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Und wenn es nicht gut ist, ist es nicht das Ende

Als Buch hier erhältlich:

Eigentlich wollte Julia nach der Trennung von ihrem untreuen Mann nur eine neue Wohnung - stattdessen bekommt sie ein Traumhaus. Gratis. Der Haken: Sie muss nicht nur die Pflege der im Koma liegenden Besitzerin Frau Smit übernehmen, sondern auch die Verantwortung für eine Gruppe skurriler Außenseiter, die dort ein und aus gehen: ein misshandeltes Mädchen aus der Nachbarschaft, ein depressiver Gärtner, eine Friseurin, die einen illegalen Frisiersalon im Haus betreibt, der Dealer, der Frau Smit immer die besondere Zutat für ihren »Beruhigungstee« vor dem Schlafengehen besorgt hat. Das führt natürlich zu einigen Turbulenzen. Doch als die alte Dame in Schwierigkeiten gerät, müssen Julia und ihre bunte neue Familie plötzlich zusammenhalten.

»Der Leser klebt dank Oldenhaves unvorhersehbaren Wendungen und dem großartigen Humor förmlich an den Seiten.« Hebban


  • Erscheinungstag: 04.01.2019
  • Seitenanzahl: 304
  • ISBN/Artikelnummer: 9783959677998
  • E-Book Format: ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Mit Dank an Monique

1

Im Wohnzimmer sitzt ein Mädchen auf dem Sofa, kerzengerade im Schneidersitz auf einem runden Kissen, wie ein Vogel in seinem Nest. Reflexartig mache ich die Tür wieder zu und öffne sie danach langsam erneut.

»Hallo«, sage ich.

Ganz kurz schaut sie mich an, danach starrt sie wieder auf den schwarzen Fernsehschirm. Ich zögere, ist es vielleicht doch ein Junge? Nein, sie hat bloß eine kurze Stoppelfrisur.

Gerade saß an genau derselben Stelle eine dicke, schwarze Katze, die hatte mir auch schon so einen Schrecken eingejagt. Wahrscheinlich war sie reingehuscht, als ich mir den Garten ansah. Sie tat noch eine Weile, als würde sie mich nicht bemerken, aber als ich sie streicheln wollte, lief sie an mir vorbei zur Hintertür.

»Wartest du auf jemanden?«, frage ich das Mädchen.

Fast unmerklich wiegt sie sich vor und zurück. Etwas stimmt mit ihr nicht, vielleicht ist sie schwach begabt. »Ein unglückliches Kind« würde meine Mutter sagen.

Ich setze mich neben sie. »Wie heißt du?«

Sie starrt weiterhin unverwandt auf den Fernseher. Auf ihrem rosa T-Shirt steht in abgeblätterten Silberbuchstaben FREEDOM.

»Ich heiße Julia.«

Keine Reaktion.

»Wie alt bist du?«

In beiden Händen hält sie ein paar Schlümpfe, die sie sorgfältig neben sich auf die Couch legt, bevor sie dann sieben Finger in die Luft streckt, vier rechts und drei links. Zeigen nicht eher Kindergartenkinder ihr Alter mit den Fingern an? Sie wartet einen Moment, als bräuchte ich Zeit zum Zählen.

»Ich bin dreiundvierzig.« Ich mache dasselbe – vier rechts und drei links. Witzig, finde ich, aber sie lässt es kalt. Ich kann nicht so gut mit Kindern umgehen – eigentlich konnte ich als Kind schon nicht so gut mit Kindern umgehen.

»Wie bist du hier reingekommen?«

Sie schnaubt, wie man es sonst bei unglaublich dummen Fragen macht, und deutet mit dem Kopf Richtung Tür.

Ich muss lachen. »Oh ja, wie sonst.«

Was soll ich tun? Einfach einen Moment nichts, denke ich.

»Wissen deine Eltern, dass du hier bist?«

Sofort fährt sie ihre langen, dünnen Beine unter sich aus, steht auf und geht aus dem Zimmer. Ihre enge Jeans ist ein wenig zu kurz. Ich folge ihr, aber sie ist schon weg, als ich in die Küche komme. Die Tür nach draußen steht noch offen, also kann die dicke Katze wieder reinhuschen. Schnell legt sie sich auf dasselbe Kissen wie zuvor und starrt griesgrämig vor sich hin.

Draußen wird gerufen: »John, Johnnie, wo bist du denn!«

Einen Moment lang denke ich, es war vielleicht doch ein Junge, aber als die Frau noch mal ruft, weiß ich sicher, dass sie die Katze meint: »John, nun komm schon, muschmuschmuschmusch!«

»Hörst du, John? Dein Frauchen ruft, los, ab mit dir nach draußen!«

Der Kater starrt grimmig weiter vor sich hin, mit seinem hervorstehenden Kinn erinnert er ein bisschen an E.T. Ich drehe das Kissen langsam um, er bleibt liegen, solange es nur irgendwie möglich ist, und lässt sich dann unwillig auf den Boden fallen.

Ich folge ihm bis in die Küche, aber als ich dort ankomme, ist er schon weg, also schließe ich die Tür ab und koche Tee. An allen auch nur entfernt logischen Stellen schaue ich nach, aber es gibt hier nur Earl-Grey-Tee, und die Geschäfte sind schon geschlossen. Pech gehabt, dann eben Earl Grey.

»Julia, ich muss dir was sagen.«

Mit diesem Satz endete heute Morgen mein bisheriges Leben. Ich stand auf der Türschwelle zum Wohnzimmer, Stan saß am Tisch. Ohne Handy, Tablet oder Zeitung, und ich wusste sofort, dass etwas nicht stimmte. »Ich habe mit einer Frau geschlafen.«

Das klingt komisch, hatte ich gedacht. Er hätte sagen sollen: »Mit einer anderen Frau.« Ich setzte mich auf die Lehne unseres funkelnagelneuen orangefarbenen Sofas. Sein Mund bewegte sich, offensichtlich sagte er noch etwas, wahrscheinlich, dass es ihm leidtat oder so, aber ich verstand ihn nicht, es war, als wäre ich unter Wasser.

