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Und Nilas sprang

Als Buch hier erhältlich:

Das rätselhafte Verschwinden eines Jungen verknüpft die Schicksale mehrerer Menschen in der bäuerlichen Gesellschaft Nordschwedens.
Ein fiktives Dorf in Nordschweden, zwischen 1948 und der Gegenwart. Alle glauben, dass Nilas, Håkans kleiner Bruder, ertrunken ist und vom Fluss weggespült wurde. Es werden mehrere Jahrzehnte vergehen, bis das Frühjahrshochwasser enthüllt, was wirklich geschehen ist.
»Und Nilas sprang« ist die Geschichte über eine Handvoll Menschen, deren Schicksale durch das Verschwinden von Nilas untrennbar miteinander verbunden sind, über die Zeit davor und danach. Es ist die Geschichte von Assars verbotener Sehnsucht nach Margareta, von Håkan, der sich nach einem Vater sehnt, aber einen kleinen Bruder bekommt, und von Håkans Freundin Petra, die viele Jahre später beschließt, die Wahrheit auszugraben, die sich unter Schichten uralter Geheimnisse und erschütternder Erinnerungen verbirgt.
  • Erscheinungstag: 25.10.2021
  • Seitenanzahl: 272
  • ISBN/Artikelnummer: 9783312012503

Leseprobe

Verborgen

Wenn sie dahinterkäme, würde sie ihn dann verlassen? So wie alle anderen.

Petra lag so dicht bei Håkan, dass sie genauso gut hätten eins sein können. Kleine warme Atemstöße an seinem Kinn. Füße zwischen den seinen, Finger, die ihm über den Bauch tasteten. Ihre Konturen in dem dunklen Schlafzimmer, vertraut nach all den Nächten, die sie zusammen verbracht hatten.

Er lag da und prägte sie seinem Gedächtnis ein.

Vergessen war unverzeihlich, das wusste er.

Schon im ersten Sommer nach Nilas’ Tod hatte er das meiste vergessen: wie Nilas’ Füße über den Fußboden plumpsten, wenn er nachts zu Håkans Bett gelaufen kam. Das Lachen, das Schreien, das nie versiegende Geplapper über Traktoren, über den roten David Brown 880 vom Eliasson, das Lasso, mit dem er übte.

Das Vergessen rührte nicht daher, dass er nie an Nilas dachte, das tat er durchaus. Aber diese Gedanken huschten vorüber, schnell und flüchtig, mehr wie ein Gefühl.

Wie dann, wenn er von fern einen Traktor hörte. Wenn er ein Kind mit einem kleinen, zerknuddelten Kuscheltier in der Hand vorbeilaufen sah. Wenn er unterm Wasserspiegel Seegras hin und her schwanken sah.

So hatten Nilas’ Haare ausgesehen. Im kupferfarbenen Wasser wogend, tänzelnd.

Es war auch nicht so, dass er noch nie jemanden hätte sterben sehen. Wohl deshalb war ihm damals der Fuchsbau eingefallen, der verlassene Ort, wo er Hebbe das Zeitliche hatte segnen sehen. Als Nilas triefend zu seinen Füßen lag, da hatte er Hebbes Stelle vor sich gesehen, an einem Höhenrücken voller Kiefernnadeln und weichem Moos und sprenkeligen Sonnenflecken.

Er hatte Nilas aus dem Wasser gezogen, Klein-Nilas, so mager, dass er durch den Stoff der Jacke seine Rippen spüren konnte, und schwer, als wäre er aus Blei.

Das Weißhaar, Lichthaar, wie braunes Seegras unter Wasser.

»Ich halte es nicht mehr aus hier.«, hatte Mama zu ihm gesagt, bevor sie kurz darauf ging. »Hier zu Hause sehe ich immer nur Nilas. Und ich sehe dich, Håkan.«

Dass er allein war, hatte er erst einige Zeit später begriffen, im zweiten Sommer nach Nilas’ Tod. Er hatte draußen etwas gehört und gedacht, Mama wäre zurückgekommen, oder Lars, egal wer, er wollte ihnen entgegengehen. Aber da war niemand, nackt und bibbernd stand er auf dem Hof, und das Licht stach ihm in die Augen.

An diesem Morgen war alles anders, obwohl es so aussah wie immer und wie es die nächsten vierzig Jahre aussehen würde. Der Morgen glänzte in den Fensterscheiben, und um die Vortreppe surrten grünschimmernd die Fliegen. Wann immer Håkan an diesen Tag zurückdachte, sollte er sich daran erinnern, wie er, zwischen Hühnerstall und Kuhstall, auf die Knie sank und ihm der kühle, taufeuchte Kies nahezu in die Haut drang. Das rundliche Kartoffelkraut war aus der Erde gedrungen. Und wie er weinte, als er es entdeckte. Wer würde ihm auf dem Kartoffelacker helfen?

Er konnte sich die Aussicht vom Olsberget vorstellen. Von dort oben nähme er sich mitten in allem wie ein heller Punkt aus, umgeben von verlassenen Höfen und überwucherten Waldpfaden und nackten Schneisen, wo einst Bäume gestanden hatten. Und mittendrin streckte der Vindelälven seine nasse, dunkle Zunge aus. Von dort oben gesehen, war es nicht weit bis zu der Stelle, wo Nilas unter seiner Moosdecke lag.

Håkan hatte sich nie so einsam gefühlt wie an diesem Morgen.

Einsam fühlen sollte er sich danach immer, zumindest bis er Petra kennenlernte, dem Himmel sei Dank für Petra! Nicht aber hatte er gedacht, dass er sie verdiente, als sie die erste Nacht neben ihm lag, das allererste Mal, dass er eine schlafende Frau neben sich im Bett hatte.

Jetzt lag er da und dachte wieder so. Er verdiente sie nicht. Jetzt würde sie es begreifen. Håkan versuchte sich Petra einzuverleiben, mit Haut und Haar, sie in sein Inneres zu tätowieren.

Er wollte sie nicht vergessen.

Er hatte Nilas nicht vergessen wollen.

Es war nicht so, dass er nie versuchte, sich an ihn zu erinnern, dass er es sein ließ, an Nilas zu denken. Aber wenn er an ihn dachte, schlug die Schuld zu, so fest, dass ihm die Luft wegblieb, und er schob diese Gedanken, so gut er konnte, beiseite. Es war auch nicht so, dass er noch nie jemanden hätte sterben sehen. Aber da war er nicht schuld gewesen.

Er wusste nicht, dass alles schon viel früher angefangen hatte.

