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Unschuldig!

Wer steckt hinter dem Mord an dem Politiker Paul Bradshaw? Er hat dem Ort Monterey an der Pazifikküste viel Gutes getan, aber sich dabei auch mächtige Feinde gemacht. Und dann ist da noch seine Exfrau Julia, die er zu einer zweiten Ehe erpressen wollte. Auch sie hatte einen handfesten Grund, ihn lieber tot als lebendig zu sehen. Aber eine Mörderin? Steve Reyes, der sich in Julias Hotel einquartiert hat, hält das für ausgeschlossen. Er wird ihr Verbündeter - und ihr Geliebter. Zusammen verfolgen sie eine Spur, die zu einer militanten Organisation führt ...


  • Erscheinungstag: 13.06.2016
  • Seitenanzahl: 192
  • ISBN/Artikelnummer: 9783955765651
  • E-Book Format: ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Christiane Heggan

Unschuldig

Roman

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MIRA® TASCHENBUCH

MIRA® TASCHENBÜCHER

erscheinen in der Harlequin Enterprises GmbH

Valentinskamp 24, 20354 Hamburg

Geschäftsführer: Thomas Beckmann

Copyright © 2012 by MIRA Taschenbuch
in der Harlequin Enterprises GmbH

Titel der nordamerikanischen Originalausgabe:

Trust no one

Copyright © 1999 Christiane Heggan

erschienen bei: MIRA Books, Toronto

Übersetzt von Ralph Sander

Published by arrangement with

Harlequin Enterprises II B.V., Amsterdam

Konzeption/Reihengestaltung: fredeboldpartner.network, Köln

Umschlaggestaltung: pecher und soiron, Köln

Redaktion: Claudia Wuttke

Titelabbildung: dschnarrs_iStock

ISBN eBook 978-3-95576-565-1

www.mira-taschenbuch.de

E-Book-Produktion: GGP Media GmbH, Pößneck

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PROLOG

Das Treffen fand in einer luxuriösen, auf einem Hügel gelegenen Villa statt, die in nördlicher Richtung gut fünfzehn Kilometer von Monterey und zehn Kilometer vom nächsten Haus entfernt war. Von der sonnigen Terrasse aus hatte man einen wunderbaren Blick auf den Pazifischen Ozean. Aus der Ferne war das Gebrüll zufriedener Seelöwen zu hören, die im Wasser herumtollten und wohl nichts von der Schönheit wahrnahmen, die sie umgab.

Bis auf einen waren alle der fünf anwesenden Männer am Abend zuvor eingetroffen. Sie waren aus verschiedenen Teilen des Landes in unregelmäßigen zeitlichen Abständen angekommen, um kein Misstrauen zu wecken, obwohl eine derartige Vorsichtsmaßnahme eigentlich nicht erforderlich war. Der fünfte Mann, Gastgeber und Anführer der Gruppe, hatte dieses Haus gekauft, weil es abgelegen und nur über eine lange Privatstraße zu erreichen war. Diese beiden Punkte machten es praktisch unmöglich, dass irgendjemand seine Aktivitäten ausspionieren konnte.

Leger gekleidet saßen die Männer in bequemen Korbsesseln mit hoher Rückenlehne, tranken frisch gepressten Orangensaft aus Kristallgläsern und unterhielten sich. Wie üblich war es eine lockere und freundliche Unterhaltung. Einer der Männer war vor kurzem Großvater geworden und reichte voller Stolz Fotos des Babys herum, während die anderen ihn damit aufzogen, er werde allmählich alt.

Wer das Gespräch der Männer belauscht hätte, wäre davon überzeugt gewesen, dass sie alte Freunde waren – vielleicht ehemalige Klassen- oder Armeekameraden, die für ein Wiedersehen zusammengekommen waren.

Sie waren zwar alle wohlhabend, kamen aber aus den unterschiedlichsten Bereichen des Lebens. Einige hatten ihr Vermögen geerbt, andere hatten es aus eigener Kraft zum Millionär gebracht. Sie waren die harten Kerle, denen niemand zu sagen wagte, wo es langging. In ihrer Gemeinde war jeder von ihnen hoch angesehen, sie spendeten großzügig für diverse gemeinnützige Einrichtungen, sie unterstützten Jugendprogramme und leisteten ihren Beitrag, damit die Heimatstadt jedes Einzelnen aufblühte.

Ihr Gastgeber, der blaue Bermuda-Shorts und ein farbenfrohes Hawaii-Hemd trug, hörte den Gesprächen zu, beteiligte sich aber nicht daran. Weder sprach er gerne über sich selbst, noch wollte er mehr als unbedingt nötig über sein Privatleben preisgeben. Nicht einmal denen gegenüber, denen er vertraute.

Der Mann war klein und drahtig, hatte einen breiten Brustkorb und kräftige Arme. Sein hellbraunes, im Armeestil geschnittenes Haar unterstrich sein kantiges Gesicht und ließ ihn jünger aussehen als fünfundsechzig.

Das Fesselndste aber waren seine Augen. Sie waren von fahlem, fast schon transparentem Blau – und völlig ausdruckslos. In sie zu schauen war so, als würde man in das klare Wasser eines Sees blicken, ohne dessen Grund erkennen zu können.

Nachdem er seinen Gästen noch einige Minuten Zeit gelassen hatte, um sich zu unterhalten, schlug er mit den Fingernägeln gegen sein Glas. “Also gut, Gentlemen. Genug geplaudert. Dafür haben wir beim Mittagessen noch Zeit genug. Jetzt müssen wir erst einmal eine wichtige Entscheidung treffen.”

Sofort verstummte die Gruppe.

“Ich gehe davon aus, dass jeder von euch Zeit hatte, über unser kleines Problem nachzudenken.” Er ließ seinen Blick für einen Moment auf jedem der vier Männer ruhen, und obwohl sich an seinem Ausdruck nichts geändert hatte, war die Spannung auf der Terrasse fast greifbar.

Der frisch gebackene Großvater räusperte sich. “Ich bin nicht sicher, ob wir so weitermachen sollen, wie wir es zuvor beschlossen hatten”, sagte er und warf den anderen einen unbehaglichen Blick zu. “Immerhin befinden wir uns auf amerikanischem Boden. Wenn man uns schnappt, bedeutet das ein sehr großes Risiko.”

“Es wird noch größer sein, wenn wir nichts tun”, erwiderte der Anführer scharf. “Außerdem müssen wir jetzt handeln. Wir werden niemals eine bessere Gelegenheit bekommen.”

“Das sehe ich auch so”, erklärte der Mann rechts von ihm. Er sah auf den Zeitungsausschnitt, der vor ihm lag. Der zeigte das Foto eines großen, gut aussehenden Mannes, der auf einem Podium stand und zu einer größeren Menschenmenge sprach. “Diese Pressekonferenz, die unser Freund arrangiert hat, ist ein Geschenk Gottes, das wir nicht ignorieren können.” Die Betonung des Wortes Freund brachte dem Sprecher ein paar leise Lacher ein.

Mit zufriedenem Gesichtsausdruck lehnte sich der Anführer in seinem Sessel zurück. “Sollen wir also über die Sache abstimmen?”

Einer der Männer, der bislang noch nichts gesagt hatte, betrachtete den Zeitungsausschnitt. Mit zusammengebissenen Zähnen nickte er knapp. “Ich schlage vor, dass wir ihn umbringen.”

“Ich bin derselben Meinung”, sagte der Anführer. “Alle, die dafür sind, heben ihre Hand.”

Vier Hände gingen gleichzeitig nach oben, nur der frisch gebackene Großvater zögerte. Als er sah, wie die vier Männer ihn anstarrten und warteten, hob er schließlich auch die Hand.

1. KAPITEL

“Was du brauchst”, sagte Penny Walsh keuchend, während sie Julia half, einen schweren Tontopf aus dem Kofferraum ihres roten Mazda MX5 zur mit Kopfsteinen gepflasterten Terrasse der “Hacienda” zu tragen, “ist ein Mann. Am besten einen mit einem kräftigen Rücken, breiten Schultern und handwerklicher Begabung.”

Ein schwaches Lächeln umspielte Julias Lippen. Obwohl Penny geschworen hatte, niemals zu heiraten, hatte sie sich doch in dem Moment Hals über Kopf in Frank Walsh vom Monterey Police Department verliebt, in dem sie sie mit dem attraktiven Polizisten bekannt gemacht hatte. Jetzt, da Penny völlig glücklich war, ließ sie keine Gelegenheit aus, um die Vorzüge der Ehe zu preisen oder Anspielungen zu machen, dass Julia der Liebe doch noch eine Chance geben sollte.

“Hier ist es genau richtig”, sagte Julia und setzte den Blumentopf gleich neben einer Steinbank ab. Der Topf mit dem Motiv sich windender Weinranken war Pennys jüngste Kreation und wirkte in dieser Ecke des kleinen, schattigen Hofs optimal.

“Hast du gehört, was ich gesagt habe?” fragte Penny.

“Jedes einzelne Wort.” Julia ging in die Hocke und begann, aus einem großen Sack Erde in den Topf zu füllen. “Leider ist die Jagd auf Männer noch nie meine große Stärke gewesen.”

“Aber genau darum geht es ja. Du musst nichts weiter machen, als mit Frank und mir nächsten Monat zum Polizeiball mitzukommen. Der Saal wird randvoll sein mit gut aussehenden Junggesellen, denen bei dem Gedanken, eine der schönsten Frauen von Monterey zu begleiten, das Wasser im Mund zusammenläuft.”

Julia lachte ein wenig verlegen. Als sie sich dann eine blonde Locke hinters Ohr strich, sah sie ihre Freundin liebevoll an. Sie war eine schöne Frau. Mit ihrer langen braunen Mähne, die seitlich durch zwei Spangen zurückgehalten wurde, ihren großen nussbraunen Augen und den schlichten langen Röcken, die sie immer trug, sah Penny aus wie eine moderne Ausgabe von Jo, der großen Schwester in Meine drei Schwestern und ich.

Und so wie bei der stets zuverlässigen Jo war es auch ihre Lebensaufgabe, auf die Menschen Acht zu geben, die sie liebte.

“Also, was sagst du, Freundin?” Penny stieß sie sanft mit ihrer Sandale an. “Können wir auf dich zählen? Ich helfe dir auch bei der Wahl des Outfits.”

Julia schüttelte den Kopf. “Ich wäre eine miese Begleiterin, Penny. Und das arme Schwein, das die Freude hätte, von mir ausgewählt zu werden, würde dich bis in alle Ewigkeit hassen, dass du uns bekannt gemacht hast.”

