast, wie man solche Drohungen wahr macht.“

Das brauchte ich ihm gar nicht beizubringen. Race war klug. Köpfchen zu haben war wichtiger als Muskelkraft, außerdem hatte er tatsächlich was zu verlieren. Das machte ihn gefährlich. Männer, die nichts zu verlieren hatten, kämpften nicht mehr.

„Wie kann ich die Frau finden?“

„Keine Ahnung, Bax. Google den Kram doch.“

Ich nahm das Handy vom Ohr und blickte es stirnrunzelnd an. Wie es schien, musste ich hier jemanden zur Vernunft bringen. „Du gibst mir die Adresse, oder ich schlage vor, dass du dir besser eine Hose anziehst. Weil ich in zehn Minuten bei dir bin und deinen fröhlichen Arsch durch die ganze Stadt schleife, wenn ich sie nicht aufspüren kann.“

Ich hörte Flüche, noch mehr Geraschel und wie ein Feuerzeug klickte.

„Schau im Skylark nach, dem verdammten Mietshaus in der Innenstadt. Ich habe gehört, dass sie da wohnt.“

„Soll ich vielleicht mitten in der Nacht an sämtliche Türen klopfen?“ Ich wurde langsam sauer, und das merkte er auch. Er wollte natürlich nicht, dass ich ihm in dieser Stimmung einen Besuch abstattete.

„Gegenüber gibt’s ein Diner. Geh da rein und frag. Das Mädchen hat so einen Karottenkopf. Richtig orange. Und jung ist sie. Bennys Leute haben sie problemlos gefunden, und du weißt, dass er nicht gerade die Besten und Klügsten anheuert.“

Ich schnaubte zustimmend und warf mein Baby an. Gott, wie ich dieses erotische Brummen vermisst hatte.

„Ich habe gehört, du hast sein Gesicht zu Brei geschlagen.“

„Er hat angefangen.“

„Benny ist nicht der Typ, der so was auf sich sitzen lässt.“

„Scheiß auf Benny.“

Ich hörte ihn trocken lachen.

„Du hältst dich nach wie vor für den übelsten Typen der Gegend? In fünf Jahren ändert sich eine Menge, Bax.“

Ich fand nicht, dass ich das Offensichtliche auch noch zu bestätigen brauchte, also legte ich auf und schmiss das Telefon neben mich auf den Sitz. Ich war bereits in The Point. Roxie wohnte mitten im Zentrum, also dauerte es nur ein paar Minuten, bis ich das Skylark und den Diner gefunden hatte. Ich parkte davor unter einer Laterne und zog eine Mütze über meinen geschorenen Kopf. Ich stieg aus und musterte ein paar Teenager, die so spät in diesem Teil der Stadt höchstens unterwegs sein konnten, um Ärger zu suchen. Ich starrte sie direkt an, wartete, bis jeder Einzelne von ihnen wegschaute, und betrat den Laden.

Ich war müde. Erst vor wenigen Stunden war ich durch die mit Stacheldraht gesicherten Tore des Gefängnisses geschritten. Doch es erschien mir, als wäre es schon Monate her. Mein Leben hatte ich genauso satt wie mich selbst, aber das änderte nichts daran, dass ich mich um einige Dinge kümmern musste. Ich wartete, bis ich den Blick einer genervt aussehenden Bedienung auffing. Als mir das gelang, musterte sie mich von Kopf bis Fuß, dann deutete sie an, dass sie sich gleich mit mir befassen würde. Kellnern war scheiße. In einer heruntergekommenen Spelunke im miesen Teil der Stadt zu bedienen, in einem Laden, der vierundzwanzig Stunden geöffnet hatte, war noch beschissener. Sie tat mir leid.

„Was kann ich für dich tun, Süßer?“

Ich sah, wie ihr Blick flüchtig auf den Bluterguss fiel, der seitlich auf meinem Gesicht erblühte, dort, wo Bennys unerwarteter Schlag mich getroffen hatte, und danach auf das Blut, das sein Aufwärtshaken auf meiner Unterlippe hinterlassen hatte. Sicher war ich kein besonders angenehmer Anblick, dennoch blieb sie freundlich.

„Ich bin auf der Suche nach einem Freund.“

„Ein Tisch für zwei?“

„Nein. Er könnte einige Male hier gewesen sein. Schlanker Typ. Ungefähr so groß wie ich. Blond, grüne Augen. Sieht aus wie jemand, der für Abercrombie & Fitch modelt. Er war vielleicht ab und zu mit einer Rothaarigen hier, die in der Nähe wohnt.“

Sie neigte den Kopf zur Seite und brüllte ein paar Betrunkene an, die sich an einem der hinteren Tische mit Servietten bewarfen. „Ich hab keinen heißen blonden Typen gesehen, aber ich kenne eine Rothaarige. Dovie Pryce. Sie hat die Frühschicht. Normalerweise trinken wir schnell einen Kaffee zusammen, wenn meine Schicht endet. Sie wohnt gegenüber.“

„Bist du sicher, dass du meinen Kumpel nicht kennst? Wie man hört, könnte er was mit ihr haben.“

„Mit Dovie? Nie im Leben. Das Mädchen lebt wie eine Nonne. Besucht die Abendschule, hat einen Ganztagsjob und noch einen Nebenjob am Wochenende. Sie hat keine Zeit für einen Typen.“ Wieder ließ sie den Blick über mich gleiten. „Egal, wie niedlich er ist.“

Ich lächelte sie an und rieb mir mit dem Daumen übers Kinn. Dort würde ich auch einen hässlichen Bluterguss kriegen.

