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Tod im Stroh

Als Buch hier erhältlich:

Ein Geheimnis kommt selten allein!

Mia will die Zelte in der Stadt abbrechen und im Haus ihrer Großmutter mitten im Schwarzwald neu beginnen. Dass sie allerdings gleich am ersten Abend ihres neuen Lebens gemeinsam mit ihrer besten Freundin Chrissi bei Nacht und Nebel einen völlig verwahrlosten struppigen Esel klaut und anschließend in ihrer Scheune über eine Leiche stolpert, gehört natürlich nicht zum Plan. Was soll sie jetzt tun? Auf keinen Fall kann sie als Eseldiebin die Polizei rufen, und so beschließen Mia und Chrissi, es selbst in die Hand zu nehmen und auf eigene Faust herauszufinden, wer der Tote ist und warum er ausgerechnet in ihrer Scheune gestorben ist.


  • Erscheinungstag: 21.02.2023
  • Seitenanzahl: 224
  • ISBN/Artikelnummer: 9783749905577
  • E-Book Format: ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Für Tobias

Prolog

Es stand vor eines Hauses Tor, ein Esel mit gespitztem Ohr. Der käute sich sein Bündel Heu gedankenvoll und still entzwei.

Wilhelm Busch

Der Schwarzwald. Dunkle Tannen, grüne Wiesen und plätschernde Bergbäche. Hier ist die Welt noch in Ordnung. Menschen und Tiere leben in Harmonie und Eintracht, und alle sind glücklich. Einzelne Höfe und kleine Ortschaften liegen verstreut in einsamen Tälern, auf Hügeln und geduckt zwischen riesigen Bäumen.

Die Vögel zwitschern, irgendwo keckern Eichhörnchen. Tiefer im Wald hört man eine Rotte Sauen. Kinder auf dem nahen Hof spielen Fangen im Heu. Ihr Lachen mischt sich mit dem Rauschen der Tannen, die sich sacht im Wind wiegen.

Doch was ist das?

Ein Schrei fährt in das feine Gespinst des Idylls und reißt es in Fetzen! Direkt vor der Scheune zerrt der Schlachter die Sau über den Hof. Sie stemmt ihre Haxen in den lehmigen Boden und schreit Zetermordio, doch der Mann am anderen Ende der Leine zieht sie unerbittlich weiter.

Weiß gekachelte Wände. Der Geruch von Panik. Ein Knall.

Die Schnitzel brutzeln in der Pfanne. Goldbraun. Während der Duft durch das Haus treibt, reiben sich die Menschen ihre hungrigen Bäuche.

Das war Berta. Glück ist relativ.

Das merkt auch der Mann, als er ins Stroh sinkt. Der Coup seines Lebens sollte es sein. Doch jetzt drückt es ihm beinahe die Augen zum Schädel raus. »Hilf mir!«, will er schreien, aber seiner Kehle entschlüpft nur ein Röcheln. Der Sensenmann hält ihn in seinen eisigen Klauen. Das Opfer kämpft verzweifelt. Verzweifelt und vergeblich.

Die Vögel zwitschern ihr Abendlied. Friedlich ist er, der Schwarzwald. Friedlich und schön.

Und um einen Einwohner ärmer.

Eins

Mia Sonne @MiasWelt

Drei Pudeldamen hintereinander – für heute bin ich gepudelt! #Tiersalon Elvira

Schnell tippte ich auf »Twittern« und ließ das Smartphone in meiner Hosentasche verschwinden. Elvira war eine tolle Chefin mit einem großen Herzen und absolut null Verständnis für Handys und den ganzen neumodischen Kram. Twitter bezeichnete sie als Seelenpornografie. Wohingegen sie mit den aufgeblasenen Möpsen ihrer Kundinnen keine Probleme hatte – und ich spreche nicht von den Hunden! Das gehörte für mich viel eher in die Kategorie Pornodingsda. Diese Frauen gaben ihre gesammelten Minderwertigkeitskomplexe in der Öffentlichkeit preis und trugen sie in Form ihrer Silikonkissen vor sich her. Garniert mit glitzernden Klunkern. Und alles nur, um von ihren Mädchen vernaschenden Ehemännern abzulenken.

Dann doch lieber twittern.

Elvira hatte einfach keine Ahnung. Für mich war das mein Fenster zur Welt. Den ganzen Tag stand ich im Salon, frisierte Hunde, Katzen und neulich sogar einen Papagei, und draußen tobte das Leben. Die Bertoldstraße leuchtete, eingetaucht in die ersten warmen Strahlen der Frühlingssonne. Es war Ende März, und das Schaulaufen der Frühjahrskollektion hatte begonnen. Von Punk bis Lady war alles dabei. Jeder, der irgendwie konnte, schlenderte, bummelte und tankte Kraft im Sonnenlicht. Okay. Fast jeder. Nils lag bestimmt noch in den Federn, er hatte heute erst nachmittags Vorlesung.

Mir wäre alles lieber gewesen als Frau Blage mit ihrer vierbeinigen Plage, einer äußerst unerzogenen Yorkshireterrier-Dame, die als Nächstes auf dem Programm stand. Und dazu gehörte unweigerlich: »Kindchen, seien Sie vorsichtig, Mimi ist ja so empfindsam« oder »Was meinen Sie? Sollen wir lieber das pinkfarbene Jäckchen oder das in Rosé zum Empfang anziehen? Was wohl besser zu meinem Abendkleid passt?«

Eins von Mimis Kleidchen hatte den Wert meiner gesamten Sommergarderobe. Nicht dass ich neidisch wäre. Lieber in Lumpen gekleidet, als dieser Frau, der Inkarnation von Doofheit, ausgesetzt zu sein. Bei der hatte der Zuwachs an finanziellen Mitteln zu einem im Verhältnis dazu exponentiell ansteigenden Verlust von Gehirnzellen geführt. Hätte ich nur solche Neureichen als Kunden, müsste ich den Job wechseln. Dabei liebte ich meine Arbeit.

Diese Stelle anzunehmen, war die beste Entscheidung meines bisherigen Lebens gewesen. Abgesehen von dem Entschluss, der blöden Tanja am Tag unserer Einschulung die Lakritzschnecken aus der Schultüte zu klauen, auch wenn das damals zwei Wochen Pumucklverbot für mich bedeutet hatte. Zum Glück hatte Oma die Folgen für mich angeschaut und mir dann erzählt, was der kleine Kobold wieder alles angestellt hatte.