Penny setzte sich auf die Bank, stützte ihre Ellbogen auf die Knie und legte ihr Kinn zwischen die Hände. “Noch immer nicht bereit, wie?”

Wieder schüttelte Julia den Kopf und dachte zurück an die katastrophalen sechs Jahre Ehe mit Paul Bradshaw. “Ich fürchte nicht. Und wenn ich ganz ehrlich sein soll, weiß ich nicht, ob ich jemals wieder bereit sein werde. Eine schlimme Beziehung reicht mir. Außerdem”, fuhr sie fort, “habe ich im Moment zu viel um den Kopf, um mir über die Liebe Gedanken zu machen. Meine gesamte Energie ist ausschließlich auf zwei Dinge gerichtet: auf meinen Sohn und auf die 'Hacienda', die ein Erfolg werden soll.”

Die “Hacienda” war ein kleines Gasthaus, das Julia kurz nach ihrer Scheidung vor einem Jahr gekauft hatte. Da nur wenige Unternehmen im ersten oder zweiten Jahr Gewinne abwarfen, hatte sie davon abgesehen, eine Hilfe einzustellen, und sich stattdessen selbst um alles gekümmert: das Saubermachen, den Garten und die Küche, die gegenwärtig nur für das Frühstück und den Fünfuhrtee zum Einsatz kam. In einigen Jahren würde sie im Gasthaus einen umfassenden Service anbieten wollen, mit Gourmetgerichten und sogar einem monatlichen Kochkurs.

Für den Moment nahmen das Gasthaus und ihr sechsjähriger Sohn Andrew sie genug in Anspruch.

“Und wie läuft das Geschäft?” fragte Penny.

Julia verzog das Gesicht. “Meine beiden einzigen Gäste reisen nächste Woche ab, und wenn ich die freien Zimmer nicht schnell neu belege, muss ich wieder an meine Ersparnisse gehen.”

Ersparnisse, die zu ihrem Unglück jeden Tag geringer wurden. Anfangs hatten die 250.000 Dollar, die sie im Rahmen der Scheidungsvereinbarung erhalten hatte, wie eine gewaltige Summe ausgesehen, doch die “Hacienda” hatte fast jeden Cent verschlungen.

“Das liegt an dieser verdammten Ferienanlage.” Zwar konnte man “Cliffside” vom Hof des Gasthauses nicht sehen, dennoch warf Penny einen wütenden Blick in Richtung der Hügel, hinter denen die feudale, neue Anlage lag. “Du kannst werben, wo du willst. 'Cliffside' ist immer da, wirbt noch größer und schwärmt von seinem 4-Sterne-Restaurant, der Sauna, vom tadellosen Service.” Sie schnaufte aufgebracht. “Die machen mich rasend.”

“Ach, ein wenig Wettbewerb macht mir nichts aus”, erwiderte Julia, während sie weiter Erde in den Topf füllte. “Mir machen diese lächerlich niedrigen Einführungsangebote Sorgen.”

“Die können sie aber bestimmt nicht lange durchhalten.”

Julia nahm eine rosafarbene Begonie und drückte sie in die Erde. “Die Frage ist, ob ich sie durchhalte.”

“Ist es so schlimm?” Als Julia nickte, hockte sich Penny neben sie und reichte ihr die nächste Pflanze. “Hör mal”, sagte sie nach kurzem Zögern. “Ich habe nur deshalb nichts gesagt, weil ich weiß, dass du mir Vorwürfe machen würdest. Aber Frank und ich haben uns vor ein paar Tagen darüber unterhalten, und wenn du ein Darlehen brauchst, bis sich alles stabilisiert hat, dann … na ja, wir haben etwas zurückgelegt und würden uns wirklich freuen, wenn wir es dir leihen könnten.”

Von dem großzügigen Angebot gerührt, umarmte Julia ihre Freundin. Penny hatte schon vor einiger Zeit von einem Darlehen gesprochen, doch sie war stur geblieben. Die “Hacienda” zu kaufen, war ihre Idee und ihr Traum gewesen, und damit waren jegliche Probleme auch ganz alleine ihre eigene Sache.

“Danke”, sagte sie und hoffte, dass ihre Weigerung Pennys Gefühle nicht zu sehr verletzen würde. “Das ist wirklich sehr lieb von dir, und ich weiß deine Großzügigkeit zu schätzen, aber mit einem weiteren Darlehen würde ich mich nur noch tiefer hineinreiten.”

“Du müsstest es nicht so schnell zurückzahlen.”

“Ich weiß.” Julia lächelte sie bedauernd an. “Ich kann es trotzdem nicht annehmen.”

Penny seufzte enttäuscht. “Na gut, ich werde es nicht wieder ansprechen. Aber du sollst wenigstens wissen, dass das Geld da ist, wenn du es brauchst. Okay?”

“Okay.”

Penny drückte leicht Julias Schulter. “Du schaffst das schon. Frank meint, du bist viel zu stur, als dass es ein Fehlschlag werden könnte.” Sie sah auf ihre Uhr. “Wo ich gerade von meinem Traummann rede – ich muss los. Er arbeitet diese Woche von acht bis vier, und ich will noch in etwas Sündiges schlüpfen, bevor er nach Hause kommt.”

Julia verdrehte die Augen. “Du bist unverbesserlich.”

“Ich weiß”, sagte Penny.

Arm in Arm gingen die beiden Frauen zu Pennys Mazda. “Danke für das Geburtstagsgeschenk.” Julia warf einen Blick über die Schulter, um den jetzt förmlich überquellenden Blumentopf zu bewundern. “Das war genau das, was in der Ecke noch fehlte. Da tut es nicht ganz so weh, dass ich vierunddreißig geworden bin.”

“Gut.” Penny schlug die Kofferraumhaube zu. “Vergiss nicht – Dinner chez moi am Sonntag.”

“Andrew sorgt dafür, dass ich es nicht vergesse. Kann ich irgendetwas mitbringen?”

Penny warf ihr einen verschwörerischen Blick zu. “Vielleicht deine Linzer Torte? Die mag Frank ganz besonders.”

Julia lachte. “Dann bringe ich Linzer Torte mit.”

Sie lehnte sich gegen den plätschernden Springbrunnen in der Mitte des Hofs und winkte Penny nach, während sie ihren Wagen über den Kiesweg lenkte. Nachdem sie außer Sichtweite war, ging Julia zum Briefkasten am Straßenrand, um die Post zu holen. Dann kehrte sie zum Gasthaus zurück und bewunderte so wie jeden Tag dessen vollkommene Schönheit.

Obwohl man in Monterey nie weit vom Meer entfernt war, waren es die Nähe zum Ozean und der atemberaubende Ausblick auf die Bucht gewesen, die sie zuerst auf das dreistöckige Gebäude im spanischen Kolonialstil an der Via del Rey aufmerksam hatte werden lassen.

Das Bauwerk an sich war zwar intakt gewesen, hatte sich aber in einem schrecklich heruntergekommenen Zustand befunden. Doch für Julia, die am College einen kaufmännischen Abschluss gemacht und immer davon geträumt hatte, ein Gasthaus zu betreiben, war das Potenzial sofort erkennbar gewesen.

Als sie dann herausgefunden hatte, dass der Eigentümer das Anwesen für gerade einmal 225.000 Dollar verkaufen wollte, hatte sie einen Teil ihrer Scheidungsabfindung genommen, um es zu erwerben, und mit einer Hypothek hatte sie die Instandsetzung finanziert.

Drei Monate später war aus dem ziemlich zerfallenen Gebäude aus dem 19. Jahrhundert ein beeindruckendes Gasthaus mit fünf Schlafzimmern geworden, ein Gebäude mit einem mit roten Ziegeln gedeckten Dach, Bögen und Balkonen, die die Schönheit und die einzigartige Geschichte von Monterey widerspiegelten.

Das Erdgeschoss, das aus der Küche, zwei Schlafzimmern und einem Badezimmer bestand, hatte sie für sich und Andrew genommen, wobei sie der Küche besonders viel Aufmerksamkeit geschenkt hatte, da sie und ihr Sohn dort die meiste Zeit verbrachten. Sie hatte keine Kosten gescheut und eine hochmoderne Küche einbauen lassen, dazu ein runder Eichentisch mit sechs passenden Stühlen und einem Regal, in dem sie ihre antiken spanischen Teller aufgestellt hatte. Die Kochinsel, über der eine beeindruckende Sammlung verschiedenster Kupferkessel hing, bildete den Mittelpunkt des Raums. In einer Ecke nahe den großen Fensterbögen war mit zwei hellbeigen Sesseln, einem kleinen Tisch und dem Fernseher ihr bescheidener Wohnbereich.

Als sie ins Haus zurückgekehrt war, ging Julia zum Küchenfenster und öffnete es, um die frische Mailuft ins Zimmer zu lassen. Auf halber Strecke den Hügel hinab markierte ein Pfahl die Stelle, an der sie einen Jacuzzi bauen lassen wollte. Doch damit würde sie so lange warten müssen, bis sich ihre finanzielle Situation besserte, was hoffentlich schon bald der Fall sein würde.

“Du siehst hübsch aus, wenn du tagträumst.”

Als Julia die vertraute Stimme hörte, machte sie einen Satz. Obwohl so viele Monate verstrichen waren, seit sie Paul verlassen hatte, fühlte sie sich in seiner Gegenwart nicht wirklich sicher. Sie sagte sich, dass sie nichts zu befürchten hatte, und drehte sich um.

Sein braunes Haar war perfekt gekämmt, er lächelte charmant, und sein Jackett hatte er lässig über die Schulter gelegt. Er sah exakt so aus wie das Image, das er in den letzten zwölf Jahren präsentiert hatte – das eines charismatischen, freundlichen und fürsorglichen Politikers.

Julia hatte eine andere Seite an ihm kennen gelernt.

“Du hättest klingeln können”, sagte sie mit mehr Mut, als sie eigentlich verspürte.

Er warf seine Jacke über einen Stuhl. “Ich dachte, die 'Hacienda' würde eine Politik der offenen Tür betreiben.”

“Das gilt nur für die Gäste.” Um sich mit irgendetwas zu beschäftigen, begann sie, einige Gläser wegzuräumen, die sie auf einem Holzgestell neben der Spüle hatte trocknen lassen. “Was willst du, Paul?”

“Mit dir reden.”

