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Tod in Kalabrien

Als Buch hier erhältlich:

Der Tod lauert in Kalabrien


Kommissarin Diana Brandt übernimmt den Mordfall an einem ranghohen Mitarbeiter des Berliner Verkehrsministeriums. Schon bald sieht sie sich mit der kalabrischen Mafia, der 'Ndrangheta, konfrontiert, denn der Tote ließ sich auf ein gefährliches Geschäft ein: Er organisierte illegale Transporte nach Süditalien. Der nächste Zug steht bereits kurz vor der Abfahrt – und diesmal soll die Fracht eine noch tödlichere sein. Um den Zug zu stoppen, muss Diana nicht nur vor Ort in Kalabrien ihr Leben riskieren, sondern auch außerhalb des Gesetzes handeln …


  • Erscheinungstag: 24.05.2022
  • Aus der Serie: Diana Brandt Ermittelt
  • Bandnummer: 2
  • Seitenanzahl: 304
  • ISBN/Artikelnummer: 9783749903566
  • E-Book Format: ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Es war Mitte April, aber der eisige Wind, der an diesem trüben Nachmittag durch die Straßen Berlins peitschte, hätte genauso gut ein Bote des tiefsten Winters sein können. Er schlug Diana Brandt mit ungebremster Härte ins Gesicht, als sie kurz hinter der Polizeiabsperrung aus ihrem Auto stieg. Sie ließ ihren Blick nach oben schweifen, fand die Fenster in der vierten Etage des Bürogebäudes, die sich durch die heruntergelassenen Jalousien vom Rest der Fassade abhoben. Dort spielte sich in diesem Moment die Geiselnahme ab. Eine Eskalation, zu der es niemals hätte kommen dürfen.

In der Kommissarin rumorte es. Seitdem sie vor rund einem Jahr aus der Reha in den Dienst zurückgekehrt war, hatte sie drei Mordfälle aufgeklärt. Alle waren reibungslos verlaufen. Ermittlungen, ein Verdacht, irgendwann der Beweis, die Vernehmung, das Geständnis. Am Ende Klarheit, Gerechtigkeit. Nichts war aus dem Ruder gelaufen, nichts ihrer Kontrolle entglitten. Das durfte auch heute, beim vierten Fall, nicht passieren. Nie wieder.

Diana sah sich um. Auf der Straße vor dem Gebäude standen zahlreiche Einsatzwagen, um die herum vor allem reguläre Polizeikräfte agierten. Die meisten von ihnen waren damit beschäftigt, aus dem Gebäude evakuierte Angestellte aus der Sicherheitszone hinauszugeleiten. Spezialeinheiten wie die Verhandlungsgruppe schienen noch nicht vor Ort zu sein. Das war verständlich, denn die Geiselnahme hatte erst vor etwa einer halben Stunde begonnen. Wenn es nach Diana ging, würde sie auch nicht wesentlich länger andauern.

In der Nähe eines Mannschaftsbusses machte die Kommissarin schließlich den Kollegen aus, der vor Ort als Einsatzführer fungierte. Es handelte sich um Lutz Deichmann, Polizeioberkommissar von der Direktion Zwei. Diana kannte den Beamten nur flüchtig, besaß aber zumindest eine Schlüsselinformation über ihn: Er war ein fähiger Mann, der gleichzeitig Wert darauf legte, stets streng nach Vorschrift zu handeln. Sie hatte noch nicht endgültig entschieden, wie sie vorgehen wollte, aber ihr Instinkt drängte sie bereits jetzt in eine klare Richtung. Das würde Probleme geben.

Sie ging auf Deichmann zu, der gerade ein Gespräch mit zwei Polizisten beendete. Als er die Kommissarin bemerkte, wandte er sich zu ihr.

»Gut, dass Sie es so schnell geschafft haben«, begrüßte er sie ohne weitere Förmlichkeiten. »Das war Ihr Fall, also kennen Sie den Täter am besten. Was können Sie mir über ihn sagen?«

Diana gefiel es nicht, so direkt in eine passive Rolle gedrängt zu werden, aber sie verstand den Wunsch ihres Kollegen nach Informationen.

»Friedrich Zander programmiert Websites für Werbekunden«, erwiderte sie. »Er ist vierzig Jahre alt, in jeder Hinsicht unauffällig, hat keine Vorstrafen. Aber ich nehme an, Sie haben die Akte gelesen.«

»Auf dem Weg hierher«, entgegnete Deichmann. »Inklusive Ihrer Einschätzung, dass Sie den Mann für nicht grundlegend gewalttätig halten.«

Der Vorwurf war offensichtlich und Diana nicht bereit, ihn einfach hinzunehmen.

»Dazu stehe ich«, sagte sie selbstsicher. »Er hat seinen Bruder im Affekt getötet.«

»Das zeigt, dass er zu spontanen Gewaltausbrüchen neigt.«

»Dieser Typ Mensch ist kein eiskalter Killer.«

»Er war berechnend genug, um die Leiche verschwinden zu lassen«, hielt Deichmann gegen. »Und um Sie beinahe einen Monat lang an der Nase herumzuführen.«

Das hatte er nicht. Seine Schuld war Diana schnell klar gewesen. Nur die Beweise hatten gefehlt – und, bis gestern, der Körper des Opfers. Die gerichtsmedizinische Untersuchung hatte unter den Fingernägeln des Toten schnell Kleidungsreste mit der DNA von Friedrich Zander zutage gefördert, die Staatsanwaltschaft daraufhin noch heute vormittag den Haftbefehl ausgestellt. Die relevante Frage war vielmehr, was danach schiefgelaufen war.

»Und wie kam es zu der Geiselnahme?«, erkundigte sich die Kommissarin, versuchend, der arroganten Abwertung ihrer Kompetenz mit Sachlichkeit zu begegnen. Deichmann deutete zu den Autos auf der anderen Straßenseite.

»Wir haben zwei Einsatzwagen geschickt, um Zander an seinem Arbeitsplatz zu verhaften«, erläuterte der Oberkommissar. »Er muss die Ankunft der Kollegen durchs Fenster bemerkt haben. Daraufhin hat er eine Pistole gezogen und fünf Mitarbeiter als Geiseln genommen.«

»Stammen diese Informationen von den Beamten?«, hakte Diana nach. Deichmann schüttelte den Kopf.

»Als die in der vierten Etage angekommen sind, hatte sich Zander bereits im hinteren Teil des Büros verschanzt. Den Ablauf der Ereignisse kennen wir von zwei seiner Arbeitskollegen, die fliehen konnten.«

Diana schaute kurz zu Boden und verbildlichte sich vor ihrem inneren Auge das beschriebene Szenario.