Oma. Sie hat mich immer verstanden. Auch wenn der Rest der Familie wieder mal kopfstand, weil Mia »nie den geraden Weg wählte«, wie Mama es gern ausdrückte. Pfff! Dabei waren meine Wege so krumm nun auch wieder nicht. Ich wollte nun mal weder Karriere machen und steinreich werden, noch war ich bereit, mir zumindest einen gut betuchten Mann zu suchen.

Ich wollte einen Job, der mir Spaß machte, und Zeit, das Leben zu genießen. Ich wollte spazieren gehen, meine Zehen ins Wasser eines Baches halten oder barfuß über eine Wiese springen. Mein Herz hüpfte vor Glück, wenn sich eine Fellnase vertrauensvoll an mich drückte. Und wenn sich ein Pflänzchen, das ich gesät hatte, der Sonne entgegenreckte, dann erfüllte mich das mit tiefer Zufriedenheit. Zum absoluten Unverständnis meiner Mutter. Nur Oma hatte in solchen Momenten wissend genickt und sich mit mir gefreut. Immer.

Oma hatte mir auch das Stricken beigebracht. Durch sie habe ich die Liebe zu schöner Wolle entdeckt.

Mein Leben war wie Wellenreiten an einem Tag mit lauem Wind. Weicheisurfen. Ich liebte diese Beschaulichkeit. Keine drohende Gefahr, die nächste Monsterwelle bezwingen zu müssen. Kein unnötiger Nervenkitzel. Kein unkalkulierbares Risiko. Ich hatte alles, was ich brauchte. Einen angenehmen Job bei dem angesagtesten Tiersalon der Stadt. Einen liebevollen Freund, mit dem ich lachen, kuscheln, aber auch nächtelang reden konnte, Wolle und Stricknadeln. Das wunderbare Pünktchen, die freche kleine Mischlingshündin, die mein Ein und Alles war. Und wenn mir doch mal nach einer deftigen Welle war, dann gab es da noch Chrissi, meine beste Freundin seit dem Kindergarten. Neben ihr kam ich mir manchmal beinahe langweilig vor, denn bei ihr war immer etwas los.

Obwohl ich mein Leben genoss, war ich für meine Mutter eine Enttäuschung. Beinahe dreißig und noch immer nicht unter der Haube. Verglichen mit meinem ach so tollen Bruder Lukas, der ein Einserabi hingelegt hatte und nun Jura studierte, war ich der Loser der Familie, egal wie krumm oder gerade meine Wege waren. Nur eine mehr oder weniger gute Mittlere Reife konnte ich vorweisen. Und dann hatte ich mich nicht einmal breitschlagen lassen, wenigstens eine Lehre zur Bürokauffrau zu machen. Oder Krankenschwester. Da hätte ich mir nach Meinung meiner Mutter wenigstens einen Arzt an Land ziehen können. Stattdessen war ich, gemeinsam mit Chrissi, Tierpflegerin im Schwarzwaldzoo geworden und Mamas Naserümpfen zum Trotz sehr glücklich beim Ställeausmisten.

Gerade als meine Familie sich mit ihrem (und meinem) Schicksal abgefunden und anderen Themen zugewandt hatte, war Elviras Angebot gekommen. Ich griff zu, ohne lange zu überlegen. Alle waren entsetzt. Tierfriseurin! Das war ja noch schlimmer als Tierpflegerin.

Nur Oma fand es genauso cool wie ich.

Sie fehlte mir sehr. Drei Monate war sie jetzt schon tot, und erst letzte Woche hatte ich mich überwinden können, ihr Haus, das jetzt meins war, einem Makler zur Vermittlung zu übergeben. Herr Bronkovich versprach mir, er würde schnell einen Käufer für das Schmuckstück finden. Leider. Fast hätte ich mir gewünscht, dass er sagen würde, es wäre unmöglich, so ein Haus an den Mann zu bringen. Ein idiotischer Wunsch, das war mir klar.

Das Gebäude war zwar alt, aber super in Schuss und die Lage für Schwarzwälder Verhältnisse Spitzenklasse. Einsam gelegen und doch nicht weit weg vom Leben. Oder dem, was man im Schwarzwald so »Leben« nennen konnte.

Aber was sollte ich mit einem Haus in St. Gregorius? Da war der Schwarzwald ziemlich schwarz, und jeden Tag etwa achtzig Kilometer zur Arbeit fahren? Nein danke!

Die Alternative wäre gewesen, schon wieder eine neue Stelle zu suchen, und dieser Gedanke war auch nicht prickelnd. Die Wahrscheinlichkeit, es noch einmal so gut zu erwischen wie bei Elvira, ging gegen null. Noch dazu war es bei ihr im Salon kein Problem, Pünktchen mit zur Arbeit zu nehmen. Dieses Privileg löste alle Hundesitterprobleme, die mich früher beinahe in den Wahnsinn getrieben hatten. Ein rundum toller Job also. Eigentlich.

Nur wenn es daran ging, Pudellöckchen rosa zu färben, kam ich an meine Grenzen. Frau Blage mit ihrer Mimi war jenseits allen guten Geschmacks. Ich musste nur an das aufgedonnerte Schrapnell denken, dann kringelten sich gleich meine Fußnägel. Der Gedanke an meine Fußnägel brachte mich wieder zu Nils zurück. Er war der wichtigste Grund, weshalb ich nicht von hier wegwollte. Es wäre herrlich, jetzt mit ihm im Bett zu liegen. Die Vorstellung, wie er an meinen Zehen knabberte, brachte mich wohlig zum Erschauern. Er hatte da so eine ganz bestimmte Technik, die mich verrückt machte.

Beinahe hätte ich laut geseufzt.

»Frau Blage hat angerufen. Mimi ist unpässlich«, riss mich Elvira aus meinen Träumereien.

Den Jubelschrei konnte ich gerade noch unterdrücken, bevor er mir über die Lippen hüpfte. Bei so was kannte meine Chefin kein Pardon. Kunden waren immer und jederzeit mit Respekt zu behandeln. Von wegen mal so richtig gepflegt ablästern, wie ich es mit Chrissi manchmal zelebrierte.

Artig legte ich die Stirn in Sorgenfalten. »Hoffentlich nichts Ernstes«, sagte ich und rang das Grinsen nieder, das sich mit aller Macht in meinem Gesicht einnisten wollte.