Von Zeit zu Zeit vorbeizuschauen, war etwas, was sich ihr Exmann angewöhnt hatte, seit sie aus dem Haus ihrer Mutter ausgezogen war und sich in der “Hacienda” eingerichtet hatte. Er gab zwar immer vor, dass er sich nach Andrews schulischen Leistungen erkundigen wollte, aber Julia wusste es besser. Die spontanen Besuche waren seine Art, sie zu überwachen und sicherzustellen, dass es in ihrem Leben keinen neuen Mann gab.

“Und was gibt es zu besprechen, das nicht auch bis Samstag warten könnte, wenn du Andrew abholst?” Ihr Tonfall wurde sarkastisch. “Oder bist du hier, um mal wieder eine Verabredung mit deinem Sohn abzusagen?”

“Ich bin nicht hergekommen, um mit dir zu streiten, Julia, also könntest du bitte bei der Sache bleiben?”

Sie sah ihn lange forschend an. Er machte einen so ernsthaften Eindruck, dass sie ihm wohl hätte glauben können, wenn sie ihn nicht so gut gekannt hätte. Aber sie hatte diesen Gesichtsausdruck so viele Male gesehen, dass er sie nicht täuschen konnte. “Also gut.” Sie lehnte sich gegen die Spüle. “Du hast fünf Minuten, und jetzt sprich.”

Er betrachtete sie, das vertraute schiefe Lächeln umspielte seinen Mund, während sein Blick sie von Kopf bis Fuß erfasste. “Ich bin so ein Idiot gewesen, Julia”, sagte er und klang auf einmal völlig ernst. “Ich hätte dich nie gehen lassen dürfen.”

“Gehen lassen?” Sie lachte kurz auf. “Wenn ich mich nicht irre, hattest du kaum eine andere Wahl.”

“Ich hätte früher versuchen können, mich zu ändern.”

Ihr entging nicht die unterschwellige Andeutung, dass er sich geändert hatte, sie ging aber nicht darauf ein.

“Die Wahrheit ist”, fuhr er fort, “dass ich mich ohne dich elend fühle.”

Sie öffnete einen Schrank und stellte die Gläser hinein. “Das kann ich mir nicht vorstellen. Nach allem, was ich in der Zeitung lese, scheint es dir nicht an weiblicher Begleitung zu fehlen.”

Er machte eine wegwerfende Geste. “Die Frauen, mit denen ich ausgehe, bedeuten mir nichts. Sie sind nur eine Ablenkung, sie könnten dich niemals ersetzen.”

Julia seufzte, während sie das Küchentuch an einen Haken hängte. “Warum machst du das, Paul?”

“Weil ich dich liebe. Ich werde dich immer lieben. Und weil es mir Leid tut, was ich dir angetan habe. Dass ich dir wehgetan habe.”

“Für eine Entschuldigung ist es jetzt etwas zu spät.”

“Es ist nie zu spät.” Überraschend ging er auf sie zu und fasste sie an den Schultern. “Heirate mich noch einmal, Julia”, sagte er mit tiefer und rauer Stimme. “Lass uns die Vergangenheit vergessen und einen neuen Anfang machen. Ich verspreche, dass ich diesmal alles richtig machen werde.”

Einen Augenblick war Julia so verblüfft, dass sie ihn nur anstarren konnte.

“Sieh mich nicht so an.” Sie konnte einen schmerzerfüllten Ausdruck auf Pauls Gesicht erkennen. “Das ist doch kein so abwegiges Ansinnen, oder? Jedenfalls nicht, wenn du weißt, was ich für dich empfinde.”

Julia schüttelte ungläubig den Kopf. “Ich kann es nicht fassen, dass du mich bittest, dich nach all dem noch einmal zu heiraten, was du mir angetan hast. Die Schläge …”

“Ich habe dir gesagt, dass ich heute ein anderer Mensch bin.”

“Das bin ich auch.” Mit einem Schulterzucken befreite sie sich aus seinem Griff. “Und diese Julia liebt dich nicht mehr.”

“Gibt es einen anderen?” fragte er schneidend.

Wieder seufzte Julia gelangweilt. Auch nach einem Jahr verhielt er sich immer noch eifersüchtig. “Nein, es gibt keinen anderen. Aber selbst wenn es so wäre, geht dich mein Privatleben nichts mehr an.”

“Ich weiß. Tut mir Leid.” Seine Stimme wurde sanfter. “Ich hätte dich nicht etwas so Dummes fragen sollen. Du bist eine wunderschöne Frau, Julia. Ich kann es keinem Mann verdenken, dass er dich haben möchte. Es ist nur …”, er strich mit dem Rücken seines Zeigefingers über ihre Wange, “… ich kann den Gedanken nicht ertragen, dass dich ein anderer Mann berühren oder küssen würde.”

Sie drehte den Kopf zur Seite. “Hör auf damit.”

Er schien sie nicht gehört zu haben. “Du fehlst mir so sehr, Baby. Es gibt Nächte, da kann ich nur an dein Gesicht, an deinen Körper denken.”

Bevor sie ihn stoppen konnte, riss er sie an sich und presste seine Lippen auf ihre, um sie auf eine vertraute und gleichermaßen abstoßende Weise zu küssen.

Sie legte ihre Hände auf seine Brust, stieß ihn so kraftvoll von sich, wie es nur ging, und war kurz davor, ihm eine Ohrfeige zu geben. “Was ist mit dir los? Hast du den Verstand verloren?”

“Sag mir ins Gesicht, dass du nichts empfunden hast.” Er atmete jetzt schneller, sein Blick verfinsterte sich und wurde durchdringender. Wieder zog er sie an sich. “Sag mir, dass dieser Kuss nicht alte Erinnerungen und alte Sehnsüchte in dir geweckt hat.”

Diesmal verpasste sie ihm eine Ohrfeige. “Nein, hat er nicht”, herrschte sie ihn an. “Und mach so etwas nie wieder.”

Sein Gesichtsausdruck veränderte sich, und für einen flüchtigen Moment blitzte dieser alte Zorn wieder auf, als wolle er jeden Augenblick explodieren. Doch dann war diese Wut so schnell verschwunden, wie sie aufgetaucht war. Er strich mit der Hand über seine Wange. “Ich schätze, das habe ich verdient.”

“Allerdings.” Sie machte ein paar Schritte nach hinten. “Und jetzt geh bitte. Andrew kommt bald nach Hause, und ich möchte ihm eine hässliche Szene ersparen.”

“Du hast Recht.” Paul nahm sein Jackett und warf es über seine Schulter. “Aber unser Gespräch ist noch nicht beendet.”

“Für mich schon.”

Er lächelte wieder so strahlend, als hätten sie sich lediglich über einen Elternabend unterhalten. “Ich bin am Samstagmorgen hier. Sorgst du dafür, dass Andrew eine Krawatte trägt? Wir essen mit meinem Vater im Club zu Mittag.”

“Was hast du gemacht?” Charles Bradshaw, ehemaliger Gouverneur von Kalifornien, vergaß den Martini, den er üblicherweise vor dem Abendessen trank, stellte sein Glas mit einem lauten Knall auf den Tisch und starrte seinen Sohn an.

“Ich habe Julia gefragt, ob sie mich heiratet.”

“Ich habe dich schon verstanden. Was ich wissen will, ist, warum in Gottes Namen du etwas derart Dämliches machst!”

“Weil ich sie liebe.”

“Komm darüber hinweg. Die Frau ist es nicht wert. Das ist sie noch nie gewesen.” Charles zupfte an der makellos weißen Manschette. “Sie ist von einem anderen Schlag, Sohn. Ich habe schon vor Jahren versucht, dir das zu sagen, aber du wolltest ja nicht auf mich hören.” Sein Blick wurde kühler. “Um Gottes willen, wenn du so sehr eine Frau brauchst, dann sieh dich um und such dir eine aus. Diese Stadt ist voller hübscher, gebildeter Frauen, die alles tun würden, um die nächste Mrs. Bradshaw zu werden.”

“Ich will keine andere Frau, Dad, ich will Julia.”

Pauls Tonfall ließ Charles zusammenzucken. Er hatte zwei Kinder, eine idealistische Rebellin und einen Jammerlappen. So sehr er auch Sheilas ungebändigten Willen gehasst hatte, so sehr wünschte er sich jetzt, dass Paul etwas von ihrem Rückgrat besaß. Manchmal wunderte er sich, wie der Junge es bloß geschafft hatte, in den Stadtrat gewählt zu werden. Der Name Bradshaw hat dafür gesorgt, dachte er verbittert. Gott allein wusste, was Paul ohne diesen Namen heute machen würde.

Charles folgte ihm zum Fenster und legte eine Hand auf seine Schulter. “Vergiss sie, mein Sohn. Sie ist die Mühe nicht wert.”

Paul wirbelte herum. Seine Augen leuchteten plötzlich. “Warum kämpfst du in dieser Sache so hart gegen mich an, Dad? Verstehst du nicht, dass ich Andrew auch wiederbekomme, wenn ich Julia zurückgewinne? Willst du das etwa nicht? Willst du nicht, dass er wieder in die Familie zurückkehrt?”

Charles' Blick wurde schärfer. Gott, daran hatte er überhaupt nicht gedacht. Andrew. Natürlich wollte er ihn zurückhaben. Er hätte ihn gar nicht erst verlieren dürfen. Aber aus irgendwelchen Gründen, die er noch immer nicht verstand, hatte sich Paul geweigert, Julias Bitte um das Sorgerecht abzulehnen.

“Ich möchte Andrew nicht in ein erbittertes Gerichtsverfahren hineinziehen”, hatte Paul als Erklärung von sich gegeben. “Außerdem ist er bei seiner Mutter ohnehin besser aufgehoben.”

Das war eines der wenigen Male, vielleicht sogar das einzige Mal gewesen, dass sich Paul gegen seinen Vater durchgesetzt hatte. Und Charles hatte nichts tun oder sagen können, um seine Einstellung zu ändern.

Der Gedanke, Andrew doch noch zurückzubekommen, wischte seine schlechte Laune beiseite. Er liebte den Jungen.

Andrew war alles das, was Paul nicht war – geistreich, klug und sturer, als es für ihn gut war. So wie er, Charles. Und so wie seine Tochter Sheila, auch wenn er sich das nicht völlig eingestehen wollte.

Neugierig darauf geworden, wie Julia reagiert haben mochte, fragte er: “Was hat sie denn gesagt, als du um ihre Hand angehalten hast?”

“Sie hat mich abblitzen lassen.” Paul wirkte nicht sonderlich verärgert, während er zum gut sortierten Getränkewagen ging und sich einen großzügig bemessenen Scotch einschenkte. “Genau das hatte ich auch erwartet.”

“Und trotzdem hast du sie gefragt?” Charles lachte leise. “Bist du etwa so masochistisch veranlagt?”

