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Trostland – Die Geschichte meiner vergessenen Heimat und meiner Familie

Über Wut, Schmerz und die Kraft des Widerstands – ein Blick in die Seele eines zerrissenen Landes

Sie heißen Denmark, Sweden, Finland oder Norway – kleine Städtchen im Lowcountry von South Carolina, die zum Sinnbild des »vergessenen Südens« wurden. Es gibt keine ärmere Gegend in den USA. Großunternehmen verlagern ihren Betrieb ans andere Ende der Welt, Krankenhäuser schließen. Landflucht und Unterdrückung prägen den Alltag der meist afroamerikanischen Familien. Wer den Schuss nicht hörte, blieb hier – alle anderen suchten ihr Glück anderswo.

Es ist die Heimat von Bakari Sellers. Seinen Nachnamen kennt dort jedes Kind. Als Sohn von Cleveland Sellers, Ikone der Aktivisten und Mitstreiter von Martin Luther King, erlebt er die Proteste und Krisen der Bürgerrechtsbewegung von klein auf. In »Trostland« erzählt er vom Aufwachsen in den Südstaaten, von Hoffnung und Scheitern einer Region, in der die historischen Triebkräfte von Aktivismus sichtbar und Rollenbilder neu verhandelt werden. Wie lebt es sich in einer Familie, die das Trauma einer ganzen Bevölkerungsschicht verkörpert? Und wie kann das schier Unmögliche gelingen, nämlich black, country und proud zugleich zu sein?

Eine bildhafte Milieustudie des abgehängten Südens und eine poetische Verneigung vor der Widerstandskraft all jener, die noch immer versuchen, sich eine Heimat zu schaffen, die in Erinnerung bleibt.

»Bakari Sellers ›Trostland‹ ist genau das Buch, das wir jetzt brauchen. […] Seine fesselnde Geschichte beleuchtet nicht nur die Widerstandskraft einzelner Menschen an Orten wie seiner Heimatstadt Denmark, South Carolina, sondern offenbart auch die Gefahren politischer Maßnahmen, die im ganzen Staat umgesetzt werden und verheerende Auswirkungen auf das Leben der Leute haben.«
Hillary Rodham Clinton

»Aus diesen fesselnden Erinnerungen erhebt sich eine starke Stimme für soziale Gerechtigkeit.«
Kirkus Reviews

»Familientraumata – selbst ererbte Traumata – können Kindern enorm viel abverlangen. Doch Bakari Sellers macht in ›Trostland‹ deutlich, dass ein Familientrauma auch eine Kraftquelle sein kann.«
BookPage

»Mir gefiel es, provinziell zu sein, genau wie mein Vater. Denmark liebte ich auf der Stelle. Angeblich lässt sich nach der berühmten Nadel im Heuhaufen ja lange suchen, aber ich fand sie sofort. Worauf wir hier verzichten mussten, war sowieso nie wichtig gewesen. Also pickte ich mir aus dieser alten Stadt alles heraus, was sie mir bot. Ich sprach ihre Mundart, schlenderte auf ihren kaputten Gassen, besuchte ihre Tümpel und Baumwollfelder, die uns als Spielplätze dienten.«
Bakari Sellers, Trostland

»Durch Denmarks trostlose Innenstadt zu fahren ist ein bisschen wie in die Augen eines geliebten Menschen zu blicken und das Funkeln darin nicht mehr zu erkennen. Das Licht ist gedimmt. Was einmal ein Glimmen war, bleibt aus. Denmark ist ein Mikrokosmos des vergessenen Schwarzen Südens, der durch Isolierung, Sparmaßnahmen und schlechte Wohn- und Ausbildungssituation bis ins Mark erschüttert wurde.«
Bakari Sellers, Trostland


  • Erscheinungstag: 25.05.2021
  • Seitenanzahl: 272
  • ISBN/Artikelnummer: 9783749950881
  • E-Book Format: ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Für Ellen, Kai, Stokely und Sadie

God of our weary years

God of our silent tears

Thou who has brought us thus far on the way

Thou who has by thy might

Led us into the light

Keep us forever in the path, we pray

»Lift Every Voice and Sing«

J. Rosamond Johnson und James Weldon Johnson

Einleitung

Schwarz, provinziell und stolz

Ich stamme aus dem sogenannten Low Country in South Carolina, wo Schönheit, Vernachlässigung und Geschichte untrennbar ineinander verflochten sind. Wer etwa fünfzig Meilen landeinwärts fährt, egal in welche Richtung, wird auf denselben Feldern stehen, auf denen sich einst Sklaven, darunter auch einige meiner nicht allzu fernen Vorfahren, an Baumwolle, Indigo, Zuckerrohr, Reis, Weizengras und Sojabohnen abgeschuftet haben. Genauer gesagt komme ich aus Denmark, einem Städtchen, in dem jeder meinen Nachnamen kennt – einen Namen, wie ich als Kind lernte, der mit Ehre, aber auch mit Schande verbunden war.

Denmark liegt in Bamberg County. Um dorthin zu kommen, fährt man ganz einfach von Columbia, der Hauptstadt des Bundesstaates, auf dem Highway 321, rauscht an Mais- und Baumwollfeldern und Sümpfen vorbei, die über weites grünes Marschland kriechen.

Am Ende hat man das Gefühl, um die halbe Welt gereist und irgendwo in Skandinavien gelandet zu sein, denn nacheinander tauchen Ortschaften mit Namen wie Norway, Sweden und schließlich Denmark auf. Die beiden ersten sind so winzig, dass man sie verpasst, wenn man im falschen Moment blinzelt. Dann kommt man an einer Hühnerfarm vorbei, die nach purer Scheiße riecht, bis man schließlich Denmark erreicht, eine Gemeinde mit 3 400 Seelen, die fast alle Afroamerikaner sind.