»Wie man’s nimmt. Sie hat wohl zu viele Pralinen genascht«, meinte Elvira und unterzog ihre silberne Designerarmbanduhr einer eingehenden Betrachtung. »Wenn du willst, kannst du jetzt schon Mittagspause machen.«

Sag ich doch: tolle Chefin!

»Hast du gehört, Pünktchen?«, rief ich in Richtung Hundekorb.

Mein Schätzchen öffnete nur ein Auge, wackelte mit seinem linken abgeknickten Ohr und wollte weiterschlafen.

»Nichts da, du Murmeltier! Hoch mit dir, wir haben Pause.« Mit einem Satz war ich im Hinterzimmer, schnappte meine Handtasche und Pünktchens Leine. Jetzt hatte es auch meine Hündin kapiert. Ihr blieb keine Zeit, sich ausgiebig zu strecken und die schwarzen Flecken auf ihrem weißen Fell zu sortieren. Ich ließ den Karabiner am Halsband einschnappen und stürmte Richtung Tür.

Im Vorbeihuschen warf ich einen Blick in den Spiegel und wuschelte meine Locken auf. Der kleine Rotstich im Brünett machte sich wirklich gut, besser als die blonden Strähnchen, die ich jahrelang getragen hatte. Wenn ich schnell genug wäre, könnte ich Nils überraschen. Vorspeise Mia, Hauptgang Döner von unserem Lieblingstürken und Nachtisch noch mal Mia.

Schon drei Minuten später gab ich Ali ein Zeichen, das so viel hieß wie »Wie immer!« – obwohl ich als Letzte den Laden betreten hatte. Er wusste, dass ich immer in Eile war, und als Stammkundin gab es eine klitzekleine Vorzugsbehandlung. Mein schlechtes Gewissen zwickte zwar ein bisschen, aber ich wäre eine Idiotin, wenn ich ein schnelles Essen einer falschen Moral opfern würde. Ein guter Mensch – aber hungrig. Dann doch lieber ein wenig verwerflich, aber satt.

Während ich auf unser Mittagessen wartete, beobachtete ich die Menschen, die es wie Blütenblätter auf fließendem Wasser durch die Straßen trieb. Verliebte, wohin mein Blick auch ging. Eindeutig: Frühling lag in der Luft. Mein großer Zeh wackelte bereits ungeduldig, und auch der Rest von mir konnte es kaum erwarten.

Konnte ein Leben perfekter sein?

Mia Sonne @MiasWelt

Liebe liegt in der Frühlingsluft, und ich werde mich jetzt zu meinem Liebsten kuscheln. Überraschung!

Finger auf »Twittern«, und ab die Post. Sollte die Welt ruhig wissen, wie gut es mir ging. Mit dem Mittagessen in der Tüte ging es weiter Richtung Heimat. Kurz vor dem Ziel fiel es Pünktchen ein, eine Kastanie zu gießen. Ungeduldig wartete ich, bis sie ausgepieselt hatte. Wie konnte nur so viel Pipi aus so einem kleinen Hund kommen?

Endlich waren wir zu Hause.

»Schnuckel, rutsch zur Seite! Dein Zuckerhasi hat unverhofft eine lange Mittagspause und viel Kuschellust!« Albern. Völlig. Aber das war uns schokohasenpiepegal. Sobald es bei uns zur Sache ging, wurde Zucker geschmolzen. Gummibärchen. Lakritzschneckchen. Zauberlolli. Sahnetoffee. Nugatpralinchen. Marshmallow. Schokohühnchen. Marzipanschweinchen … Es machte einfach Spaß.

Die Wohnungstür fiel hinter mir ins Schloss. Pünktchen verkrümelte sich in die Küche, und ich riss in froher Erwartung die Schlafzimmertür auf. Die Bluse hatte ich aus Gründen der Zeitersparnis schon aufgeknöpft. BH trug ich keinen.

»M…M…Mia. Was m…m…machst d…du denn hier?«

Irgendjemand hatte auf den Pausenknopf gedrückt und die Temperatur nach unten geregelt. Die Welt war eingefroren. Meine Hand am Jeansknopf stand ich da und versuchte rauszufinden, was an dem Bild, das sich mir bot, nicht stimmte. Nils mit verwuschelten Haaren und geröteten Wangen. Das Bett zerwühlt. Die Luft sexgeschwängert. Und neben meinem Freund – Brian.

»Hey, Honey. Don’t panic. It’s just …«

Ich drehte mich um, zog die Tür zu und lehnte mich dagegen. Meine Knie waren weich wie Zuckerwatte, und Stück für Stück rutschte ich dem Mittelpunkt der Erde entgegen. Fassungslos blieb ich, an die Tür gelehnt, sitzen.

Das war ein Scherz! Ein Missverständnis. Eine Fata Morgana. Jemand hatte mir etwas in den Kaffee geschüttet, und ich tanzte auf einem Horrortrip. Egal was es war, Realität war es nicht. Auf keinen Fall. Nils war nicht schwul. Das hätte ich gemerkt. Brian. Ausgerechnet dieser hühnerbrüstige Engländer. Austauschstudent! Haha. Was der studierte, hatte ich ja gerade live erleben dürfen. In flagranti erwischt.

Die Schlafzimmertür ging auf. Ich kippte nach hinten und blieb auf dem Rücken liegen.

Brian stieg, irgendwelche Erklärungen vor sich hin brabbelnd, über mich hinweg und suchte das Weite. Im Gehen zog er sich das Shirt über den Kopf, seine Schuhe hielt er in der Hand.

Jetzt beugte sich Nils über mich. »Mia. Hey, Süße. Komm, lass uns reden! Honigkuchenpferdchen.«

Der Mistkerl traute sich allen Ernstes, mir an die Brüste zu grapschen! Endlich nahm das Leben wieder Fahrt auf. Ich schlug seine Hand weg. Eigentlich hätte ich ihm am liebsten richtig eine gedonnert, aber körperliche Gewalt lag mir nicht. So würdevoll ich konnte, rappelte ich mich hoch und baute mich vor ihm auf. Während ich mit zitternden Händen meine Bluse zuknöpfte, streckte ich meine einhundertvierundsechzigeinhalb Zentimeter, um wenigstens auf Höhe seiner Brustwarzen zu kommen.

»Schokoherzchen, jetzt mach doch kein Drama draus. Das ist doch alles …«

Das Schokoherzchen hatte einen grün schillernden Überzug bekommen – Mindesthaltbarkeit abgelaufen.