»Mit wem?«, fragte ich zu laut.

»Du kennst sie nicht, Anouk heißt sie.« Er klang besorgt.

Ich wartete, aber es wollte nicht wirklich zu mir durchdringen. Vielleicht begriff ich da schon, dass ich keinen Streit mehr wollte, keine Vorwürfe, Schimpfkanonaden, Drohungen … Es war aus.

»Liebling, es tut mir so leid, aber davon hast du natürlich auch nichts«, sagte er mit einem schuldbewussten Lachen.

»Moment mal«, sagte ich. »Doch keine Patientin, oder?«

Sag Nein, sag Nein, sag Nein …

»Ehemalige.« Er sprach klar und deutlich und schaute mir in die Augen, um zu beweisen, dass er jetzt aufrichtig war.

»Himmel, Stan!«

Er nickte. Mir fiel ein, dass er eigentlich hätte sagen müssen: Ich habe schon wieder mit einer anderen Frau geschlafen, es war nämlich schon öfter passiert, bloß noch nie mit einer früheren Patientin. Ja, gut, ein einziges Mal, aber das war ich selbst gewesen, vor sechs Jahren.

»Mir ist wichtig, dass du weißt, wie schlimm auch ich …«

»Bist du verliebt?« Ich stand auf und setzte mich ihm gegenüber an den Tisch.

»Nein, nein!« Es klang fast wie ein Vorwurf, wie ich denn bloß auf diese Idee kommen konnte.

»Warum war sie bei dir in Behandlung?« Meine eiskalte Stimme klang wie die einer betrogenen Frau in einer Seifenoper.

Er schüttelte kurz den Kopf. Berufsgeheimnis. Unter gar keinen Umständen würde er das preisgeben, da hatte er seine Prinzipien.

Eine Weile schwiegen wir, wie zwei Fremde in einem Wartezimmer. Es gibt da eine Folge der belgischen Comicserie Suske und Wiske, in welcher der Muskelmann Jerom so fest er kann auf einen Felsen schlägt, ohne dass etwas passiert. »Stein weiß es noch nicht«, erklärt er. Einen Moment später explodiert der Felsen in tausend Stücke.

Stan legte die Hände vor sich auf die Tischplatte und schaute darauf. Wäre ich Gerichtszeichner, würde ich diese Pose festhalten: schuldbewusst und gewillt, alles wiedergutzumachen. Ich schaute auf seine Armbanduhr, ein Geburtstagsgeschenk von mir. Ganz kurz dachte ich, der kleine Zeiger würde fehlen, weil es fünf vor elf war. Vollkommen unwichtig eigentlich, aber normalerweise erzählten wir uns solche Dinge: »Weißt du, was ich gerade gedacht habe?«

Jetzt schwiegen wir. Hatte ich meinen letzten Morgen genossen? Ja, ich hatte in meinem Atelier gut gearbeitet.

»Tja, das war’s dann«, sagte ich.

»Julia, bitte, ich will reden.«

»Nein, Stan, du willst vögeln.«

Mein Herz hämmerte in meinen Ohren.

»Es tut mir wirklich furchtbar leid«, sagte er auch noch.

»Da schau mal einer an, das ändert natürlich alles!«

Gift, Gift, Gift. Ich wollte ihn vollspritzen, er sollte sich winden und dann verschrumpeln …

Er räusperte sich. »Ich habe jetzt erst einen Patienten.«

»Das nenne ich mal gutes Timing!«

»In einer Stunde bin ich wieder da.« Er stand auf.

»Aber dann bin ich weg, und das solltest du eigentlich wissen, weil ich es dir nämlich gesagt habe, unmissverständlich und immer wieder.«

»Ja, das stimmt.« Er nickte, lange und ernsthaft. Ich wusste, was er dachte: Ich muss tun, als würde ich ihr das glauben, sonst fühlt sie sich nicht ernst genommen. Und allein schon deshalb dachte ich: Ich gehe wirklich, und danach sehe ich weiter.

Ich wartete, bis er aus dem Zimmer war, dann ging ich nach oben. Verstand auf null, Gefühl auf null und einpacken. Hose, Kleid, Unterwäsche, T-Shirt, Hemd … alles in einen Koffer. Der Sommer war warm, also würde eine Jacke schon reichen. Ich kippte den Inhalt meiner Nachttischschublade in eine Mülltüte und stopfte mein Kissen und meine leichteste Bettdecke dazu. Es ging gut, ich tat einfach, als würde ich jemand anderem helfen, aber als ich Stans Anti-Schnarchschiene auf seinem Nachtschränkchen liegen sah, musste ich weinen, nur ganz kurz, als würde ich niesen. Danach nahm ich die Schiene und brach sie entzwei. Erledigt, schnell weitermachen, in einer knappen halben Stunde musste ich weg sein. Ich ging zu meinem Atelier und stopfte möglichst viele Sachen in meine Malkiste, und schließlich nahm ich meine Tischstaffelei auch mit.

Als ich alles zum Auto brachte, sah mich die Nachbarin von gegenüber vom Fenster aus. Sie lachte und hob den Daumen. Ich winkte mit der Mülltüte, es war Urlaubszeit, und es konnte daher gut sein, dass ich ein paar Tage mit einer Freundin verreiste.