„Gehst du immer so offen mit Informationen über deine Freunde um?“ Wenn ja, war es kein Wunder, dass Bennys Leute die Rothaarige so leicht gefunden hatten.

„Nein. Und das hat der Typ, der sie zuletzt gesucht hat, auf die harte Tour lernen müssen. In dieser Gegend führt jemand in einem Anzug nie was Gutes im Schilde. Unser Koch ist ein ehemaliger Marine. Ich hab es ihm überlassen, sich um den Kerl zu kümmern.“

„Findest du, dass ich ein ehrliches Gesicht habe?“ Es lag kein Humor in meiner Stimme, und das merkte sie auch.

Kopfschüttelnd schaute sie mich an und schnalzte mit der Zunge. „Nein, Süßer, du siehst aus, als hättest du einen schlechten Tag gehabt.“

Ich lachte auf, wieder ohne einen Hauch von Humor. „Ob du es glaubst oder nicht, das war der beste Tag seit Langem.“

„Hmm …“ Sie betrachtete ein letztes Mal mein ramponiertes Gesicht. „Viel Glück bei der Suche nach deinem Freund, Süßer, doch lass Dovie in Ruhe. Sie ist ein gutes Mädchen, das keine Schwierigkeiten brauchen kann.“

„Woher weißt du, dass ich Schwierigkeiten mache?“

Sie winkte herablassend ab. „Ich kenne mich aus, Süßer. Jeder Junge mit so vielen Geheimnissen in so dunklen Augen wie deinen bereitet die schlimmsten Schwierigkeiten überhaupt. Solche, aus denen man nicht mehr rauskommt.“

Da konnte ich ihr nicht widersprechen, außerdem hatte ich die Information, die ich zunächst benötigte. Ich nickte ihr zu, ließ die schmutzige Glastür hinter mir zufallen und steuerte auf den Parkplatz zu. Dort warf ich einen Blick auf meinen Runner, um mich zu vergewissern, dass die Jugendlichen ihn nicht angerührt hatten, danach schaute ich hinüber zu dem Gebäude, in dem sich die Rothaarige aufhielt.

„Hey, Mann, hast du ’ne Zigarette?“

Der Größte von ihnen war mutig genug, auf mich zuzusteuern. Er war vielleicht gerade mal dreizehn Jahre alt. Zu schade, dass ich mein jüngeres Ich in ihm wiedererkennen konnte.

„Du bist zu jung zum Rauchen.“

„Verarschst du mich?“

Ich zog eine Augenbraue hoch, und er wich einen Schritt zurück.

„Nein, ich verarsche dich nicht.“ Ich deutete auf das Skylark. „Kennst du eine Rothaarige, die da wohnt?“

Misstrauisch kniff er die Augen zusammen. „Wieso?“

„Weil ich dich frage, deshalb.“ Ich überlegte, ob ich auch so nervig gewesen war, als ich mich damals auf den Straßen rumtrieb.

„Gibst du mir eine Zigarette, wenn ich Ja sage?“

Ich kämpfte dagegen an, die Augen zu verdrehen. „Sicher, Kleiner.“

Er schnaubte, dann kratzte er mit seinen ausgelatschten Turnschuhen über den Asphalt. „Dovie. Sie wohnt im selben Stockwerk wie wir. Sie ist total nett. Manchmal kocht sie Paulie und mir was zum Abendessen.“ Er deutete mit dem Daumen auf einen anderen Jungen, der ungefähr zehn oder elf war.

Was zur Hölle war los mit der Welt, in der wir lebten, wenn diese Kinder um diese Zeit draußen waren und mich anquatschten, statt im Bett zu liegen und am nächsten Morgen in die Schule zu gehen?

„Wievielter Stock?“

„Warum?“

Düster sah ich ihn an. „Wollen wir die ganze Nacht so weitermachen?“

Er verlagerte nervös das Gewicht von einem Fuß auf den anderen, sein Blick fiel auf meinen Wagen. „Das ist ’ne coole

Karre.“

Ich biss die Zähne zusammen. „Stimmt.“

„Hast du den gestohlen?“

Ich fragte mich, ob er irgendeine Ahnung hatte, wer ich war. Früher mal war ich eine Legende, jetzt nur noch ein abschreckendes Beispiel. „Nein. Das ist so ziemlich das Einzige, was ich nicht gestohlen habe.“

„Kann ich mal mitfahren?“

Dieser Junge. Eines musste man ihm lassen, er hatte, was nötig war, um in diesem Teil der Stadt zu überleben. „Vielleicht. Wenn ich das Mädchen gesprochen habe und sie mir helfen kann, meinen Freund zu finden.“

Wir starrten uns einen langen Moment schweigend an. Seine kleine Rowdy-Gang wurde langsam ungeduldig. Ich war eindeutig kein Opfer; sie wollten sich nicht mit mir anlegen, aber helfen wollten sie mir auch nicht.