»Raus!«, zischte ich und drückte mich an ihm vorbei ins Schlafzimmer hinein. »Mach, dass du wegkommst!« Um meiner Forderung Nachdruck zu verleihen, riss ich das Fenster auf und fing an, seine Sachen hinauszuschleudern. Eine Unterhose landete auf Brian, der gerade das Haus verließ, und blieb an seinen knochigen Schultern hängen.

»Sag mal, spinnst du?«, keifte Nils mich entsetzt an. Er raffte im Turbogang die Klamotten zusammen, die ich noch nicht in die Finger bekommen hatte, warf alles in seine Sporttasche und duckte sich vor meinen Wurfgeschossen. Ich war nämlich dazu übergegangen, abwechselnd etwas aus dem Fenster und gegen Nils zu schleudern.

»Raus! Raus! Raus!«, schrie ich so laut, dass meine Stimme brach. Pünktchen sprang jaulend um mich herum. Nils packte seine Tasche mit einer Hand, die andere hielt er sich schützend vors Gesicht. Ein Turnschuh knallte gegen die Tür, die er eilig hinter sich zugezogen hatte.

»Ein Mann«, sagte ich zu Pünktchen. »Hast du das gesehen?«

Ich setzte mich auf den Fußboden und vergrub mein Gesicht in Pünktchens Fell. Die Wut donnerte immer noch wie ein Düsenjet in meinen Ohren.

Ein Schlüssel wurde in die Haustür gesteckt und rumgedreht. Nils streckte vorsichtig den Kopf in die Wohnung.

»Schokoherzchen?« Der Mistkerl hatte Nerven! Leider hatte ich nichts Werfbares mehr in Griffweite, deshalb beschränkte ich mich auf verbale Attacken. Als sich mein Wortschatz an Schimpfwörtern erschöpft hatte, zog ich einen Schlussstrich.

»Es ist aus! Aus und vorbei. Du hast hier nichts mehr zu suchen. Schau, wo du deinen Hintern betten kannst. Brian freut sich bestimmt, wenn du zu ihm ziehst!«

Nils grinste schief, und seine Grübchen versetzten mir einen sehnsüchtigen Stich, aber ich ignorierte die Schmerzen in meinem Herzen.

»Du bist so süß, wenn du wütend bist, Zuckerschnäuzchen«, versuchte er noch einmal gut Wetter zu machen.

»Es hat sich ausgezuckert! Spar dir das Süßholz für deinen Liebsten. Und jetzt verschwinde!« Ich schaute mich wieder nach Wurfgeschossen um, da fiel mir etwas Wichtiges ein. »Und her mit dem Wohnungsschlüssel!« Ich streckte ihm meine flache Hand fordernd entgegen.

Nils lächelte verlegen. »Ja, also, genau deshalb bin ich noch mal reingekommen. Ähm, also, Mia, es tut mir ja wirklich leid. Aber: Das ist meine Wohnung.«

Zwei Stunden später saß ich bei Chrissi auf dem Sofa. Drei Packungen Taschentücher hatte ich schon vollgeheult. Pünktchen kuschelte mit Chrissis Boxer Paul in dessen Korb. Die beiden liebten sich. Liebe! Der Gedanke daran trieb die nächste Tränenflut zum Ausgang. Ich schluchzte.

»Wieso hab ich nichts gemerkt?«, fragte ich ungefähr zum einhundertneunundneunzigsten Mal. »Das kommt doch nicht von heute auf morgen. Ich meine: Du wachst doch nicht eines Morgens auf und denkst: So. Ab heute bin ich schwul. Oder?«

Chrissi tätschelte mein Knie und schwieg. Was hätte sie auch sagen sollen?

»Und weißt du, was das Schlimmste ist?«, fragte ich weiter und gab Chrissi auch gleich die Antwort: »Gegen einen Mann habe ich als Frau überhaupt keine Chance. Das ist unfair!« Ich schluchzte wieder. War es wirklich erst ein paar Stunden her, dass ich mein Leben als perfekt bezeichnet hatte?

Mein Handy klingelte. Auf dem Display erschien: »Elvira«. Die hatte ich vollkommen vergessen. Zaghaft meldete ich mich.

»Kannst du mir mal verraten, wo du dich rumtreibst?«, dröhnte die Stimme meiner Chefin durch den Lautsprecher.

»Ist das der Dank für die verlängerte Mittagspause?«

Und nun? Sonst war ich doch auch nicht um eine Ausrede verlegen. Feuer! In meiner Wohnung hat es gebrannt. Nicht schlecht und ziemlich nah an der Wahrheit. Aber das würde ich nicht durchziehen können. Da hing ein Rattenschwanz weiterer Lügen dran.

Eine Sturzgeburt kam mir in den Sinn. Dazu hätte ich allerdings erst einmal schwanger sein müssen. Ich dachte an Nils und unseren gemeinsamen Wunsch nach einer kleinen Familie. In romantischen Stunden hatten wir davon geträumt, wie wir mit unseren Kindern auf dem Spielplatz rumtobten. Zwei sollten es werden. Ein Junge und ein Mädchen. Der Junge zuerst, damit die Kleine einen großen Bruder hatte. Obwohl meine Erfahrungen bezüglich eines großen Bruders eindeutig dagegensprachen, hatte Nils sich in diesem Wunschpunkt durchgesetzt. Und auch bei den Ansprüchen an unsere Kinder waren wir nicht wirklich einer Meinung. Nils sagte, das Mädchen sollte blonde lange Locken haben und hellblaue Augen. Er wollte ihr musikalisches Talent, das sie auf jeden Fall haben würde, früh fördern. Erst Klavier und später Geigenunterricht. Mit sieben oder acht käme dann Stimmtraining dazu. Andere Väter würden vor Neid erblassen, wenn er mit seinem blonden Engel die Bühne betrat.

Ich hingegen wollte lieber eine Ronja haben. So eine richtige Räubertochter, die auf Bäume kletterte und den Jungs auch mal was auf die Nase gab, wenn sie frech wurden. Mein Plan war gewesen, das Nils schonend beizubringen. Irgendwann hätte er eingesehen, dass meine Träume die schöneren waren und eine Vorzeigepuppe kein Grund, vor Stolz zu platzen.

»Mia, hallo? Was ist denn nun?«, riss Elvira mich aus den Gedanken über meine ruinierte Familienplanung.