Ich packte alles auf die Rückbank, ging zum letzten Mal ins Haus, legte meine Schlüssel auf den Tisch und fuhr ab. Als ich wegfuhr, fiel mir ein, dass ich meine Lesebrille und meinen Laptop vergessen hatte.

Bei der Wohnungsbauvereinigung Wohnen Zentral war jede Menge los. Suchten so viele Leute eine Wohnung, oder waren auch welche dabei, die gerade ihre Wohnung kündigten?

»Ihre Situation ist natürlich unschön, aber kein Notfall«, sagte die Frau hinter Schalter A freundlich. »Die übliche Wartezeit beträgt ein oder zwei Jahre, ab dem Zeitpunkt der Anmeldung.«

»Heißt das ein Jahr?«, fragte ich. »Oder eher zwei …«

»Es heißt ein bis zwei Jahre.« Sie lächelte noch immer. Der Tisch zwischen uns war so groß wie eine Tischtennisplatte, und der Grund dafür war mir schon klar: Wenn man aggressiv wurde, konnte man ihr nichts tun.

»Andere Möglichkeiten gibt es also nicht?«, fragte ich.

»Sie können sich noch an Schalter C für zeitlich befristeten Wohnraum anmelden.«

»Geht das schneller?«

Wortlos schaute sie mich weiterhin an, vielleicht wünschte sie mir aber auch sehr konzentriert den Tod.

»Gut, dann möchte ich mich da auch gern anmelden«, beeilte ich mich zu sagen.

Sie schob mir ein Formular zu. »Dann dürfen Sie das kurz ausfüllen.«

Ich zog eine neue Nummer und ging zu einem Stehtisch, um das Formular auszufüllen. Wenn ich es eine Armeslänge von mir entfernt hielt, konnte ich es ohne Brille noch so gerade eben lesen.

Die Wohnungsbaugenossenschaft Wohnen Zentral besitzt auch Häuser, die abgerissen oder renoviert werden. Die Mieten sind niedrig, und die Anmeldung als Wohnungssuchende(r) läuft weiter.

Viel wollten sie auf dem Papier nicht wissen, aber sie fragten nach dem Familiennamen des eventuellen Partners. Ich schrieb »nicht vorhanden« in das entsprechende Kästchen.

Danach setzte ich mich wieder, schräg gegenüber einer Frau, die genau das gleiche Kleid trug wie ich, grün mit Kirschenmuster. Sie hatte auch braunes Haar mit einem Henna-Stich und Sandalen, die hübsch aussahen, aber nicht zu hoch waren, sodass man gerade noch gut darauf laufen konnte. Wir sahen uns wirklich ähnlich, nur war sie zehn Jahre jünger, ich schätzte sie zwischen dreißig und fünfunddreißig. Vielleicht war das ja Anouk, Stan mochte immer denselben Typ Frau. Ich konnte sie ungeniert mustern, sie schaute konzentriert auf ihr Handy.

Mit einer früheren Patientin, dieser blöde Arsch. Ich hatte ihn mal gefragt, ob er schon auf mich stand, als ich noch bei ihm in Therapie war.

»Ja, bloß habe ich das selbst nicht gemerkt.«

»Warst du auch ab und zu mal scharf auf mich?«

»Darüber möchte ich nicht reden«, antwortete er verlegen.

Beim ersten Mal hatte er einen totalen Schrecken bekommen, erzählte er später. Normalerweise wusste er kaum, ob da ein Mann oder eine Frau vor ihm saß, er sah einen Klienten mit einem Problem, mehr nicht. Aber bei mir war es anders, so etwas erlebte man nur einmal im Leben. Ich glaubte ihm, weil es sich für mich auch so anfühlte. Stan war eigentlich viel zu gewissenhaft und kultiviert für solche Sachen, aber ganz selten passiert etwas Besonderes, etwas, das stärker ist als man selbst.

Ich schaute zu den Nummern, noch vier, dann war ich an der Reihe. Ich musste an unseren Nachbarn denken, sein Hund hatte im Wald einfach so jemanden gebissen. »Da muss wirklich etwas Besonderes passiert sein, seinem Wesen nach ist er nämlich kein Beißer, weißt du«, sagte der Nachbar. Aber er war vernünftig und schaffte einen Maulkorb für den Hund an, so einen wie Hannibal Lecter hatte.

Ein etwa zwanzigjähriger Junge kam rein, er machte zwei Schritte und blieb dann stehen, als würde er eine Bühne betreten. Es war Hochsommer, alle waren gebräunt, aber dieser Junge ließ uns alle blass wirken. Er sah aus, als suche er jemanden. Sein Blick war offen und nicht in sich gekehrt, und damit war er an diesem Ort eine Ausnahme. Er sah mich besonders lang an, und das bildete ich mir nicht ein, das war wirklich so.

Nach ein paar Sekunden ging er weg, und ich war dran.

2

Als ich am Parkplatz ankam, sah ich den Jungen wieder. Er lehnte an meinem Auto und wartete ganz offensichtlich auf mich. Diese Geschichten kannte man ja, dass jemand absichtlich einen Kratzer an dein Auto machte und hoffte, du würdest falsch darauf reagieren. Ich überlegte, ob ich einfach weitergehen sollte, so tun, als wäre ich mit dem Rad da, aber da kam er mir schon entgegen. »Hallo, dürfte ich Sie was fragen? Suchen Sie auch eine Wohnung?«

Mein vollbepacktes Auto parkte praktisch unter dem Schild Wohnen Zentral.

»Sie müssen bestimmt lange warten, bis Sie etwas bekommen, was?«, fragte er voller Mitleid. Seine Haare waren in so straffe Zöpfchen geflochten, dass ich seine dunkle Kopfhaut sehen konnte. Das war keine Frisur, sondern ein Kunstwerk.