„Versprochen?“

Versprochen? Fand dieser Junge etwa, dass ich wie jemand aussah, der sich an Versprechungen hielt? Ich zuckte die Achseln. „Klar, Kleiner. Versprochen.“

„Sie wohnt im zweiten Stock. Apartment zwölf. Der letzte Typ, der nach ihr gefragt hat, hat mir einen Hunderter versprochen. Er hat gelogen.“

Verdammt. Benny hatte die Kinder also auch bestochen, um ihnen dieselbe Info zu entlocken. Hier draußen war jeder auf sich selbst gestellt, und das wusste dieser Bastard. Seufzend holte ich einen Hundertdollarschein aus der Tasche. Ich hatte noch einen Vorrat an Bargeld aus der Zeit vor dem Knast, der so lange reichen musste, bis ich meinen nächsten Schritt geplant hatte. Etwas davon einem kleinen Klugscheißer abzugeben passte mir nicht besonders in den Kram. Dennoch gab ich ihm den Schein und wandte mich ab, um zu dem schmuddeligen Apartmentkomplex zu laufen.

„Rauchen schadet deiner Gesundheit. Kauf dir was zu essen oder neue Schuhe oder so was.“

„Und kann ich dann mitfahren?“

„Mal schauen, Kleiner. Mal sehen.“

Ich joggte über die leere Straße und stieg über einen schlafenden Penner auf dem Bürgersteig hinweg. Drüben stieß ich die rostige Sicherheitstür zum Treppenhaus auf, wo es nach abgestandenem Bier roch und nach etwas, worüber ich nicht genauer nachdenken wollte, und ging hinauf in den zweiten Stock. Im Flur war niemand, trotzdem zog ich die Kapuze der Jacke über meine Mütze und versuchte, so wenig Lärm wie möglich zu verursachen. Kein einigermaßen vernünftiger Mensch würde jemandem, der aussah wie ich, nach Sonnenuntergang die Tür öffnen. Zum Glück gab es keine Tür, die ich nicht aufbekam, von der einen abgesehen, hinter der ich die letzten fünf Jahre gesessen hatte.

Dieses Apartment war Mist, was bedeutete, dass die Tür ebenfalls Mist war. Ich hätte sie mit einer Kreditkarte aufgekriegt, sie gab aber genauso gut unter dem Druck einer richtig platzierten Schulter nach. Ein lautes Ploppen und ein sanftes Knarzen, doch niemand steckte den Kopf aus seiner Wohnung, um zu schauen, was da los war. Die Leute, die in Gebäuden wie diesen wohnten, besaßen sowieso nichts, das sich zu klauen lohnte. Und die meisten alleinstehenden Frauen, die gezwungen waren, so zu leben, investierten in ein besseres Schloss. Ich drückte die Tür auf und schlich mich ins Dunkel hinein. Ich wusste, dass ich das Mädchen zu Tode erschrecken würde, aber Überraschung war der Schlüssel zum Erfolg, und nichts würde mich davon abhalten, Race zu finden.

Ich konnte hervorragend in der Nacht sehen. Das kam daher, dass ich mein Leben lang im Dunkeln herumgerannt war, immer auf der falschen Seite des Gesetzes gestanden und meinen Hintern im Knast beschützt hatte. Deshalb sah ich das schwere Objekt, das auf meinen Kopf zuflog, bevor es mich traf. Ich hörte jemanden leise fluchen und schließlich den dumpfen Aufschlag, als das Teil auf dem Fußboden landete. Ich wich einem Faustschlag aus und trat nur wenige Zentimeter zurück, um nicht den Elektroschock des Tasers abzubekommen, der mir in die Seite gedrückt werden sollte. Fluchend ergriff ich ein schmales Handgelenk und verdrehte es, bis die Waffe zu Boden fiel. Ich sah, wie die Frau den Mund öffnete, um zu schreien, und presste eine Hand darauf. Sie wehrte sich, da ich sie in die Wohnung zerren wollte.

„Hast du schon die Bullen gerufen?“ Sie nickte heftig, woraus ich schloss, dass sie genau das nicht getan hatte. Ansonsten würde sie versuchen, Zeit zu schinden. In The Point dauerte es immer ewig, bis die Polizei aufkreuzte.

„Ich möchte nur erfahren, wo Race ist. Ich weiß, dass du es weißt.“

Sie wurde steif und hörte auf, ihre kurzen Fingernägel in meine Handrücken zu krallen. Sie hatte wirklich kupferrotes Haar, und zwar eine Menge davon, das mir im Weg war, als sie hochschaute, um mir in die Augen zu schauen.

„Ich gehöre nicht zu dem Typen im Anzug. Race und ich sind seit Ewigkeiten befreundet. Falls er Probleme hat, will ich ihm helfen, okay?“

Ich wartete gefühlt eine Stunde, bis sie kurz nickte.

„Wenn ich dich loslasse, werde ich es bereuen?“ Sie schüttelte vehement den Kopf, und ich fühlte, wie sie die Hände an den Seiten herabfallen ließ. Sie war ziemlich groß für eine Frau. Als ich sie von mir schob und sie sofort herumwirbelte, fiel mir auf, dass sie ihr Kinn nur ein klein wenig heben musste, damit sie mir in die Augen blicken konnte.

„Ich habe echt die Nase voll von Leuten, die glauben, hier einfach reinschneien und mir Fragen stellen zu können. Den Nächsten erschieße ich.“

Sie war blass, ihre milchweiße Haut wie ein heller Schatten im dunklen Raum. Ihr Haar war ein wildes Durcheinander aus roten und goldenen Locken, und sie hatte Sommersprossen. Sie sah wie ein Kind aus. Nicht älter als sechzehn oder siebzehn. Außerdem, als ob sie auf einer Farm irgendwo im Mittleren Westen aufgewachsen wäre. Sie wirkte gesund, und es war unvorstellbar, dass diese Schlabberjeans und das schmucklose karierte Hemd jemandem gehörten, der in diesem Teil der Stadt überleben wollte.