»Nils hat mich betrogen.«

Manchmal war die Wahrheit so hart, da brauchte es keine Ausreden. Und wirklich: Elvira schaltete sofort um, betitelte mich als »armes Hühnchen«, gurrte noch ein Weilchen in den Hörer und gab mir den Rest des Tages frei. Ich legte auf und öffnete mein Twitterprofil.

Mia Sonne @MiasWelt

Überraschung gelungen – Liebe tot. Aus. Ende. Schluss. #Herzschmerz

Ich nahm einen großen Schluck Tee und schnappte mir dann wieder mein Strickzeug. Um mich ruhig zu bekommen, hatte Chrissi reichlich Grappa dazugeschüttet. Die Welt wurde langsam aber sicher unscharf. Immer öfter rutschten mir die Maschen von der Nadel. Genervt pfefferte ich Wolle und Nadeln auf den Tisch und nahm noch einen Schluck. Und noch einen.

Warm strömte der Alkohol durch meine Blutbahn. Zwischendurch schnäuzte ich mich klangvoll in die Papiertaschentücher, die ich anschließend neben mich auf den Boden warf. Es war schon ein ansehnlicher Berg. Ich beobachtete das Flirren der Staubpartikel in der schräg ins Zimmer strahlenden Nachmittagssonne und überließ mich den Bildern, die wie bei einer Turbodiashow vor meinem inneren Auge auftauchten und sofort weiterzogen.

Nils und Brian, Nils und ich, Oma und ich mit Pünktchen, ich stolz mit meinen allerersten selbst gestrickten Socken, Nils mit mir im Urlaub am Meer, Oma vor ihrem Häuschen, Brian, wieder Omas Häuschen.

Klick! Und dann wusste ich plötzlich, was ich tun würde.

»Ich si…si…tsiehe in den Schwarschwald«, verkündete ich, nachdem ich Taschentuchpackung Nummer vier fast aufgebraucht hatte. »Gib mir mal das Teledingsda.«

»Schätzchen! Willst du nicht lieber warten, bis du nüchtern bist?«, versuchte Chrissi mich zu stoppen. Aber ich war fest entschlossen.

»DasisSchilks…schikhicks…schickschal. Omahatgewusst, dassichdasHäuschen brauhicksche«, wehrte ich Chrissis Appell an meine Vernunft ab. Nach drei Anläufen hatte ich auch tatsächlich die richtige Nummer gewählt. »Herr Brobronkwichswichswichser, äh … ich nicht! Äh, verkaufe, latürnich … natürlihickslich.«

Es dauerte eine Weile, aber irgendwann hatte ich dem Makler klargemacht, dass mein Haus in St. Gregorius nicht mehr zum Verkauf stand. Wieso er deshalb ausfällig werden musste, war mir nicht klar. Er raunzte was von »launenhaften Weibern« und ob ich meine Tage hätte – am Ende unterstellte er mir sogar, ich sei betrunken.

So ein Idiot! Wegen der drei winzigen Schlückchen Tee im Grappa! Hicks. Ich hatte nicht meine Tage, sondern einen Tag, einen, den ich so schnell nicht vergessen würde. Einen, der in die Geschichte meines Lebens eingehen würde. Mias Tag. Aber so was von. Ab heute sollte die Männerwelt sich warm anziehen. Es war vorbei mit Liebe und Kuscheln. Ich würde jetzt mein eigenes Ding durchziehen, und wenn ich dabei über Leichen gehen müsste – Männerleichen natürlich! –, war mir das schnurzegal.

Zu dem Zeitpunkt hatte ich keine Ahnung, wie schnell genau dieser Gedanke heftigste Realität werden würde. Mein Handy piepste. Das Fokussieren war nicht mehr ganz einfach. Tanzende Buchstaben, mal was anderes. Mühsam entzifferte ich den Tweet.

Jonnysonni @MiasWelt

Sweetie. Wenn du Trost brauchst, mein Jonny und ich übernehmen gern.

Wunderbar. Der konnte sich seinen Jonny sonst wohin stecken! Mein Bedarf war gedeckt. Und zwar reichlich! Bevor ich etwas antworten konnte, trudelten weitere Tweets ein.

SummseBiene @MiasWelt

Mistkerle!! Mach dir nichts draus. Der Nächste wartet sicher schon!

PaulaPaula @MiasWelt

Nur noch die eigene Dreckwäsche, und wenn du was in den Kühlschrank stellst, ist es auch noch da, wenn du Lust drauf hast. Cool! *knuddel*

Die mussten es ja wissen. Gab es wirklich Menschen, die so etwas locker wegsteckten? Ich gehörte sicher nicht dazu. Im Moment fühlte es sich an wie eine OP am offenen Herzen und ohne Narkose. Schwester, Taschentücher, bitte!

Zwei

Der Regen tanzte durch die Luft. Franz zog den Kopf zwischen die Schultern, während er mit ausgreifenden Schritten die Straße entlanghastete. Sauwetter, verrecktes!

Er hörte Timo neben sich keuchen. War das die Anstrengung, weil er mit seinen kurzen Beinen nicht Schritt halten konnte, oder zeigte er Nerven? Franz warf einen prüfenden Blick auf seinen Kumpel.

»Alles klar, Oller? Cool bleiben, kapiert? Mach dir nur nicht wieder in die Hose!« Er schlug Timo die Pranke auf den Rücken und lachte dröhnend.

Der Vollpfosten hatte sich beim letzten Mal doch tatsächlich eingepisst. Was für eine Show! Aber noch mal musste Franz das echt nicht haben.

Timo, deutlich blass mit leichtem Grünstich um die Nase, verzog das Gesicht zu einem Grinsen. »B…b…bin ich b…b…bescheuert, Mann?«

Ja, dachte Franz, biste, aber da redete Timo schon weiter.

»Ich hab vorgesorgt, das p…p…passiert mir n…n…nicht mehr.« Zum Beweis zog er seine Jogginghose ein bisschen nach unten, und Franz klappte die Kinnlade runter. Der Depp hatte eine Windel an! Immer wieder für ’ne schräge Nummer gut, der Kleine. Genau so hatte er ihn kennengelernt.

Franz rechnete nach. Zwei Jahre Knast, drei Jahre Türsteher im Puff und davor ein kurzer Abstecher als »Spezialkurier« – jemand musste ja für Frischfleisch sorgen. Ja genau, ungefähr fünf Jahre war das jetzt her. In der Unfallambulanz, kurz nach vier am frühen Morgen war es gewesen.