Assar 1948

Das Dorf machte nicht viel her. Assar würde es nicht einmal ein Dorf nennen, eher eine Ansammlung einzelner Hauswesen, die sich an den Sandhügel klammerten, der zum Fluss hin abfiel. Da gab es nichts. Nur kleine Höfe beiderseits eines Waldarms und Nachbarn, die aus Gründen, an die sich niemand mehr erinnern konnte, einander kaum grüßten. Das Einzige, was sie vereinte, war der Sommerweg, der sich unter den Wagenrädern, aus Protest gegen das Erwachen aus dem Winterschlaf, jedes Jahr in Matsch verwandelte.

In Olsele war es schon immer karger, an allem. Die Holzhäuser waren dürftiger und die Kühe glanzloser als andernorts. Aber die Aussicht war schön und die Lage günstig, um Kartoffeln anzubauen. In kleinlichen Momenten dachte Assar, seine Eltern lebten nur der Kartoffeln wegen noch hier. Sie kannten nichts anderes als Kartoffeln und Gerstenbrei.

Assar hatte zarte Hände und einen jungenhaften Pony, den er mit der flachen Hand immer zur Seite strich. Er war auf eine Art neugierig, wie er sie von seinen Eltern nicht kannte. Die wollen nichts, dachte er. Er wollte alles.

Assar war kein bisschen darauf gefasst, als er sie zum ersten Mal sah. Sie war ihm unbekannt, ein ebenso neuer und strahlender Anblick wie die Missionskapelle vor einigen Jahren, als diese gerade erst errichtet worden war. Er sah sie flüchtig, als sie zu Sigurd hineinging, ihr im Wind flatterndes Kleid, ihr Haar, das in der Sonne wie ein frisch geputzter Kupferkessel aufblitzte. Das Licht stach ihm in den Augen. Dass das Gras auf den Heuwiesen schon so hoch war, dass es gemäht werden musste, bemerkte er überhaupt nicht, erst hinterher dann.

Bei Sigurd war es leicht schummrig. Der Raum, in dem er sein Ladenlokal hatte, lag am Ende eines langen Flurs, wo stets die Lampen gelöscht waren. Die Wände waren mit Regalen und Waren bedeckt, und er hatte eine ordentliche Kaufmannstheke. Es sah wie ein richtiger Dorfladen aus, auch wenn er in einem gewöhnlichen Wohngebäude untergebracht war. Es roch eigen dort. Nach Wurst und Veilchenpastillen.

Sie stand mitten im Raum. Obwohl es dunkel war, konnte Assar sie deutlich sehen. Als er eintrat, schaute sie kurz zu ihm, aber ihr Blick huschte nur über ihn hinweg, bevor sie sich wieder zu Sigurd umdrehte, der ihm einen Gruß zunickte. Nett war er, der Sigurd. Hatte ihm immer ein oder zwei Bonbons zugesteckt, wenn er vorbeigekommen war. Es war noch nicht lange her, dass Sigurd aufgehört hatte, ihm Bonbons anzubieten, Assar hielt sich für zu alt dafür und lehnte dankend ab, wenn er es versuchte.

Sie war auffallend groß, fast so groß wie Assar, der in den letzten zwei Jahren ziemlich in die Höhe geschossen war. Ihr Haar lockte sich im Nacken. Er betrachtete die weiche Linie ihres Kinns, den langen Hals, den Schatten des Schlüsselbeins, der im Ausschnitt des Kleids verschwand, die Rundung ihres Busens. Als sie Sigurd anlachte, erschien auf ihrer linken Wange ein tiefes Grübchen. Es war ein Leuchten um sie herum, ein Strahlen im Raum.

Assar konnte den Blick nicht von ihr wenden. In dem hellen Flaum auf ihrer Oberlippe saßen kleine Schweißperlen. Er wusste noch nicht, wer sie war, aber er wollte diese Perlen mit der Zungenspitze ablecken.

»Ja also, es ist jedenfalls schön, Hebbe wieder hier zu haben«, sagte Sigurd und nahm das nächste Paket in Angriff. »Man hat ihn vermisst.«

Sie sah Sigurd abwartend an, nickte nahezu unmerklich, wie um ihn zum Weiterreden aufzufordern.

»Wir haben schon alle gedacht, dass der Hof nicht überlebt, nachdem der Anders sich umgebracht hat. Haben Sie ihn gekannt, Margareta?«

Als sie den Kopf schüttelte, geriet der Rotschimmer in Bewegung, sie verlagerte das Gewicht von einem Bein aufs andere. Lange, weiße Beine waren das. Sie trug keine Strümpfe unter ihrem gewöhnlichen Baumwollkleid.

Assar flatterte innerlich so sehr, dass es fast unangenehm war. Jetzt wusste er, wer sie war. Die neu zugezogene Nachbarin. Vater hatte früher viel von ihnen gesprochen: Den Geschwistern, die den elterlichen Hof und das Heimatdorf verlassen hatten, um ihr Glück woanders zu suchen. Zwei von ihnen waren ausgewandert, der dritte in den Süden des Landes gezogen. »Der war doch ein Träumer«, sagte Vater immer, und dann war da noch der vierte, der starb. Der Hof war seither heruntergekommen, weil Anders die Arbeit nicht schaffte. Das hat jetzt getaugt, sagte sein Vater und schnaubte, nachdem Anders sich im Schuppen erhängt hatte. Vater hatte nicht viel übrig für sie. Ihm rückte das zu nahe: Bei ihnen war nur noch Assar da, dessen Eltern beide kränkelten.

»Nein, das hat sich nicht ergeben.« Sie hatte eine dunkle und tragende, aber angenehme Stimme. Eine Stimme, der man lange zuhören wollte. »Wir sind erst kurz nach der Beerdigung hergekommen.«

»Ach so, wir freuen uns jedenfalls. Dass da jemand weitermacht«, sagte Sigurd und verschnürte das Paket vor sich.

Wenn sie lächelte, tanzten ihre Grübchen. Im Unterschied zu Assar hatte sie noch eigene Zähne und zwischen den Schneidezähnen eine Lücke.

»Strömsund sagten Sie?« Diesmal sah Sigurd nicht auf.

»Ja, stimmt. Aufgewachsen bin ich aber in Hoting.«

»Und wie sind Sie in Strömsund gelandet?«

»Papa ist gestorben.« Sie brach ab und presste die Lippen zusammen. Die Grübchen verschwanden.

Im Gespräch trat eine Pause ein, und das Einzige, was man hörte, war das Geraschel des Wachspapiers, in das ihre Sachen eingeschlagen wurden. Assar tat einen Schritt zurück und trat gegen irgendetwas, das zu Boden fiel. Wieder huschte ihr Blick zu ihm, blieb diesmal aber an ihm hängen. Ein forschender, abschätzender Blick, hinter dem etwas aufschien, was Assar erst viel später deuten konnte: ihr Hunger. Sigurd warf beiden einen raschen Blick zu und beugte sich dann über die Quittung, die er ihr ausstellte. Er schrieb langsam und umständlich.