Er gehört zu einer Bande, dachte ich. Er soll mich ablenken, und die anderen drehen jetzt gerade ihr Ding.

»Wieso, was willst du?«

Er holte tief Luft, als wollte er etwas sagen, aber dann überlegte er es sich anders und streckte die Hand aus. »Ich bin Dylan, und ich habe einen irre guten Tipp für Sie!«

Ich drückte seine Hand, ohne meinen Namen zu nennen, als würde ich damit beweisen, dass ich nicht mit mir spaßen ließ.

»Kennen Sie vielleicht zufällig die Kamperfoelielaan?«

Ich stand reglos da, ich konnte nicht einmal nicken. Die Kamperfoelielaan? Natürlich kannte ich die, es war eine prachtvolle Straße im schönsten Viertel der Stadt.

»Kennen Sie die?«

»Ja, ich glaub schon«, sagte ich schnell.

»Ich hätte da eine Wohnung für Sie.«

Blitzschnell schloss ich einen Pakt mit dem Schicksal: Wenn das hier kein Betrug ist, melde ich mich für ehrenamtliche Arbeit in einem Seniorenheim an oder ich gebe ausländischen Frauen Zeichenunterricht …

»Das Ganze läuft nach einem Plan, den ich mir ausgedacht habe«, sagte er.

»Na, dann erzähl mal.«

Das war der Plan: Ich durfte in der Kamperfoelielaan auf das Haus einer alten Dame aufpassen, die im Krankenhaus lag. Umsonst, ohne Miete.

Er steckte sich eine Zigarette an und hielt mir die Packung hin.

»Nein, danke. Du meinst zum Schutz gegen Hausbesetzer?«

Er zeigte mit ausgestrecktem Zeigefinger auf mich, was so viel hieß wie: Sie verstehen mich.

Ich dachte nach, jedenfalls versuchte ich es. »Und woher kennst du diese alte Dame?«

»Über Bekannte.«

»Über Bekannte?«

»Über eine Art Kunden von mir.«

Wahrscheinlich schaute ich schockiert, denn er sagte sofort: »Ich weiß schon, was Sie denken, aber das bin ich nicht.«

»Was denke ich denn?«

»Sexarbeiter.« Er zeigte wieder auf mich, aber jetzt mit einem anklagenden Finger.

Ich kannte das Wort nicht einmal, ich dachte, das hieße Gigolo. Das klang eher wie Coach oder Sozialarbeiter.

»Ehrlich gesagt dachte ich an einen Dealer«, sagte ich.

»Oh, Dealer.« Das bin ich natürlich schon, schien er damit zu sagen. »Nein, ich erledige ab und zu mal was für ihn. An Ihrer Stelle würde ich mir einfach vertrauen.«

»Was hat die alte Dame denn?«

»Sie liegt im Koma, das kann also noch eine ganze Weile dauern.«

»Und du dachtest, ich muss zu Wohnen Zentral, denn wer da rumläuft, sucht eine Wohnung.«

Er nickte stolz.

»Kriegst du was dafür, wenn du jemanden findest?«

Er dachte einen Moment nach. »So in der Art, ja.« Die Geschichte war natürlich erfunden, aber was genau er vorhatte, war mir nicht klar.

»Ich suche etwas für länger, also schaue ich mich doch noch mal weiter um«, sagte ich.

Er drängte nicht weiter, sondern gab mir direkt einen weißen Zettel mit einer Telefonnummer. Ich schaute sie mir an, als würden mir die Zahlen etwas sagen. Er hatte zu groß geschrieben, die letzte Ziffer musste in die neue Zeile.

»Sollten Sie es sich anders überlegen, man kann nie wissen.«

»Das ist wahr.«

Langsam fuhr ich weg. Wie naiv ich gewesen war, einfach so unvermittelt abzuhauen. Wenn ich wenigstens ein Ferienhaus hätte oder Freunde mit einem Ferienhaus. Ich konnte mir ein Hotelzimmer nehmen, mich auf einen Plastikstuhl vor das Fenster mit halb offenen Lamellen setzen, um danach die ganze Nacht in einem zu stramm bezogenen Bett wach zu liegen. Oder sofort zurück nach Hause, für den vollen Gesichtsverlust.

Stan und ich hatten eine Unterstützungsehe. Den Begriff hatte er sich ausgedacht, weil wir immer dafür sorgten, dass unser Zusammenleben angenehm war.

Am Anfang unserer Beziehung hatten wir fast ununterbrochen Sex gehabt. Alle anderen Dinge des Lebens wie essen, arbeiten, ausgehen, reden, schlafen … waren Nebensache.

»Was soll das nur werden mit uns, wir verlottern ja vollkommen«, sagte ich einmal.

»Das regelt sich ganz von selbst«, antwortete Stan. »Ehe du dichs versiehst, stecken wir im Alltagstrott, dann müssen wir uns nette Ausflüge einfallen lassen, um nicht komplett abzuschlaffen.«

»Ich liebe Alltagstrott, da ist alles so ruhig und übersichtlich«, antwortete ich.

Stan musste lachen, aber mir war es ernst.

»Alltagstrott ist Angst«, sagte er, als er das bemerkte.

Jemand hupte laut, ich war viel zu langsam gefahren und konnte gerade noch rechtzeitig zu einem Spiegeleinstellplatz abbiegen, einem dieser aufwendig mit weißen Streifen markierten Plätze, speziell für Lastwagen.

TOTER WINKEL? DAS MUSS NICHT SEIN stand dort auf einem großen Schild.