Franz hatte dem Taxifahrer ’nen Extrafuffi zustecken müssen, damit er ihn überhaupt mitnahm. Geblutet hatte er wie ’ne abgestochene Sau. Nur weil Melanie vollkommen durchgeknallt war und ihm das Messer in den Oberschenkel gerammt hatte. Zwei Zentimeter weiter links, und das Messer hätte die Beinarterie erwischt, meinte der Arzt später. Aber eigentlich hatte sie zehn Zentimeter weiter oben treffen wollen, wie Franz sehr genau wusste. Allein beim Gedanken daran zogen sich seine Kronjuwelen schmerzhaft Richtung Körperinneres.

Automatisch wanderte seine Hand zum Schritt. Erleichtert atmete er auf. Alles noch da und einsatzbereit. Wie immer vor einem Bruch stand sein Kumpel stramm. Das war fast so antörnend wie ein scharfes Weib. Nur nicht wieder so eine wie Melanie … Diese dumme schwäbische Schlampe! Wenn er nur an die Kreissägenstimme dachte, floss das Blut direkt wieder aus seinem Glücksschwert heraus.

Dabei war sie doch selbst schuld gewesen. Hätte sie ihn mit ihrer schwäbischen Mentalität nicht bis zum Gallespucken angekotzt, hätte er nicht über Natascha rutschen müssen. Endlich mal genüsslich knattern, ohne schrilles »Jaaaa – gib’s mir, du geiler Straßenbesen. Sauber. Vergiss die Ecken nicht!«. Das konnte ein Mann doch wohl verlangen? Und dann dieser abtörnende Hausfrauenmist. Für Melanie gab es nichts Schöneres als Kehrwoche. Die Braut war wirklich dumm wie verbranntes Toastbrot. Die hatte sich sogar zu einem Kehrwochenseminar angemeldet und Rotz und Wasser geheult, als rauskam, dass es sich bei der Ausschreibung um einen Aprilscherz handelte.

Zumindest hatte er durch Melanies Messerattacke Timo kennengelernt. Sturzbesoffen war der in der Nacht damals in seiner Stammkneipe, dem »Blue Moon«, gegen eine Glastür gerannt und hatte sich dabei die Nase gebrochen. Klaus, der Chef von dem Schuppen, brachte Timo ins Krankenhaus. Im Wartezimmer pennte Timo ein und kippte mit dem Kopf gegen Franz. Der half ihm an seinem roten Haarschopf auf die Beine und brüllte ihn an: »Oller, wenn du mir noch einmal zu nahe kommst, rauscht es, dass du Weihnachtsglöckchen klingeln hörst, und zwar an Ostern! Merk dir eins: Im Arsch isses finster, aber nich windstill. Alles klar?«

Timo staunte ihn an wie ein Kleinkind seine Weihnachtsgeschenke. »O…o…okay. C…c…cool, Alter.« Dann sackte er in sich zusammen und fing zwei Sekunden später an, laut zu schnarchen.

Ein zusammengefalteter Zettel fiel ihm aus der Hose. Franz wollte ihn gerade wieder in Timos Tasche zurückpacken, als er aufgerufen wurde. Deshalb steckte er das Papier einfach ein.

Erst als Franz mit frisch genähter Stichwunde in den Sonnenaufgang gehumpelt war, sahen sie sich wieder. Timo – immer noch reichlich blau – hatte ihn angegrinst. »W…w…was heißt das eigentlich? F…f…finster, aber n-n-nich w…w…windstill?«

Nach so einer Nacht, vollgepumpt mit Adrenalin und Schmerzmitteln, hatte Franz nicht anders gekonnt. Er war in lautstarkes Lachen ausgebrochen. »Hier, den hast du vorhin verloren«, sagte er, nachdem er sich wieder beruhigt hatte, und gab Timo den Zettel zurück.

»Prima, das ist meine Adresse! Die hab ich immer bei mir.

Sicher ist sicher«, hatte der gemeint und dämlich gegrinst.

Franz hatte fassungslos den Kopf geschüttelt und war mit dem schrägen Vogel frühstücken gegangen. Seit diesem Tag war Timo sein Schatten.

Franz streifte die Erinnerungen ab und kam zurück in die Gegenwart. »Wisch dir noch mal die Hände trocken, sonst rutscht dir die Wumme womöglich zwischen den Fingern durch, und du schießt dir selbst ins Knie. Oder noch schlimmer: Du knallst mich versehentlich ab.«

Timo wollte antworten, aber da blieb Franz schon abrupt stehen. Unauffällig nickte er zu dem übernächsten Haus. »Da isses. Deckung!«

Die beiden drückten sich in einen Eingang, und Franz tat so, als studierte er intensiv die Namensschilder. Er wartete, bis die zwei Passanten an ihnen vorbei waren, dann prüfte er die Umgebung. Ein Liebespärchen knutschte in einem Hauseingang, und ein Hund stromerte ohne Herrchen den Gehweg entlang. Der Scheißpudel kam angeschnüffelt und fand Timos Jogginghose extrem spannend, jedenfalls schnupperte er und drückte sich mit dem Hintern dicht am Bein entlang. Rechtsrum, linksrum, noch mal rechts, dann hob die Töle ein Bein und pisste Timo an.

Der grinste schief und hob entschuldigend die Schultern.

»T…t…tiere mögen m…m…mich einfach«, meinte er und schaute an sich runter. »Warn j…j…ja n…n…nur drei Tropfen.«

»Bereit?« Er griff in die Jackentasche. Timo tat es ihm nach.

»Jetzt!«

Die beiden Männer sprinteten gleichzeitig los, wobei Timo über seine eigenen Füße stolperte und die ersten Schritte strauchelte, bevor er sich wieder gefangen hatte.

Franz verdrehte die Augen. Wieso nur hatte er sich ausgerechnet den größten Tollpatsch vom gesamten Schwarzwald als Partner ausgesucht?

Weil er dein bester Kumpel ist? Weil er der loyalste Mensch ist, den die Welt je gesehen hat? Weil er dich verehrt und alles tut, was du von ihm verlangst?

Weil er ein Trottel ist und es nicht merkt, wenn die Aufteilung der Beute nicht ganz fifty-fifty ist.

Genervt bewegte Franz den Kopf, um die Stimme zu vertreiben, die sich dort eingenistet hatte. So weit würde es noch kommen, dass er Stimmen erlaubte, ihm Gedanken ins Hirn zu piepsen!