Paul drehte sich um, das Glas in der Hand, ein überheblicher Ausdruck auf dem Gesicht. “Sie wird ihre Meinung schon ändern.”

Charles sah ihn finster an. “Und wie kommst du auf den Gedanken?”

“Ich habe ihr etwas gekauft.” Er wirbelte das Eis in seinem Glas umher, dann nahm er einen Schluck.

“Wenn du glaubst, dass ein teures Schmuckstück sie dazu bringt, ihre Meinung zu ändern, dann hast du dein Geld zum Fenster rausgeworfen. Julia hasst Schmuck.”

“Es ist kein Schmuck.”

“Und warum hast du es ihr nicht heute überreicht, als du bei ihr warst?” fragte Charles ungeduldig. “Du hättest dir vielleicht eine Abfuhr erspart.”

“Weil heute nicht der richtige Zeitpunkt war.” Wieder lächelte Paul selbstgefällig. “Sie bekommt mein Geschenk nach der Pressekonferenz am Samstag. Dann wird sie in einer viel empfänglicheren Stimmung sein. Das garantiere ich dir.”

Charles' Blick wurde noch finsterer. “Ach ja, die mysteriöse Pressekonferenz.” Er verzog mürrisch das Gesicht und wartete darauf, dass Paul mehr sagte. Das war aber nicht der Fall, sodass Charles direkt auf den Punkt kam. “Ich dachte, die hätte etwas mit deiner Arbeit mit der Kommission zur Verbrechensbekämpfung zu tun .”

“Hat sie auch. Zum Teil.”

“Und was hat Julia damit zu tun?”

Pauls Ausdruck nahm überlegene Züge an. “Da wirst du schon bis Samstag warten müssen, Dad.”

Charles machte weiterhin ein besorgtes Gesicht. Es gefiel ihm nicht, wenn Paul Geheimnisse vor ihm hatte. Das erinnerte ihn zu stark an die vielen Ausrutscher, kostspieligen Ausrutscher, die der Junge sich über die Jahre geleistet hatte. Welche Erklärung Paul auch immer am Samstag herausgeben wollte, Charles wäre es lieber gewesen, wenn er zuerst mit ihm darüber gesprochen hätte.

Paul nippte wieder an seinem Scotch und strich sich genussvoll mit seiner Zunge über die Lippen. “Übrigens habe ich eben erfahren, dass die Pressekonferenz im Fernsehen übertragen wird. Denk also dran, rechtzeitig einzuschalten.” Das selbstgefällige Lächeln wandelte sich zu einem frechen Grinsen. “Ich glaube, du wirst auf deinen Sohn stolz sein, Dad.”

2. KAPITEL

Julia parkte ihren schwarzen Volvo vor der Monterey Bank in der Alvarado Street und stellte den Motor ab.

Ihren Gärtneroverall hatte sie gegen einen engen rosafarbenen Rock eingetauscht, der ihre schlanke Hüfte betonte, und eine einfache weiße Baumwollbluse, deren Ärmel sie bis zu den Ellbogen hochgekrempelt hatte.

Ihr fiel ein, dass sie keine Zeit gehabt hatte, um ihr Make-up aufzufrischen, also zog sie ein kleines Schminkset aus ihrer Handtasche, tupfte ein wenig Puder auf ihre sommersprossige Nase, trug eine dünne Schicht Lippenstift auf und fuhr sich mit der Bürste durch ihre Haare in dem Bemühen, das Gewirr aus blonden Locken zu bändigen. Nachdem sie sich für geschäftsmäßig genug aussehend hielt, stieg sie aus und ging zu dem einstöckigen Stuckbau, in dem eine der ältesten Banken von Monterey ihren Sitz hatte.

Sie versuchte zwar, sich keine Gedanken zu machen, dennoch war sie ein Nervenbündel. Phil Gilmore hatte sie kurz zuvor angerufen und gebeten, in seinem Büro vorbeizuschauen. Den Grund hatte er ihr allerdings nicht gesagt. Als Eigentümer und Präsident der Bank war Phil der einzige Bankier in Monterey County gewesen, der ihr das Geld für die Instandsetzung der “Hacienda” gegeben hatte. Und als vor vier Monaten “Cliffside” seine Tore geöffnet und sich einen beträchtlichen Teil ihres Geschäfts einverleibt hatte, war Phil wieder ihre Rettung gewesen, da er sich damit einverstanden erklärt hatte, ihre Hypothekenrückzahlungen so lange auf zwei Beträge pro Monat zu verteilen, bis sich ihr Geschäft wieder erholt hatte.

Phils Sekretärin saß an ihrem Schreibtisch und sah die Post vom Nachmittag durch. LuAnn Snider, die sonst freundlich und gesprächig war, blickte nur kurz auf, vermied es aber, Julia in die Augen zu sehen.

“Sie können gleich durchgehen, Julia”, sagte sie und deutete auf die Tür links von ihr. “Phil erwartet Sie.”

Der Bankier, ein kleiner, rundlicher Mann von Anfang fünfzig, erhob sich gerade, als Julia in sein Büro kam. Ein Blick in sein Gesicht sagte ihr, dass irgendetwas nicht stimmte.

“Danke, dass Sie so schnell herkommen konnten, Julia.” Er wartete, bis sie sich gesetzt hatte, dann nahm auch er wieder Platz.

“Ist etwas nicht in Ordnung?” Julia verbarg ihre Angst nicht. Phils Verhalten machte sie nervös, weshalb sie sich wünschte, dass er ihr umgehend sagte, was ihm so sehr auf den Nägeln brannte.

Etwas war ihm sichtlich unangenehm, da Phil einige Papiere auf seinem Schreibtisch hin und her schob. “Ich weiß nicht, ob es Ihnen bekannt ist, aber ich versuche seit einiger Zeit, die Bank zu verkaufen.”

“Sie wollen die Bank verkaufen?” Julia sah ihn verwirrt an, zumal sie nicht wusste, warum er ihr das sagte. “Sie ist doch seit über hundert Jahren in Familienbesitz.”

“Ich weiß. Aber seit dem Tod meines Vaters ist nichts mehr so wie früher. Außerdem haben sich die Zeiten geändert. All diese Fusionen, große Banken werden immer größer, kleine Banken werden vom Markt verdrängt …” Er schüttelte den Kopf. “Ich müsste zu viel Zeit und Geld investieren, um mit allen anderen mitzuhalten.”

“Das tut mir Leid.” Julia kaute nervös auf ihrer Unterlippe, da ihr klar war, dass Phils Entschluss, die Bank zu verkaufen, auch Auswirkungen auf ihren Tilgungsplan haben würde. War es das, was er ihr sagen wollte?

“Bedauerlicherweise”, fuhr er dann fort, “habe ich Schwierigkeiten, einen Käufer zu finden. Der Eigentümer der 'Commerce Bank' in Carmel ist bereit, mir ein Angebot zu machen, verlangt aber, dass ich einige der … risikoreicheren Hypotheken loswerde.”

Julias Herz setzte einen Moment lang aus. Sie sah Phil lange und kühl an. “Betrachten Sie meine Hypothek als risikoreich, Phil?”

“Nein”, sagte er rasch und sah sie verlegen an. “Ganz und gar nicht. Ich kenne Sie doch, Julia. Sie arbeiten hart, und Sie sind zuverlässig. Die 'Hacienda' in Schwung zu bringen dauert vielleicht etwas länger, als wir beide erwartet haben, weil gleich nebenan das neue Hotel gebaut worden ist. Aber es wird klappen.” Er nahm einen Bleistift und drehte ihn zwischen seinen Fingern hin und her. “Leider sieht Arthur Finney von der 'Commerce' das nicht so.”

“Und wie wollen Sie bestimmte Hypotheken loswerden?”

“Indem ich sie an jemanden verkaufe, der sie übernehmen will.”

“Können Sie das machen?”

Phil warf seinen Stift auf den Tisch. “Kleine Banken unterliegen nicht den strengen Vorschriften, die für größere Institutionen gelten. Außerdem handelt es sich um eine völlig legitime Transaktion. So läuft das überall.”

“Das heißt, Sie verkaufen meine Hypothek an einen Dritten? Ist es das?”

Mit gesenktem Blick schwieg Phil einen Moment lang, dann sagte er leise: “Das habe ich schon gemacht.”

Julia saß kerzengerade in ihrem Sessel. “Was?”

“Ich hatte keine andere Wahl, Julia. Hätte ich es nicht getan, wäre der Verkauf nicht zustande gekommen. Ihre Hypothek war die letzte, die ich veräußert habe. Glauben Sie mir, das war wirklich nicht einfach. Niemand von den Leuten, mit denen ich gesprochen habe, wollte irgendetwas mit der 'Hacienda' zu tun haben.”

Sie machte sich gar nicht erst die Mühe, den Zorn in ihrer Stimme zu verbergen. “Meinen Sie nicht, Sie hätten das erst mit mir besprechen sollen?”

Phil seufzte, als hätte er diese Frage erwartet, auf die er nur ungern antwortete. “Normalerweise ja, aber der Käufer hat mich gebeten, das nicht zu tun. Er wollte, dass die Transaktion vollzogen war, bevor Sie es herausfanden.”

“Und warum?”

“Bevor ich das beantworte, möchte ich Ihnen versichern, dass sich nichts ändern wird. Der Käufer hat mir sein Wort gegeben, dass die Vereinbarung zwischen Ihnen und mir hinsichtlich des Rückzahlungsmodus beibehalten wird.”

Julia atmete erleichtert aus. Zum ersten Mal, seit sie die Bank betreten hatte, konnte sie sich entspannen. “Warum haben Sie das nicht sofort gesagt? Wer ist dieser wunderbare Mensch?”

Phil erwiderte ihren Blick. “Ihr Exmann. Ich habe die Hypothek an Paul verkauft.”

Wie betäubt starrte Julia ihn einfach nur an.

“Ich habe ihn mir nicht ausgesucht, Julia”, sagte er, als wäre damit alles gerechtfertigt. “Er hat von meinen Problemen gehört und ist zu mir gekommen.”

“Wie konnten Sie das machen?” fragte Julia, die an die Kante ihres Sessels gerutscht war.

“Ich hatte keine andere Wahl …”

“Sie und ich kennen uns seit 27 Jahren”, fiel sie ihm ins Wort. “Ich habe hier mein erstes Sparbuch eröffnet, als ich sieben Jahre alt war. Sie haben noch höchstpersönlich mein Guthaben von fünf Dollar in das Sparbuch getippt.”