»Wen haben wir im Gebäude?«, fragte sie.

»Einige Beamte draußen im Flur vor der Firma«, kam die Antwort. »Die restlichen Kollegen stellen gerade sicher, dass sonst niemand mehr im Haus ist.«

»Ein Kontakt zu Zander besteht noch nicht?«

»Nein«, bestätigte der Oberkommissar Dianas Vermutung. »Aber das ist eh Sache der Verhandlungsgruppe.«

»Wann wird die eintreffen?«

»Spätestens in einer halben Stunde. Zusammen mit dem SEK

Diana hob ihren Blick wieder und sah Deichmann in die Augen.

»Zander hatte bereits eine Panikreaktion, als er zwei Polizeiwagen gesehen hat. Wie, glauben Sie, wird er reagieren, wenn er hier schwer bewaffnete Spezialeinheiten anrücken sieht?«

Der Angesprochene wirkte irritiert.

»Ich weiß nicht, was Sie erwarten. Die SEK-Truppen sind in dieser Situation zuständig.«

Damit hatte er recht, und in den meisten Fällen hätte Diana ihm zugestimmt. Aber hier und heute …

Die Kommissarin schloss kurz die Augen. Sie brauchte einen Moment absoluter Konzentration. Was Deichmann davon halten würde, war ihr egal.

Hatte sie Zander falsch bewertet? Nein. Ihn nicht. Der Mann hatte Angst. Ein Mord aus Impuls, dann die Furcht vor Verhaftung, dem Verlust seiner Familie … Dass er den Leichnam versteckt hatte, war kein zielgerichtetes Kalkül gewesen. Die Pistole musste er sich in den letzten Wochen illegal besorgt haben, denn Zander besaß keinen Waffenschein. Dieses Vorgehen war ebenso dumm wie gefährlich, aber der Zweck war wohl eher die Rückerlangung eines Gefühls der Sicherheit gewesen.

Am Ende kam es nur auf eine Tatsache an: Ein weiterer Mord würde Zander nicht retten. Und auch wenn er nicht der Klügste war – so viel musste ihm mit Sicherheit klar sein. In Panik wäre er in der Lage, einen Menschen zu erschießen. Aber nicht kaltblütig Auge in Auge. Also galt es, ihn zu konfrontieren, in Ruhe und mit sachlichen Argumenten, bevor ihn irgendetwas noch mehr außer Fassung geraten ließ.

Diana spürte kurz den scharfen Schmerz in ihrem linken Bein, von dem sie wusste, dass er nur ein Phantom war. Hier kann ich etwas ändern. Heute muss niemand sinnlos sterben. Egal, ob unschuldig oder schuldig.

Die Kommissarin öffnete ihre Augen wieder und fixierte Deichmann in dem Bestreben, ihre innere Entschlossenheit auch äußerlich zu projizieren.

»Ich werde mit Zander reden«, sagte sie. »Ich weiß, dass ich zu ihm durchdringen kann. Lassen Sie uns diese Sache beenden, bevor sie noch weiter eskaliert.«

Auf dem Gesicht ihres Kollegen zeigte sich komplette Verständnislosigkeit. »Das ist gegen die Vorschriften«, erwiderte er. »Und das wissen Sie. Wir haben ausgebildete Spezialisten für die Verhandlungen bei Geiselnahmen.«

»Mich kennt Zander bereits. Das wird es einfacher machen.«

»Oder es kann das genaue Gegenteil bewirken. Der Mann weiß, dass Ihre Ermittlungen der Hauptgrund für seine Überführung sind. Vielleicht empfindet er für Sie sogar besonderen Hass.«

Diana wusste, dass der letztere Einwand nicht gänzlich von der Hand zu weisen war. »Ich verstehe Ihre Vorbehalte«, wandte sie sich an Deichmann, war dabei um einen möglichst empathischen Ton bemüht. »Aber ich glaube, dass jede weitere Verzögerung bei diesem Täter das größere Risiko darstellt.«

Der Einsatzleiter schüttelte den Kopf.

»Keine Chance«, sagte er. »Wir können Sie nicht einmal verkabeln. Sie wären dort oben komplett auf sich allein gestellt.«

Auch dieses Argument war eigentlich schlüssig. Der Kommissarin wurde klar, dass ihr jetzt nur noch ein Mittel blieb, auch wenn es ihr nicht recht war.

»Trotzdem fälle ich jetzt eine situationsbedingte Tatsachenentscheidung«, verkündete Diana ihrem Kollegen. »Wenn Sie anderer Meinung sind, steht es Ihnen frei, Ihren Widerspruch protokollieren zu lassen. Aber Sie können mich nicht aufhalten, denn ich muss Sie wohl kaum daran erinnern, dass ich als Kriminalhauptkommissarin im Rang über Ihnen stehe.«

Die Züge Deichmanns verfinsterten sich in demselben Ausmaß, wie sich seine Körperhaltung versteifte. Er machte einen Schritt auf Diana zu, und seine nächsten Worte waren zwar leise, aber von unverhohlenem Groll geprägt.

»Denken Sie, Sie könnten sich alles erlauben, nur weil der Polizeipräsident einen Narren an Ihnen gefressen hat? Erst war es Mertens und jetzt Sie. Ganz ehrlich, ich habe die Schnauze voll von Ulbrichts Protegés und ihrer Meinung, dass die Regeln für sie nicht gelten.«

Nun musste auch Diana dagegen ankämpfen, nicht von Wut übermannt zu werden. Der Angriff auf ihren Vorgesetzten, für den sie großen Respekt und Zuneigung empfand, brachte den Konflikt auf ein empfindlich persönliches Niveau. Trotzdem versuchte die Kommissarin weiterhin sachlich zu bleiben.

»Hier geht es nicht um Regeln«, hielt sie kühl fest. »Sondern um den Schutz von Menschenleben.«

»Genau dafür gibt es die Regeln«, konterte Deichmann, musterte Diana dann einen Augenblick lang und schüttelte schließlich den Kopf. »Aber das ist Ihnen scheißegal, oder? Ihnen geht es nur darum, sich zu beweisen, dass Sie in Ihrem Job die Beste sind. Ich will Ihnen mal etwas sagen, Frau Brandt: Sie mögen vieles sein, aber Sie sind keine gute Polizistin.«

Diana presste für eine Sekunde ihre Zähne so hart aufeinander, dass sie knirschten. Aber dann sah sie die Erwartung einer emotionalen Reaktion in Deichmanns Blick und realisierte, dass sie ihm diese auf keinen Fall geben durfte.