Besucher glauben oft, die »skandinavischen« Ortschaften, die jeweils neun Meilen auseinanderliegen, hätten ihre Namen von nordischen Siedlern, aber das stimmt nicht. Die beiden anderen Orte griffen das Thema einfach auf, als meine Heimatstadt nach B. A. Denmark benannt wurde, einem Geschäftsmann im 19. Jahrhundert, der mit Eisenbahnen reich wurde. Ich malte mir jedoch gern meine eigene Theorie aus: Meine Heimatstadt wurde nach einem freigekommenen und gebildeten afroamerikanischen Zimmermann namens Denmark Vesey benannt, der als Anführer des »Vesey-Komplotts« verurteilt und hingerichtet wurde. Das Komplott war eine clever geplante Sklavenrevolte im Jahr 1822. Veseys Sinn für Gerechtigkeit und seine rebellische Natur haben mich schon immer angesprochen.

Fährt man weiter durch die abgeschiedenen Ortschaften, kommt man an anmutigen viktorianischen Häusern und verfallenen Shotgun Houses vorbei. Es heißt, dass eine Gewehrkugel direkt durch die Vordertür bis zur Hintertür dieser schmalen, lang gezogenen Häuser fliegen kann – und früher glaubten wir, dass die Shotguns deswegen so hießen. Doch heutzutage erfreut sich eine Theorie zunehmender Beliebtheit, nach der die schachtelförmigen Häuschen, die nicht breiter als 3,60 Meter sind, auf einen in Westafrika verbreiteten Haustyp namens shogun (»Haus Gottes«) zurückgehen. Die Shotguns spielen in der Geschichte der Südstaaten eine bedeutende Rolle und sind aus der afroamerikanischen Folklore des tiefen Südens ebenso wenig wegzudenken wie die verfallenen Gebäude aus den sterbenden Innenstädten dieser Gegend.

Für mich ruht eine urige Schönheit in diesen Geisterstädten mit ihren baufälligen Verweisen auf ihre einst blühende Vergangenheit. Die verlassenen Straßen beschwören ein Gefühl von Nostalgie in mir herauf, aber auch von Kummer und Leid: Wenn ich in Denmark an eine Tankstelle fahre, treffe ich aller Wahrscheinlichkeit nach einen Mann aus meiner Kindheit, der dort, wie mir dann mit einem Mal klar wird, seit über zwanzig Jahren herumsteht.

Denmark ist ein faszinierendes Landstädtchen, vor allem, wenn man bedenkt, was es einmal zu bieten hatte. Es liegt etwa eine Stunde von Augusta, Charleston und Columbia entfernt und war früher dank dem guten alten B. A. Denmark ein wichtiger Verkehrsknoten, wo die Züge von drei großen Bahnunternehmen ein- und ausfuhren. Der einst so geschäftige Ortskern ist ein perfektes Beispiel für den Niedergang des vergessenen ländlichen Black Belts, wie man die Region ursprünglich aufgrund ihres schwarzen, fruchtbaren Bodens bezeichnete, doch heute schließt der Begriff noch eine Reihe aneinandergrenzender Gebiete in verschiedenen Bundesstaaten mit ein, die die höchste Armutsrate des Landes aufweisen.

Die meisten Geschäfte in Denmark, die zur Zeit meines Vaters florierten, sind heute geschlossen. Ein Waschsalon hat noch geöffnet, ebenso das Billigkaufhaus Poole’s Five and Dime, ein paar Restaurants und ein Eisenwarenladen – aber das war’s dann auch fast schon. Im ganzen Umland gibt es kein einziges Krankenhaus mehr. Wer vor vierzig Jahren durch Denmark oder eine andere Stadt in Alabama oder Mississippi gefahren wäre, hätte das schwarze Leben allerorten pulsieren gesehen. Die Schienen führten in den Norden, Süden, Osten und Westen, nach Chicago, Atlanta, New York City und Los Angeles. Früher hatte Denmark eine Sauerkonservenfabrik, eine Coca-Cola-Abfüllanlage und eine Möbelbaufirma. Die Einwohner gingen allen möglichen Berufen nach – Maurer, Techniker, Bauarbeiter, Bäcker, Maler und Köche – und es gab schwarze Unternehmen aller Art, daher herrschte ein gewisser Wohlstand in der Stadt, in der Afroamerikaner mit fünfundachtzig Prozent den höchsten Anteil an der Bevölkerung stellten.

Trotz der heutigen extremen Armut haben schon immer zahlreiche gebildete Schwarze in Denmark gelebt, was vor allem daran liegt, dass zwei historische afroamerikanische Colleges hier ihren Sitz haben: das Denmark Technical College und das Vorheers College, dessen Präsident mein Vater war. Die Stadt hatte also viel zu bieten. Doch als die Gleise stillgelegt wurden, funkte die Politik dazwischen. Es heißt immer, dass Unternehmen schuld am Verfall der Städte wären, doch meiner Meinung nach ist das 1994 geschlossene North American Free Trade Agreement (NAFTA) der Grund für den Niedergang von South Carolina. Eine Textilfabrik nach der anderen schloss ihre Türen und verlegte die Produktion ins Ausland, sie zogen weg, und mit ihnen auch die Jobs, die verloren gingen.

*

Ich war damals sechs Jahre alt, als mein Vater 1990 beschloss, mit uns von Greensboro in North Carolina zurück in seine Heimatstadt Denmark zu ziehen, aus der er vor über zwanzig Jahren geflohen war. Die Rückkehr des verlorenen Sohnes. Wenn ich älter gewesen wäre, hätte ich sicher Einwände gegen unseren Umzug in dieses abgelegene Provinzkaff gehabt, doch was mich als Teenager skeptisch gestimmt hätte, war genau das, was meinem sechsjährigen Ich besonders gut gefiel: Dort kannten alle unseren Namen.