»Jedenfalls«, sagte Sigurd und wies auf Assar: »Nehmen Sie sich vor dem in Acht. Er ist einer von den Sjögrens. Das waren noch nie Freunde von den Larssons.«

Assar schritt normalerweise weit aus, diesmal aber war es zu warm, und sie holte ihn gleich hinter Saxnäsby ein. Sie sagte nichts, hielt nur mit ihm Schritt. Er streckte die Hand aus, und sie gab ihm die Tasche mit den Einkäufen und der Post. Sie sahen einander an, und sie lächelte. Er hatte das Gefühl, alles würde sich von selbst lösen, wenn sie nur lächelte.

»Danke, dass ich mich dir anschließen darf«, sagte sie. Sie sagte tatsächlich Du.

»Ich dachte, Sie wollten das vielleicht nicht. Nach dem, was Sigurd gesagt hat«, erwiderte er und artikulierte die Worte sorgfältig. Sie sprach gepflegtes Schwedisch.

»Ich habe nichts damit zu tun«, sagte sie und zuckte die Achseln. »Außer es macht dir etwas aus, meine ich.«

Er schüttelte entschieden den Kopf, traute sich aber den Mund nicht mehr aufzumachen. Er befürchtete, dass ihm die Stimme versagte. Diese hatte zwar schon ihre tiefe Lage gefunden, doch kam es immer noch vor, dass sie instabil und hell wurde. Wenn da etwas war, was er unbedingt haben wollte. Wie jetzt.

Assar spürte, wie ihre Körperwärme ihn durch den karierten Kleiderstoff hindurch betatschte. Hin und wieder stieß ihre Hüfte mit seiner zusammen, weich gegen seine kantige. Einmal streifte ihr bloßer Arm den seinen, sodass er, trotz der Hitze, eine Gänsehaut bekam. Mag sein, sie gingen etwas zu dicht nebeneinander, aber das sagte er nicht.

Acht Kilometer, so weit hatten sie zusammen zu gehen. Sie gingen langsam und still nebeneinander her, so nahe sie konnten, ohne dass es unanständig wurde. Die Luft flimmerte vor Hitze, und die Schotterstraße staubte. Die Kiefern wuchsen hoch, schienen sich über sie zu beugen, wie sie da so gingen. Kein Vogel zwitscherte, sie versteckten sich wohl in den Schatten im Wald, dafür zirpten die Grillen am Grabenrand.

Die Straße war verschlungen, führte rauf und runter, schlängelte sich in sanften Kurven dahin wie eine sich windende Kreuzotter, es war unmöglich vorherzusehen, was kommen würde.

So warm, obwohl es noch früh im Juni war. Und dieser Schotterstaub. Assar machte der Geruch durstig.

»Wie alt bist du?« Sie sah ihn nicht einmal an, stellte die Frage einfach so ins Blaue.

Assar räusperte sich.

»Ich bin gerade siebzehn geworden, bin seit ein paar Jahren mit der Schule fertig«, sagte er, stolz, vor allem um ihr zu zeigen, dass er, obwohl noch flaumig und mager, erwachsen war. Er hatte die Volksschule mit guten Zensuren durchlaufen, und die Lehrerin hatte ihn zum Lesen ermuntert, ihm hin und wieder Bücher zugesteckt, die er leihweise mit nach Hause nehmen durfte. »Aus dir kann etwas werden«, sagte sie immer. Er vermisste die Lehrerin. Er wünschte, er hätte weiterlernen können. Dafür gebe es weder Geld noch Raum, sagte Vater.

»Du bist nicht fort von hier?« Ihre Stimme weckte ihn aus seinen Überlegungen.

»Nein, es war wohl immer vorgesehen, dass ich hierbleibe«, sagte er.

Sein Vater war kränklich, aber das sagte er nicht. Vater fiel das Atmen von Tag zu Tag schwerer. Er schwand dahin, seine Arme und Beine waren zu schwach, als dass er noch hätte anpacken können. Assar wurde auf dem Hof gebraucht. Er musste Vater bei der schwereren Arbeit helfen, mit der Mutter nicht zurande kam. Sie hatten einige Kühe, ein Pferd und ein paar Schweine sowie einen guten Kartoffelacker. Aber sie hatten nicht viel Land, die Heuernte im Moor war mühsam, und wenn das Vieh im Sommer auf der Alm war, musste er sich auch darum kümmern.

Seine Familie war die einzige im Dorf, die ihre Kühe noch hinaustrieb. Er fand das altmodisch, aber auch das sagte er ihr nicht.

»Ich war jünger, als ich von zu Hause fort bin. Als ich mich mit Hebbe zusammengetan habe, war ich so alt wie du«, sagte sie und lächelte schief.

Assar sagte nichts. Es gab nicht viel zu sagen, auch wenn er unversehens ein Fünkchen Neid verspürte. Es war nicht ungewöhnlich, dass junge Mädchen sich mit älteren Männern zusammentaten, so wie etliche seiner Tanten auch. Nicht selten mit jenen Männern, bei denen sie untergekommen waren, dachte er gehässig. Sie schien seine Gedanken zu lesen und erklärte:

»Ich habe Hebbe getroffen, als er auf einer Tanztenne Ziehharmonika spielte. Ich war zum Tanzen dort. Ich habe nie jemanden so Ziehharmonika spielen hören wie ihn. Ich bin dorthin gefahren, um mit einem netten jungen Mann zu tanzen, und bin mit einem Musiker nach Hause gekommen!«, sagte sie und lachte aus dem Bauch heraus.

»Wie kommt es, dass du ihm so jung begegnet bist?«, fragte Assar. Es kam unvermittelt, brach aus ihm heraus, bevor er die Frage zurückhalten konnte, und nicht weniger mutig war es von ihm, sie einfach zu duzen. Aus den Augenwinkeln bemerkte er, wie sie ihn ansah. Die Luft zwischen ihnen verdichtete sich, und noch bevor sie antwortete, reute es ihn.

»Mein Vater ist gestorben. Er war Forstmeister, und wir wurden vor die Tür gesetzt, hatten nur einen Monat Zeit, um etwas anderes zu finden«, sagte sie. »Mutter schaffte sich uns vom Hals, dann war es wohl einfacher. Hebbe hat sich meiner angenommen«, sagte sie gedankenvoll. »Es hat seine Vorteile, und es hat seine Nachteile. Ich habe viel Musik im Leben. Aber vielleicht nicht viel anderes«, fuhr sie nach einigem Schweigen fort.