»Ich gehe jetzt ins Gebäude«, stellte sie stattdessen knapp und sachlich fest. »Informieren Sie die Kollegen oben, dass ich komme.«

Der Einsatzleiter fixierte sie noch einen Moment lang, trat dann aber wieder einen Schritt zurück und nickte. Er schaute sich um, winkte eine in der Nähe stehende Polizistin heran.

»Kollegin Winkler«, wandte er sich an diese. »Bitte nehmen Sie fürs Protokoll zur Kenntnis, dass Kriminalhauptkommissarin Brandt« – er sprach Dianas vollen Rang mit maximaler Verächtlichkeit aus – »jetzt das Gebäude betreten wird, um mit dem Geiselnehmer in Kontakt zu treten. Das tut sie gegen meinen ausdrücklichen Widerspruch.«

Die Polizistin wirkte kurz verunsichert und ließ ihren Blick einmal zwischen Deichmann und Diana hin und her schweifen, bevor sie nickte.

»Verstanden, Herr Oberkommissar.«

Diana hatte genug Zeit verloren, und so ging sie ohne weitere Worte auf den Eingang des Gebäudes zu. Kurz vor der Tür ereilte sie noch einmal Deichmanns Stimme.

»Brandt?«

Die Kommissarin drehte sich widerwillig um.

»Egal, ob Sie Ulbricht in Ihrem Rücken haben: Das bringt Ihnen ein Disziplinarverfahren ein.«

Diana antwortete nicht und öffnete stattdessen die Tür. Als diese hinter ihr zufiel, dämpfte sie die von der Straße kommenden Geräusche. Die Kommissarin atmete einmal tief ein und aus, versuchte, im selben Moment auch den unnötigen Konflikt mit Deichmann draußen zurückzulassen. Jetzt galt es, ihre Arbeit zu tun, keine Fehler zu machen und unerschütterlich an sich selbst zu glauben.

Zwei junge Polizisten, die den Eingangsbereich des Gebäudes überwachten, kontrollierten kurz Dianas Ausweis. Danach betrat sie den Fahrstuhl und wählte die vierte Etage als Ziel. Als sich der Aufzug mit einem leichten Knarren in Bewegung setzte, überprüfte die Kommissarin kurz den Sitz ihrer Dienstwaffe. Und ebenso kalt wie der Stahl der SIG Sauer war der Gedanke, der ihr dabei ungewollt durch den Kopf schoss: Hat Deichmann recht? Will ich mich dieser Sache nur deshalb selbst stellen, weil ich mir nicht vergeben könnte, wenn wieder etwas schiefgeht?

Für einen Moment blitzten bruchstückartig Fragmente ihrer wohl schlimmsten Erinnerung vor ihrem geistigen Auge auf: Die alte römische Stadtmauer. Der Müll auf dem Boden. Und neben dem Mauervorsprung, inmitten all des Abfalls, der Körper …

Nein. Keine Zweifel jetzt. Zweifel wären tatsächlich unverantwortlich. Es war egal, warum sie so handelte, solange sie nur fest an einen positiven Ausgang glaubte.

Der Fahrstuhl stoppte, und die Kommissarin trat nach draußen in einen geräumigen Warteraum mit Rezeption. Drei Polizisten standen links von ihr, dort, wo eine Glastür in den angrenzenden Korridor führte. Die Beamten – zwei Männer und eine Frau – betrachteten Diana aufmerksam, als sie auf sie zuging.

»Kommissarin Brandt?«, erkundigte sich einer der Männer. Diana nickte.

»Kommissar Deichmann hat uns Ihr Kommen gemeldet«, fuhr der Kollege fort. »Wollen Sie dort wirklich allein rein?«

Diana lächelte knapp.

»Wo muss ich hin?«, fragte sie anstelle einer überflüssigen Antwort. Die brünette Beamtin deutete daraufhin nach rechts.

»Den Gang hinunter, zu den Büros von Cyber Domain.«

»Danke.«

Die Kommissarin betrat den Flur, drehte sich zur rechten Seite. Eine unnatürliche Stille umfing sie auf der evakuierten Etage; auf dem roten Teppich des Korridors waren nicht einmal ihre Schritte zu hören. Nur ihr eigener Atem und das leise Wummern ihres Herzens hallten in ihrem Kopf wider. Diana passierte die Büros zweier anderer Firmen, bevor sie vor der großen Holztür ankam, auf der groß in blauen Lettern die Aufschrift Cyber Domain Marketing Solutions prangte. Die Kommissarin ließ ihre Handfläche auf dem Holz ruhen, spürte dessen Furchen, während sie all ihre Gedanken auf einen klaren Punkt fokussierte, einen Punkt an der Spitze eines Pfeils, der nur nach vorn fliegen konnte.

Diana stemmte die Tür auf und drückte sich vorsichtig durch den Spalt in das vordere Büro. Hier waren die Jalousien hochgezogen; durch die Fensterscheiben fiel trübes Tageslicht nach innen. Der große Raum war in einem modernen Designerlook eingerichtet: ein kleiner Empfangsbereich unmittelbar neben der Tür, rechts davon zwei nur mit Glasscheiben abgegrenzte Chefbüros, zudem ein Präsentationsraum mit Video-Screen und einige reguläre Arbeitsplätze dazwischen verteilt. Am linken Ende des Raumes befand sich eine weitere zweiteilige Holztür, die mit der Eingangstür identisch war, inklusive des eingravierten Firmennamens. Hinter dieser Tür mussten sich Zander und seine Geiseln befinden. Dort wartete ihre Herausforderung.

Langsamen Schrittes ging die Kommissarin nach links. Auch das Büro war mit Teppichboden ausgelegt, beige in diesem Fall, sodass sie weiterhin keine Geräusche verursachte. Die Tür zu den hinteren Büros hatte kein Schlüsselloch, durch das ihre Ankunft beobachtet werden konnte. So erreichte sie problemlos ihr Ziel, verharrte kurz und lauschte. Von drinnen waren keine Stimmen oder Geräusche zu vernehmen. Zeit, die Ungewissheit zu beenden.

Diana bewegte sich in den sicheren Bereich neben der Tür, streckte von dort ihren Arm aus und klopfte zweimal gegen das Holz.

»Herr Zander?«, rief sie laut. Bange Sekunden vergingen. Zunächst war keine Erwiderung zu hören.

»Herr Zander, darf ich mit Ihnen reden?«, setzte Diana nach. Diesmal gab es eine Reaktion. Die Kommissarin meinte, in einiger Entfernung den Satz »Bleibt, wo ihr seid« zu hören, bevor sich Schritte der Tür näherten, aber in einigem Abstand davor stoppten.

»Wer ist da?«, vernahm sie schließlich die Stimme des Geiselnehmers.