In South Carolina fragen wir Schwarzen eigentlich nicht nach dem Nachnamen, wir fragen nach der Verwandtschaft. Natürlich gibt es viele Varianten dieses Brauchs, je nachdem, woher man kommt. Afroamerikaner im sogenannten Upcountry im Nordwesten des Bundesstaates wollen beispielsweise wissen: »Wie heißen deine Leute?« In Denmark fragt man schlicht: »Wer sind deine Leute?« Das ist eine sehr direkte Frage, um Mutter und Vater und andere Verwandte zu ermitteln, die man vielleicht kennen müsste. Wir können dadurch herausfinden, ob wir entfernt oder sogar näher verwandt sind. Wir offenbaren unseren Stammbaum und unsere Herkunft. Dieses Vorgehen lässt sich leicht bis in die Zeit der Sklaverei zurückverfolgen. Sklaven wurden von ihrer Familie getrennt, ihnen wurde alles genommen, was ihnen lieb war. Daher suchen wir noch heute nach einer verwandten Seele, versuchen ein Stück Heimat zu fassen zu bekommen, weshalb wir uns »Cousin«, »Onkel«, »Tante« oder »Schwester« nennen, auch wenn wir nicht blutsverwandt sind.

Als schüchterner kleiner Junge, der gerade in eine neue Stadt gezogen war, merkte ich schnell, dass Denmark kein völlig fremdes Terrain war. Wo auch immer ich auftauchte, sagte mir jemand, ob Kind oder Erwachsener: »Wir sind verwandt.«

Oder: »Du, Bakari, du bist doch der Junge von Cleveland Sellers!«

Oder: »Der kleine CL

Oder: »Ich kannte deinen Großvater!«

In Denmark lagen meine Wurzeln.

Hier war meine Heimat.

*

Durch Denmarks trostlose Innenstadt zu fahren ist ein bisschen wie in die Augen eines geliebten Menschen zu blicken und kein Funkeln mehr darin zu sehen. Das Licht wirkt trüb.

Der einstige Glanz ist verblasst. Denmark ist ein Mikrokosmos des vergessenen »Schwarzen Südens«, den Isolierung, Sparmaßnahmen und miserable Wohn- und Ausbildungsverhältnisse bis ins Mark erschüttert haben.

Was ich in Denmark gesehen und erlebt habe, hat mir gezeigt, dass das Lebenselixier aller Gemeinschaften in kleinen Unternehmen zu finden ist. Ob man nun die florierende »Black Wall Street« mit ihren zahlreichen Geschäften in Tulsa im frühen 20. Jahrhundert, die Harlem Renaissance der 1920er-Jahre oder die Familie Sellers in den 1950er- und 1960er-Jahren in Denmark als Beispiel nimmt, Black Power bedeutete stets auch wirtschaftliche Eigenständigkeit und Zugang zur Wahlurne.

Heute jedoch sieht man in den armen schwarzen Städten, dass die meisten Bewohner abgehängt wurden. Die Industrie ist aufgrund der globalisierten Wirtschaft in andere Länder abgewandert. Denmark ist heute ein Ort, wo sauberes Wasser, eine einfache Internetverbindung und ein örtliches Krankenhaus längst nicht selbstverständlich sind.

Das wunderbare Leben eines Jungen vom Land

Als meine Familie nach Denmark zog, konnte mein Vater zwar einen Harvard-Abschluss vorweisen, doch leider verhinderte eine Vorstrafe, dass er einen guten Job fand.

In Greensboro hatten wir ein seltsames Leben geführt; mal hielten wir uns mit staatlichen Lebensmittelzuweisungen über Wasser, mal beschäftigten wir ein Dienstmädchen. Meine Eltern hatten finanzielle Probleme, wollten für ihre Kinder aber nur das Beste. Mein Vater beispielsweise war schon immer ein großer Anhänger der historischen afroamerikanischen Hochschulen gewesen. Er konnte es sich zwar nicht leisten, nahm uns aber mit zu den spektakulären Footballspielen der North Carolina Agricultural and Technical State University, die für die Auftritte ihrer Marching Band berühmt sind. Meine Schwester erzählt gern, wie mein Vater uns mit der Marching Band aufs Spielfeld marschieren ließ. Wer käme beim Anblick der niedlichen Kinder schon auf den Gedanken, dass sie sich Sitzplätze erschleichen wollten? Und so huschten wir zu den Tribünen, wo wir uns wie vereinbart mit unserem Vater trafen. Ein genialer Plan, mit dem mein Vater viel Geld sparte, das er ohnehin nicht hatte; noch dazu bescherte er uns einen Riesenspaß. Wir saßen auf den besten Plätzen, und wenn jemand kam und uns verscheuchte, flitzten wir einfach auf einen freien Platz in der Nähe. Unsere Familie schlug sich so durch, und mein Bruder, meine Schwester und ich kannten es nicht anders. Wenn uns der Stromversorger das Licht abschaltete, dachten wir einfach, es sei Spieleabend, weil wir Monopoly sowieso immer bei Kerzenlicht spielten.

1990 war meine Großmutter an Brustkrebs gestorben, nachdem mein Großvater schon ein Jahr zuvor den Kampf gegen seinen Bauchspeicheldrüsenkrebs verloren hatte. Also zogen wir nach Denmark in das kleine einstöckige Haus, in dem mein Vater aufgewachsen war. Die Schlafzimmer waren hintereinander angeordnet. Zuerst kam das Schlafzimmer meiner Eltern, von dem eine Tür in mein Zimmer führte, und in meinem Zimmer war wiederum eine Tür zum Zimmer meines Bruders. Meine Großeltern, die vor ihrem Tod sehr krank gewesen waren, hatten getrennte Zimmer gehabt, was bedeutete, dass mein Bruder und ich nicht nur in ihren Betten schliefen, sondern auch auf ihren Matratzen – und damit quasi in ihrem Totenbett. Mein Bruder fand es besonders gruselig, im Bett des Großvaters zu schlafen, weil er dort auch tatsächlich gestorben war.