Phil leckte über seine Lippen. “Ich weiß.”

“Ich dachte, wir wären Freunde, Phil”, sagte sie vorwurfsvoll.

“Das sind wir.”

“Ein Freund fällt aber nicht dem anderen in den Rücken.”

“Julia, Sie sagen das, als wäre die 'Hacienda' in Gefahr. Ich kann Ihnen versichern, dass dem nicht so ist.”

Sie konnte dem nichts entgegensetzen. Sie konnte ihm nicht sagen, dass Paul ihre Hypothek übernommen hatte, weil er sie wieder kontrollieren wollte. Ebenso wenig konnte sie ihm sagen, welch ein Ungeheuer Paul in Wahrheit war. “Was kann er machen?” fragte sie stattdessen.

“Bitte?”

Sie machte eine ungeduldige Handbewegung. “Wenn Paul sich plötzlich entschließt, der mündlichen Vereinbarung zwischen Ihnen und mir nicht mehr nachzukommen, kann er dann auf der vollen Summe zum Monatsersten bestehen?”

“Ich denke, das könnte er, aber …”

“Und wenn ich nicht zahlen kann? Kann er dann die gesamte Hypothek fordern?”

Phils unübersehbarer Adamsapfel sprang auf und ab. “Julia, dazu wird es nicht kommen.”

Julia ließ sich nach hinten in den Sessel fallen. Er hatte alle ihre Fragen beantwortet.

Mit einem Mal machte der Heiratsantrag Sinn, nachdem er wenige Stunden zuvor einfach nur albern geklungen hatte. Paul wollte sich mit ihr seit Langem versöhnen, aber er hatte nie etwas gegen sie in der Hand gehabt. Aber jetzt. Jedenfalls dachte er das. Ich bin nicht völlig hilflos, sagte sie sich. Sie besaß noch immer die Beweisfotos, die sie nach jener entsetzlichen letzten Nacht im Haus ihres Mannes gemacht hatte. Und sie besaß den Bericht des Arztes.

“Vielleicht sollten Sie mit Paul sprechen”, schlug Phil vor und klang erleichtert, dass es nicht zu einem großen Streit gekommen war. “Das wird Sie sicher beruhigen.”

Julia erhob sich. “Ja, das werde ich machen.”

Sie war zu aufgewühlt, um noch etwas zu sagen. Stattdessen nickte sie Phil nur kurz zu und verließ die Bank.

Der Markt auf der Cannery Row von Monterey war ein wöchentlich stattfindendes Ereignis, das Interessierte aus dem ganzen Land anlockte. Exotische Früchte, Gemüse und farbenprächtige Blumen waren großzügig zur Schau gestellt, deren Gerüche sich mit dem betörenden Aroma gerösteter Kaffeebohnen aus der nahe gelegenen Kaffeerösterei vermischten.

Gemeinsam mit ihrer Mutter spazierte Julia durch die Gänge, blieb hier und da an einem ihrer Lieblingsstände stehen, suchte Erdbeeren aus, die sie mit ihren Frühstückshörnchen servieren würde, und Aprikosen, aus denen sie eine köstliche Marmelade kochen konnte.

“Sieh dir diese Schönheit an”, sagte Grace Reid, während sie eine große Pflaume nahm und auf Augenhöhe hielt. “Wo außer in Monterey kann man schon solche Perfektion finden?”

Julia lächelte. “Die Handelskammer hätte dir nie gestatten sollen, in den Ruhestand zu gehen, Mom. Du bist die beste Sprecherin gewesen, die sie je hatten.”

Ihren 57. Geburtstag hatte Grace vor gerade erst zwei Wochen gefeiert, aber sie hatte noch immer viel von ihrer jugendlichen Schönheit und Vitalität bewahrt. Die Jahre hatten sie zwar ein wenig rundlicher werden lassen, doch die wenigen Pfunde zu viel kaschierte sie mit perfekt geschnittenen Hosen und weiten Blusen in leuchtenden Farben.

Nachdem ihr Mann sie 23 Jahre zuvor verlassen hatte und sie sich um ihre beiden kleinen Kinder kümmern musste, war sie jeder großen Herausforderung mit einem Mut und einer Würde begegnet, die Julia zutiefst bewunderte. Sie hatte sich aus der Handelskammer zurückgezogen, für die sie fast vier Jahrzehnte lang gearbeitet hatte, aber sie war noch immer mit ihrer Wohltätigkeitsarbeit im Krankenhaus und einer wöchentlichen Canasta-Runde mit ihren Freundinnen beschäftigt.

“Ich bin froh, dass ich von dir endlich mal eine Reaktion erhalte”, erwiderte Grace auf Julias Bemerkung.

“Wie meinst du das?”

“Seit wir hierher gekommen sind, bist du in Gedanken meilenweit entfernt.” Grace legte die Pflaume auf die sorgfältig aufgestapelte Pyramide zurück und sah ihre Tochter an. “Stimmt etwas nicht?”

Julia verkniff sich ein Lächeln. Sie hatte es noch nie fertig gebracht, vor ihrer Mutter etwas zu verheimlichen. “Nicht wirklich”, antwortete sie. Sie wollte nicht, dass sich ihre Mutter Sorgen machte. “Ich habe nur überlegt, was ich meinen beiden Gästen zum Nachmittagstee servieren soll, weiter nichts.”

“Tatsächlich?” Grace sah sie skeptisch an. “Das kann ich dir nur schwer abnehmen. Normalerweise stellst du die Menüs mehrere Tage im Voraus zusammen. Du bist der bestorganisierte Mensch, den ich kenne.”

“Das ist nicht gerade ein kleines Kompliment, wenn es von dir kommt.”

“Wechsel nicht das Thema.” Grace nahm eine Melone auf, roch daran, um sie dann der Frau am Stand zu geben. “Etwas macht dir zu schaffen, und ich möchte wissen, was es ist.”

Es war sinnlos, weiter die Wahrheit zu verbergen. Grace war genauso stur wie sie selbst und würde nicht aufgeben, ehe sie nicht alle Einzelheiten wusste.

Julia wartete, bis ihre Mutter die Melone bezahlt hatte. Als sie weitergingen, fragte sie: “Wusstest du, dass Phil versucht, die Bank zu verkaufen?”

Grace winkte jemandem zu, den sie kannte, blieb aber nicht stehen. “Ich habe Gerüchte gehört. Woher weißt du es?”

“Phil hat es mir gesagt.” Dann erzählte sie ihrer Mutter die schlechte Neuigkeit, weil sie es nicht länger aushielt, die ganze Angelegenheit für sich zu behalten.

Grace reagierte so entsetzt wie Julia, als sie davon erfahren hatte. “Phil hat deine Hypothek an Paul verkauft? Ohne dir etwas davon zu sagen?”

“Offenbar hatte Paul ihn gebeten, nichts davon zu erzählen, solange der Vertrag nicht unter Dach und Fach war.” Sie hatten den Parkplatz erreicht, auf dem ihr Volvo geparkt war. Julia öffnete den Kofferraum und verstaute alles, was sie und Grace gekauft hatten.

“Warum soll Paul deine Hypothek übernehmen?”

“Um mich mal wieder zu etwas zu zwingen, was ich nicht machen möchte.”

Beide Frauen gingen um den Wagen herum und stiegen ein. “Und was zum Beispiel?” hakte Grace nach.

Julia spürte, dass ihre Mutter sie besorgt ansah, und sie starrte einen Moment lang aus dem Fenster. Grace war die Einzige, die wusste, dass Paul sie geschlagen hatte. Doch da Julia die Vergangenheit hatte hinter sich bringen wollen, kamen sie auf diesen Punkt höchst selten zu sprechen.

“Paul war gestern bei mir.” Sie drehte sich im Sitz zu ihrer Mutter um. “Er hat mich gefragt, ob ich ihn heiraten will.”

“O mein Gott!” Erschrocken legte Grace die Hände vor den Mund. “Warum denn das? Meint er, dass du lebensmüde bist?”

“Er hat gesagt, dass er sich verändert hat. Dass er sich ohne mich elend fühlt und dass er einen Neuanfang unternehmen möchte.”

Grace' Augen weiteten sich vor Schreck. “O Julia, du hast doch nicht Ja gesagt!”

“Natürlich nicht. Ich habe ihm gesagt, dass eine Versöhnung nicht zur Debatte steht.” Sie hielt es für besser, weder ein Wort von Pauls hitzigem Kuss noch von der Ohrfeige zu sagen, die sie ihm verpasst hatte. Es hätte ihre Mutter umso stärker beunruhigt.

“Wie hat er es aufgenommen?”

“Eigentlich war er über meine Reaktion … amüsiert. So als wüsste er etwas, was ich nicht wusste.” Sie lächelte bitter. “Jetzt weiß ich auch, was es war.”

“O Julia, ich kann mir nicht vorstellen, dass er die Hypothek benutzen wird, damit du ihn heiratest. Das ist doch krank. Außerdem hast du etwas gegen ihn in der Hand, das weißt du doch, oder? Das kann er nicht ignorieren.”

“Er denkt nicht sachlich.”

Grace schüttelte den Kopf. “Er war immer besessen von dir. Ich hätte wissen müssen, dass er dich niemals aufgeben würde.” Ein Ausdruck von Besorgnis trat in Grace' grüne Augen. “Und was geschieht jetzt?”

Julia steckte den Schlüssel ins Zündschloss. Sie hatte die ganze Nacht lang wach gelegen und überlegt, wie sie mit dieser Situation umgehen sollte. Die Entscheidung, Paul zur Rede zu stellen, begeisterte sie nicht, aber sie sah keine Alternative. “Ich warte ab, bis Paul heute Abend von der Ratssitzung zurückkommt”, sagte sie. “Dann gehe ich zu ihm nach Hause und rede mit ihm. Ich will hören, was er plant.”

“Vielleicht plant er überhaupt nichts.”

Julia startete den Wagen und rangierte aus der Parklücke. “Paul macht nie etwas grundlos, Mom. Das weißt du.”

“Mag sein, aber mir gefällt die Vorstellung nicht, dass du zu ihm nach Hause gehst.”

“Mir wird nichts passieren.”

“Lass mich dich wenigstens begleiten.”

Julia schüttelte den Kopf. “Nein, Mom. Das ist eine Sache zwischen Paul und mir.” Sie beugte sich hinüber und drückte die Hand ihrer Mutter. “Mir wird nichts zustoßen. Paul ist nicht dumm. Er wird mich ganz sicher nicht schlagen, immerhin kandidiert er zur Zeit für den Posten des County Commissioners.” Sie lächelte. “Außerdem hat er um meine Hand angehalten. Solange er an die Chance glaubt, dass ich meine Meinung ändere, wird er sich von seiner besten Seite zeigen.”