»Hier ist Kommissarin Diana Brandt. Sie kennen mich.«

Ein weiterer Moment des Schweigens, vielleicht der entscheidendste überhaupt. Diana überkam größte Anspannung.

»Was wollen Sie?«, folgte schließlich, endlich, die Reaktion Zanders. Gut. Er ist bereit, auf mich einzugehen.

»Einfach nur reden«, erwiderte die Kommissarin so simpel wie möglich. Erneut dauerte es eine Weile, bis sie eine Antwort erhielt.

»Sie sind allein?«

»Ja.«

»Und sind Sie bewaffnet?«

Diana zögerte, aber nur kurz. Eine Lüge brachte nichts. Es galt vielmehr, Vertrauen aufzubauen.

»Das bin ich«, entgegnete sie. »Aber ich kann die Waffe hier draußen ablegen.«

Im Büro hinter der Tür waren Schritte zu vernehmen, die jedoch nicht näher kamen. Ging Zander auf und ab? Diana glaubte, ihn ganz leise mehrfach das Wort »Scheiße« sagen zu hören. Dann stoppten die Schritte wieder.

»Gehen Sie ein paar Meter von der Tür weg«, kam die Anweisung des Geiselnehmers, und diesmal klang seine Stimme wesentlich härter als zuvor. »Ziehen Sie sich aus. Bis auf die Unterwäsche. Sagen Sie mir, wenn Sie fertig sind.«

Sollte Diana auf diese Bedingung eingehen, dann brach sie ganz klar mit allen Vorschriften für Verhandlungssituationen und brachte sich selbst in Lebensgefahr, ohne Chance zur Gegenwehr.

Suchst du sie, diese Gefahr?

Aber er war bereit, zu reden. Das war ein guter Anfang. Sie durfte diesen Ansatz nicht wieder aus der Hand geben.

Es wird gut ausgehen. Ich kann ihn erreichen.

»Also gut«, rief die Kommissarin. »Warten Sie.«

Diana stieß sich von der Wand weg, machte mehrere Schritte bis hin zu einem Schreibtisch. Sie führte die rechte Hand unter ihren linken Arm und löste den Pistolengurt, legte ihn mitsamt der Waffe gut sichtbar auf den Tisch. Dann zog sie ihren Mantel aus, gefolgt von Pullover, Schuhen und Hose, die sie zusammen auf einen Haufen drapierte. Diana machte einige Schritte von dem Tisch weg und schaute in Richtung Tür. Trotz ihrer partiellen Nacktheit fühlte sie weder Schwäche noch Kontrollverlust. Im Gegenteil. Ihr Wille und ihre Zuversicht waren bedingungslos.

»Ich bin so weit«, sagte sie laut und bestimmt. Mehrere Sekunden vergingen, dann waren Schritte zu hören, gefolgt von dem Kratzen von Holz gegen Holz. Zander hatte sich also tatsächlich verbarrikadiert. Die Tür öffnete sich ein kleines Stück nach außen und der Kopf des Mannes erschien in dem entstandenen Spalt. Der Programmierer war kräftig gebaut, dabei leicht korpulent, mit kurzem braunem Haar, das sich auf dem Rückzug befand. Diana bemerkte den Schweiß auf seiner Stirn ebenso wie das unstete Flackern seines Blickes, als er sich umschaute, um sicherzugehen, dass sie wirklich allein gekommen war. Dann betrachtete er die Kommissarin, gefolgt von dem Stapel Kleidung auf dem Boden und ihrer Waffe auf dem Tisch, erkennbar außer Griffweite.

»Zufrieden?«, fragte Diana.

Zander befeuchtete sich kurz die Lippen mit der Zunge, nickte dann und machte einen Schritt zurück in das hintere Büro. Diana ging langsam nach vorn, ergriff den offenen Türflügel und schaute durch den Spalt. Der Geiselnehmer hielt seine Waffe nach unten gerichtet, was die Kommissarin positiv wertete.

»Ich komme hinein. Okay?«, vergewisserte sie sich.

Zander trat zwei Schritte zurück, hob dann seine Waffe.

»Ja«, erwiderte er. »Aber keine Tricks!«

»Keine Tricks«, beruhigte ihn die Kommissarin. Ihre Stimme war dabei absolut ruhig, im Gegensatz zum fluktuierenden Tonfall ihres Gegenübers.

Diana betrat das Büro, ließ die Tür sanft hinter sich zufallen. Um sie herum standen einige Stühle und ein Tisch, die Bestandteile von Zanders provisorischer Barrikade. Die Kommissarin schaute sich in dem Raum weiter um, musste sich dabei einen Moment lang an die herrschende Düsternis gewöhnen, denn durch die heruntergelassenen Jalousien drang nur hier und da ein schmaler Streifen Tageslicht. Vor Diana erstreckte sich ein großes Gemeinschaftsbüro mit zahlreichen Schreibtischen; an der Innenseite gab es zudem einen Aufenthaltsraum mit Küche, der von einer Glaswand abgetrennt wurde. Diese bestand vom Boden bis zur Mitte aus Milchglas, während sie im oberen Teil durchsichtig war. Daneben führte eine separate Tür zu den Toiletten.

Weitere Menschen waren nicht zu sehen, was Diana leicht beunruhigte. Sie richtete ihren Blick wieder auf Zander.

»Wo sind Ihre Kollegen?«, erkundigte sie sich, vermied dabei bewusst den Begriff Geiseln.

»Ihnen geht es gut«, antwortete der Programmierer knapp.

»Davon muss ich mich selbst überzeugen«, hielt Diana dagegen, weiterhin sehr ruhig und langsam. »Das müssen Sie verstehen. Danach können wir reden.«

Der Geiselnehmer überlegte kurz, seine Brust hob und senkte sich im Rhythmus seines aufgeregten Atmens. Schließlich blickte er in Richtung des Gemeinschaftsraums.

»Schauen Sie von draußen hinein«, wies er Diana an. »Aber gehen Sie nicht durch die Tür!«

Die Kommissarin ging langsam auf die Küche zu und blickte dann durch den oberen Teil der Glasscheibe. An der gegenüberliegenden Wand konnte sie fünf Menschen ausmachen, zwei Frauen und drei Männer, die auf dem Boden saßen. Ihre Hände schienen hinter ihren Rücken gefesselt worden zu sein. Sie alle sahen Diana flehend an; eine der Frauen und einer der Männer weinten. Keiner von ihnen hatte sichtbare Verletzungen, aber trotzdem ließ der Anblick die Kommissarin erschaudern. Diese Menschen galt es zu retten. Die Last der Verantwortung drückte schwerer auf ihre Schultern, als sie es erwartet hätte. Aber sie durfte nicht schwach werden. Es ist mein Job.