„Besorg dir ein besseres Schloss.“

Sie funkelte mich düster an und strich sich schwungvoll eine Handvoll ihres wilden Haars aus dem Gesicht.

„Gute Schlösser kosten Geld, und ich kenne noch immer niemanden, der Race heißt. Also könnt ihr euch verpissen, du und dein Kumpel im Anzug.“

Große Klappe und forsch. Eine gefährliche Kombination, wenn man einem Mann gegenüberstand, der nichts zu verlieren hatte. Ich hatte keine Zeit für Spielchen, daher machte ich einen bedrohlichen Schritt nach vorn, genau in dem Moment, in dem sie herumfuhr und das Licht anknipste. Eine Sekunde lang musste ich blinzeln und bemerkte dann, wie sie den Mund verzog, nachdem wir uns endlich richtig sehen konnten. Ihr Blick verharrte auf meinem Gesicht, doch nicht auf den Blutergüssen, sondern auf dem tätowierten Stern neben meinem Auge.

„Carmen hat mich angerufen, nachdem du den Diner verlassen hattest. Glaubst du vielleicht, dass wir uns nicht gegenseitig warnen, wenn ein Typ mit deinem Aussehen auftaucht? Paulie und Marco haben dein Kennzeichen aufgeschrieben, und falls ich nicht in fünf Minuten das Licht an- und ausschalte, rufen sie die Bullen. Und was mit deinem hübschen Auto passieren wird, das willst du lieber gar nicht wissen.“

Ich blinzelte wie ein Idiot. Niemand war mir je einen Schritt voraus. Und jetzt war ausgerechnet dieses Mädchen, das eher auf eine Farm passte, die Erste. „Warum bin ich also hier?“

Vor den Cops hatte ich keine Angst. Davor, was wild gewordene Jugendliche mit meinem Baby anstellen konnten, jedoch schon.

Sie verschränkte die Arme über ihre wenig beeindruckenden Brüste und kniff die Augen zusammen, hübsche Augen, moosgrün. Ich neigte den Kopf zur Seite, weil ich aus irgendeinem Grund den Eindruck hatte, sie sei mir bekannt.

„Was für Probleme hat Race?“

„Ich dachte, du kennst niemanden mit diesem Namen?“

„Du hast noch vier Minuten.“

„Keine Ahnung. Genau das will ich ja herausfinden. Ich war bis vor ungefähr acht Stunden … verhindert. Jetzt versuche ich, mir ein Bild zu machen.“

Sie biss sich auf die Unterlippe und wirkte dadurch sogar noch jünger. Ich wusste nicht, wer sie war, konnte mir jedoch absolut nicht vorstellen, dass sie eine von Races Freundinnen war. Er stand auf lange Beine und große Brüste und möglichst wenig Hirn zwischen den Ohren. Diese hier hatte Beine, doch sie war offensichtlich intelligent, und ihre Figur war, soweit ich erkennen konnte, nicht für heiße Träume gemacht. Sie sah viel zu niedlich aus. Typen wie Race fingen nichts mit niedlichen Girls an, genauso wenig Typen wie ich, doch das nur, weil ich gar nicht erst in die Verlegenheit kam. Niedliche Mädchen rannten weg, wenn sie mich erblickten.

„Kannst du ihm helfen?“

„Ich kann es versuchen.“

Sie streckte eine Hand aus und betätigte mehrmals den Lichtschalter, während sie mich mit ihren grünen Augen musterte.

„Du bist Bax, richtig?“

Ich versuchte, meine Überraschung zu verbergen, und nickte steif. Sie biss sich wieder auf die Lippe und wickelte eine leuchtende Locke um ihren Zeigefinger.

„Er hat gesagt, wenn irgendwas Schlimmes passiert, falls jemand nach ihm sucht, soll ich sagen, dass ich ihn nicht kenne. Er hat mir Angst gemacht, und dann tauchte der Typ im Anzug mit seinen Kumpels hier auf. Das habe ich Race erzählt, und er ist ausgeflippt. Er hat gemeint, ich soll mich möglichst wenig rauswagen und dass er sich darum kümmert. Er hat mir erklärt, wenn ein Typ vorbeikäme, einer mit einem tätowierten Stern am Auge, soll ich ihm vertrauen. Und er hat mir erzählt, dass sein Name Bax ist.“

Das war ja alles schön und gut, deswegen wusste ich aber noch lange nicht, in was für Schwierigkeiten Race steckte oder wer dieses Mädchen war und welche Rolle es bei alldem spielte.

„Wer bist du?“

„Dovie.“

Ich kniff die Augen zusammen und verschränkte die Arme vor der Brust. Sie nachahmend. „Und was hast du mit Race zu tun?“ Wenn sie mir jetzt auftischte, dass sie Races Alte war, musste ich mich ernsthaft fragen, was er während meines Gefängnisaufenthaltes eigentlich getrieben hatte.

Sie blinzelte mich an und runzelte die rostbraunen Augenbrauen. Ich konnte beinahe sehen, wie die kleinen Rädchen in ihrem Hirn sich bewegten.

„Ich bin seine Schwester.“

Ich starrte sie eine volle Minute an, bevor ich in barsches Gelächter ausbrach. Sofort bekam ich Kopfschmerzen, also rieb ich mir über die müden Augen und schüttelte den Kopf.