Um ihren Lebensunterhalt zu verdienen, führten meine Eltern auch das Motel meiner Großeltern weiter, das gleich neben dem Haus lag. Unsere Familie besaß noch weitere Häuser und Grundstücke im ganzen Viertel und im Umland, die uns heute noch gehören. Es war nicht immer leicht, die Miete einzutreiben, da viele nicht bezahlen konnten. Wir setzten unsere Mieter nie vor die Tür, sondern nahmen mal vierzig Dollar hier und mal fünfzig Dollar da. Meinem Vater war die pünktliche Zahlung nicht so wichtig. Hauptsache, die Menschen behielten ihre Würde. Daher nahmen wir deutlich mehr Geld ein, als mein Vater einige Wochen in Afrika war und meine Mutter die Miete eintrieb. Alle wussten, dass mit Gwen Sellers nicht zu spaßen war.

Meine Mutter, die aus Memphis stammt, empfand für Denmark eine Art Hassliebe. Nach vielen Jahren liebte sie den Ort, aber richtig gefallen hat er ihr nie. Schon früh warnte sie uns, dass Denmark rückständig sei und die Leute uns aufgrund der Vergangenheit meines Vaters nicht mögen würden. Sie legte großen Wert auf den Unterschied zwischen »Provinz« und den Südstaaten allgemein. Mein Vater war ihrer Meinung nach provinziell, genau wie Denmark.

Meine ältere Schwester, die bereits auf dem College war und nichts mit Denmark zu tun haben wollte, war nicht provinziell. Mir gefiel es, provinziell zu sein, genau wie mein Vater. Von Anfang an liebte ich Denmark. Angeblich lässt sich nach der berühmten Nadel im Heuhaufen ja lange suchen, aber ich fand sie sofort. Worauf wir hier verzichten mussten, war sowieso nie wichtig gewesen. Also pickte ich mir aus dieser alten Stadt alles heraus, was sie mir bot. Ich sprach ihre Mundart, schlenderte auf ihren kaputten Wegen, bediente mich ihrer Tümpel und der Baumwollfelder, die uns als Abenteuerspielplatz dienten.

Im Gegensatz zu mir weinte mein Bruder Cleveland Lumumba Sellers, der acht Jahre älter ist als ich, nach unserem Umzug zwei Wochen lang. Er wollte mir das Eingewöhnen erleichtern und verbrachte viel Zeit mit mir draußen, um Football oder »Toss-up Tackle« zu spielen (dabei wirft ein Spieler den Ball in die Luft, und wer ihn fängt, rennt los, bis er von den anderen zu Boden gebracht wird). Wir gingen auch zum Angeln an den Mill Pond. Leute vom Land haben nichts übrig für Angelrollen oder anderen teuren Schnickschnack, den wir uns ohnehin nicht leisten konnten. Wir nahmen einfach ein altes Bambusrohr und eine Schnur und holten uns noch Larven oder Würmer aus dem kleinen Laden an der Ecke.

Ob man beim Angeln einen guten Tag hatte, lässt sich daran erkennen, dass einem danach die Beine wehtun, denn dann war man zu beschäftigt, um auch nur einen Moment von seinem Fischeimer aufzustehen. Natürlich wusste man auch, dass man einen guten Tag erwischt hatte, wenn dieser Eimer voll mit »Crappies« war, einem Fisch mit vielen Gräten, der in Teichen und Bächen lebt. Crappies lassen sich leicht zubereiten: Man putzt sie, bestreut sie großzügig mit Würzsalz und brät sie in sprudelndem Fett, um sie anschließend mit Senf und Weißbrot zu genießen. Weißbrot war in jedem Haushalt in Denmark ein Grundnahrungsmittel, weil es billig war. Leider klebt es gern am Gaumen fest, aber wem einmal eine Gräte im Hals stecken bleibt, kann eine Scheibe unzerkaut hinunterschlucken, dadurch wird die kratzende Gräte Richtung Magen geschoben. Ein bewährtes Hausmittel der Provinzler.

In Denmark fuhren wir entweder mit dem Fahrrad oder gingen zu Fuß. Wir wurden nicht von der Mutter oder der Mutter eines Freundes herumchauffiert. Unsere Beine trugen uns dorthin, wo wir hinmussten.

In einer ländlichen Ortschaft wie Denmark bedeutete Basketball die Welt. Um zu spielen, brachen wir am Wochenende in die Sporthalle vom College ein, in dieselbe Halle, in der bereits mein Vater als Junge gespielt hatte. Irgendwann kam uns der Trainer auf die Schliche und ließ die Tür einfach offen. Es gab sonst nur noch zwei weitere Basketballkörbe in der Gegend. Der eine gehörte meinen Freunden Boo und Chicko, die in einem Haus am Ende unserer Straße wohnten, und der andere gehörte meiner Familie. Er befand sich hinter dem Motel. Wir spielten immer sehr lange, und ich war danach so verdreckt, dass mich meine Mutter erst ins Haus ließ, wenn ich mich draußen vor der Fliegentür ausgezogen hatte.