Ich parkte am Rand und schaltete den Motor aus. Zurück nach Hause, das bedeutete: Tasche auspacken, Stan noch ein paar Tage die kalte Schulter zeigen, denn er sollte nicht denken, er könnte einfach alles machen und danach einfach alles im Sande verlaufen lassen. In einem großen Haufen Sand, in den ich wieder meinen Kopf stecken konnte. Noch nie hatte er erleichtert gewirkt, wenn ich wieder zurückkam, und man kann auch nicht sagen, dass er je am Boden zerstört war. Es war ja nur eine Frage der Zeit, ich konnte sowieso nirgends hin.

Ohne noch weiter darüber nachzudenken, nahm ich den Zettel mit der Telefonnummer des Jungen und schickte eine kurze Nachricht: Ist die Wohnung noch frei? Prompt kam eine Antwort in Form von drei Emoticons: ein Haus, ein erhobener Daumen und ein übers ganze Gesicht lachender Smiley, die Tränen spritzten ihm vor Freude aus den Augen.

Wie um alles in der Welt hatte er die so schnell gefunden? Sofort danach folgte eine weitere Nachricht: Ecke Kamperfoelielaan/Ginsterlaan, ich warte auf Sie.

3

Eine Viertelstunde später fuhr ich durch eine Bilderbuchwelt aus roten Backsteinen. Die Straßen waren gesäumt von Grünflächen, Blumen und blühenden Sträuchern. Die Kamperfoelielaan war eine von Kastanien gesäumte Allee, hier waren alle Häuser unterschiedlich gebaut. Weil die Vorgärten so riesig waren, bekam ich immer nur einen kleinen Eindruck von der geschmackvollen Einrichtung im Inneren der Häuser. Alles war großzügig geschnitten, sogar die Gehwege waren mehr als doppelt so breit wie bei uns. Und obwohl es zweifelsohne ein superteures Viertel war, fühlte ich mich dort sofort total wohl.

An der Ecke der Kamperfoelielaan sah ich ihn sitzen, auf der Lehne einer Bank. Einen Moment dachte ich, zu seinen Füßen läge eine Wassermelone, aber es war ein Helm mit Tarnmuster.

»Ich möchte noch mal kurz mit dir über deinen Vorschlag sprechen«, sagte ich beim Aussteigen. »Ich bin übrigens Julia.«

»Dylan, weißt du ja.« Er schien höflich seinen Triumph zu verbergen, aber seine Körperhaltung verriet mir, was er dachte: Ich wusste es doch! »Der Neffe der alten Dame ist jetzt gerade im Haus.«

»Und wie genau würde das laufen mit dem Wohnen?«, fragte ich.

»Ja, es gibt da eine Kleinigkeit zu beachten.«

Ich dachte, er wollte vielleicht Geld für den Tipp, aber es war etwas anderes. Mit unendlich vielen Füllwörtern wie also, schon ein wenig, oder so, ziemlich, sozusagen … erzählte er, was er noch vergessen hatte zu sagen: Zwar durfte ich in dem Haus wohnen, aber ich musste eine knappe halbe Stunde pro Tag für die kranke Dame sorgen. Das Krankenhaus hatte die Verwandten darum gebeten, aber dazu hatte der Neffe keine Lust.

»Das ist ja wohl nicht dein Ernst!«, rief ich.

Er bezog das als Kommentar auf das Verhalten des Neffen. »Ja, stell dir nur vor, ihr eigener Neffe!«

»Und das erzählst du mir erst jetzt!«

Er setzte sich auf die Bank, stellte den Helm auf den Boden, damit ich mich neben ihn setzen konnte, und zündete sich wieder eine Zigarette an. »Ja, weil ich nämlich dachte, wenn ich’s ihr gleich sage, macht sie’s sowieso nicht.«

Das hatte er klug eingefädelt. Ich wollte nicht mehr weg hier, das war meine Gegend, hier wollte ich wohnen.

Ich setzte mich neben ihn. »Kurz nachdenken.«

Wir schwiegen eine Weile, ich nahm auch eine Zigarette aus seinem Päckchen. Er zeigte auf den Text RAUCHEN IST TÖDLICH. Ich musste lachen und begriff dann erst, dass er es als ernsthafte Warnung meinte.

»Nicht gleich inhalieren, okay?«, bat er besorgt.

»Ich zünde sie nicht an.«

»Oh, dann geht’s natürlich.« Er stieß perfekte kreisrunde Rauchringe aus, die er sogar kreisen lassen konnte. Ich konnte den Blick nicht davon abwenden, und als er das merkte, wechselte er die Drehrichtung: linksherum, rechtsherum …

»Wie ein Jongleur.«

Er nickte. »Backspin, das macht man mit dem Kiefer. Habe ich geübt, weil mein Bruder das so toll fand.«

Ich versuchte nachzudenken. Man muss nur den Wirrwarr entzerren und die Zutaten untereinanderschreiben, sagt Stan zu seinen Klienten. Minuspunkte bekommen ein Minus, Pluspunkte ein Plus. Strich darunter, zusammenzählen, abziehen und fertig. Die Antwort ist im Chaos selbst.

Er war Suchtarzt und landesweit bekannt geworden, weil er einen erfolgreichen Ratgeber mit dem Titel Tun oder Lassen geschrieben hatte.

Ich hatte ein Interview mit ihm im Radio gehört und sofort gedacht: Zu dem muss ich hin. Ich rauchte damals ein Päckchen pro Tag, jeden Abend hörte ich für immer auf, und am nächsten Morgen gegen elf Uhr fing ich wieder an. Ich fand Rauchen furchtbar dumm und eklig und verachtete mich selbst, aber ich schaffte es nicht, endgültig damit aufzuhören.

Es war reiner Zufall, dass er Platz für mich hatte, weil ich genau in der Sekunde anrief, in der ein anderer Klient gerade abgesagt hatte.

»Wenn Sie in zehn Minuten hier sein können, lasse ich die Warteliste mal kurz außer Acht«, sagte er.