„Lady, ich habe keinen Schimmer, wer du bist oder was zwischen dir und Race läuft, doch ich habe keine Zeit für so was. Ich habe gerade fünf Jahre im Knast abgesessen, ich muss dringend schlafen, mich dringend flachlegen lassen und herausfinden, in welchem Dreck Race steckt. Wenn du mir nicht auf die leichte Tour helfen willst, schön. Dann eben auf die harte Tour.“ Ich trat einen Schritt auf sie zu, aber sie hob die Hände.

„Nein, ich schwöre es. Race ist mein älterer Bruder.“

Ich fluchte. „Ich kenne Race, seit wir Teenager waren. Er ist Einzelkind, Rotschopf.“

Sie stieß ein schrilles Lachen aus und bewegte sich auf die Küchenzeile zu, die ungefähr die Größe eines Schrankes hatte. Dort nahm sie etwas vom Kühlschrank und reichte es mir. Das Foto war ein paar Jahre alt, aber Races elegante Erscheinung und wie er in die Kamera lächelte war unverwechselbar, und er hatte den Arm um dieses merkwürdige Mädchen gelegt.

„Welchen reichen, mächtigen Mann kennst du, der sein Ding in der Hose lassen kann? Ich bin das schmutzige kleine Geheimnis der Hartman-Familie, nur dass es irgendwann gelüftet wurde und Race mich vor ungefähr vier Jahren ausfindig gemacht hat, ich war gerade sechzehn geworden. Unterschiedliche Mütter, unterschiedliche Nachnamen, dasselbe Arschloch von Vater. Wenn du Race helfen kannst, erzähle ich dir alles, was du wissen willst, und wenn du ihm nicht helfen kannst, finde ich ihn selbst. Er ist die einzige Familie, die ich habe, und ich liebe ihn. Er hat mir das Leben gerettet.“

Ich blickte vom Foto zurück in ihr Gesicht. Race war ein attraktiver Kerl, kultiviert und elegant. Dieses Mädchen hingegen war einfach und normal. Von ihrem Haar und der großen Klappe mal abgesehen. Sie schaute mich unverwandt mit diesen grünen Augen an, und da bemerkte ich es. Es lag alles in diesem grünen Blick, mit dem sie mich fixierte wie ein Falke. Race und der Rotschopf hatten dieselben Augen.

„Du machst überhaupt nichts, außer mir alles zu erzählen. Race ist auch meine Familie, und das bedeutet, ich werde alles tun, um seinen Arsch zu retten.“

Zur Hölle, ich hatte für den Typen bereits fünf Jahre abgesessen; mich mit Novak anzulegen kam mir dagegen wie ein Spaziergang vor.

2. KAPITEL

Dovie

Ich habe lange genug in den schlimmsten Stadtteilen gewohnt, um den Unterschied zwischen einem bösen Jungen und einem Jungen, der wirklich böse ist, zu kennen. Böse stand Shane Baxter auf die Stirn geschrieben. Und das hatte nichts mit dem tätowierten Stern auf seinem Gesicht oder der wohl überlegt bedrohlichen Art, sich zu bewegen, zu tun – wie eine eingerollte Schlange, die bereit war, jeden Moment zuzuschlagen und einen mit ihrem Gift zu füllen, bevor man auch nur blinzeln konnte. Seine dunklen Augen waren leer, als wären seine Emotionen vor langer Zeit ausgeknipst worden und als hätte er kein Interesse daran, sie wieder einzuschalten. Ich bin in Armut aufwachsen. Ich bin in einem Stadtteil aufgewachsen, wo lediglich arm zu sein bereits ein Luxus war, denn das bedeutete, dass man zumindest etwas Geld hatte. Also hatte ich diesen Blick schon öfter gesehen, aber noch nie bei jemandem, der wirkte, als würde er am liebsten alles, was einem lieb und teuer war, vernichten, und zwar ohne auch nur mit einer seiner lächerlich langen Wimpern zu zucken. Das da war ein Mann, der bereits in jungen Jahren mehr mitbekommen und mehr erlebt hatte als die meisten Menschen in ihrem ganzen Leben. Man überlebte in seiner Welt nur, wenn man der böseste der Bösen war, und genau das war Bax, daran zweifelte ich keine Sekunde.

Sicher, Race hatte mir immer und immer wieder versichert, dass Bax ein guter Kerl sei. Dass er, sobald er rauskäme, meinem Bruder helfen könne, die Situation mit Benny und Novak zu klären. Race meinte, er sei einfach ein Typ, dem das Leben arg mitgespielt habe und der täte, was er könne. Ich sah sofort, dass Race sich komplett irrte. Mein Bruder kannte sich mit Verzweiflung nicht aus, damit, wie es war, wirklich zu leiden; er konnte nicht dasselbe in diesem Mann sehen wie ich, und zwar die unverhohlene Bereitschaft zu tun, was immer zum Überleben nötig war. Fünf Jahre im Gefängnis hatten ihn nicht unterworfen, obwohl er anfangs ein verängstigtes Kind gewesen sein musste. Sie hatten ihn stärker und bedrohlicher gemacht, und wenn ich mich nicht irrte, war er dort ein noch gefährlicherer Verbrecher geworden. Ich wollte ihn nicht in meiner Nähe haben, aber wenn nur er Race helfen konnte, würde er von mir bekommen, was immer er beanspruchte. So wichtig war mir mein Bruder.