Aber obwohl ich mit fünfzehn schon eine Größe von 1,95 Meter erreicht hatte, war ich kein LeBron James. Mein mittelmäßiges Spiel wurde mir gern von einem meiner besten Freunde unter die Nase gerieben. Er hieß Jamil Williams, aber wir nannten ihn Pop. Meine Familie liebte Pop. Mein Vater war für Pop eine Art Ersatzvater, und ich war wie ein Bruder für ihn. Er war ein gutherziger Kerl, steckte aber immer in Schwierigkeiten. Und er war ein hervorragender Sportler. Er übte sich in Leichtathletik und spielte ausgezeichnet Fußball und Basketball. Ich hingegen konnte zwar sämtliche Statistiken zu meinen Lieblingsspielern und – mannschaften herunterrattern, war aber nicht gerade ein Bewegungstalent. Pop und ich saßen oft in meinem Zimmer und unterhielten uns über unsere Lieblingssportler. Ich hätte den Ball gern in den Korb befördert wie mein Held Larry Davis, der aus Denmark stammte, aber Pop verteidigte einfach zu gut. Er schüttelte dann den Kopf und erklärte im breitesten schwarzen Südstaatendialekt, den man sich vorstellen kann: »Bo« (wie man hier auf dem Land für »Boy« sagte), »Bo, gib mir den Ball. Du kannst einfach nicht spielen, Superhirn.«

»Wie meinst du das?«, fragte ich.

»Bleib einfach bei deinen Büchern«, antwortete er.

»Willst du etwa behaupten, ich kann nicht spielen?«

»Neeein, werfen kannst du schon, aber du kommst einfach nicht an den Korb.«

Pop betrachtete sich als meinen Beschützer. Er sagte oft, die Leute hielten meine Familie für vermögender, als sie war, weil die meisten Einwohner der Stadt praktisch gar nichts hatten. »Und deshalb denken sie, sie könnten Bakari eine reindrücken«, erzählte er den Leuten. »Ich gehe dann dazwischen und sag: ›Lasst das mal schön bleiben! Lasst Bakari in Ruhe!‹ Und das tun sie dann auch.«

Es war ein Glück, dass ich Pop hatte. Er führte mich in Denmark ein, in mein neues Viertel, und zeigte mir sein Leben, das sich sehr von meinem unterschied. Er lebte »auf der anderen Seite der Schienen« im heruntergekommenen Teil der Stadt. Dabei war das Viertel, in dem ich wohnte, auch nicht gerade wohlhabend, tatsächlich wirkte es auf Außenstehende extrem marode, ein Bild der Armut mit heruntergekommenen schäbigen Häusern. Aber es war ein ruhiges Viertel, in dem alle sich kannten. Gegenüber von unserem Haus gab es ein Kunstatelier. Und von Mr. Meyers, einem schwarzen Ladeninhaber im Ruhestand, bekamen wir Bonbons geschenkt. Er saß immer mit seinem Stuhl vor seinem früheren Laden und hielt ein Nickerchen. Manchmal brieten seine Söhne Hotdogs, die wir ihnen für ein paar Cent abkauften. Bei der »Icy Lady« gab es Slush-Eis durchs Küchenfenster. Und noch heute lässt mein Dad die Schlüssel im Auto. Wer den Wagen braucht, nimmt ihn einfach, und später klopft vielleicht ein ganz anderer Mensch an die Tür und bringt die Schlüssel zurück.

Doch in dem Teil der Stadt, in dem Pop wohnte, ging es rau und manchmal auch gewalttätig zu. Und obwohl ich nicht außergewöhnlich beliebt war, zählte ich sofort zu den coolen Jungs, weil ich Leute auf beiden Seiten der Schienen kannte.

Der Junge mit einer alten Seele

Meinem älteren Bruder Lumumba fiel es nicht so leicht wie mir, sich in Denmark einzugewöhnen. Tatsächlich war er todunglücklich, aber er war auch ein sehr pragmatisch denkender Mensch, daher machte er auf der Highschool viel Sport, um sich dadurch verbunden zu fühlen. Vor den Spielen seiner Basketballmannschaft besuchte ich ihn oft in der Umkleidekabine, wo es allerdings keine Beleuchtung gab, weshalb er und seine Teamkollegen sich irgendwann in einem Klassenzimmer umzogen. Sie hatten auch keine Trainingsanzüge, nur Shorts, und selbst die reichten nicht für alle, deshalb musste jede Woche ein Junge aussetzen.

Pop und ich begleiteten meinen Bruder zu Turnieren an anderen Schulen, die schicke Sporthallen und große, gut beleuchtete Kabinen hatten. Damals war ich zwar erst sechs oder sieben, fragte mich aber dennoch, warum die Mannschaft meines Bruders so behandelt wurde, obwohl sie zu den besten Teams des Landes zählte.

Manche mögen das für die altklugen Worte eines kleinen Jungen halten, aber ich hatte meine Gründe dafür. Bevor wir nach Denmark zogen, hatte mich mein Vater bereits als Kleinkind zu verschiedenen kommunalen Sitzungen und akademischen Konferenzen mitgenommen. Dank ihm, meinem Bruder und Pop baute ich ein Bewusstsein für mein Umfeld und kulturelle Unterschiede auf, noch bevor ich die großen Zusammenhänge erfassen konnte. Dass Pop auf der einen Seite der Schienen lebte und wir auf der anderen, war plötzlich irrelevant: Wir hatten alle zu kämpfen. Und der Unterschied zwischen der baufälligen Schule meines Bruders und den reichen weißen Highschools sprang einem ohnehin sofort ins Auge.