Ihre Offenherzigkeit erstaunte Assar. Er war es nicht gewohnt, mit Mädchen umzugehen, und schon gar nicht mit Frauen wie ihr. Die Mädchen, denen er begegnet war, kamen ihm schlicht vor. Sie waren so vorhersehbar wie die Hofarbeit. Frühjahrsbestellung, Sommerbestellung und Herbsternte, melken und lammen und mähen, zuerst die Wiese, dann die Moore. Und winters der Wald. Seine Mutter lag ihm in den Ohren, er solle ein nettes Mädchen kennenlernen. Eine, mit der er sich häuslich niederlassen und, irgendwann, den Hof ganz übernehmen könne.

»Habt ihr Musik zu Hause?«, fragte sie unvermittelt, so als hätte sie diese Frage eigentlich gar nicht stellen wollen, es aber trotzdem getan. Er schüttelte den Kopf. Sie hatten kein Radio, kein Grammofon, und niemand spielte ein Instrument. Sie reagierte mit einer Grimasse, die alles Mögliche bedeuten konnte. Missfallen. Bedauern, möglicherweise etwas Wütendes.

»Es ist elend, ohne Musik zu sein«, sagte sie schließlich. Assar fühlte sich nicht sonderlich elend, jedenfalls nicht aus diesem Grund. Er lief neben ihr her, ohne darauf einzugehen.

»Findest du mich seltsam?«, fragte sie, nachdem zwischen ihnen eine Weile Schweigen geherrscht hatte.

»Seltsam nicht, nein«, sagte er, »aber du bist nicht wie andere.«

»Ich mache gern Dinge, die andere nicht erwarten«, sagte sie und lachte auf. Das weckte in ihm den Wunsch, sie zum Lachen bringen zu können.

»Aber ich glaube, du bist genauso«, fuhr sie fort, ohne eine Antwort zu erwarten. »Auch wenn es immer vorgesehen war, dass du hierbleibst. Entschuldige –«, als er seinen Schritt verlangsamte, legte sie ihre Hand auf seinen Arm, » – jetzt erschrecke ich dich. Das wollte ich nicht.«

Mit einem Mal fühlte er sich wieder klein. Wo er doch eben noch erwachsen gewesen war.

Sie gingen weiter. Der Olselevägen bog vom Saxnäsvägen ab, sah aber nicht bemerkenswert aus, er war nicht so bucklig wie der von Saxnäsby her. Lediglich ein paar Reifenspuren und harte Grashuckel, die im Sommer hochwuchsen. Sie gingen jeweils in einer Spur und plauderten. Sie erzählte von ihrer Kindheit in Hoting, sparsam, aber eindeutig liebevoll, erzählte vom Vater und von den Schwestern. Ihre Mutter erwähnte sie kaum. Er erzählte von Fräulein Aslög, die wollte, dass er weiterlernte.

Als er sich umsah, merkte er, dass sie die Straße verlassen hatten und schon halbwegs in Annersudden waren, halbwegs bei ihr zu Hause. Na gut, dachte er, wenn sie es nicht merkt, dann will ich auch nichts sagen. Aber er hörte ihr nicht mehr zu und schaute stattdessen – wie sie mit den Händen zeigte, den Kopf neigte, ihr Haar, das allmählich ungebändigt war.

»Wie viele Kinder habt ihr?«, unterbrach er sie plötzlich. Wieder dieser Stich Eifersucht.

Ihre Lippen schlossen sich auf genau dieselbe Weise wie zuvor bei Sigurd. Sie runzelte die Stirn. Assar versuchte, den Straßenstaub hinunterzuschlucken, den er immer noch auf der Zunge hatte, obwohl sie jetzt in der Kühle des Waldes waren.

»Entschuldige. Ich habe damit nichts zu tun.«

»Nein, damit hast du nichts zu tun.« Es schimmerte etwas auf, etwas Verschlossenes, das in ihr vorüberzog.

Sein Herz klopfte heftig, sehr heftig. Sie glitt ihm aus den Händen, noch bevor sie überhaupt darin gewesen war.

Sie ging jetzt schnell, obwohl sie schon etliche Meter voraus war. Assar lief ein bisschen flotter, bis er wieder an ihrer Seite war. Er wollte diese wohlige Nähe zu ihr haben, Haut spüren, die seine Haut streifte. Zu spät. Er war siebzehn, gleichwohl brannten ihm Tränen in den Augen, während sich in seinem Mund ein Fluch wälzte. Assar sah, wie die zerbrechliche, ungewöhnliche Bekanntschaft zwischen ihnen sich aufzulösen und zu verschwinden drohte. Noch nicht, dachte er.

»Ich heiße übrigens Assar.«

»Ich heiße Margareta«, sagte sie nachdenklich, als ob er ihren Namen eigentlich nicht erfahren sollte. »Und ich bin fast so lange mit Hebbe zusammen, wie es dich gibt.«

Håkan 1956

Hebbe. Nicht Papa, nicht Vati, nicht einmal Vater. Bloß Hebbe, Hebbe, der warm nach Zigarillos, Old Spice und Harz roch und so knochig war, dass Håkan der Hintern wehtat, wenn er auf seinen Knien reiten durfte.

»Noch mal, Papa!«, rief Håkan, wenn Hebbe aufhörte.

»Nicht, solange du mich Papa nennst. Sag Hebbe«, sagte er ernst und fing erst wieder an, nachdem Håkan sich korrigiert hatte.

»Hebbe, noch mal, Hebbe!«

Dann schnalzte er mit Hebbes Hosenträgern mit den hellbraunen Lederschlaufen, bis Hebbe lachte und ihn wieder reiten ließ. Nein, er durfte es gar nicht erst lernen, Hebbe Papa zu nennen.

Manchmal dachte Håkan, dass es eigentlich nichts machte. Trotzdem schmerzte es ihn, wenn Mama Hebbe als dein Papa bezeichnete, wie da, als sie Håkan einige Zeit nach Hebbes Beerdigung das Sparbuch zeigte. Sie saßen nebeneinander auf der Küchenbank, das dünne Büchlein voller Marken und Stempel, die Håkan nicht begriff, vor sich auf dem Tisch.

»Guck«, sagte sie, »schau her, was dein Papa getan hat.« Sie zeigte auf die unbegreiflichen Schnörkel und geraden Kolumnen. »Wir haben so viel, dass wir fürderhin zurechtkommen, Håkan.«

Hebbe war meistens wählerisch, nicht geizig, aber beherrscht. Wohl deswegen war er wie eine Fjällbirke, gertenschlank und zäh. Er rauchte einen Zigarillo am Tag, rührte aber keinen Schnaps an. Einzig in der Musik, da war Hebbe ausschweifend, und darin, Håkan auf seinen Knien reiten zu lassen. Er spielte Ziehharmonika, Gitarre und Orgel, letztere aber nur, wenn sie in der Gebetsversammlung waren, obwohl in der Stube ein altes Harmonium stand und Staub fing.