Bax fragte mich gar nicht erst, ob ich eine Zigarette wollte, steckte sich einfach eine zwischen die Lippen und zündete sie an. Seine Unterlippe war geschwollen und aufgeplatzt, als hätte er sich irgendwo gestoßen. Mit seinen dunklen Augen sah er sich abschätzend in meiner Wohnung um. Was ich furchtbar fand. Ich lebte von dem, was ich verdiente, ich arbeitete bis zum Umfallen, und ich wusste, wie man in den Slums zurechtkam. Ich würde mich vor einem wie ihm sicher nicht schämen. Immerhin war er ein verurteilter Verbrecher. Ich besaß vielleicht nicht viel, aber das wenige hatte ich durch ehrliche Arbeit erworben.

„Was weißt du?“

Seine Stimme war kratzig, rau, als würde er sie nicht oft benutzen. Er ging zu dem kaputten Fenster und zog die Vorhänge zur Seite, mit denen ich den Sprung in der Scheibe bedeckte. Dann blickte er hinüber zum Diner. Wahrscheinlich machte er sich Sorgen um sein wertvolles Auto.

„Nicht viel. Race kam in dem Übergangshaus vorbei, zu dem ich gebracht wurde, als meine letzte Pflegefamilie wegzog. Das war, nachdem du eingebuchtet wurdest. Er sagte, dass er mein Bruder sei. Dann gab er mir einen Überblick über die Hartman-Familie, und mir wurde klar, dass mein Vater genauso ein Albtraum war wie meine Mutter. Race hat mich aus einer wirklich schlimmen Situation rausgeholt, und eine sehr kurze Zeit lang war unser Leben ziemlich gut, wir waren wie eine Familie. Und dann hat er mich hierher gebracht und gesagt, dass ich warten soll.“

„Warten worauf?“

Ich zuckte mit den Schultern und warf mich auf meine uralte Couch. „Auf dich, schätze ich.“

Ich hatte Carmen eine SMS geschickt und ihr geschrieben, dass bis jetzt alles in Ordnung war. Die komplette Nachbarschaft hatte in der letzten Woche für mich Ausschau nach dem Typen mit dem tätowierten Stern gehalten. Fast war ich erleichtert, dass er endlich aufgekreuzt war, auch wenn er es für angebracht gefunden hatte, einfach bei mir einzubrechen. Es ärgerte mich, dass ich ihn nicht mit dem Taser erwischt hatte. Ich musste wohl noch ein paar Stunden Selbstverteidigung beim örtlichen YMCA üben. Als alleinstehendes Mädchen in einer solchen Gegend konnte man nie vorsichtig genug sein.

„Ich bin in einer Stadt wie dieser hier aufgewachsen, in einer Wohnung wie dieser, aber einen Staat weiter. Ich habe Race belauscht, obwohl ich das nicht hätte tun sollen, und mir so zusammengereimt, dass Lord Hartman meiner Mutter Kohle gegeben hatte, damit sie mich loswurde. Danach sollte sie ebenfalls verschwinden. Das hat sie nicht getan. Sie nahm das Geld und machte sich mit mir aus dem Staub, nur war ihr der nächste Schuss wichtiger als ich. Und schon war ich im System – Pflegefamilien, Kinderheime. Race hat mich gerade in dem Moment gefunden, als ich zu einer bekanntermaßen besonders schlimmen Familie kommen sollte. Der Dad konnte seine Finger nicht bei sich behalten, die Mom war Alkoholikerin, und es war ihr egal. Ich wollte abhauen, aber Race hat mir das ausgeredet; er sagte, dass er sich um mich kümmern würde. Anschließend hat er seinen alten Herrn bestochen, damit er die Vaterschaft anerkennt, sodass ich nicht länger im System war. Von da an wohnten wir zusammen in der Stadt, in der ich zur Schule ging, bis ich den Abschluss hatte. Er hat mir nie gesagt, warum er nicht zurück nach The Point gehen konnte, und irgendwann hatte ich keine Lust mehr, danach zu fragen. Und dann, vor einem Jahr oder so, ist irgendwas passiert, er hat unseren Kram gepackt und ist mit mir hierher gezogen, als ob er eine Art Mission hätte oder so was. Als ob er einen Plan hätte. Ich fand, ich war es ihm schuldig, mitzugehen. Er hat mich gerettet.“ Ich schüttelte den Kopf und verschränkte die Finger. „Ich weiß nicht, was bei ihm los war, doch mir gefiel die Gegend hier, ich mochte das Community College, also hab ich mich eingelebt. Er blieb weitgehend für sich und strich irgendwie durch die Straßen. Ich dachte, dass er einfach auf deine Entlassung wartet, aber dann tauchte dieser Typ im Anzug auf. Er wurde handgreiflich und hat mich zu Tode erschreckt, und Race ging ab wie eine Rakete. Nie zuvor habe ich ihn so wütend erlebt. Ich weiß, dass er zu Novak gegangen ist. Er sagte, er hätte keinen Bock mehr, eine Marionette zu sein, er hätte es satt, dass andere das Sagen haben. Er sagte, er könne sich nicht verzeihen, was mit dir passiert ist, und dass ich dir vertrauen muss, wenn du vorbeikommst. Das war vor einer Woche. Seitdem hat ihn niemand gesehen oder von ihm gehört.“

Bax blies eine Rauchfahne aus und zog die Kapuze seiner Jacke herunter. Er trug eine schwarze Strickmütze, mit der er aussah, als führte er nichts Gutes im Schilde. Genau genommen sah alles an ihm so aus. Der blaue Fleck auf seiner Wange, die schwarze Hose und die schweren Stiefel, die kleine Road-Runner-Tätowierung auf seinem Handrücken in der Nähe des Daumens, die dicken, dunklen Augenbrauen über den ausdruckslosen Augen und die heruntergezogenen Lippen, die zu weich und hübsch für so ein hartes Gesicht waren. Dazu noch seine offensichtliche körperliche Kraft – das war kein Typ, dem ich allein im Dunkeln begegnen wollte. Und ich hasste es – hasste es wirklich –, dass er nichts sagte und ich nicht wusste, was hinter diesem Vorhang aus Schwärze in seinem Blick vor sich ging.