»Hä…hä…händ…d…de h…h…hoch! D…d…das i…i…!«, schrie Timo mit schriller Stimme, und Franz musste sich beherrschen, um nicht loszulachen. Timo klang vor Aufregung wie der Obereunuch persönlich.

»Hände hoch! Überfall!«, dröhnte Franz dazwischen, bevor Timo das nächste Wort herausstottern konnte.

Die Verkäuferin quiekte zuerst wie ein Meerschweinchen, dem man auf die Pfote trat, dann sackte sie hinter der Theke zusammen. Der Mann neben ihr, offensichtlich der Chef des Ladens, machte Anstalten, sich zu ihr runterzubeugen.

»Nix da! Die kriegt sich schon wieder ein. So lange sie ohnmächtig ist, hält sie wenigstens die Klappe. Hier!« Franz schmiss einen Stoffbeutel auf die Vitrine. »Einpacken. Aber dalli! Und keine Fisimatenten, sonst ist die Kleine Geschichte!« Mit einer schnellen Kopfbewegung gab er Timo das Zeichen, die Waffe auf die bewusstlose Frau zu richten. Dabei ließ er den Juwelier nicht aus den Augen.

Timo hielt die Pistole mit beiden Händen. Ob er im Fall eines Falles schießen und dann auch noch treffen würde, stand allerdings in den Sternen. Die Pistole wackelte auf und ab, Timo konnte das Zittern nicht kontrollieren. Dazu hickste er schon wieder, wie immer, wenn er aufgeregt war.

Verdammt! Franz verfluchte sich zum wiederholten Mal. Wieso nur hatte er sich keinen cooleren Partner ausgesucht? Der Juwelier hatte in der Zwischenzeit mit zittrigen Händen die Vitrine leer geräumt.

»Die da drüben auch noch!«, donnerte Franz die nächste Anweisung. »Ein bisschen flotter, sonst …« Er ließ die Drohung in der Luft hängen.

»Ich mach ja schon«, murmelte der Mann.

»Maul halten!«, brüllte Franz. Er liebte es, wenn die Leute vor Schreck zusammenzuckten, und auch dieses Mal verfehlte der Schrei die Wirkung nicht. Franz grinste. Wenn er erst mal in Südamerika war, müsste er sich ein Hobby suchen, das diesen Adrenalinrausch ersetzen konnte. Jagen vielleicht oder Hahnenkämpfe. Ihm würde sicher was einfallen. Mit der nötigen Asche war das alles easy. Als Erstes würde er sich auf jeden Fall ein Rennboot kaufen. Er sah es vor sich, natürlich mit den passenden Hühnern dabei. Haste erst mal Kohle, haste Chicas im Überfluss. Davon war er überzeugt.

Die Türklingel riss ihn aus seiner Tagträumerei. Ohne lange zu überlegen, warf er sich herum. Eine aufgetakelte Lady stand mit dem Rücken zu ihm im Eingang. Sie schüttelte ihren Schirm aus und drehte sich um. »Grüß Gott«, sagte sie und machte einen Schritt vorwärts.

»Yo, wenn ich ihn seh, und jetzt gaff nicht so dumm! Auf den Boden! Wird’s bald?« Die konnte sich ihr »Grüß Gott« sonst wohin schieben.

Franz riss die Frau am Oberarm nach unten. Sie kreischte, vollkommen überrumpelt, leistete aber keinerlei Widerstand. Der Juwelier hingegen hatte die Gunst der Situation genutzt und den Alarmknopf gedrückt. Ein ohrenbetäubendes Bimmeln erfüllte urplötzlich die Luft.

»Verdammt! Raus hier! Nun mach schon!« Franz schnappte den Beutel und warf ihn Timo zu. »Lauf!«

Beide stürzten zur Tür, und weil sie gleichzeitig ins Freie wollten, gab es ein kurzes heftiges Geschubse. Dann standen sie im Regen.

»Ich rechts, du links. Heute Abend am Treffpunkt!« Schon war Franz auf dem Weg. Die Spielzeugknarre – es genügte vollkommen, wenn Timo eine echte Wumme hatte, im Zweifel könnten die Bullen Franz somit nicht ans Bein pinkeln – ließ er samt Perücke im nächsten Gully verschwinden. Schnell zog er seine Jacke aus und drehte sie um. Jetzt strahlte sie in hellem Blau mit grünen Streifen. Extrem auffällig und damit genau in seinem Sinn. Die Täterbeschreibung würde der Polizei gar nichts bringen.

Drei

Mia Sonne @MiasWelt

Ihr könnt mich alle mal!

»Aufstehen, meine Süße! Heute ist der erste Tag vom Rest deines Lebens!« Chrissi trällerte in den schiefsten Tönen und hielt mir eine Tasse Kaffee unter die schlafende Nase. Mitten in der Nacht.

Ich stöhnte unwillig und schob die Tassenhand weg. »Wenn du so weitermachst, ist das nur ein sehr kurzer Rest. Ich sterbe! Lass mich schlafen. Mir ist schlecht. Ich bin krank.«

»Das hast du dir so gedacht. Nix da! Es ist Samstag, herrlicher Sonnenschein, und wir starten jetzt sofort das Antiliebeskummerprogramm: Shoppen und Beautykur.« Sie machte eine kurze Pause. »Ich brauche dringend neue Sandalen und vielleicht noch ein cooles Oberteil. Luigi mag es, wenn es ein bisschen knapp sitzt.«

Ich blinzelte vorsichtig mit einem Auge. Chrissi streckte ihren Busen raus – und sie hatte einiges rauszustrecken. Chrissi, das Kurvenweib. Neben ihr sah ich aus wie ein Strich, wenig Busen und kaum Hintern. Dafür aber viel Herz, wie Chrissi immer sagte, wenn ich mich wegen meiner fehlenden Oberweite beklagte. Und kein Gramm Fett, fügte sie jedes Mal ein bisschen neidisch hinzu.

Sie unterstrich ihre Ausführungen über Luigis Modegeschmack, indem sie über ihre Brüste strich und mit den Hüften wackelte. »So. Und jetzt Schluss mit dem Gejammer. Das Leben wartet. Und die Männer!« Mit einem Ruck zog das unbarmherzige Weib die Vorhänge zur Seite.