“Du musst das ja wissen.”

An der Art, wie Grace ihre Hände gefaltet in ihren Schoß legte, erkannte Julia aber, dass sie davon nicht überzeugt war.

Auch jetzt, nach zwölf Monaten, war es für Julia immer noch schwierig, das Haus zu betrachten, in dem sie und Paul sechs Jahre lang gelebt hatten, ohne dass ihr ein eiskalter Schauder über den Rücken lief.

Das zweistöckige Gebäude im Tudorstil war ein Hochzeitsgeschenk von Charles gewesen, eine großzügige Geste, um seine neue, sehr leichtgläubige Schwiegertochter zu beeindrucken. Damals war sie so unschuldig gewesen – und völlig verzaubert davon, dass Paul Bradshaw sich für sie als seine Ehefrau entschieden hatte. Paul, ein Mitglied des Stadtrates von Monterey, war ein Mann, über den viele sagten, dass er eines Tages Gouverneur von Kalifornien werden würde.

Anfangs war er der perfekte Ehemann, liebevoll, aufmerksam und aufopfernd. Julia, die nur zu bereit war, ihm zu gefallen, hatte eingewilligt, ihre Karriere im Hotelmanagement aufzugeben, um ihren Ehemann bei dessen beruflichem Vorankommen zu unterstützen. So wie Pauls Mutter und Großmutter es vor ihr auch getan hatten.

Doch an dem Tag, an dem Andrew ein Jahr alt wurde, änderte sich alles. Während Julia den Kuchen anschnitt, verkündete Charles stolz, dass sein Enkel der Tradition der Bradshaws folgen und auf eines der ältesten und exklusivsten Internate des Landes gehen würde: die James Clark Academy in Alexandria, Virginia.

“Ich musste ein paar Freunde anrufen, die mir noch einen Gefallen schuldeten”, sagte er mit einem zufriedenen Lachen. “Aber ich habe meinen Jungen auf die Liste bekommen.”

Julia war entsetzt darüber, dass sie an dieser Entscheidung nicht beteiligt worden war, und sie war wütend auf Paul, der mit seinem Vater einer Meinung war. Sie stieß beide Männer vor den Kopf, indem sie erklärte, dass ihr Sohn nicht auf ein Internat geschickt würde, und dass ab sofort jeder Plan, der Andrew betraf, mit ihr besprochen werden müsse.

Als sie und Paul an dem Abend nach Hause kamen, eskalierte der Streit noch weiter. Paul hatte ihr mit aschfahlem Gesicht vorgeworfen, sie sei undankbar und wolle aus Andrew ein Muttersöhnchen machen. Julia ließ sich diesen Vorwurf nicht gefallen und bezahlte teuer dafür. Ohne Vorwarnung schlug Paul sie mit dem Handrücken. Die Wucht des Schlags war so groß, dass ihr Kopf zur Seite gerissen und sie gegen ein Bücherregal geschleudert wurde.

Während sie zu Boden glitt und Paul entsetzt ansah, eilte der zu ihr, nahm sie in seine Arme, murmelte, wie sehr er sie liebte und wie Leid ihm das tue, und er schwor, dass so etwas nie wieder geschehen würde.

Es geschah wieder. Viele Male.

Zunächst war Julia davon überzeugt, dass seine Wutausbrüche ihr Fehler waren. Sie war zu unreif, zu ungebildet. Sie verstand nicht in vollem Umfang, welche Verantwortung auf ihrem Ehemann lastete, nicht nur als ein Bradshaw, sondern auch als der Sohn des beliebtesten Exgouverneurs von Kalifornien. Oft hatte sie das Gefühl, dass seine Frustration von der tief sitzenden Furcht ausgelöst wurde, er könne nie so gut sein wie Charles, ganz gleich, wie sehr er sich anstrengte und wie viel er erreichte.

Weil sie ihren Mann liebte, versuchte sie mit aller Kraft die Frau zu sein, die Paul haben wollte. Sie schloss sich verschiedenen gemeinnützigen Organisationen an und wandte sich an verschiedene Frauengruppierungen. Und als Paul den Wahlkampf für seine Wiederwahl startete, war sie bis zur Siegesnacht immer an seiner Seite.

Doch da seine Beliebtheit zunahm und sie mehr mit anderen Menschen zusammenkommen mussten, zeigte sich bald eine neue Seite: Pauls krankhafte und grundlose Eifersucht. Es dauerte nicht lange, da beschuldigte er sie, mit anderen Männern zu flirten und ihn zu betrügen.

Ihr hartnäckiges Abstreiten, das er als eine andere Form des Betrugs auslegte, schürte seine Wut noch stärker.

Als Julia klar wurde, dass er nicht aufhören würde, sie zu misshandeln, stellte sie Paul ein Ultimatum. Entweder begab er sich in eine Therapie, oder sie würde ihn verlassen.

Seinen Gesichtsausdruck in jener Nacht würde sie nie vergessen. Er starrte sie einen Moment lang mit undurchschaubarer Miene an, dann legte er seine Hände auf ihre Schultern und drückte sie langsam und sanft aufs Sofa. Mit furchterregend ruhiger Stimme sagte er ihr, dass sie Andrew nie wieder sehen würde, wenn sie ihn verließ. Dafür würde Charles sorgen.

Als sie drohte, ihn wegen der Misshandlungen zu verklagen, lachte er nur. Wer würde ihr schon glauben? Wie wollte sie ihre lächerlichen Behauptungen untermauern? Hatte sie Zeugen? Hatte er ihr jemals eine bleibende Verletzung zugefügt? Oder war er in der Öffentlichkeit ihr gegenüber laut geworden? Hatte sie jemals irgendjemanden über ihre so genannte Prügel ins Vertrauen gezogen?

Während er leise und langsam auf sie in einer Weise einredete, in der man mit einem Kind spricht, erkannte sie die Ausweglosigkeit ihrer Situation. Sie wusste, dass Pauls Ankündigung, ihr Andrew für alle Zeit wegzunehmen, keine leere Drohung war. Charles Bradshaw war ein reicher, mächtiger und einflussreicher Mann, der alles erreichen konnte und der sich sogar das Sorgerecht für ein Kind würde erkaufen können.

Sie hatte keine andere Wahl, als ihr Ultimatum zurückzuziehen. Sie würde bleiben und vortäuschen, dass sie einlenkte. Und wenn Paul sie das nächste Mal schlug, dann würde sie sich rächen, aber nicht, indem sie zurückschlug. Das war zwecklos. Vielmehr würde sie die Beweise zusammentragen, die sie benötigte, um mit Andrew aus dieser Ehe herauszukommen.

Dieser Tag kam früher als erwartet. Es war ein milder Frühlingsabend, und sie befanden sich auf dem Rückweg von einer Wohltätigkeitsveranstaltung, als Paul einen Streit begann. Der Anlass war nichtig, eine völlig unbedeutende Bemerkung, die Julia über einen ihrer Freunde gemacht hatte. Der Wutausbruch endete erst, als Julia mit blutig geschlagenen Lippen erschöpft und hilflos auf dem Boden lag.

Am nächsten Morgen waren Schmerz und Angst das Einzige, was Julia fühlte, aber sie war auch fest entschlossen. Sie machte Fotos von ihrem blau geschlagenen Gesicht und fuhr nach Santa Cruz zu einem Arzt.

Am Abend desselben Tags war sie ins Haus zurückgekehrt, nachdem sie Andrew bei ihrer Mutter abgesetzt hatte. Ihre neu entdeckte Macht ließ sie beinahe leichtsinnig werden, während sie Paul ihre Forderungen erklärte: ihr Schweigen im Austausch gegen ihre Freiheit und das alleinige Sorgerecht für Andrew.

Paul war sich im Klaren, wozu sie in der Lage war, und willigte ein. Er war ein ehrgeiziger Mann mit großen Zukunftsplänen, doch ein einziges Wort von ihr hätte genügt, um aus dieser Zukunft einen Scherbenhaufen zu machen.

Augenblicke später war sie zum letzten Mal aus diesem Haus gegangen.

Und jetzt saß Julia in ihrem Volvo und betrachtete das große, hell erleuchtete Gebäude, während sie sich an jeden Streit, jeden Vorwurf und an jeden Schlag erinnerte. Sie umklammerte das Lenkrad noch fester. Wie konnte Paul nur glauben, dass sie in diese Hölle würde zurückkehren wollen, auch wenn die “Hacienda” dabei auf dem Spiel stand?

Sie öffnete die Fahrertür, zögerte aber, da sie mit einem Mal von Zweifeln erfüllt war. War es richtig, Paul wegen der Hypothek zur Rede zu stellen? War es sinnvoll, ihm zu zeigen, dass sie sich Sorgen machte? Sicher, sie wollte wissen, was er vorhatte. Aber was, wenn ihre Mutter Recht hatte und er tatsächlich keine hinterhältigen Absichten verfolgte? Sie wollte ihn ganz bestimmt nicht auf dumme Gedanken bringen.

Sie zog die Tür wieder zu. Sie hasste es, so verängstigt und unentschlossen zu sein, aber so reagierte sie immer noch auf Paul.

Fünf Minuten lang saß sie einfach da, bis sie einen Entschluss fasste. Sie startete den Wagen und fuhr nach Hause.

“Oh, Mom, muss ich diese blöde Krawatte tragen?”

Julia unterdrückte ein Lächeln, während sie vor ihrem sechs Jahre alten Sohn in die Hocke ging. Durch sein blondes Haar, die blauen Augen und den kräftigen kleinen Körper erinnerte er sie immer an ihren verstorbenen Bruder Jordan. Und so wie Jordan war auch Andrew ein Energiebündel, das nicht eine Minute lang stillsitzen konnte.

“Ja, das musst du”, erwiderte sie und zog den Windsorknoten zurecht, den er gerade in eine Schieflage gebracht hatte. “Du gehst nachher mit deinem Großvater zum Mittagessen in den Club, und du weißt, wie genau er es nimmt, wenn es um das äußere Erscheinungsbild geht.”

“Aber ich bin noch ein kleiner Junge. Ich muss nicht aussehen wie ein Erwachsener. Und heute ist Samstag.”

Andrews gesunder Menschenverstand, der schärfer war als bei den meisten erwachsenen Männern, die sie kannte, brachte Julia zum Lachen. “Ich weiß, Schatz.” Sie strich über die Krawatte und zwinkerte ihm zu. “Tu mir einfach den Gefallen, einverstanden?”