Nicht jeder verstand diese Seite meiner Persönlichkeit oder wusste sie zu schätzen. Meine Schwester Nosizwe, die zwölf Jahre älter ist, hielt mich für das seltsamste Kind der Welt. »Bakari ist kein normales Kind«, sagte sie immer. »Er ist ein kleiner alter Mann im Körper eines Kindes.«

Sie sagte meinem Vater auch: »Ich mag ihn nicht besonders.«

»Er ist dein kleiner Bruder«, antwortete mein Vater dann. »Du musst nett zu ihm sein.«

Auf meine Schwester mochte ich wie ein alter Mann wirken, doch ich konnte auch durchaus unreif und kindisch sein. Meine Familie wird ohne zu zögern bestätigen, dass mir niemand vorschreiben konnte, was ich tun durfte und was nicht. Und ich gebe offen zu, dass ich sehr nah am Wasser gebaut bin, genau wie mein Vater. Ich reagiere sehr emotional und leidenschaftlich, wenn ich etwas mag oder wenn ich etwas meiner Meinung nach tun kann, aber auch sehr aufgebracht, wenn lieben Menschen etwas Schlimmes passiert oder wenn ich das Gefühl habe, das Leben sei ungerecht.

Als ich acht war, verlor mein Lieblingsteam, die Basketballmannschaft der Duke University, im Finale der Hochschulmeisterschaft gegen Kentucky. Und ich machte mich zum Deppen. Meine Familie erinnert mich immer wieder gerne daran, wie ich mich daheim auf den Boden warf und brüllte, als ob mich jemand windelweich prügeln würde. Als meine eigene Basketballmannschaft ein paar Jahre später einmal ein wichtiges Spiel verlor, warf ich mich auf den Boden der Sporthalle, vor allen Zuschauern und Sportlern, und schrie und weinte und behauptete, wir hätten verloren, weil das Team so furchtbar sei.

Genauso leidenschaftlich konnte ich werden, wenn es um Gerechtigkeit ging. »Bakari konnte schon als kleiner Junge gut reden. Er hat mit jedem diskutiert«, erzählte Pop überall herum. »Ich sagte ihm schon damals, er würde einmal Anwalt oder Politiker werden, und heute ist er beides. Bakari diskutierte mit den Leuten: ›Warum willst du den verprügeln? Er hat dir nichts getan.‹«

Meine Schwester Nosizwe dagegen sah in mir keinen zukünftigen Anwalt, sondern ein altkluges Kind mit einem überzogenen Selbstbewusstsein, das viel zu viel redete. Doch gleichzeitig war ich auch sehr ängstlich; eine Kombination, die Kindern wie Erwachsenen eigenartig vorkommen musste. Nosizwe und ich führten bizarre Streitgespräche darüber, wer von uns beiden klüger sei. Ich glaube, sie wollte verhindern, dass ich mir zu viel auf mich einbildete, allerdings hatte sie keine Ahnung, wie sie das bewerkstelligen sollte. Sie sagte einfach: »Es gibt einen feinen Unterschied zwischen Selbstbewusstsein und Arroganz. Wir haben beide dieselbe Mom und denselben Daddy, die uns dasselbe beigebracht haben. Alles, was du kannst, kann ich auch. Aber ich habe mich in dieser Welt einfach für etwas anderes entschieden.«

Mein schlaues Mundwerk brachte Nosizwe immer wieder gegen mich auf, auch wenn wir uns schließlich doch noch zusammenrauften und uns heute sehr gernhaben. Trotz ihres anfänglichen Ärgers war meine Schwester wie eine zweite Mutter für mich. Während ihres Medizinstudiums fuhr sie an den meisten Wochenenden die neunzig Meilen von Charleston nach Denmark, um mich abzuholen. Ich begleitete sie dann überallhin, unterhielt mich mit ihren Freundinnen, aß in schicken Restaurants und war bei ihren Verabredungen mit dabei. Ich nannte sie »meine Mutter-Schwester-Freundin«. Wenn ich mich mit einem Problem an sie wandte, fragte sie: »Brauchst du mich als Mutter, Schwester oder Freundin? Ich bin nicht für deine Erziehung zuständig, gut möglich, dass ich mit dem, was du mir erzählst, direkt zu Daddy gehe.«

Damals dachte ich, sie wolle einfach mit mir zusammen sein, aber heute ist mir klar, dass sie mir eine Auszeit von zu Hause geben wollte, weil es dort zunehmend zu Spannungen kam.

»Von Bakari habe ich gelernt, wie man Zuneigung zeigt«, sagte sie vor Kurzem. »Er war eins dieser ›Ich hab dich lieb‹-Kinder. Das mit einem kuschelt. Wir sind uns sehr nahe. In unserer Familie wird nicht groß umarmt. Ich umarme meine Mutter bis heute nicht, aber Bakari hat uns das beigebracht. Auf ein Kind, das einen umarmt und ›ich hab dich lieb‹ sagt, muss man einfach reagieren.«

*

Als Teenager versuchte ich mich bei der Melonenernte. Mit der Ernte von Cantaloupe-Melonen konnte man zweihundertfünfzig Dollar die Woche verdienen, mit Wassermelonen sogar dreihundertfünfzig Dollar. Dazu stellte man sich einfach an den Straßenrand und wartete, bis ein Farmer mit seinem Pick-up vorbeikam und einen zu seiner Farm mitnahm. Dort war man dann den ganzen Tag auf dem Feld und erntete die Melonen beziehungsweise warf sie in den Anhänger. Gutes Geld, aber die Arbeit war sehr hart. Überflüssig zu erwähnen, dass sie mir bald zu schwer wurde.

Obwohl Denmark ein schwarzes Städtchen war, gab es doch ein paar weiße Läden und Lokale. Mein Vater durfte in seiner Jugend noch nicht in weißen Restaurants essen oder in weißen Geschäften Kleider anprobieren. Und trotzdem wuchs er in soliden Verhältnissen in der Mittelschicht auf, war bei den Pfadfindern, las Comics und war Ministrant in der St. Philips Episcopal Church auf dem Campus des Voorhees College. Auf dem Campus besuchte er auch die Middle School und die Highschool. Als Junge fragte er seine Eltern, ob er sich nicht als Baumwollpflücker versuchen könne. Sie waren einverstanden, tuschelten aber hinter seinem Rücken, dass ihm die Arbeit bald zu schwer werden würde. Und wie ich bei der Melonenernte hielt auch er nicht lange durch – nur zwei Tage.