Autsch. »Wäää, ist das hell!« Ich zerrte mir das Kissen über den Kopf und hoffte, dass der Chrissi-Sturm schnell vorüberziehen würde. Eine einzelne Information hatte sich aus ihrem Wortschwall gelöst und surrte wie eine lästige Fliege hinter meiner Stirn herum. Sie knallte von innen gegen meine Schädelwände. Ich konnte den Gedanken einfach nicht fassen. Mit so wenig Blut im Restalkohol war Denken viel zu beschwerlich. Doch mit meiner Ruhe war es vorbei. Das zumindest hatte Chrissi geschafft. Mit halb geschlossenen Augen tastete ich nach der Kaffeetasse und patschte direkt in die heiße Brühe. Natürlich. Was sonst? Fluchend zog ich meine Finger zurück und blies dagegen. Mist. Selbst das Pusten tat im Kopf weh. Ich konnte jede Haarwurzel einzeln begrüßen. Das war alles viel zu anstrengend für meinen Zustand. Eine von den acht Tassen Grappatee musste schlecht gewesen sein. Automatisch langte ich nach dem griffbereiten Handy.

Mia Sonne @MiasWelt

Wo sind die Kopfschmerztabletten???

Mein Magen meldete sich mit einem fiesen Ziehen. Mein Mund schmeckte wie gebrauchte Socken nach fünf Wochen Dauertragen.

»Chrissi, ich glaube, ich gehe nach Hause und krieche wieder ins Bett«, eröffnete ich meiner unternehmungslustigen Freundin die bittere Wahrheit. Kein Shoppen. Keine Beautykur. Nicht mal stricken. Nur schlafen, bitte!

Zu der ersten Informationsfliege gesellte sich eine zweite. In meinem Kopf summte es, als hätte ich einem ganzen Fliegenschwarm Heimat gewährt. Vorsichtig setzte ich mich auf und hielt dabei die Schläfen fest, damit der Schädel nicht zerplatzte. Ich blinzelte, ertastete die Tasse im zweiten Anlauf und nahm einen Schluck. Schwarz. Ich hasse schwarzen Kaffee!

Zu den alten Socken gesellte sich Ohrenschmalz. Ich brauchte dringend eine Zahnbürste. Nach dem zweiten Schluck legte sich das Summen in meinem Kopf etwas, und ich bekam die erste Information zu fassen. »Luigi? Heißt dein Typ nicht Franco? Oder war es Francesco?«

Chrissi winkte ab. »Franco ist passé. Viel zu langweilig. Francesco ist ja schon gar nicht mehr wahr, der war noch vor Paolo. Aber Luigi …« Sie verdrehte genüsslich die Augen.

Ihre abgelegten Männer könnten einen Fußballverein gründen. Chrissi-Ade FC. Sie hatte aber auch ein Händchen für die größten Loser. Ihren Hang zu Südländern konnte sie jedenfalls nicht leugnen. Am besten mit viel Muckis und wenig Füllung im Oberstübchen. Meistens leider auch ohne Arbeit. Je kleiner das Hirn, desto größer der Macho, behauptete ich immer, aber Chrissi war in diesem Punkt schmerzfrei. Sie lachte höchstens, wenn ich ihren aktuellen Supermann infrage stellte.

Und dann klickte die zweite Information ein. Schmerzhaft und heftig. Mein Magen drehte sich um, und ich stürmte mit großen Sätzen Richtung Klo. Beinahe hätte ich Pünktchen überrannt, die gerade auf dem Weg ins Wohnzimmer war. Paul dackelte direkt hinterher.

Während ich Gift, Galle und Grappareste von mir gab, schwamm die Erkenntnis langsam an die Oberfläche meines Bewusstseins: Ich hatte kein Zuhause mehr. Der Albtraum war Realität. Nils. Brian. Der Makler. Ohmeingottdermakler! Hatte ich den wirklich angerufen? Vielleicht hatte er mich nicht verstanden – ich war doch so angeschickert gewesen, dass ich sogar undeutlich gedacht hatte. Vom Sprechen ganz zu schweigen. Ich schob den Gedanken an Omas Haus zur Seite. Die wichtigen Dinge zuerst.

Mit zwei Aspirin im Bauch, geputzten Zähnen und frisch geduscht, saß ich mit Chrissi auf ihrem Minibalkon. Wir schauten auf den Verkehr der Habsburgerstraße und schlürften Kaffee. Dieses Mal mit Milch. Ich traute mich sogar, eine trockene Scheibe Weißbrot zu knabbern. Ganz vorsichtig. Die Luft war angenehm lau, und ein sanfter Wind spielte mit meinen Haaren. Alles hätte sich wunderbar angefühlt – wäre da nicht diese furchtbare Leere gewesen. Und das Problem mit dem Makler, aber daran mochte ich immer noch nicht denken. Jetzt war sowieso Wochenende. Vor Montag konnte ich nichts unternehmen.

»Ich kann ihm das nicht verzeihen«, erklärte ich Chrissi oder vielleicht auch eher mir selbst sicher zum fünfzigsten Mal. »Ich könnte ihm nie wieder vertrauen!«

Chrissi nickte. Für sie war die Angelegenheit Nils ohnehin bereits zu den Akten gelegt. Aber so schnell wie meine Süße war ich nicht. Immerhin war Nils der Mann gewesen, mit dem ich Kinder hatte haben wollen. Eine Zukunft. Aber ich konnte ihm nicht verzeihen. Niemals.

Die Haustürklingel riss mich aus meinen im Kreis tanzenden Gedanken. Chrissi öffnete, und ich hörte Getuschel. Es rumpelte. Dann: »Nein. Du kommst hier nicht rein! Mach die Fliege, Junge, sonst trete ich dir zwischen die großen Zehen!« Chrissi war in Fahrt.

»Mia! Bitte, lass uns reden!« Nils. Er rief an Chrissi vorbei in meine Richtung.

Ach du meine Güte. Zum Glück war an meiner besten Freundin ein Wachhund verloren gegangen. Und Paul kam ihr auch noch zu Hilfe. Ich hörte ihn knurren. Paul konnte ziemlich bedrohlich aussehen, auch wenn ich ihm nicht zutraute, dass er überhaupt wusste, wie man jemanden beißt. Eher würde er einen Einbrecher vor lauter Hundeliebe zu Tode lecken.

Nils trat den Rückzug an. Ich schnaufte erleichtert durch. Aber zu früh gefreut. Eine Minute später hatte er sich unter dem Balkon aufgebaut und jammerte die Häuserwand hinauf.

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