Andrew seufzte. “Ich hasse den Club. Da sind alles nur alte Männer mit gelben Zähnen und mit stinkenden Zigarren. Die sagen alle immer nur: 'Als ich in deinem Alter war …'“

Julia musste laut auflachen, als Andrew perfekt die zittrige Stimme eines alten Mannes imitierte. “Du bist ein richtiger Komiker, weißt du das?”

Als er einen Finger zwischen Krawatte und Hemdkragen steckte, um den Knoten zu lockern, schob sie seine Hand zur Seite. “Ich mache dir einen Vorschlag. Wenn du deine Krawatte in Ruhe lässt und dich beim Mittagessen benimmst, gehen wir anschließend in die Videothek und leihen uns einen Film aus. Du darfst aussuchen.”

Andrews Gesichtsausdruck wechselte von Verärgerung zu purer Begeisterung. “Können wir Die Rache der Ninjas holen?”

“Schon wieder? Den hast du doch bereits zweimal gesehen.”

“Ja und? Jimmy hat ihn viermal gesehen.”

Julia lachte. “Na ja, wenn das so ist …”

Sein Lächeln wurde schelmisch. “Können wir anschließend noch bei Ben und Jerry ein Eis essen?”

“Du bist ein zäher Verhandlungspartner, Schatz.” Sie schob eine widerspenstige Haarsträhne zurück. “Na gut, ich schätze, das Geld für zwei Eishörnchen können wir noch verprassen.”

“Cool.” Mit einem Mal konnte er es nicht abwarten fortzukommen und sah auf die Küchenuhr. “Dad ist spät dran.”

Julia seufzte und hoffte, dass Paul es nicht vorzog, wieder mal nicht aufzutauchen. Jetzt, da er sich zur Wahl für den Posten des County Commissioner hatte aufstellen lassen, stand sein Sohn ganz unten auf der Liste seiner Prioritäten.

“Er wird bald hier sein”, sagte sie halbherzig.

Weitere zehn Minuten verstrichen, dann beschloss sie, bei ihm zu Hause anzurufen. Zu ihrer Überraschung wurde der Hörer bereits nach dem ersten Klingeln abgenommen, aber es war nicht Paul. Sie hörte eine männliche Stimme, die sie nicht kannte.

“Hallo?”

“Ähm …” Sie zögerte. “Könnte ich bitte Paul Bradshaw sprechen?”

“Wer ist da?”

“Julia Bradshaw, Pauls Exfrau. Und wer sind Sie?”

Es folgte eine kurze Pause, dann sagte der Mann: “Mein Name ist Detective Hank Hammond vom Monterey Police Department. Ich fürchte, ich habe schlechte Neuigkeiten für Sie, Mrs. Bradshaw. Auf Ihren Exmann wurde geschossen. Er ist tot.”

3. KAPITEL

Julia war vor Schock wie gelähmt. Paul konnte nicht tot sein, sie hatte erst vor zwei Tagen noch mit ihm gesprochen. Er hatte direkt vor ihr gestanden, hier in der Küche.

“Was haben Sie gesagt?” Ihre Stimme klang weit entfernt und so unwirklich wie die Worte, die sie gerade gehört hatte.

“Mr. Bradshaw ist tot, Ma'am”, wiederholte Detective Hammond. “Es tut mir Leid.”

“Aber das ist nicht möglich. Er …” Sie hielt inne, weil sie nicht sicher war, ob sie Pauls Besuch erwähnen sollte.

Der Detective bemerkte sofort ihr kurzes Zögern. “Er … was, Mrs. Bradshaw?”

“Nichts.” Sie sah zu Andrew, der immer noch mit seiner Krawatte kämpfte. Gott, wie sollte sie ihm das nur beibringen? “Wissen Sie, was geschehen ist?” fragte sie. “Oder wer es getan hat?”

“Noch nicht.” Der Detective klang sachlich, als würde er solche Fragen routinemäßig beantworten. “Ich muss mich mit Ihnen unterhalten, Mrs. Bradshaw. Wo kann ich Sie finden?”

Wusste er das nicht? Wusste das nicht jeder in Monterey? “Ich betreibe ein Gasthaus an der Via del Rey – die 'Hacienda'.”

“Ich komme gleich bei Ihnen vorbei.”

Andrew beobachtete sie. Sein Gesichtsausdruck war plötzlich ernst geworden. Julia hockte sich vor ihm nieder, umschloss seine Hände und sah sie einen Moment lang an. Durch Pauls vollen Terminplan waren er und Andrew sich nie nahe gewesen, aber der Junge liebte seinen Vater, sodass der Verlust ihm wehtun würde.

“Was ist, Mom?” fragte er. “Mit wem hast du denn da gesprochen?”

“Mit einem Polizisten.” Sie sah auf. “Ich befürchte, dass es einen Unfall gegeben hat.”

In den blauen Augen zeichnete sich Angst ab. “Ist es Dad?” Er fixierte ihr Gesicht. “Es ist Dad, ja? Was ist passiert? Wo ist er?”

Ein Kloß bildete sich in Julias Hals. “Du musst jetzt sehr tapfer sein, Andrew. Und sehr stark.”

“Was ist mit Dad?” Seine Stimme zitterte, als würde er bereits die Antwort ahnen.

Julia atmete tief durch und hasste sich für den Schmerz, den sie ihm gleich bereiten würde. “Er ist tot, Darling.”

Als wäre mit einem Mal ein gewaltiges Gewicht auf ihn herabgestürzt, sackten seine Schultern herab. Er presste die Lippen aufeinander, um nicht weinen zu müssen. Doch er konnte die Tränen nicht zurückhalten, stieß ein herzzerreißendes Schluchzen aus und sank in Julias Arme, um sein Gesicht gegen ihre Schulter zu pressen.

Von seiner Trauer am Boden zerstört, drückte Julia ihn an sich, presste ihren Mund auf sein Haar. “Es tut mir so Leid, Andrew, so schrecklich Leid.”

Nach einer Weile löste sich Andrew mit gerötetem Gesicht und rot unterlaufenen Augen aus der Umarmung. “War es ein Autounfall?”, fragte er flüsternd. Mit einer Geste, die Julia an seine frühe Kindheit erinnerte, wischte er sich die Tränen mit dem Hemdsärmel fort.

“Nein.” Es machte keinen Sinn, ihn anzulügen. Paul war ein bekannter Mann. In wenigen Stunden kannte man in der ganzen Stadt die Umstände seines Todes, auch auf dem Schulhof. “Er wurde erschossen.”

Andrew riss die Augen auf, als würde der Gedanke sein Vorstellungsvermögen übertreffen. Dann funkelte durch den Schleier aus Tränen Wut, stechend und heiß. “Wer hat das getan?” wollte er wissen. “Wer hat meinen Dad umgebracht?”

“Das wissen wir noch nicht, Darling.” Sie schob erneut die hartnäckige Strähne zurück, die wieder nach vorne fiel. “Die Polizei ist jetzt dort. Die wird herausfinden, wer es getan hat.”

Wieder lief eine Träne über seine Wange, aber diesmal ignorierte er sie. “Letzte Woche war ich böse auf ihn”, sagte er verschämt.

“Warum denn, Schatz?”

“Weil er nicht mit mir zum Baseballspiel gegangen ist, obwohl er es mir versprochen hatte.”

Sie verstand sein Schuldgefühl. Ihr war es im vergangenen Jahr nicht anders ergangen, als ihr Bruder Jordan getötet wurde, der als Detective beim Monterey Police Department gearbeitet hatte. “Dein Vater wusste, dass du ihn geliebt hast”, sagte sie sanft und hoffte, seinen Schmerz zu lindern. “Und er wusste auch, dass du böse auf ihn warst, weil du Zeit mit ihm verbringen wolltest.”

“Aber er wollte keine Zeit mit mir verbringen.”

Diese Worte trafen sie mitten ins Herz. “O Andrew, das ist nicht wahr”, log sie. “Er hatte einfach nicht so viel Freizeit, das ist alles.”

Mit gesenktem Kopf fragte er: “Weiß Grandpa es auch schon?”

Charles. Für einen kurzen Moment schloss sie ihre Augen und erinnerte sich an seine Bestürzung, als vor acht Jahren seine Tochter ums Leben gekommen war. Und jetzt auch noch Paul.

Mit einem Mal war jegliche Feindseligkeit gegen diesen Mann wie weggewischt, stattdessen empfand sie für ihn tiefes Mitgefühl. “Ich bin sicher, die Polizei hat ihn sofort angerufen. Du kannst später mit ihm reden, wenn du willst.”

Sie sah auf die Uhr. Der Detective würde jeden Moment eintreffen, und sie wollte nicht, dass Andrew bei ihr war, wenn er sie befragte. “Erst mal werde ich jetzt Grandma anrufen, damit sie rüberkommt. Einverstanden?”

Er nickte. Einen Arm um seine Schultern gelegt, nahm Julia das schnurlose Telefon und drückte mit dem Daumen die Kurzwahltaste. Mit wenigen Worten schilderte sie ihrer Mutter die Situation.

Bevor Julia überhaupt fragen konnte, sagte Grace: “Ich komme sofort vorbei, Kind.”

Nachdem sie aufgelegt hatte, brachte Julia Andrew zu einem der Sessel in der Ecke des Zimmers. Durch das geöffnete Fenster war der Schrei einer Möwe zu hören, die in Richtung Ozean flog. Julia setzte sich und zog Andrew an sich.

So blieben sie sitzen, bis Grace eintraf.

Detective Hank Hammond war ein mittelgroßer, leicht übergewichtiger Mann mit schütterem schwarzen Haar und müden Augen, die ihn aussehen ließen, als hätte er gerade eine Doppelschicht hinter sich gebracht.

“Mrs. Bradshaw?” Als sie nickte, zeigte er kurz seine Marke. “Ich bin Detective Hammond.”

Julia ließ ihn ins Haus. Zum Glück waren die beiden Gäste der “Hacienda” Frühaufsteher und hatten das Haus bereits verlassen, um Ausflüge zu machen.

“Haben Sie seit unserem Telefonat noch irgendetwas herausbekommen?” fragte Julia, während der Detective ihr in die Küche folgte.

“Nur, dass es kein Raubüberfall war und dass keine Einbruchsspuren zu finden sind. Derjenige, der Ihren Exmann umgebracht hat, besaß entweder einen Schlüssel oder wurde von ihm ins Haus gelassen.”

Sein Blick schweifte durch die Küche, ehe er sich wieder ihr zuwandte und sie aufmerksam ansah. “Haben Sie noch einen Schlüssel für sein Haus?”