»Findest du’s nicht seltsam, dass ich genau in diesem Moment anrief?«, fragte ich ein Jahr später, als ich ihm nicht mehr im Sprechzimmer gegenübersaß, sondern neben ihm in seinem Bett lag.

Nein, das fand er nicht, bei seinen Klienten war der Rückzug an der Tagesordnung.

»Aber …« Er wählte seine Worte sorgfältig. »Wenn du es gerne so ausdrücken möchtest: Du bist ein Wunder.«

Das war nicht nur Schmeichelei, er trug mich wirklich auf Händen und fand es weiterhin unglaublich, dass ich mich in ihn, ausgerechnet in ihn, verliebt hatte.

Während unserer ersten Sitzung musste ich aufzählen, welche Argumente ich hatte, wenn ich wieder mal die Flinte ins Korn warf.

»Ich sage immer, dass ich nach dieser wirklich aufhöre«, erwiderte ich. »Und dann zünde ich sie schnell an, denn tief in mir drin weiß ich natürlich, dass das Quatsch ist.«

Er lächelte. »Warte mal ab, wir befreien dich aus den Klauen des Nikotinmonsters.«

Vielleicht war ich da schon verliebt, weil er »wir« sagte.

Seine Methode war einfach: Lerne die Stimme deiner Sucht kennen und versperr ihr dann die Tür. Mehr nicht. Wenn ein unerwünschter Gedanke aufkommt, muss man diesen sofort blockieren, unverzüglich abbrechen und zurückkehren zur eigenen Atmung. Nicht analysieren, denn gegen die Raffinesse der eigenen Sucht verliert man. Wenn ein trockener Alkoholiker an einer Kneipe vorbeikommt und Lust auf ein Gläschen bekommt, sollte er nicht herauszufinden versuchen, woher dieser Gedanke stammt, sondern einfach machen, dass er wegkommt. Man hat höchstens eine Sekunde Zeit, ehe der Ausreden-Springbrunnen voll aufgedreht wird, danach glaubt man plötzlich, es stehe doch nicht so schlimm um einen und man habe jetzt doch bewiesen, dass man sehr gut ohne Alkohol leben könne. Oder es fällt einem jemand ein, der viel schlimmer dran ist, und außerdem lebt man doch schließlich nur einmal, und man hat es sich jetzt doch wirklich verdient …

Nicht drauf eingehen, keine Diskussion, blockiere diesen Gedanken und kehre zurück zu deiner eigenen Atmung. Nachgeben ist keine Option.

Ich ging am 2. Dezember mit dem Ziel zu ihm, Silvester um Mitternacht die letzte Zigarette meines Lebens auszudrücken, aber ich habe nach dieser ersten Sitzung nie mehr geraucht. Ich wurde wieder rein von innen und von außen; es gibt einem so viel Auftrieb, wenn man mit dem Rauchen aufhört: Schon nach vierundzwanzig Stunden ist das Resultat spürbar.

Langsam, aber sicher erlangte ich wieder die Kontrolle über mein Tun und Lassen, und als Sahnehäubchen erklärte mir mein Therapeut nach der zehnten und letzten Sitzung auch noch, dass er mich liebte.

Er fragte schon bald, ob ich zu ihm ziehen wollte, aber darauf ging ich nicht ein. »Ich bin eine ziemliche Einzelgängerin.«

»Du kannst doch auch hier Einzelgängerin sein?«

»Glaube mir nur, ich bin fürs Zusammenleben nicht geeignet, nach einer Weile verschanze ich mich, ich bin zu gern allein.«

Er drängte nicht weiter, aber nach ungefähr zwei Jahren benutzte ich mein eigenes Apartment nur noch als Atelier, und wir wohnten zusammen in seinem großen Haus. Wir sagten nicht mehr »bei dir« oder »bei mir«, sondern »zu Hause« oder »im Atelier«.

Dann wurde mein Nachbar von oben manisch. Er fing an, die ersten Takte von »Für Elise« auf seinem Klavier zu spielen, und hörte nicht mehr damit auf, immer dasselbe, Tag und Nacht, fast ununterbrochen. Genau in dem Moment, wenn eigentlich die linke Hand einsetzen musste, hörte er auf. Manchmal war es ein paar Stunden still, dann aß oder schlief er wahrscheinlich. Wenn ich bei ihm läutete, übernahm er die Tonhöhe der Klingel, mehr nicht. Ertönte später draußen eine Hupe, spielte er wieder tiefer. Auch das Tempo variierte, aber still wurde es nie, und er kam nie weiter als bis zum Auftakt.

Stan räumte den Wintergarten für mich leer, damit ich dort malen konnte. Ab und zu ging ich zurück zu meinem Atelier, um zu sehen, ob der Nachbar inzwischen zusammengebrochen oder von einem anderen Nachbarn ermordet worden war, aber er hielt durch. Und dann irgendwann, als ich wirklich gar nicht mehr dort war, gab ich mein schönes, günstiges, perfektes Ein-Personen-Apartment auf.

»Hallo!« Dylan rüttelte vorsichtig an meiner Schulter. »An Ihrer Stelle würde ich es echt machen.«

Vorsichtig schob ich die Zigarette zurück in das Päckchen und stand auf. »Okay, dann mache ich es.«

4

Man konnte das Haus von der Straße aus nicht sehen, weil eine Reihe hoher, fliederfarben blühender Rhododendren es verdeckte. Eine rostige Gartenpforte führte über einen kerzengeraden Kiesweg zur Haustür. Gut so, ich hasste diese künstlich gewundenen Pfade, die dadurch länger wirken sollten.