*

Im sogenannten Bible Belt, der durch den evangelikalen Protestantismus geprägt ist, stand die Kirche an erster Stelle, aber wir gehörten nicht zu den Leuten, die montags, mittwochs, samstags und sonntags in die Kirche gingen. Andererseits waren wir auch keine »Osterfamilien«, die sich nur einmal im Jahr im schönsten Sonntagsstaat zum Gottesdienst blicken ließen. Wir gingen jeden Sonntag in die Kirche. Als meine Großeltern noch lebten, graute mir vor diesen gemeinsamen Kirchgängen, weil wir gleich zwei Gottesdienste besuchen mussten – in der Bethel African Methodist Episcopal Church und in der Rome Baptist Church –, denn meine Großeltern gehörten seltsamerweise (ich weiß bis heute nicht, warum) zwei verschiedenen Kirchen an. Als wir 1990 nach Denmark zogen, wurden wir Mitglied der St. Philips-Gemeinde. Der Bürgermeister ging in diese Kirche, ebenso der Präsident des Voorhees College und einige Lehrer.

Wie schon mein Vater war ich ab meinem sechsten Lebensjahr Ministrant. Ich zündete die Kerzen an, trug das Kreuz und half dem Pfarrer bei allem, was er tat. Beim Abendmahl boten wir echten Wein an. In einem unbeobachteten Moment tranken wir Ministranten dann den übrigen Wein – und spülten mit einem Schluck abgestandenem Weihwasser nach.

Wir waren zwar nicht die religiöseste Familie in der Straße, doch meine Eltern beteten viel. Wir sprachen immer ein Tischgebet vor dem Essen; das mache ich heute noch. Ich spreche es nicht laut, aber ich schließe die Augen und beuge den Kopf, egal, mit wem ich esse.

*

Den Namen Sellers brachte man in Denmark mit Mut und Ehre in Verbindung, aber auch mit Kummer und Verlust. Wenn man es mit Game of Thrones vergleichen würde, wären wir das Haus Stark von Winterfell. Pop bekam oft eine Abreibung verpasst, weil er sich mit den Sellers herumtrieb. »Du hältst dich wohl für was Bessres, weil du mit den Sellers rumhängst«, hieß es dann. Aber Pop war kein Dummkopf. Wenn er in Schwierigkeiten geriet, kam ihm der Name Sellers, der wie ein Schutzzauber wirkte, schnell über die Lippen.

Mein Vater kehrte nach Denmark zurück, weil er glaubte, er müsse zu Ende bringen, was seine Eltern begonnen hatten – eine Stadt voranbringen, die in Armut versunken war. Mein Großvater Cleveland Sellers Sr. war in Denmark ein angesehener Geschäftsmann. Jeder kannte ihn, weil man entweder seine Fisch-Sandwiches in seinen Cafés aß oder von ihm in seinem Taxi herumkutschiert wurde. Vielleicht hatte man sogar in seiner Kneipe gesessen oder in seinem Motel übernachtet, wenn man seine Kinder an den beiden örtlichen Colleges besuchte. Mein Großvater, der im Zweiten Weltkrieg gekämpft hatte, besaß zwanzig Mietshäuser und ein Motel mit sechs Zimmern direkt neben unserem früheren Haus, das heute leer steht. Mein Bruder erinnert sich noch daran, dass er im Büro meines Großvaters spielte und zusah, wie er den Leuten ein bisschen Geld lieh, mehr, als die Bank ihnen geben würde. Mein Großvater wusste aber auch, wie er sein Geld wiederbekam. Wenn die Leute etwas brauchten – wenn zum Beispiel ein Sohn im Gefängnis gelandet war oder sie einen zu hohen Kredit aufgenommen hatten, den sie nicht zurückzahlen konnten –, wandten sie sich an meinen Großvater.

Meine Großmutter stammte aus dem Westen von South Carolina, aus Abbeville. Sie war aus einer Liebesbeziehung hervorgegangen – sie hatte einen weißen Vater, der nicht bei seiner schwarzen Familie leben konnte, und eine schwarze Mutter. Sie arbeitete als Ernährungsberaterin am heutigen Denmark Technical College, außerdem engagierte sie sich für Obdachlose und war im Vorstand der NAACP (National Association for the Advancement of Colored People), einer der ältesten schwarzen Bürgerrechtsorganisationen der USA. Als meinem Vater auffiel, dass ein Junge an seiner Schule im Müll nach Essen suchte, und seiner Mutter davon erzählte, machte sie jeden Tag ein zusätzliches Sandwich, das er dem Jungen geben konnte.

Mit zehn hörte mein Vater von dem Mord an Emmett Till, einem vierzehnjährigen Jungen aus Chicago. Emmett hatte 1955 seinen Großvater in Money in Mississippi besucht und wurde dort ermordet, weil er angeblich einer jungen, weißen Frau hinterhergepfiffen hatte. Seine Mutter Mamie Till bestand darauf, den Sarg bei der Beisetzung offen zu lassen, wodurch die schweren Misshandlungen im Gesicht des Jungen zu sehen waren. Das Jet Magazine und andere Medien veröffentlichten die Fotos. Jet lag als unverzichtbare Lektüre in jedem schwarzen Haushalt auf dem Couchtisch oder stapelte sich fein säuberlich im Regal auf der Toilette. Das Magazin brachte Artikel über Prominente, Schilderungen von Verbrechen und ein bisschen Klatsch. Jet prägte das kollektive Gedächtnis der afroamerikanischen Bevölkerung und enthielt genau das, was wir lesen wollten. Es gab auch Fotos schwarzer Schönheiten im Badeanzug, die Jungs wie ich jede Woche zuallererst aufschlugen.