Diana nickte den Gefangenen kurz zu, hoffte, ihnen so zumindest ein wenig Zuversicht zu vermitteln. Dann drehte sie sich wieder um und ging zurück zu Zander. Die Hand mit der Pistole hatte der Mann bereits wieder gesenkt.

»Ich sagte doch, dass es ihnen gut geht«, wiederholte der Geiselnehmer unsicher. Diana schaute ihm in die Augen, stellte direkt die entscheidende Frage.

»Und was jetzt?«

Der Mann starrte sie stumm an – natürlich hatte er keine Antwort. Er konnte den Blick der Kommissarin nicht halten und sah zu Boden. Die Hand mit der Pistole zitterte. Diana setzte direkt nach.

»Wir beide wissen, dass das alles zu nichts führen kann«, hielt sie sachlich fest. »Was Sie hier tun, entspricht nicht Ihrer Natur.«

Zander sah wieder zu ihr auf, und diesmal lag in seinem Blick die ganze Verzweiflung eines Menschen, der nicht länger wusste, wer er tatsächlich war. Für eine Sekunde ging Diana dieser Blick näher, als ihr lieb sein konnte. Sie musste darauf achten, diesen Moment der Angreifbarkeit nicht sichtbar werden zu lassen.

»Sie wissen, was ich getan habe«, sagte Zander mit rauer Stimme. »Jetzt wissen Sie es. Ich bin ein Verbrecher.«

Diana war klar, dass sie dagegen argumentieren musste.

»Sie haben einmal etwas Falsches getan. Das macht Sie nicht automatisch zu einem schlechten Menschen.«

Zander schaute auf die Pistole in seiner Hand. Die Kommissarin führte ihr Argument entsprechend fort.

»Ein guter Mensch lernt aus seinen Fehlern und macht sie kein zweites Mal.«

Ein guter Mensch … Ich habe in Rom denselben Fehler zweimal gemacht. Was bin ich dann?

Diana schluckte. Zum Glück blickte der Geiselnehmer noch nach unten, sodass er den erneuten kurzen Riss in ihrer Fassade nicht wahrnahm. Die Kommissarin rang um Klarheit. Nicht diese Fragen. Nicht jetzt.

Zander stellte den Blickkontakt wieder her.

»Ich wollte Detlef nicht töten«, sagte er. »Ich kann gar nicht mehr sagen, wie es überhaupt passiert ist. Ich habe versucht, mich zu erinnern, wirklich, glauben Sie mir. Plötzlich … lag er einfach vor mir, und ich – es war, als würde ich aus einem Albtraum aufwachen …«

Eine Träne mischte sich zu dem Schweiß auf der Wange des Mannes. Diana nickte, Verständnis demonstrierend.

»Ich glaube Ihnen«, sagte sie. »Es war keine Absicht. Das wird jeder verstehen.«

Würden sie das?

»Aber Sie können nicht vor der Verantwortung weglaufen.«

So wie ich?

»Wenn ein guter Mensch einen Fehler macht, stellt er sich den Konsequenzen.«

Ich bin eine Heuchlerin.

»Und er lässt nicht andere für seine Fehler büßen.«

Riccardo …

»Wollen Sie heute ein guter Mensch sein, Herr Zander?«

Diana hatte es mit einer stetig zunehmenden Willensanstrengung geschafft, die Worte ruhig und klar zu sprechen, obwohl das Echo ihres Gewissens einen immer lauteren Nachhall in ihrem Kopf hinterließ. Und Zander glaubte ihr, denn er sah sie an, jetzt ungehemmt weinend, nickte schließlich. Die Pistole fiel zu Boden und mit ihr die Last von Dianas Schultern. Zumindest die unmittelbarste.

Du hast es geschafft. Dein Instinkt war richtig. Und trotzdem hatte Deichmann recht.

Diana lag im Bett neben Julie und starrte an die Decke. Es brannte nur die Nachttischlampe, deren Schein nicht weit reichte, und so drängten sich in den Ecken die Schatten. Gegen das Fenster prasselten leise feine Tropfen von Sprühregen. Dianas Gedanken oszillierten zwischen den Ereignissen der letzten Stunden und der Zukunft.

Habe ich zu viel riskiert?

Die Geiseln waren unverletzt geblieben. Ihre Blicke so voller Erleichterung. Und Zander hatte sich widerstandslos von ihr festnehmen lassen.

Aber wenn er mich nun durchschaut hätte?

»Woran denkst du?«, vernahm sie die sanfte Stimme Julies an ihrem linken Ohr. Diana drehte den Kopf zur Seite und schenkte ihrer Freundin ein knappes Lächeln.

»Den Tag«, erwiderte sie.

Julie sah sie forschend an, aus den grün-blauen Augen, die einen so attraktiven Kontrast zu ihren kurzen blonden Haaren bildeten.

»Es hat dich doch mehr mitgenommen, als du vorhin zugegeben hast«, hakte sie nach.

»Es war eine angespannte Situation«, antwortete die Kommissarin, wahrheitsgetreu.

»Hattest du Angst?«, fragte Julie.

»Ich hatte es unter Kontrolle«, log Diana.

Während des Debriefings hatte es einige kritische Fragen gegeben, aber die waren ihr egal gewesen. Für sie zählte allein, was Ulbricht sagen würde. Morgen.

»Du bist stark.« Julie strich über Dianas Schulter. »Das habe ich damals gleich gemerkt.«

Julie war Dianas Reha-Therapeutin gewesen und hatte ihr geholfen, die Beinverletzung von Rom zu überwinden. Dank ihr hatte die Kommissarin nach nur einem Dreivierteljahr Auszeit in den Dienst zurückkehren können. Julie hatte sich entschieden, auch danach noch für sie da zu sein. Sie war ein netter Mensch, und hilfsbereit.

Auf Ulbricht konnte ich immer zählen. Er wird mich diesmal ebenfalls stützen.

Julies Hand glitt an Dianas Rücken nach unten und streifte ihren BH. Diana trug ihre Unterwäsche, denn sie hatte keine Lust auf Sex gehabt, obwohl ihr Julie wohl gern mit Zärtlichkeit Unterstützung signalisiert hätte. Sie hatte mitunter eine recht naive Sicht der Dinge.

Doch wird er mir weiter vertrauen?

»Aber sogar starke Menschen brauchen manchmal Rückhalt«, hörte sie Julie fortfahren. »Ich bin gern für dich da.«

Er kennt mich. Er versteht, was mich antreibt.

»Das weißt du, oder?«

Die Schatten schienen länger zu werden.