Håkan hatte ein paarmal versucht, darauf zu spielen, obwohl er in den Beinen, selbst im Stehen, kaum Kraft genug hatte, dem Instrument einen Ton zu entlocken. Es war alt und mit Bierlasur gestrichen, und ein paar Registerzüge saßen locker: Cornett und Viola. Es pfiff und rauschte abwechselnd, wenn er ihm nach einigem Kämpfen doch Töne entlockte. Als Hebbe ihn erwischte, versetzte er Håkan mit der flachen Hand eins auf den Hintern, es tat nicht sehr weh, aber er hatte fest genug hingelangt, damit es brannte.

»Vom Harmonium hier lässt besser die Finger«, sagte er. Als er sah, wie Håkan sich mit der flachen Hand die linke Hinterbacke rieb, und hörte, wie er die Nase hochzog, wo ganz hinten die Tränen brannten, fügte er schleppend hinzu:

»Kömmts nochmals vor, brennts ärger.«

Orgel spielte Hebbe in den Gebetsversammlungen, die Ziehharmonika dagegen holte er nur hervor, wenn sie allein zu Hause waren. War er guter Laune, konnte er den Küchentisch beiseiteschieben, die Ziehharmonika aus ihrem Koffer nehmen und nur für sie drei fröhliche Melodien spielen. Dann hob Mama Håkan hoch, um mit ihm im Arm herumzutanzen. Er legte ihr seine Arme um den Hals und spürte ihren warmen, schnellen Atem im Ohr. Sie wirbelten durch die Küche, während Hebbe taktfest mit dem Fuß stampfte und spielte, und sie lachten einander an. Das waren die besten Momente, die Håkan kannte. Er glaubte, dass Hebbe und Mama das genauso empfanden, aber Hebbe sah traurig drein, wenn er die Ziehharmonika wieder in ihren Koffer packte.

Hebbe spielte für sie drei nur, wenn auch Mama guter Laune war, wenn sie sich an einer schmalzigen Mahlzeit so richtig hatten satt essen können und ein paar Extrascheite im Herd lagen. Bei solchen Gelegenheiten konnte Hebbe ihr sogar einen Kuss auf die Wange geben. Ansonsten berührten sie einander kaum.

Das einzige Mal, dass Håkan das Harmonium ordentlich spielen hörte, war in Hebbes letztem Winter, vor Håkans sechstem Geburtstag und lange nachdem Hebbe aufgehört hatte, ihn auf seinen Knien reiten zu lassen. Es war im Spätwinter, als die Rentiere auf ihrer Wanderung in die Fjälls durchs Dorf kamen und etliche Rentierhirtenfamilien sich ringsum im Dorf auf Backhäuser und andere Räumlichkeiten verteilten. Für Håkan war das jedes Mal ein Fest, das warme Backhaus mit den ausgebreiteten Rentierfellen auf dem Fußboden und dem knackenden Feuer im Herd. Mit den anderen Kindern aß er dann immer Blutpfannkuchen, so richtig knusprige, und auf seinen Backen verbreitete sich das Schmalz aus dem Rentierfett. Diesmal war es eine andere Familie als sonst, die bei ihnen nächtigte, und sie klopften an, kurz bevor Håkan ins Bett musste.

»Das ist jetzt der Jonsson«, sagte Hebbe. Mama trocknete ihre vom Spülwasser nassen Hände an der Schürze ab und zog sie aus, bevor sie die Tür öffnen ging. Draußen warteten zwei Männer, Brüder, wie es schien, beide mit Haaren wie getrocknetes Schuhheu.

»Ah ja, seid alle zwei kömmen«, sagte Hebbe. »Das geht an«, sagte er und gab ihnen die Hand. »Ist zeitig worden.«

Sie waren gekommen, um zu spielen. Der Jonsson – Ante – war der Orgelspieler, sein Bruder Lars sah zu. Er spielte eine fromme Musik, der Jonsson, so viel verstand Håkan, auch wenn es keins der Gemeindelieder war, die er konnte, wie Bereit’ dem Herrn die Wege oder Die klare Sonn’ geht wieder auf. Dies waren vibrierende, sonderbare Töne, ungeheuer in die Länge gezogen, man hörte kaum, dass die Orgel knackte und rauschte. Der Jonsson spielte mit mehr Gefühl, als er Hebbe in der Missionskapelle je hatte spielen hören.

Håkan saß neben seiner Mama, die Hand in der ihren. Je länger Ante spielte, umso fester wurde ihr Griff. Ihre Lippe zitterte. Håkan zerrte schließlich an seiner Hand, um Mamas Griff zu lockern, da sah er, wie der Bruder vom Jonsson an die Wand gelehnt stand und unverwandt zu ihnen herschaute. Håkan erstarrte. Er gab sich Mühe, sich nicht mehr im Geringsten zu bewegen, und richtete seine ganze Aufmerksamkeit auf den Orgelspieler. Er dachte, er verärgere Lars bestimmt, weil er nicht aufmerksam genug war. Hebbe schlug sich im Takt der Musik aufs Bein. Er war so dünn und alt, verglichen mit den beiden.

Als er wieder zu Lars hinschielte, stierte der her, obwohl Håkan nicht einmal den kleinen Finger gerührt hatte. Da ging es völlig mit ihm durch. Er riss den Mund auf und weinte so klagend und laut, wie er nur konnte, heulte Rotz und Wasser. Ante hörte auf, mit den Pedalen zu pumpen, und die Orgeltöne erstarben.

Mama wurde zunächst verlegen.

»Aber Håkan, was machst du denn?«, schimpfte sie. »Spiel bitte weiter«, sagte sie zum Jonsson und nickte zur Orgel hin, »es war sehr schön. Du hast was drauf.«

»Ist bessers wohl, wir machen uns aufn Weg«, sagte der Jonsson und stand auf. »Weißt doch, ist ein langer Tag auch morgen.«

»Ja, es ist bedauerlich, dass es so endet«, sagte Mama, während sie Håkan an den Schultern hielt. »Es war wirklich schön«, fuhr sie an Ante gewandt fort.

»Könnten morgen vielleicht reinschaun«, schlug Lars vor. Mama ging zunächst nicht darauf ein. Håkan schluchzte noch immer, und zwischen Hebbes Augenbrauen bildete sich eine tiefe Falte, die wahrscheinlich niemand außer Håkan sah.

»Das wäre nett«, sagte sie dann und strahlte ihn an, wie Håkan sie sonst nur strahlen sah, wenn Hebbe für sie spielte und sie in der Küche zusammen tanzten.

Hebbe schloss sorgfältig den Deckel der Orgel. Mama entschuldigte sich ängstlich, während Ante und Lars Jonsson sich anzogen und gingen. Und dann legte sich Hebbes Schweigen über das Haus.

An diesem Abend gab es von Mama Haue.