„Ist er nicht auf die Uni gegangen?“

Das schien mir eine merkwürdige Frage zu sein nach allem, was ich erzählt hatte, aber es blieb mir nichts anderes übrig, als mitzuspielen.

„Nein. Er hat von seinem Schulgeld für uns gesorgt. Er hat mich aus der staatlichen Schule genommen und für die letzten beiden Jahre auf eine private gesteckt.“

„Selbstloser Dreckskerl.“

Unwillkürlich wurde ich wütend. „Die Schule, auf der ich war, hatte Metalldetektoren, die Schüler und Lehrer waren bewaffnet, und ein Mädchen wurde in der Umkleidekabine vergewaltigt. Ich wusste nie, ob ich Hausaufgaben oder eine Tracht Prügel bekommen würde. Es war schrecklich. Race wollte etwas Besseres für mich, und nachdem Lord Hartman sich weigerte, etwas zu unternehmen, hat er sich eben selbst darum gekümmert.“

„Er konnte mich nicht retten, also hat er beschlossen, dich zu retten?“

Dasselbe hatte ich jedes Mal gedacht, wenn Race seinen inhaftierten besten Freund zur Sprache brachte. Ein Typ, der so brutal aussah, sollte nicht so clever sein. Er sollte nur Muskeln und kein Hirn haben. Sein Auffassungsvermögen machte ihn in meinen Augen eine Million Mal gefährlicher.

„Ich kenne seine Gründe nicht, und es war mir egal. Ich hatte endlich jemanden, dem ich wichtig war und der sich um mich kümmerte. Durch ihn hatte ich die Chance, ein normales und stabiles Leben zu führen; er zeigte mir, was es bedeutet, eine Familie zu haben. Er hat sich meinetwegen mit seinem alten Herrn und seiner Mutter überworfen, und ich werde alles tun – und ich meine alles –, um ihm zu helfen.“

Race war mehr als nur mein großer Bruder. Er war mein Held. Er war mein Retter. Er war das Einzige auf der ganzen Welt, worauf ich nicht verzichten konnte. Geld, Besitz, Sicherheit; das alles war nur eine Illusion. Das Opfer, das Race für mich gebracht hatte, wie er in mein Leben hereingeschneit war, um einer einsamen Sechzehnjährigen aus einem Armeleuteviertel zu zeigen, dass es im Leben um mehr ging als nur darum, irgendwie zu überleben … Das konnte ich ihm nie zurückzahlen. Aber ich würde zumindest alles dafür tun, damit meinem Bruder nichts passierte.

Bax drückte seine Zigarette auf der schweren Profilsohle eines seiner Stiefel aus und stieß sich vom Fenster ab. Er zog die Kapuze wieder über den Kopf und kam auf mich zu. Als er nur noch wenige Schritte entfernt war, sah er auf mich, die ich auf der Couch saß, hinab. Diese Augen waren unendlich dunkle Löcher in einem Gesicht, das ich bestimmt nie vergessen würde.

„Verhalte dich ruhig. Falls Benny oder sonst jemand hier herumschnüffelt, ruf diese Nummer an.“ Er ratterte ein paar Zahlen herunter, die ich mir niemals würde merken können, doch ich nickte trotzdem. „Wenn Race dich kontaktiert, egal wie, sag ihm, dass ich draußen bin. Sag ihm, dass er sich bei mir melden soll, dass Novak mein Problem ist und nicht seins. Sag ihm, dass zwischen uns alles okay ist und so bleibt, bis ich es mir anders überlege. Hast du das verstanden, Rotschopf?“

Ich hasste diesen Spitznamen. Pleite sein ist eine Sache, pleite sein und flammend rotes Haar zu haben, über das sich jeder lustig machte, eine ganz andere. Wie auch immer, er war nicht der Typ, mit dem ich über einen dummen Spitznamen diskutieren wollte. Er sah nicht wie jemand aus, der überhaupt lange diskutierte, egal worüber. Er ging zur Tür, und ich sprang auf.

„Das ist alles?“

Er betrachtete mich über die Schulter und zog die lädierte Tür auf. „Falls du nicht irgendwas hast, das mir tatsächlich weiterhilft, dann ja, das ist alles.“

Ich stierte ihn an. „Ich meine, was passiert jetzt? Was tun wir, um Race zu finden?“

Er hob eine dunkle Augenbraue und zog einen Mundwinkel nach unten.

Wir tun gar nichts. Ich schau mich mal um und bringe ein paar Leute zum Reden. Ich muss herausfinden, was Race getan hat, dass Novak ihn unbedingt haben will. Und zwar so dringend, dass er Benny nach ihm suchen lässt. Gib mir Bescheid, wenn du etwas von ihm hörst.“

Er verschwand so geräuschlos und schnell, dass ich mich beeilen musste, um ihm bis zur Treppe zu folgen. Ich war groß und hatte lange Beine. Er war größer und hatte längere Beine. Zudem bewegte er sich wie ein gigantischer dunkler Schatten.