Aber kenne ich mich noch selbst?

Diana entschied, dass sie jetzt doch Sex wollte. Sie zog die andere Frau zu sich heran, küsste sie innig und schob dann die Hand zwischen Julies Schenkel.

Es herrschte noch Zwielicht, als Diana am nächsten Morgen durch die Straßen Berlins fuhr, und ein dünner Nebel waberte über den Kanälen der Spree. Der Anruf der Zentrale hatte die Kommissarin unerwartet erreicht, denn sie hatte über den Ereignissen des vergangenen Tages vollkommen vergessen, dass sie noch zum Bereitschaftsdienst eingetragen war. Aber Pflicht war Pflicht, und ein Becher heißer Kaffee weckte während der Fahrt in ausreichendem Maße ihre Lebensgeister. So war Dianas Verstand gut fokussiert, als sie in die Straße im eher hochklassigen Viertel Grunewald einbog, in der sich der Tatort befand.

Hier reihten sich fast ausschließlich Einfamilienhäuser aneinander, oft mit großen, grünen Gärten. Das Grundstück, vor dem die Wagen von Polizei und Spurensicherung parkten, war etwas kleiner, und auch das Haus keine alte Villa, sondern ein moderner Neubau. Seine Besitzer mussten dennoch zu den einkommensstärkeren Berlinern zählen. Die Kommissarin wusste zu diesem Zeitpunkt nur, dass das Mordopfer Armin Wiegand hieß, hatte aber noch keine weiteren Informationen zu dem Mann erhalten.

Ein Polizist winkte Diana zu einem freien Stellplatz auf der abgesperrten Straße vor dem Haus. Die Kommissarin stieg aus und sah sich nach einem Ansprechpartner um. Diesen fand sie in Gestalt von Peter Götte, einem Mitarbeiter der Spurensicherung, der sich aktuell im Vorgarten des Grundstücks aufhielt. Er war genau wie Diana erst Mitte dreißig, jedoch ein sehr erfahrener und respektierter Fachmann, mit dem die Kommissarin bereits bei früheren Fällen erfolgreich zusammengearbeitet hatte.

Auf der gepflasterten Garagenzufahrt war ein offenes Zelt errichtet worden, das vor allem als vorübergehender Sammelplatz für Personal und Fundstücke diente. Diana ging hinüber und grüßte ihren Kollegen, der wie alle anderen Mitarbeiter seines Teams weiße Schutzkleidung trug, um jegliche Verunreinigung des Tatorts zu vermeiden.

»Hallo, Peter«, begann sie. »Wie schön, ein vertrautes Gesicht hier zu sehen.«

Der Angesprochene lächelte, wirkte aber dennoch angespannt.

»Diana«, erwiderte er. »Gut, dass du heute dran bist.«

»Warum?«, erkundigte sich die Kommissarin, nun selbst eine plötzliche Beklommenheit spürend ob der ungewohnten Verunsicherung im Blick ihres Kollegen.

»Weil das hier …« Peter Götte brach ab und schüttelte den Kopf. »Ich zeige es dir am besten direkt. Zieh dir etwas über.«

Er deutete auf einen Tisch unter dem Zelt, auf dem Schutzkleidung bereitlag. Diana zog ihre Schuhe aus, wählte einen Anzug in der passenden Größe und begann, hineinzuschlüpfen. Gleichzeitig setzte sie sich mit der Situation auseinander. Was war hier geschehen, dass ein gestandener Forensiker wie Peter so fassungslos wirkte? Zunächst einmal musste sie mehr über das Opfer erfahren.

»Wer war Wiegand?«, erkundigte sich die Kommissarin, während sie ihre Arme in den Schutzanzug bugsierte.

»Ein ranghoher Politiker«, kam die Antwort. »Staatssekretär im Bundesministerium für Verkehr. Soweit ich verstanden habe, praktisch der zweite Mann unter dem Verkehrsminister.«

Das hörte sich nach einem einflussreichen Opfer an, und es hob den Fall augenblicklich auf eine andere Ebene als die vergangenen Morde, mit denen sich Diana beschäftigt hatte. Die letzte Ermittlung, die mit einem Toten von hohem Profil begonnen hatte, war die Mordserie in Rom gewesen. Und allein der Gedanke daran ließ die Kommissarin erschaudern.

Sie schloss den Reißverschluss des Anzugs und drapierte die Kapuze über ihr Haar, zog dann ihre Schuhe wieder an und griff sich ein Paar blauer Überzieher. Götte tat es ihr gleich und ging voraus in Richtung der Eingangstür.

»Wer hat die Leiche gefunden?«, fragte Diana.

»Wiegands Ehefrau«, entgegnete der Forensiker. »Sie ist wohl in der Nacht vorzeitig aus dem Urlaub an der Ostsee gekommen. Mehr wissen wir aktuell noch nicht. Im Moment wird sie psychologisch behandelt, sie stand unter Schock.«

Die beiden Polizeibeamten stoppten an der offenen Haustür, um sich die Überzieher über ihre Schuhe zu streifen. Diana fiel auf, dass es an der Tür keine Markierungen der Spurensicherung gab.

»Wissen wir schon, wie der Täter ins Haus gekommen ist?«, erkundigte sie sich daher, als sie den Flur betraten. Götte drehte sich um und lieferte ihr eine weitere überraschende Erkenntnis.

»Die Täter, Plural.«

»Es gibt Spuren?«

»Fußabdrücke auf dem Rasen. Aber keine verwertbaren.«

Sie erreichten die Hintertür, die ebenfalls offen stand. Der Forensiker deutete auf das Schloss.

»Es wurde mit einem Elektropick oder einer Pickpistole geöffnet«, erläuterte er. »Absolut saubere Arbeit. Vorher haben sie vom Garten aus die Stromversorgung der Alarmanlage außer Betrieb gesetzt.«

Götte machte einen Schritt hinaus auf die überdachte Veranda. Diana folgte ihm und bemerkte unmittelbar die markierten Fußabdrücke auf dem noch leicht feuchten Rasen des hinteren Gartens. Sie stammten in der Tat von zwei Personen, zeigten aber keinerlei Profil.

»Abgeschliffene Sohlen?«, folgerte die Kommissarin.

»Richtig«, erwiderte Götte. »Sehr wahrscheinlich zwei Männer, der eine leicht schwerer als der andere. Und jetzt pass auf.«

Der Forensiker zeigte auf den Übergang zwischen Rasen, Veranda und Hintertür.