Es war das erste und einzige Mal, dass dies vorkam. Von ihr, die sonst nie Hand an ihn legte.

Und die Orgel, die ließ Hebbe in den Schuppen bringen.

Hebbe zeigte Håkan in diesem letzten Sommer seine Welt, nachdem er sich ein Lastenmoped von Norsjö Mekaniska gekauft hatte. Es war fast so, wie auf Hebbes Knien zu reiten, wenn er auch jetzt auf der Ladefläche des Lastenmopeds saß, die härter und glatter war und nicht so warm wie Hebbe. Sie fuhren zusammen mal hierhin und mal dorthin, während Håkans Haare im Fahrtwind flatterten und er so viel lächelte, dass er unwillkürlich Mücken und kleine Fliegen verschluckte, die ihm in den Mund stoben.

Immer wenn Håkan zu krächzen und husten anfing, lachte Hebbe und ermahnte ihn, den Mund zu schließen. Aber er, Hebbe, lächelte doch selber viel.

Hebbe hatte aus seiner Bereitschaftszeit noch einen großen Rucksack mit Lederriemen, und den packten sie mit belegten Broten und Thermoskaffee voll. Er gab Håkan ein kleines Messer, das dieser, so wie er selbst, am Gürtel tragen konnte. Wenn Håkan sich bewegte, schwang es und knuffte ihn leicht an der Hüfte. Er stolperte, weil er mehr auf das Messer sah als auf den Boden vor sich. Dann lachte Hebbe. Meistens lachte er freundlich, aber manchmal war es ein Lachen, das bei Håkan ganz hinten in der Nase ein Brennen auslöste.

Sie konnten einige neu angelegte Straßen befahren, ansonsten mussten sie sich an alte Wagenspuren und Trampelpfade im Wald halten. Sie fuhren mit dem Moped so weit, wie es möglich war, und dann gingen sie zu Fuß, Hand in Hand miteinander. Als sie einmal zusammen am Feuer saßen, wurde Hebbe traurig. Nicht, dass er weinte. Er wurde nur ganz ruhig und still.

»Mein Vater hat mir nie was beigebracht«, sagte er. »Mein Bruder durfte viel lernen. Alles, was ich weiß, habe ich mir selber beibringen müssen«, sagte er und legte Håkan den Arm um die schmächtige Schulter. »Ich will dir was beibringen, verstehst du?«, fuhr er fort. Håkan nickte.

»Bist du sicher? Dass dus verstehst?«

»Mhm, ich versteh schon.« Håkans Stimme war dünn. Es widerstrebte ihm, nein zu sagen, wenn Hebbe feierlich war.

Hebbe hatte viel Ahnung vom Wald und allem, was darin lebte. Er wies auf die Stellen hin, wo es für die kommenden Winter gutes Holz zum Feuermachen gab. Er zeigte auf Ameisenhaufen, und wies auf die Teermeiler und Gräben hin, die er ausgehoben hatte. In einer trockenen Lichtung mitten im Wald kratzte er ein paar Kohlebrocken aus der Erde. Er erzählte, dass auf der Kohle die zwei schönsten Häuser des Dorfes gestanden hätten. Sein Vater habe sie abtragen lassen, nur um sie im Zweiten Weltkrieg zu verkohlen. Er habe Geld machen wollen, sagte Hebbe, habe aber nichts davon gehabt. Mit einem derartigen Geiz habe er sich nur unbeliebt gemacht.

Einmal stießen sie tief im Wald auf eine Scheune, von der Hebbe behauptete, sie gehöre ihnen. Er wies auf eine Birke hin, die der Blitz gespalten hatte, ein großer Ast war auf das Dach der Scheune gestürzt.

Das Dach sah eingedrückt aus und hatte ein Loch, in das die Schindel gefallen war. Als sie in die Scheune traten, weil Hebbe sehen wollte, wie schlimm es war, überwältigte sie beißender Teergeruch. Håkan mochte den Geruch, obwohl er ihm in der Nase juckte. Drinnen war es schummrig. Licht drang einzig durch die Ritzen zwischen den dünnen Stämmen herein und machte sichtbar, dass die Luft voller Staub war, der aufwirbelte, sowie sie sich bewegten. Zuerst sah Håkan nichts, dann sah er die Konturen einiger Tonnen, die in einer Ecke der Scheune standen. Hebbe klopfte an einer. Sie gab einen dichten Ton von sich, als wäre sie voll. Mit dem Messer untersuchte Hebbe das Holz unter dem Loch im Dach, indem er mit der Klinge hineinstach. Zufrieden stellte er fest, dass es nicht so schlimm war, wie er befürchtet hatte, es würde reichen, ein neues Stück Holz einzusetzen.

»Das müssen wir uns vornehmen. Aber nicht heute«, sagte Hebbe und nahm Håkan am Hemdärmel, um ihn mit hinauszuziehen.

In diesem Sommer lernte Håkan das Fischen. Hebbe hatte oft die kleinere Rute und die Fliegen dabei, die Håkan benutzen sollte. Hebbes eigene Fliegenrute war lang und imposant. »Das ist nicht irgendeine lumpige Rute«, sagte Hebbe, »die habe ich bei Leidesdorff bestellt.« Håkan wurde damit betraut, dafür zu sorgen, dass die Ruten auf ihren Fahrten nicht zu Schaden kamen. Hebbe schien es zwar Vergnügen zu machen, Håkan den Wald zu zeigen, noch mehr Vergnügen aber schien es ihm zu machen, Håkan zu zeigen, wie man auswarf, wo die besten Wasserläufe waren, wie man eine Fliege band und wie man die Stellen wiedererkannte, an denen es Hechte, Äschen und die schön gefleckten Seeforellen, Hebbes Lieblingsfisch, zu fangen gab. Erst sehr viel später sollte Håkan verstehen, dass es eigentlich nicht das Fischen war, was er lernte, sondern wie es war, etwas gemeinsam zu haben.

Im Unterschied zu Hebbe war Mama nicht musikalisch, aber sie hatte eine eigene Art zu spielen, die erzählte, wie es ihr ging. War draußen schönes Wetter und ging es den Kühen gut, dann sang sie leise vor sich hin und spielte mit den Instrumenten, die ihr zur Verfügung standen. In Kaffeetassen und Untertassen klirrte es heimelig, in der Milchzentrifuge sang und surrte es und in der Spülschüssel summte es. War sie fröhlich, hallte gleichsam das ganze Haus von munteren Klängen wider. War Hebbe verärgert, dann fluchte er weder noch drohte er noch schlug er zu, vielmehr verfiel er in Schweigen, in ein Schweigen, das sich über das ganze Haus legte und Håkan dazu brachte, sich in der Küche im dunklen, warmen Bereich neben der Brennholzkiste zu verkriechen. Waren beide ärgerlich, dann verfiel Hebbe in Schweigen, während Mama achtlos mit Geschirr und Herdringen schepperte.