„Ich möchte dir helfen. Ich muss einfach helfen. Ich verdanke Race alles.“

Ein paar Stufen tiefer stehend, sah er zu mir herauf. Ich erschauerte. Niemand sollte so kalte und leere Augen haben.

„Er ist vielleicht nicht mein leiblicher Bruder, aber trotzdem mein Bruder, und ich kenne ihn gut genug, um zu wissen, dass er alles, was er für dich getan hat, freiwillig getan hat. Nicht weil er musste. Race spielt gern den Helden.“

Ich wusste nicht, was ich davon halten sollte, und als ich endlich meine Gedanken beisammenhatte, war er schon am Ende der Treppe. Wenn er jetzt ging, würde ich ihn nie mehr wiedersehen, und das konnte ich nicht zulassen. Er war meine einzige Verbindung zu Race, ganz egal, was das für mich selbst bedeutete.

„Ich muss einfach helfen.“

Er sah mich über die Schulter an, und ich war klug genug, ihm nicht weiter zu folgen.

„Du könntest dir ja nicht mal selbst helfen. Glaubst du wirklich, dass du irgendjemanden mit einem Taser und einer Bratpfanne aufhalten kannst?“

Ich hatte auch eine geladene Neunmillimeter in meinem Nachttisch direkt neben dem Bett liegen, und Race hatte mir gezeigt, wie man damit umging, doch das behielt ich lieber für mich. „Ich hatte dich erwartet. Ich wusste, dass du es warst.“

„Und wenn nicht ich es gewesen wäre, bei dem du mit dem Taser danebengezielt hättest, wärst du gefickt gewesen. Im wahrsten Sinne des Wortes. Ich arbeite besser allein. Ich weiß nicht, was hier los ist, und kann es wirklich nicht brauchen, dass irgendein Mädchen vom Lande mich aufhält oder mir in die Quere kommt.“

Ich spürte, wie meine Augenbrauen fast hinauf bis zum Haaransatz schossen. Ich hatte schon viel über mein Aussehen gehört, manches schmeichelhafter als anderes, aber nie zuvor hatte jemand angedeutet, dass ich wie ein Bauernmädchen aussah. „Wie bitte?“

Er lachte, zumindest glaubte ich, dass es ein Lachen sein sollte, und sprang ein paar Stufen tiefer.

„Liegt an den Sommersprossen und der weißen Haut. Du siehst ein bisschen wie von einem Bauernhof aus. Und nicht wie eine, die hierher in die Stadt gehört. Und noch weniger siehst du wie zwanzig aus.“

Nun, und er sah nicht so aus, als ob er nur ein paar Jahre älter als ich wäre, dafür umso mehr wie der dunkle Verbrecher, der er anscheinend war.

„Tja, ich war in meinem ganzen Leben noch auf keinem Bauernhof, und ich werde alles tun, damit Race nichts passiert und er wieder nach Hause kommt. Mit oder ohne deine Hilfe.“

Ich wollte mutig klingen, ich wollte so klingen, als ob ich von Vorteil für ihn wäre. Aber das klappte nicht. Ich klang verängstigt und unsicher. Und das hörte er.

„Ohne mich, Rotschopf.“

Und dann war er weg. Löste sich einfach auf. Verschwand in der Nacht wie der Dieb, der er war.

Seufzend ging ich zurück in mein Apartment. Über weitere unerwünschte Besucher machte ich mir keine Gedanken. Lester, der Obdachlose auf dem Bürgersteig, ließ niemanden ins Gebäude, der da nicht reinsollte. Ich brachte ihm hin und wieder einen Teller Essen und ein Sixpack Bier, im Gegenzug passte er auf mich auf. Benny und seine Schlägertypen hatten mich nur gefunden, weil sie an einem frühen Sonntagmorgen auftauchten, als Lester gerade seinen stinkenden Körper in die Kirche schleppte. Sie hatten Glück. Ich nicht. Und außerdem hatte ich Angst.

Ich hatte Angst um Race – und Angst um mich. Und wenn ich ehrlich war, hatte ich auch vor Bax entsetzliche Angst. Ich war clever, ich konnte auf mich selbst aufpassen, doch um nichts in der Welt wäre ich in der Lage, es mit einem Typen wie ihm aufzunehmen. Aber ich brauchte ihn. Bevor Race bei mir aufgetaucht war, hatte ich nie irgendjemanden gebraucht.

Mein Handy klingelte in dem Moment, in dem ich die Wohnungstür hinter mir absperrte, so nutzlos die Schlösser dank meines nächtlichen Besuchers nun auch waren. Ich ging zum Fenster, um Carmen zuzuwinken.

Sie lachte in mein Ohr, und ich ließ mich aufs Sofa fallen. Sie war süß. Alleinerziehende Mutter … Marco und Paulie hielten sie auf Trab. Die beiden waren gute Kinder. Sie war eine gute Mutter, aber wir waren nun mal nicht im Märchen, deswegen wusste ich, dass alle drei es schwer im Leben hatten, vor allem da Marco dreizehn war und Carmen nur sechs Jahre älter als ich. Wir versuchten, aufeinander aufzupassen, doch hier war letztlich jeder Mann und jede Frau auf sich allein gestellt, und je schneller man das lernte, desto besser. Es war dumm, Erwartungen zu haben. Die Realität zwang uns dazu, ehrlich zueinander zu sein und lockere Verbindungen miteinander einzugehen.

„Also? Was hat er gesagt?“

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