Julia schüttelte den Kopf und verspürte eine unerklärliche Nervosität. “Nein, nicht mehr.”

“Das ist gut.” Er holte einen kleinen Notizblock aus seiner Brusttasche und blätterte, bis er ein leeres Blatt fand. “Wissen Sie, ob Ihr Mann irgendwelche Feinde hatte?” Seine Stimme war so matt und farblos wie sein gesamtes Erscheinungsbild. “Irgendjemand, der ihn gerne tot gesehen hätte?”

“Da fällt mir auf Anhieb nur Vinnie Cardinale ein.” Es war kein Geheimnis, dass Paul seit seiner Aufnahme in die Kommission zur Verbrechensbekämpfung einen eifrigen Krieg gegen den Gangsterboss aus San Francisco geführt hatte. Er hatte nicht nur Cardinales Aktivitäten blockiert, in der Cannery Row einen Nachtklub zu eröffnen, er hatte auch geschworen, sich durch Cardinales Aktivitäten in Monterey zu graben, bis er genug zusammengetragen hatte, um den Mann für alle Zeiten hinter Gitter zu bringen.

“Und von Cardinale abgesehen?”

“Paul und ich haben nicht über unser Privatleben gesprochen, Detective, darum weiß ich nicht …”

“Aber Sie haben sich noch gesehen.”

Sie atmete tief durch, um sich zu beruhigen. “Ab und zu. An den Wochenenden, die Andrew bei ihm verbrachte.”

“Und … war das eines von diesen Wochenenden?”

“Eigentlich war heute der Tag, an dem das nachgeholt werden sollte. Paul hatte die letzten beiden Besuchstage verpasst.”

Sie bedauerte ihre Worte in dem Moment, in dem sie sie aussprach. Die Bemerkung ließ sie unfreundlich klingen, fast schon vorwurfsvoll. Das Letzte, was sie wollte, war, der Polizei den Eindruck zu vermitteln, dass sie einen Groll gegen ihren Exmann hegte.

“Dann haben Sie ihn wann zum letzten Mal gesehen?”

Julia zögerte. “Donnerstagnachmittag”, sagte sie zögernd. “Er war für ein paar Minuten hier.”

“Um seinen Sohn zu sehen?”

Obwohl sich sein Gesichtsausdruck praktisch nicht veränderte, fühlte sie sich zunehmend unbehaglich. Sie verlagerte ihr Gewicht von einem Fuß auf den anderen. “Nein, er wollte mich sehen.”

Der Polizist wandte den Blick kurz von ihr ab, um etwas auf seinem Notizblock zu notieren. “Irgendein bestimmter Grund?”

Sie zuckte mit den Schultern und versuchte, gelassen zu erscheinen. “Er wollte nur mit mir reden, nichts Wichtiges.”

“Erzählen Sie mir es trotzdem.”

Der Gedanke, ihn zu belügen, verschwand so schnell, wie er ihr in den Sinn gekommen war. Sie war entsetzlich schlecht im Lügen, und warum sollte sie ihm nicht die Wahrheit sagen? Sie hatte nichts zu verbergen. Es gab nichts, wofür sie sich schuldig fühlen musste. “Er hat mich gefragt, ob ich ihn heiraten würde.” Das klang jetzt noch lächerlicher als beim ersten Mal, als sie diese Worte gehört hatte.

“Tatsächlich? Und was haben Sie geantwortet?”

Julia versuchte, seinem Blick standzuhalten, ohne mit der Wimper zu zucken. “Ich habe ihm eine Abfuhr erteilt.”

“Wie hat er die aufgenommen?”

“Sehr gut”, sagte sie wahrheitsgetreu. “Ich glaube, dass er die Antwort schon kannte, bevor er mich gefragt hatte.”

Hammond notierte wieder etwas. “Was geschah dann?”

Julias Herz schien einen Salto zu machen. Es war eine direkte Frage, der sie nicht so einfach ausweichen konnte. “Was meinen Sie?” fragte sie, um Zeit zu schinden.

“Ich meine, hat er versucht, Sie umzustimmen? Hat er Sie um ein Rendezvous gebeten? Oder ist er einfach gegangen?”

“Er ging kurz darauf.” Sie umklammerte die Spüle hinter ihr und zwang sich, Hammond anzusehen, während sie betete, er möge nicht bemerken, dass sie ihn anlog, indem sie etwas verschwieg. “Er sagte, er käme am Samstagmorgen zurück, um Andrew abzuholen.”

“Und Sie haben ihn nicht noch einmal gesehen?”

“Nein.”

Detective Hammond verzog den Mund und sah sich um, als versuche er, sich jeden Winkel und jeden Gegenstand im Raum zu merken. “Das ist ein wundervolles Haus. Es gehörte dem alten Sandi Garcia, oder?”

Julia nickte und war über sein plötzliches Interesse an ihrem Gasthaus ein wenig überrascht. “Ja, das stimmt.”

Er nickte. “Sie haben hier mit der Renovierung großartige Arbeit geleistet.”

“Danke.”

Er sah sie wieder an. “Wo waren Sie gestern Abend zwischen elf Uhr und Mitternacht, Mrs. Bradshaw?”

Obwohl sie die Frage erwartet hatte, begann ihr Herz zu rasen. Ihr Gesicht hatte offenbar ihre Angst erkennen lassen, da er anfügte: “Es ist nur eine Routinefrage. Sie hilft, den Kreis der Verdächtigen einzugrenzen.”

“Ich verstehe.” Sie versuchte zu schlucken, doch ihre Kehle war so trocken, dass es ein nahezu unmögliches Unterfangen war. “Ich war hier.” Es stimmte, aber nur ganz knapp. Sie war vor den 11-Uhr-Nachrichten zur “Hacienda” zurückgekehrt. “Wurde Paul in dieser Zeit ermordet?”

“Das ist nur eine grobe Schätzung. Eine genauere Todeszeit bekommen wir, wenn der Gerichtsmediziner die Autopsie abgeschlossen hat.”

Eine genauere Todeszeit. Es erschien ihr noch immer unmöglich, dass er über Paul sprach.

Hammond klopfte mit dem Kugelschreiber gegen sein Kinn. “War außer Ihnen noch jemand hier? Jemand, der bestätigen kann, dass Sie zu Hause waren?”

Noch eine Routinefrage? überlegte sie. Oder hatte er sie noch nicht als Verdächtige ausgeschlossen? “Meine Mutter war hier.”

Er schien überrascht. “Wohnt sie hier?”

“Nein, sie …” Julia widerstand dem Drang, eine Hand auf ihren Bauch zu legen, wo ein kaltes Gefühl sich langsam ausbreitete. “Sie übernachtet manchmal hier, wenn … wenn sie für mich auf meinen Sohn aufpasst.”

Die Augen des Detective hatten ihre Schläfrigkeit verloren. “Hat sie gestern Abend auf Ihren Sohn aufgepasst, Mrs. Bradshaw?”

O Gott, hatte sie wirklich geglaubt, sie könne ihm etwas so Maßgebliches verschweigen? “Ja.” Ihr Herz schlug so fest, dass sie sich fragte, ob Hammond es auch hören konnte. “Ich war eine Zeit lang unterwegs.”

“Und wo waren Sie?”

Einige Sekunden verstrichen, dann sagte sie im Flüsterton: “Bei Pauls Haus.”

Unter dem zerknitterten braunen Jackett strafften sich die Schultern des Detective. “Sagten Sie nicht, dass Sie Paul Bradshaw nicht mehr gesehen hatten, nachdem er am Donnerstagnachmittag auf der 'Hacienda' gewesen war?”

“Ich habe ihn auch nicht mehr gesehen.” Sie war froh, dass die Wahrheit endlich ausgesprochen war, und sprach mit festerer Stimme weiter. “Ich bin zu seinem Haus gefahren, aber ich bin nicht hineingegangen. Ich habe nur im Wagen gesessen und versucht, eine Entscheidung zu treffen. Nach etwa zehn Minuten bin ich dann zurück nach Hause gefahren.”

“Sie sind zu seinem Haus gefahren und haben da einfach nur geparkt? Warum?”

Julia sah aus dem Fenster. Der Frühnebel hatte sich aufgelöst und war einem blauen Himmel und strahlendem Sonnenschein gewichen. Eine milde Meeresbrise wehte durch das geöffnete Fenster in den Raum und trug den frischen, salzigen Geruch der See mit sich. Alles sieht so friedlich aus, dachte sie. Ein ganz normaler Tag. Aber sie wusste, dass von diesem Moment ihr Leben nie wieder so friedlich und normal sein würde.

“Ich hatte an dem Tag etwas erfahren”, sagte sie widerstrebend. “Etwas, das ich mit Paul besprechen wollte.”

Der Blick des Detective war scharf und forschend. “Und was war das?”

Während sie gegen die Panik ankämpfte, kam sie zu der Einsicht, dass sie es ihm ebenso gut sagen konnte. Früher oder später würde er sowieso dahinterkommen. Sie löste sich von der Spüle, an der sie sich in den letzten zehn Minuten festgeklammert hatte, und ging hinüber zur Kücheninsel. Mit einer Hand, die sie versuchte, ruhig zu halten, nahm sie die Butterschale von der Theke und stellte sie zurück in den Kühlschrank. “Am Tag nach Pauls Besuch erfuhr ich, dass er von der Bank meine Hypothek für die 'Hacienda' übernommen hatte.” Indem sie beschäftigt tat, musste sie den Detective nicht ansehen, während sie weiterredete. “Darüber wollte ich mit ihm reden.”

“Und darum fuhren Sie spätabends bis zu Mr. Bradshaws Haus. Und als Sie dort ankamen, überlegten Sie es sich anders und kehrten um.”

Das waren mehr oder weniger ihre Worte, doch als Hammond sie aussprach, klangen sie völlig unglaubwürdig. “Ja”, sagte sie, während sie ihre Schultern straffte und sich wieder zu ihm umdrehte. “Genau das habe ich gemacht.”

“Warum haben Sie es sich anders überlegt?”

Die Angst, die sich ihren Magen verknotet hatte, wurde noch größer. Wie eine Schlinge, dachte sie. “Ich war zu der Ansicht gelangt, dass ich das Thema nicht von mir aus anschneiden sollte. Ich dachte mir, dass er es mir über kurz oder lang von sich aus sagen würde.”

Wieder verzog Hammond den Mund, als versuche er, sich über irgendetwas klar zu werden, dann fragte er sie plötzlich: “Besitzen Sie eine Waffe, Mrs. Bradshaw?”

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