Sie stritten fast nie.

Sie taten es jedoch an dem Abend, als Håkan seine erste Forelle gefangen hatte, eine Bachforelle, die aufschimmerte und mit der Fliege im klaren Bachwasser dahinsauste, bevor Håkan sie herauszog. Obwohl Håkan die Brust schon genug schwoll, war Hebbe noch stolzer, er nahm die Mütze ab, warf sie in die Luft und sang dazu, dass es ringsherum hallte. Es hörte sich an wie im Radio, und Håkan war glücklich und erstaunt darüber. Wenn er das nachher Mama erzählte! Aber daraus wurde nichts. Mama schickte ihn hinaus, als sie nach Hause kamen, und er strolchte eine Weile mit einem Stock, den er beim Brennholzschuppen gefunden hatte, auf dem Hof umher. Er stocherte in den Beeten und zwischen frischen Hühnerköteln und hörte bis nach draußen, wie Mama auf Hebbe einschrie. Er ließ den Stock fallen und ging zum Haus, Schritt für Schritt. Das Geschrei hörte nicht auf. Er wollte Hebbe helfen, wollte Mama dazu bringen, nicht weiter auf ihn einzuschreien, und ging immer schneller. Er schlich sich ins Haus. Leise, damit sie ihn nicht hörten und stattdessen auf ihn böse würden.

Als Håkan ins Haus trat, standen sie in der Küche und waren wieder ruhiger. Sie sahen ihn nicht.

»Ich mag es nicht, wenn du so viel Zeit mit ihm allein verbringst«, sagte Mama. Sie hatte sich beruhigt, aber ihre Stimme klang wie ein rostiger Nagel, kaputt und trocken. Håkan konnte nicht verstehen, warum sie das nicht mochte.

Es roch nach der gekochten Bachforelle, die es zum Essen geben würde. Hebbe murmelte irgendeine Erwiderung. Håkan schlich näher an die halb offene Tür und spähte hinein. Hebbe stand mit dem Rücken zu ihm, es war ein abwehrender Rücken. Ein Rücken, der wie ihre Katze das Fell gesträubt hätte, wenn er denn ein Fell gehabt hätte. Stattdessen war da Hebbes blau kariertes Baumwollhemd. Die Manschetten waren vorn am Rand blutig, nachdem er den Fisch ausgenommen hatte.

»Ich war immer für dich da, Margareta, all die Jahre. Glaubst du, ich lasse ihn verkommen?«

»Nein, nein, natürlich nicht. Es ist nur, weil – er ist ja nicht deiner«, antwortete Mama, und Håkan konnte nicht verstehen, was sie meinte. Er gehörte doch Hebbe, ganz und gar Hebbe und sonst keinem.

Da nahm Hebbe ihr Kinn in die Klemme, mit dem Daumen auf der einen Seite und den übrigen Fingern auf der anderen, ganz so, als wollte er ihr den Mund zusammendrücken, bis sie eine Schnute hatte wie ein Fisch.

Håkan hörte ihn klar und deutlich.

»Das sage ich dir, dass dieser Junge… der wird so sehr der Meinige sein, wie er bloß kann.«

Mama sagte nichts. Sie stand nur da und ärgerte sich schwarz. Hebbe ließ sie los und ging hinaus, und in seiner Aufregung übersah er Håkan, der einfach dasaß. Håkan lief ihm nach und rief hinter ihm her. Doch Hebbe hatte das Lastenmoped angelassen und war mit einer derartigen Geschwindigkeit davongeknattert, dass er im Kies Reifenspuren hinterlassen hatte. Håkan wünschte sich sehnlichst, er hätte mitkommen dürfen.

Sie hielten sich oft am Måckavan auf, diesem seichten Flussbett mit Gegenströmung, einem Seitenarm des Vindelälven, der sich weit in den Wald schob und in die entgegengesetzte Richtung des Flusses strebte. Das ganz Besondere am Måckavan waren seine Steine, die aussahen, als hätten ein paar Riesen mit gerundeten Granitbrocken, groß wie kleinere Felsblöcke, im Kugelstoßen gewetteifert. Stein um Stein standen sie in gleichmäßigem Abstand voneinander über dem Wasser und in den Måckavan hinein aufgereiht. Ihn mit dem Boot zu befahren, war unmöglich.

Hebbe sagte hin und wieder, dass sich dort niemand so gut auskennen werde wie Håkan, wenn er mit ihm fertig wäre. Für Håkan war es ein Abenteuer, tief im Wald, wohin kaum Sonnenstrahlen reichten, zwischen Moos und Farnen herumzurennen, das Gepäck auf dem Rücken und in den Händen Birkenzweige, um die Mücken zu verscheuchen. Die Bäume, an denen sie vorbeikamen, waren groß und schwer und wischten ihnen mit dunklen Bartflechtensträngen übers Gesicht.

Hebbe zeigte ihm alle Stellen, an denen er als Kind oft gewesen war. Er wies ihn darauf hin, wo der Biber sich aufhielt, der die kleinen Bäume durchnagte und die Bäche dämmte. Er zeigte ihm Baue und Höhlen. Manche waren alt und verlassen, andere boten ihnen die Möglichkeit, sich hinzusetzen und nach Jungtieren Ausschau zu halten, die sich in die Sommerhitze herausgetraut hatten.

Diese Tage. Sie prägten Håkan eine Karte ein samt aller Bäume und Höhlen, von denen Hebbe erzählte, samt der Bulten und Steine, auf die er sprang.

Dieses Springen machte Hebbe nervös. Håkan hüpfte von einem großen Stein zum nächsten, hopste wie ein Zicklein immer weiter in den Måckavan hinein.

»Du hast wirklich Talent zum Springen«, sagte Hebbe einmal, als Håkan zu ihm zurückgekehrt war. »So habe ich nie springen können, nicht mal in deinem Alter. Aber das ist unser Geheimnis«, sagte er und stieß Håkan vertraulich mit dem Ellbogen. »Sag Mama nichts davon, dass ich dich so springen lasse.«

Håkan schüttelte den Kopf. Er werde es nie sagen.

Wenn Håkan als Erwachsener auf diese Tage zurückblickte, aus denen Wochen und Monate wurden, dachte er, dass es darum gegangen war, Kenntnisse zu vermitteln. Dass Hebbe ihm die Welt zeigen wollte, wie er sie sah.

Es war nicht so, dass Hebbe alt war. Eigentlich nicht. Wohl war er tatsächlich schon in die Jahre gekommen, denn die Familie war erst spät in sein Leben getreten, besonders Håkan. Aber so mager er war, so sehnig war er auch. Unvermutet stark. Er hatte einen federnden Schritt, der jüngeren wie auch gewichtigeren Männern als ihm abging, und was er nicht an Körperkraft besaß, glich er mit Geistesstärke aus.