Die Klingel war ein Gong, einer mit einem anständigen Nachhall, und die Tür wurde von einem jovialen Mann im Anzug geöffnet, der mich strahlend begrüßte. »Berend Smit-Bergman.« Er griff nach meiner Hand und schüttelte meinen Arm dreimal auf und ab. »Hereinspaziert, hereinspaziert!«

Er war ein wenig aufgedunsen, aber das Fett war gut verteilt, sogar seine Hand war gleichmäßig gut gepolstert.

Ich ging hinein und wusste genug: Hier gehörte ich hin.

Wenn man sich schon im Flur sofort wie zu Hause fühlt, kann man davon ausgehen, dass einem der Rest auch gefällt.

Berend ließ mich vorangehen in eine große, helle Küche. Die Wohnküche, nahm ich an, aber vielleicht war es ja auch der kleinste Raum im ganzen Haus.

Dort standen überall Töpfe, Büchsen und Dosen, und trotzdem wirkte es aufgeräumt. In der Mitte ein großer runder Tisch aus Kiefernholz. War das die Küche einer alleinstehenden alten Dame?

»Setzen Sie sich doch, was möchten Sie trinken?«

»Ein Glas Wasser, bitte.«

»So, Sie trauen sich ja was!« Er lachte.

Ich setzte mich, und nachdem er einen weißen Becher halb mit Wasser gefüllt hatte, kam er zur Sache. »Es geht also um die Pflege meiner Tante. Großartig, dass Sie sofort herkommen konnten. Ich habe furchtbar viel zu tun, und dann kommt plötzlich so was dazwischen, aber na ja, ich konnte sie ja wohl kaum darum bitten, mit ihrem Schlaganfall ein wenig zu warten.« Wieder lachte er; hätte ich neben ihm gesessen, hätte er mir einen kameradschaftlichen Knuff verpasst.

»Wie geht es ihr jetzt?«

»Koma infolge einer zerebrovaskulären Insuffizienz, wahrscheinlich in einem ungünstigen Teil des Gehirns«, antwortete er in einem Ton, als hielten wir eine ärztliche Besprechung ab. »Und für jemanden, der auf die achtzig zugeht, also, fast achtzig ist …«

»Sind Sie Mediziner?«

Schon bei der Vorstellung allein musste er lachen. »Das würde niemanden glücklich machen. Nun gut, meinen Buchhalter vielleicht. Nein, ich arbeite im IKT-Bereich.« Dabei zeigte er nach oben. Vielleicht meinte er damit, dass er ein hohes Tier war oder aber auch einfach: Dort oben steht der Computer. »Aber die Chance, dass sie wieder gesund wird, geht gegen null. Das dürfen die Ärzte offiziell nicht sagen, aber ich bin ja nicht dumm.«

Offensichtlich war er sehr wohl dumm, jedenfalls fand er das selbst, oder vielleicht fand es auch sein Vater, und es war Berends Lebensaufgabe zu beweisen, dass sein Vater im Unrecht war.

»Ob ich das mal kurz übernehmen will. Ich habe ja sonst nix zu tun, scheinen sie dort zu denken. Sie bitten mich, minimal eine halbe Stunde pro Tag für meine Tante zu sorgen. Natürlich dürfen sie das nicht fordern, aber darum bitten können sie. Aber nun gut, wenn Sie da sind, bin ich gerettet. Um drei Uhr sitzt da so eine weiß bekittelte, adrette Schwester im Krankenhaus bereit, um Ihnen zu erzählen, was genau zu tun ist. Sie haben ja einen medizinischen Hintergrund, also wird das kaum ein Problem sein.«

Vielleicht hatte Dylan ihm erzählt, ich sei auf die Pflege komatöser Patienten spezialisiert.

Berend schaute auf seine Armbanduhr, um die sich die Haut seines Handgelenks leicht wölbte. »Ich werde allen Privatkrempel ins Hinterzimmer schaffen lassen, und ansonsten benutzen Sie einfach, was Sie brauchen, Wohnzimmer, Küche, Schlafzimmer und natürlich, na, wie heißt es …«

»Die Sanitäranlagen.«

»Was immer Sie wollen. Der Gärtner kommt weiterhin, um den Garten brauchen Sie sich also nicht zu kümmern. Kommen Sie, ich führe Sie herum.« Er stand auf.

Es war ein großes, sonniges Haus mit hellgelben Wänden, durchgängigem Parkettfußboden, vielen Fenstern und Tageslicht, aber nirgends Einsicht von außen. Die Akustik war angenehm, und es roch gut, ein wenig süßlich. Das Wohnzimmer bestand aus zwei Teilen, die durch eine geschlossene Schiebetür mit Bleiglasfenstern im Art-déco-Stil getrennt waren.

Ich zeigte darauf. »Die sind wunderschön.«

»Ja, warum sollte man es sich leicht machen, wenn man’s auch kompliziert haben kann.«

Und wieder musste er lachen.

Vorn an der Schiebetür stand ein dunkelrotes Sofa für vier Personen.

Die restlichen Möbel waren einfach: ein Couchtisch in der Mitte, ein weißer Wandschrank und ein langer Holztisch am Fenster.

An der Wand hing ein Porträt in Erdfarben; es war so abstrakt, dass ich die menschlichen Züge noch gerade so darin erkannte. Ich sah weder Bücher noch Zeitschriften.

Die Fensterbank stand voller rosafarbener, violetter und lilafarbener Orchideen, die um die Wette blühten, wahrscheinlich stammte der süßliche Duft von ihnen.

»Mit denen kann man auch keinen Blumentopf gewinnen!«, sagte Berend.

Während ich zur Fensterbank ging, um an den Blumen zu riechen, läutete das Telefon. Ich dachte, er würde rangehen, aber er bückte sich mühsam und zog den Stecker aus der Steckdose.