»Sie mussten ein Stück durchs Gras gehen, und da es gestern Abend längere Zeit genieselt hat, konnten sie nicht vermeiden, Fußspuren zu hinterlassen«, rekonstruierte er das Vorgehen der Täter. »Darum haben sie präparierte Schuhe getragen. Und dann müssen sie sich an der Hintertür jeweils ein Paar Überzieher angezogen haben, genau wie wir sie gerade tragen. Denn im Haus gibt es keinerlei Spuren von Erde oder Grassoden.«

Während sie den Worten ihres Kollegen zuhörte, merkte Diana, wie sich langsam eine leichte Gänsehaut auf ihre Arme stahl. Und sie begann zu verstehen, warum Götte so beunruhigt schien. Die Mörder waren Profis gewesen, die genau wussten, was sie taten, und die eiskalt vorgingen. In Anbetracht der Tatsache, dass Wiegand ein Politiker gewesen war – hatten sie es hier mit einem geplanten Attentat zu tun?

»Wo ist die Leiche?«, erkundigte sich die Kommissarin.

»Im Arbeitszimmer«, entgegnete Götte. »Komm mit.«

Er ging zurück in den Flur und führte Diana von dort zunächst in Wiegands geräumiges, helles Wohnzimmer. Zwei Mitglieder der Spurensicherung dokumentierten hier mit Kamera und Listen die vorgefundenen Gegenstände. Der Raum war modern eingerichtet, mit einer großen beigen Couch, einem Glastisch und farbenfrohen abstrakten Bildern. An einer Wand prangte zudem ein großer Flachbildschirm, unter dem sich eine edle Stereoanlage befand. Auf dem Boden lagen einige Spielsachen verstreut – Wiegand hatte also Kinder. Ansonsten aber wirkte alles perfekt aufgeräumt. Sogar die Fernbedienungen für Fernseher und Musikanlage ruhten säuberlich aufgereiht auf einem Beistelltisch. Bisher deutete nichts an diesem Tatort auf einen Kampf oder Gewaltanwendung hin.

Bevor die Kommissarin eine weitere Folgefrage stellen konnte, wurde ihre Aufmerksamkeit abgelenkt. Sie hatten das Arbeitszimmer betreten, das etwas kleiner war als das Wohnzimmer und von drei Fenstern erhellt wurde. Auch in diesem Raum waren zwei Mitglieder der Spurensicherung bereits bei der Arbeit, in diesem Fall mit der Untersuchung des Raumes auf Fingerabdrücke und DNA-Spuren. Aber all das bemerkte Diana vorerst nur peripher. Ihr Blick galt in diesem Moment allein der Leiche.

Wiegand lag in der Mitte des Zimmers auf dem Boden, mit angezogenen Beinen fast einem Fötus gleich. Um seinen Kopf kontrastierte eine rote Lache mit dem weißen Teppich – eine Lache aus Blut, Gehirnmasse und Schädelstücken. Die Todesursache war offensichtlich: Man hatte ihm von hinten in den Kopf geschossen. Die Nickelbrille des Mannes, der eher klein und schlank gewesen war, lag ebenfalls in der blutigen Pfütze.

Diana erschauderte. Sicher, sie hatte schon Mordopfer gesehen, die wesentlich übler zugerichtet gewesen waren. Aber dieser Anblick weckte einmal mehr abrupt und durchdringend diese unverändert schmerzvolle Erinnerung in ihr, an die alte römische Stadtmauer und zu ihren Füßen den Körper Alessandras …

Die Kommissarin wischte den unheilvollen Gedanken beiseite, konzentrierte sich auf die Gegenwart und lenkte ihren Blick hinauf zu Götte.

»Ein einziger Schuss in den Kopf?«, fragte sie zur Sicherheit nach.

»Ja, aus kurzer Distanz«, erwiderte der Forensiker und gab im selben Atemzug die Antwort auf die nächste relevante Frage. »Der Todeszeitpunkt dürfte etwa gegen acht oder neun Uhr gestern Abend liegen. Genaueres kann ich dir nach der Autopsie sagen.«

Diana sah sich im Raum um. Auch hier war die Einrichtung eher neutral, mit wiederum abstrakter Kunst an den Wänden. Wiegands Schreibtisch war ebenfalls modern, mit einer Platte aus milchigem Glas, darauf einem großen Computer mit zwei Bildschirmen. Die einzigen beiden etwas altertümlichen Details, die Diana auf den ersten Blick auffielen, waren ein schwarzer Füller mit goldenem Rand sowie ein klassischer Notizblock aus liniertem Papier, auf dem jedoch keine Aufzeichnungen erkennbar waren. Ansonsten wirkte auch hier im Arbeitszimmer alles perfekt aufgeräumt.

»Wurde irgendetwas gestohlen?«, hakte die Kommissarin bei Götte nach. Der Angesprochene grinste knapp und befeuerte damit augenblicklich Dianas Neugier.

»Sehr wahrscheinlich zwei Dinge«, vermeldete er, bedeutete dann Diana mit einem Winken seiner rechten Hand, hinter den Schreibtisch zu treten. Die Kommissarin tat, wie ihr geheißen – und erblickte den geöffneten Bodentresor unter einer zur Seite geschobenen Diele. Diana kniete sich hin und schaute in den schmalen Spalt. Sie konnte ein Bündel Bargeld erkennen, zudem einige Schmuckstücke, mehr nicht. Was fehlte?

»Wissen wir, was entwendet wurde?«

Götte schüttelte den Kopf.

»Das könnte uns bestenfalls die Ehefrau sagen«, erwiderte er. Diana nickte.

»Das Geld und der Schmuck hätten ihnen nicht gleichgültiger sein können«, hielt sie fest.

»Aber dafür war ihnen etwas anderes wichtig.«

Götte kniete sich neben Diana und deutete auf den Computer-Tower, der sich unter dem Schreibtisch befand. Eine einzelne Schraube lag auf dem Läufer daneben, bereits markiert mit einer Nummer.

»Wir haben es nur wegen der fehlenden Schraube bemerkt«, leitete Götte ein, bevor er die Rückwand des Towers abnahm. Diana sah in das Innere, wusste aber zunächst nicht zu sagen, was sie hier erkennen sollte, und warf ihrem Kollegen einen fragenden Blick zu.

»Die Festplatte fehlt«, erklärte der Forensiker. »Und falls es hier sonst noch irgendetwas an mobilen Datenträgern gab, dann haben sie auch die mitgenommen. Wir haben im ganzen Haus bisher keine gefunden.«

Diana stand auf, atmete tief ein. Langsam formten die Details, die sie in den letzten Minuten gesehen und erfahren hatte, ein zusammenhängendes Bild – und es war ein überaus beängstigendes.