Nein, Hebbe war eigentlich nicht alt. Und trotzdem war es, als beeilte er sich in diesem Sommer, er arbeitete mit nie versiegender Energie. Er legte beiseite. Schaffte und werkelte zu Hause. Er reparierte den Weidezaun und sorgte dafür, dass der Brennholzvorrat und der Torfraum gut gefüllt waren. Hebbe war wie ein frenetisch arbeitendes Eichhörnchen, das merkt, wenn Schnee in der Luft liegt. Und er war mit Håkan unterwegs, einem kleinen Jungen, der seine Lektionen erhielt. In nur wenigen Monaten eine ganze Lebenszeit davon. Wie man am besten einen Fällschnitt setzt, und wie man an Baumstämmen erkennt, in welche Richtung man gehen muss. Wo er Federwild finden würde und wie er Elche aufspürte.

Hebbe sprach mit ihm in einem nie versiegenden Redefluss über früher und heute und die Zukunft.

An einem Spätsommermorgen nahm Hebbe Håkan mit zum Holzlager am Gidnicken, um die Männer zu besuchen und ihm zu zeigen, wie alles vor sich ging. Hebbe konnte sich nichts anderes vorstellen, als dass Håkan, so wie er auch, im Wald arbeiten würde, Erwartungen, die er deutlich zeigte. In der Landwirtschaft sah er keine Zukunft. Sie koste mehr, als sie schmecke, sagte er, auch wenn Margareta ihre Kühe noch so liebe.

Von seinem Zuschauerplatz aus konnte Håkan die großen Steinkästen wie viereckige Inseln aus dem Wasser ragen sehen und dazwischen Scherbäume, aneinandergekettete Stämme, die einen Kanal für das Holz bildeten. Die Sonne brannte Håkan auf den Scheitel, und in der Wärme klebte ihm das Hemd unangenehm am Leib. Einige der Flößer hatten ihr Hemd ausgezogen, ihre Körper glänzten. Während Hebbe mit seinen Freunden lachte und schwatzte, richtete Håkan seine Aufmerksamkeit auf ein Platschen und Lachen, das er in einiger Entfernung hörte. Es kam von ein paar Jungen, nicht viel älter als er, die in den offenen Stellen zwischen dem Holz spielten und tauchten. Manchmal balancierten sie auf den Stämmen. Das Wasser sah kalt aus. Obwohl er ein Stück von ihnen entfernt stand, konnte Håkan sehen, dass die Kinder blaue Lippen hatten.

»Das ist strengstens verboten, weißt du«, hörte er Hebbe hinter sich sagen, und er fühlte sich ertappt.

»Mhm.«

»Wenn sie unter das Holz geraten, können sie ertrinken. Das Holz kann über ihren Köpfen zusammenschlagen.« Håkan schielte zu Hebbe hoch und nickte.

»Ich kann dich springen lassen. Das schon. Aber ich kann dich nicht hier baden lassen«, sagte Hebbe. Er sah ernst drein, und Håkan wusste nicht, was er sagen sollte. Er wollte doch. Unter der Mütze klebten ihm die Haare an der Stirn, und das Wasser glitzerte. Es wäre angenehm, mal einzutauchen.

»Ich weiß, wo wir stattdessen baden können«, sagte Hebbe. Håkan lächelte, dass ihm die Backen schmerzten.

Hebbe fuhr mit ihm ein Stück zu einem Waldsee, und sie zogen sich beide fröhlich aus.

Håkan konnte schon Schwimmzüge machen – er demonstrierte es eifrig –, doch Hebbe schüttelte nur den Kopf. Er konnte nicht schwimmen. Das war seltsam, hatte er doch lange in der Flößerei gearbeitet, sogar vom Fluss gelebt.

Das Bad war das erste und letzte Mal, dass Håkan Hebbe völlig nackt sah. Seine Unterarme waren sonnengebräunt, ansonsten aber war sein Körper ganz blass, er schien niemals der Sonne ausgesetzt gewesen zu sein. Über den Rücken zog sich ein Netz feiner, silbriger Linien. Håkan fand es schön, aber der Anblick erschreckte ihn auch, und er fragte nicht danach. Über dem spitzen Brustbein saß ein grau und braun schillerndes Haarbüschelchen.

Dieses Büschel hatte Håkan vor Augen, als Hebbe dann im Sarg lag, obwohl er ein weißes Hemd trug, das bis oben zugeknöpft war, und seinen guten Anzug. Seine Hände ruhten würdevoll auf der Decke. Nach dem Bad hatte Hebbe sie gerieben, damit sie wieder warm wurden, und dabei übers ganze Gesicht gelacht und gesagt, dass er so was mindestens fünfzig Jahre lang nicht gemacht habe. Die Nägel so blau wie an dem Waldsee, auf der Unterseite nur schwärzer.

Als sie badeten, war Hebbes Haar nass und vom Wind zerzaust. Im Sarg war es ordentlich gekämmt, und sein Mund stand offen. Håkan weinte. Er trat zu Hebbe und umarmte ihn, so gut es ging. Hebbe roch nicht mehr nach Old Spice und Harz. Håkan hatte geglaubt, er würde sich zerbrechlich anfühlen, noch zerbrechlicher, als er aussah, aber er fühlte sich fest an. Schwer und ruhend in seinen Händen. Es war ungewohnt, ihn zu umarmen. Håkan hätte ihm noch so gern das Schwimmen beigebracht.

Mama hatte es nie gern gesehen, wenn Hebbe allein unterwegs war, sei es, weil er in der Stromschnelle fischen wollte, sei es, dass er sich die Skier anschnallte, um im Wald zu arbeiten.

»Aber falls, Hebbe. Denk daran.« Dieses falls.

Hebbe blaffte meistens zurück.

»Als wäre es nötig, ständig an falls zu denken!«, sagte er, und der Spott sprühte. Aber letztlich kam falls doch. Als Håkan von Stein zu Stein gesprungen war, während Hebbe geduldig seine Angelrute umhergetragen hatte, damit sie nicht ruiniert würde. Als sie mal hierhin, mal dorthin getrottet waren, Beeren von Blaubeersträuchern gegessen hatten, bis Håkans Finger und Hosen ganz fleckig waren. Als Håkan in einer Wolke des Schweigens und Verdrusses umherlief, weil bei ihm nichts, aber auch gar nichts angebissen hatte, während Hebbe eine Äsche hatte herausziehen können. Als Hebbe mit Håkan zu einem nahen Fuchsbau gezogen war, um sich junge Füchse anzugucken. Genau da schlug falls zu.

»Müssen nach Haus«, sagte Hebbe nur. Er hatte Schatten unter den Augen und griff sich an die Schulter.

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