Als Jet das Bild von Emmett Till in seinem offenen Sarg veröffentlichte, nahmen schwarze Kinder und Jugendliche im ganzen Land die Zeitschrift mit in die Schule. Die afroamerikanischen Lehrer meines Vaters klärten die Kinder über die wahren Verhältnisse auf, obwohl Schwarze in den damaligen Schulbüchern noch als faul dargestellt wurden und sogar Regeln für den »richtigen« Umgang mit Schwarzen vermittelt werden sollten. Tills Tod bedeute, erklärten die Lehrer, dass die schwarzen Jungen und Mädchen eine Aufgabe hatten – sie müssten der ungerechten Behandlung ihrer Leute ein Ende setzen.

Tills Tod beschäftigte meinen Vater so sehr, dass er mit sechzehn ein Sit-in in einem weißen Restaurant in Denmark organisierte. Überall in den USA lasen afroamerikanische Kinder mit Namen wie Stokely, Jesse, Kathleen, Angela und Cleveland das Jet Magazine. Jahre später, in den Sechzigern, kamen sie bei großen Demonstrationen zusammen. Dass mein Vater das Gesicht des ermordeten schwarzen Jungen nicht vergessen konnte, bewegt mich bis heute, vor allem aber hatte mein Vater deswegen richtig viel Ärger.

Denn in Denmark kannten die Leute meinen Nachnamen noch aus einem anderen Grund.

Und hier beginnt meine Geschichte.

I

Die Wunden sind noch nicht verheilt

»Sei kein toter Held«

Der 8. Februar 1968 ist einer der wichtigsten Tage in meinem Leben – obwohl ich erst sechzehn Jahre später geboren wurde.

An diesem Tag versuchten etwa zweihundert schwarze Studierende des South Carolina State College das Zugangsverbot für Schwarze bei einer weißen Bowlingbahn in Orangeburg aufzuheben. Nach mehrtägigen Protesten stellten sich Polizisten der Highway Patrol in einer Reihe auf und feuerten in eine Gruppe unbewaffneter Studenten. Sie töteten drei schwarze Jugendliche, die gerade einmal achtzehn oder noch jünger waren – Samuel Hammond Jr., Delano Middleton und Henry Smith – und verwundeten achtundzwanzig weitere Demonstranten.

Nach acht oder zehn Sekunden war alles vorbei – das ist gerade einmal die Zeit, in der man zwei Schluck Kaffee trinkt oder sich die Schuhe zuschnürt. Das ist so lange, wie man sich beim Bullenreiten auf dem Bullen halten muss, um Punkte zu machen. Soziologen sagen, dass es acht Sekunden dauert, um einen ersten Eindruck bei jemandem zu hinterlassen. Und es dauerte acht Sekunden, um so viele Leben zu zerstören.

In diesen wenigen Sekunden leuchtete der Himmel hell vom Mündungsfeuer der Gewehre, und Studenten rannten um ihr Leben, als die Schrotmunition, die Jäger beim Töten von Großwild wie Rehen oder Hirschen verwenden, sie in den Rücken traf, in den Hinterkopf und ihre Fußsohlen. Ein Jugendlicher wurde ins Gesicht geschossen und verlor dadurch sechzehn Zähne, einem anderem durchlöcherten die Schrotkugeln das Herz, und ein anderer, ein unbeteiligter Schüler der Highschool, der auf seine Mutter wartete, die im College arbeitete, wurde sechsmal getroffen.

Das Schießen endete so schnell wieder, wie es begonnen hatte, doch für manche endete es nie.

Einer der jungen Männer, die an diesem Abend verwundet wurden, war Cleveland Sellers, mein Vater. Ein junger, frisch verheirateter Bürgerrechtsaktivist, der an diesem Abend verhaftet, in eine Zelle geworfen und verurteilt wurde – und als Einziger eine Haftstrafe wegen Anstiftung zu einem Aufstand verbüßte, der nie stattgefunden hatte.

Meine Eltern haben immer wieder mit mir über das Massaker von Orangeburg gesprochen. Ich bin mir ziemlich sicher, dass mir die Geschichte bereits im Mutterleib eingeflüstert wurde.

Ich habe sie auch aus den Mündern derjenigen gehört, die an jenem Abend verwundet wurden. Ich hörte sie von den Angehörigen der Toten und natürlich auch vom »Agitator« persönlich. Und mit jeder Erzählung erfahre ich etwas Neues.

Ich bin ein Kind der Bürgerrechtsbewegung. Es gibt ein Foto von mir auf dem Arm von »Onkel« Jesse Jackson, der mich hochhält, damit ich ein Pferd füttern kann. Ich war das Wahlkampfbaby im Präsidentschaftswahlkampf 1988, als Jackson einen zweiten Anlauf unternahm, zum Präsidentschaftskandidaten der Demokraten nominiert zu werden. Er war einer von vielen »Onkeln« und »Tanten«, lauter Berühmtheiten und Legenden. Ich ging schon als Kind ans Telefon und rief dann meinen Vater mit den Worten: »Dad, Onkel Julian [Bond] ist am Apparat« oder »Onkel Stokely [Carmichael] will dich sprechen« oder »Tante Kathleen [Cleaver] ruft an.«

Diese Tanten und Onkel inspirierten mich zu meinem eigenen Weg, stellten aber auch eine Verbindung zur Vergangenheit dar und lieferten mir so Leitlinien für die kommenden Jahre.

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