»Also haben wir zwei Täter«, begann die Kommissarin ihre Gedanken in Worte zu fassen. »Zwei Profis, die genau wissen, wie man in ein Haus einbricht, ohne Spuren zu hinterlassen. Sie öffnen die Hintertür …«

Diana brach ab und schaute zu Götte, der ebenfalls wieder aufgestanden war.

»Kam Wiegand von der Arbeit?«, fragte sie nach.

»Das wissen wir noch nicht genau. Aber wahrscheinlich schon.«

Diana nahm die Aussage zur Kenntnis und spann ihre Theorie entsprechend weiter.

»Auf jeden Fall wäre Wiegand um die Tatzeit herum noch wach gewesen. Aber Profis würden nicht riskieren, bemerkt zu werden, während sie in ein Haus einbrechen. Nein – ich könnte wetten, sie waren schon da. Sie haben auf Wiegand gewartet. Und als er zurückkam …« Der Blick der Kommissarin streifte den Tresor und den Computer. »Sie haben ihn gezwungen, die Dinge auszuhändigen, wegen denen sie gekommen sind. Daten, Unterlagen, was auch immer. Und dann haben sie ihn in der Mitte des Zimmers hinknien lassen und ihm in den Kopf geschossen. Das hier war eine Hinrichtung.«

Der Gerichtsmediziner nickte.

»Kannst du mich jetzt verstehen, wenn ich dir sage, dass ich so einen Mord bisher noch nicht gesehen habe?«

Götte schaute sich um, schüttelte leicht hilflos wirkend den Kopf.

»Weißt du, wenn wir in Kolumbien wären, würde ich denken, hier hat ein Kartell eines seiner Killerkommandos losgeschickt. Aber wir leben in Deutschland. Wer begeht hier eine solche Tat?«

Die Gänsehaut bedeckte in diesem Moment Dianas gesamten Körper, und in ihren Ohren glaubte sie einen Moment lang ein fernes Echo zu hören: Das Rauschen des Meeres, gepaart mit dem harten Rattern von Maschinengewehrsalven.

Eine junge Polizistin betrat den Raum und riss Diana aus ihrem düsteren Gedankengang.

»Frau Kommissarin«, wandte sich die Beamtin an sie. »Wir haben draußen eine Zeugin.«

»Ich komme.«

Diana war heilfroh, den bedrückenden Tatort verlassen zu können. Götte begleitete sie bis zur Eingangstür, verweilte dann aber dort.

»Wir untersuchen weiter das Haus«, sagte er. »Wenn du noch Fragen hast, kannst du mich später im Labor anrufen.«

»So machen wir es«, erwiderte Diana. Ihr Kollege musterte sie einen Moment lang mit einem Ausdruck, den die Kommissarin nicht gänzlich zuordnen konnte.

»Also wirst du den Fall übernehmen?«, fragte er schließlich. Diana war etwas irritiert.

»Natürlich«, entgegnete sie. »Warum sollte ich nicht?«

Der Forensiker sah sie noch einen Moment lang stumm an, lächelte dann aber, wenngleich den Bruchteil einer Sekunde zu abrupt.

»Das stimmt natürlich«, sagte er. »Wie ich schon sagte: Bei dir wird er in guten Händen sein.«

Er drehte sich um und ging zurück ins Gebäude. Diana sah ihm nach. Glaubt er, dass ich nicht mehr stark genug bin?

Die Kommissarin wandte sich der Polizistin zu, die ein paar Schritte weiter gewartet hatte.

»Wo ist die Zeugin?«, fragte Diana. Die Kollegin deutete auf die Straße.

»Draußen vorm Tor«, antwortete sie. »Eine Nachbarin. Ich stelle Sie vor.«

Beide Beamtinnen gingen auf die Straße, Diana streifte dabei zumindest die Kapuze des Schutzanzuges und die Gummihandschuhe ab. Die Zeugin war eine Frau um die sechzig, die ein etwas altmodisches hellgrünes Kostüm aus Jacke und Rock trug.

»Das ist Frau Borchert vom Haus gegenüber«, übernahm die junge Polizistin die Vorstellung. »Frau Borchert, das ist Kommissarin Brandt. Ihr können Sie sagen, was Sie gestern beobachtet haben.«

»Gestern?« Die Frau sah etwas verwirrt zwischen der Polizistin und Diana hin und her. »Gar nichts. Ach, ist es gestern passiert? Das ist ja schrecklich. Ich war abends noch mit dem Hund draußen. Aber da habe ich überhaupt nichts gehört. Nein also, der arme Herr Wiegand …«

»Kannten Sie ihn gut?«, versuchte Diana zunächst ein wenig auf die Nachbarin einzugehen.

»Nun, eher weniger«, erwiderte Frau Borchert. »Er war immer sehr beschäftigt. Aber mit seiner Frau habe ich mich öfter unterhalten. Wir gärtnern beide gern, wissen Sie?«

»Ich verstehe«, kommentierte Diana freundlich, bevor sie das Gespräch wieder in eine relevante Richtung lenkte. »Und wann haben Sie denn nun etwas Auffälliges beobachtet?«

»Also ich weiß nicht, ob ich es als auffällig bezeichnen würde …«

»Jedes noch so kleine Detail kann hilfreich sein.«

Frau Borchert straffte ihre Haltung.

»Nun, es war vorgestern. Vorgestern Abend, so gegen neun. Da war ich auch noch mal mit dem Hund draußen, ja? Und als ich zurückkam, hat gerade ein Mann das Haus der Wiegands verlassen.«

»Ein Fremder?«, hakte Diana nach. Frau Borchert nickte eifrig.

»Ja«, erwiderte sie. »Und ich bin mir sicher, es war ein Ausländer.«

»Woraus schließen Sie das?«

»Also er hatte lockige schwarze Haare. Und sehr braune Haut. Das habe ich genau gesehen.«

»Könnten Sie ihn näher beschreiben?«

»Ich habe ein sehr gutes Gedächtnis für Gesichter.« Frau Borchert schaute stolz zu den beiden Polizistinnen. »Ich kann ihnen bestimmt dabei helfen, so ein … na, so ein Phantombild zu zeichnen.«

Diana war etwas unsicher, inwieweit sie den Beobachtungen der Nachbarin trauen konnte, aber potenziell war die Spur interessant.

»Hatte der Mann etwas bei sich?«, erkundigte sie sich. Frau Borchert überlegte kurz.

»So eine größere Umhängetasche, aus Leder«, antwortete sie dann.

»Und stieg er in ein Auto?«

»Nein. Er ging dort die Straße hinunter.« Die Nachbarin deutete nach rechts. »Aber ein Stück weiter ist ein Taxistand. Vielleicht wollte er ja dorthin?«

Diana nickte anerkennend.

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