»Voilà, so machen wir das.«

»Ihre Tante war ordentlich.« Ich hatte aus Versehen in der Vergangenheit gesprochen, aber er schien es nicht zu bemerken.

»Das liegt in der Familie, nein, wenn es doch nur so wäre!« Er tat, als würde er schuldbewusst schauen. »Folgen Sie mir nur kurz nach oben. Damen haben Vortritt, außer auf der Treppe.«

Ich musste über den absurden Gedanken lachen, dass Stan das jemals zu einer Frau sagen würde.

»Ja, das ist doch so? Oder etwa nicht?«, sagte Berend.

Die Treppe war mit einem dicken, dunkelroten Läufer bedeckt, der mit Kupferstangen befestigt war. Man sollte meinen, es sei gerade eben erst gesaugt worden, so sauber und frisch war es überall. Auch die Schlafzimmer und das Badezimmer glänzten.

»Und das hier müssen Sie auch kurz sehen.« Er öffnete die Tür zu einem kleinen Raum, der extra für eine Friseurin oder vielleicht auch eine Kosmetikerin eingerichtet zu sein schien. Der Boden war mit knallrotem Linoleum ausgelegt, an einer Seite hing ein hölzerner Arbeitstisch an der Wand, mit einem Spiegel, der von Lampen umrandet war, ein bisschen so wie in der Umkleide eines Theaters. An der anderen Seite hing eine weitere Arbeitsplatte, auf der Geräte standen, die ich nicht kannte; ein Mörser und eine Art Wasserkocher und daneben jede Menge Fläschchen und Tiegel. Vielleicht waren es Sachen für Dauerwellen oder Haartönungen. Den Gummibesen in der Ecke erkannte ich von meinem eigenen Friseur.

»Ihre Tante hatte also eine Friseurin, die ins Haus kam«, sagte ich.

Berend tippte sich an die Stirn. »Verrückt, oder?«

In ihrem Schlafzimmer, ebenso tadellos aufgeräumt, hing ein gerahmtes Foto einer Frau mit einem Mädchen am Rockzipfel und einem Baby auf dem Arm.

»Meine Oma«, sagte Berend. »Das Baby ist mein Vater, jetzt wissen Sie auch, von wem ich dieses Mondgesicht habe.« Er besaß die Schamlosigkeit eines erfolgreichen Geschäftsmannes. Die Männer in meiner Umgebung dagegen bemühten sich, bloß nicht so ein Typ Mann zu werden.

In meiner Welt gab man sich eher bescheiden oder sogar unsicher, als Erfolg oder übermäßiges Selbstvertrauen zur Schau zu stellen.

Als wir wieder unten waren, zeigte er mir den Raum hinter dem Wohnzimmer, auf der anderen Seite der Schiebetür.

Wahrscheinlich grenzte er an den Garten, aber die dicken, dunkelroten Samtvorhänge waren geschlossen, sodass Berend das Licht anmachen musste.

Als Erstes fiel mein Blick auf einen antiken Sekretär aus Rosenholz mit Perlmutt-Intarsien, so schön, dass es mir die Sprache verschlug. Offensichtlich erledigte Frau Smit hier ihre Buchhaltung. Eine Reihe nüchterner grauer Ordner stand ganz unten, und auf der heruntergeklappten Arbeitsfläche lag ein großer Kalender.

Ferner gab es ein geräumiges eisernes Regal, in dem sich Vasen, Töpfe, Figürchen und allerlei anderer Krimskrams stapelten. An der anderen Seite stand ein langer Tisch. Alles war hier groß, lang, breit und hoch. Frau Smit hätte niemals in ein Seniorenheim ziehen können, jedenfalls nicht mit diesen Sachen.

Berend griff nach dem Kalender. »Den hier nehme ich mit, ich muss ihre sämtlichen Termine absagen und die Buchhaltung übernehmen. Was für ein Theater! Ich habe auch überall sofort neue Schlösser anbringen lassen, weil ein Schlüssel unter dem Blumentopf neben der Hintertür lag. Ich würde sagen: Dann kann man auch gleich die Tür sperrangelweit offen lassen, oder?«

»Sie gehen also davon aus, dass Ihre Tante nicht mehr zurück nach Hause kommt.«

»Das habe ich doch gar nicht gesagt!« Er fasste es als Anschuldigung auf, lachte aber sofort wieder. »Wollen wir doch ehrlich sein, wenn man alt ist, kann man sich den Endspurt doch allmählich schon mal in den Terminkalender eintragen.« Er zwinkerte mir zu. Nicht mehr lange und wir würden gemeinsam ein Glas Wein trinken. Oder ein Sektchen.

»Dort lag sie, übrigens hat die Friseurin sie gefunden.« Er zeigte auf meine Füße.

Schnell trat ich einen Schritt zur Seite und schaute mir die Stelle kurz an. »Hatten Sie eigentlich eine gute Beziehung zu Ihrer Tante?«

»Aber sicher, ganz ausgezeichnet! Nie Streit, nie Ärger!« Wieder ein Zwinkern. »Spaß beiseite, ich habe sie nie gesehen, ich bin ein einsames Blatt am Stammbaum, also muss ich jetzt alles erledigen. Das ist der Nachteil, wenn man Einzelkind ist, aber nun gut …«

Alles hat so seine Vor- und Nachteile, dachte ich, ich war mir sicher, dass er das sagen würde und dann etwas über das Erbe. Ich lachte schon mal verschwörerisch.

»… es ist und bleibt Verwandtschaft, also kann man so was doch nicht verweigern«, sagte er.

»Nein, natürlich nicht, nein, das macht man nicht!« Ich folgte ihm in den Flur. »Ich gehe um drei Uhr ins Krankenhaus, aber im Prinzip sehe ich keine Probleme, ich finde das Haus wunderbar.«

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