Widmung
Für meine wunderbaren Jungs, George und Dylan
1. Kapitel
Mo Merrydrew raste mit dem Fahrrad durch ihr Heimatdorf Lower Donny. Ihr schwarzes Haar flatterte im Wind, sie trampelte so schnell, dass die Umrisse ihrer langen Beine verschwammen, und sie atmete Wölkchen in die kühle Abendluft. Mit einer Hand lenkte sie, mit der anderen hielt sie sich das Handy ans Ohr.
»Hi, Lou. Ich bin’s, Mo.«
»Du klingst gut gelaunt«, sagte Lou. »Warst du wieder in der Bibliothek?«
»Jep«, sagte Mo, »und ich habe superviel zusätzlichen Lesestoff für die Naturwissenschaftsarbeit geholt, unter anderem ein neues Buch über Bandwürmer, das der Bibliothekar für mich zur Seite gelegt hat. Toll, oder?«
»Juchhu«, sagte Lou unbeeindruckt.
»Außerdem habe ich eine Biografie der ersten schottischen Schweißerin und ein Buch über Amazonen mitgenommen.«
»Die Frauen, die bei Amazon arbeiten?«, hakte Lou nach.
»Nein, die Kriegerinnen aus der griechischen Mythologie.«
»Was ist mit den Mini-Muffins?«, fragte Lou.
»Die habe ich dabei«, sagte Mo. »Ups! Schafe! Gerade noch mal gut gegangen.«
»Mo, telefonierst du beim Fahrradfahren? Im Stockdunkeln? Das ist supergefährlich!«
»Quatsch, da passiert nichts«, schnaufte Mo. »Das ist kein Problem für mich. Ich bin eine kluge, unabhängige Frau, ich bin eine Expertin darin, gleichzeitig Fahrrad zu fahren und zu telef… Aaaaaaaah!«
Lou hörte Mos Bremsen quietschen und dann ein Rascheln.
»Mo? Mo?«
»’tschuldigung, bin in die Hecke gefahren«, erklärte Mo. »Mach die Tür auf, ja?«
»Welche Tür?«
»Deine! Ich stehe davor.«
Lou rannte die Treppe hinunter, und tatsächlich wartete Mo vor ihrer Haustür.
»Du hast mich angerufen, während du auf dem Weg zu mir warst?«, fragte Lou. »Obwohl du mir das alles hättest erzählen können, nachdem du angekommen bist, und außerdem nicht in die Hecke hättest krachen müssen? Für eine intelligente Person bist du ganz schön dumm.«
»Selber dumm«, gab Mo zurück.
»Nein, du bist dumm«, sagte Lou. »Und du hast Zweige in den Haaren.«
»Zweige in den Haaren sind cool«, sagte Mo.
»Als ob du auch nur die geringste Ahnung davon hättest, was cool ist«, sagte Lou, umarmte ihre Freundin und ging dann voraus nach oben. Mo folgte Lou in ihr Zimmer, ließ den Rucksack mit den Büchern auf den Boden fallen und sich selbst rückwärts auf Lous Bett, die Arme ausgebreitet wie ein Seestern.
»Können wir jetzt ein paar Mini-Muffins essen?«, bat sie. »Ich kann nicht lange bleiben. Ich wollte dir nur das Bandwurmbuch vorbeibringen. Muss gleich noch für NaWi lernen.«
»Du musst mal Pause machen, sonst gar nichts«, sagte Lou. »Du siehst müde aus. Ich gehe heute Abend mit Nipper zum Hundetraining. Nipper!«
Nipper blieb, wo er war.
»Siehst du, Rückruf funktioniert überhaupt nicht«, sagte Lou. »Komm doch mit. Nimm dir einen Abend frei. Das wird bestimmt lustig.«
»Du klingst wie meine Eltern. Ständig am Nörgeln, dass ich weniger lernen soll.«
»Du brauchst mehr Menschen in deinem Leben«, fuhr Lou fort.
»In Büchern sind auch Menschen.«
»Echte Menschen wie mich.«
»Ich kann nicht, Lou, es tut mir leid. Ich habe zu viel zu tun«, sagte Mo und setzte sich auf. Sie sah ihrer Freundin in die großen blauen Augen, die sie zusammen mit ihrem runden Gesicht wie einen Manga-Hamster aussehen ließen. Sie strich Lous Pony glatt und steckte ihr liebevoll eine ihrer blonden Strähnen hinters Ohr. »Außerdem muss ich das Protokoll vom heutigen Treffen des Debattierklubs schreiben.«
»War irgendjemand da?«, fragte Lou.
»Nein, aber ich sollte trotzdem ein Protokoll schreiben. Ich bin schließlich die Vorsitzende. Und Gründerin.«
Lou öffnete die Packung mit den Mini-Muffins und gab Mo einen, ohne sie anzusehen.
»Sei nicht sauer«, sagte Mo. »Wir sind immer noch beste Freundinnen – das sind wir schließlich schon seit dem Kindergarten. Weißt du noch, wie unsere Augen sich über dem Sandkasten trafen? Du hast mit Marco Pettini um einen Plastikdinosaurier gekämpft; ich bin mir ziemlich sicher, dass es ein Diplodocus war. Jedenfalls habe ich euch beide dazu überredet, ihn auch mal abzugeben.«
»Ja, damit fing unsere Freundschaft an«, sagte Lou, und ein Lächeln breitete sich auf ihrem Gesicht aus.
»Damit fing wahrscheinlich auch mein Interesse an Konfliktlösung an«, fügte Mo hinzu und biss in ihren Muffin.
»Und mein Interesse an Marco Pettini, ganz klar«, sagte Lou. »Ich war so verknallt in ihn. Wie er jetzt wohl aussieht? Bestimmt richtig gut.«
»Ich habe ewig nicht mehr an Marco Pettini gedacht, seit er aus Lower Donny weggezogen ist«, sagte Mo.
»Er hatte wunderschöne dunkle Augen«, fuhr Lou fort. »Ich stehe total auf dunkle Augen bei Jungs. Du auch?«
»Darüber habe ich noch nie nachgedacht«, sagte Mo.
»Mo, du bist wie ein Roboter«, sagte Lou, und dann mit einer Computerstimme: »Scanne nach Gefühlen. Negativ. Fehler bei der Berechnung.«
»Ich nehme bloß meine Bildung ernst«, sagte Mo. »Wissen ist Macht. Dafür nutze ich mein Gehirn. Nicht dafür, über Marco Pettini nachzudenken, der übrigens immer eine Rotznase hatte. Jetzt muss ich aber wirklich los.«
Mo schnappte sich ihren Rucksack, und die beiden Mädchen gingen nach unten.
»Bis morgen«, verabschiedete sich Mo, und die Freundinnen umarmten sich.
Lou nickte, öffnete die Tür und sah zu, wie sich Mo auf ihr Fahrrad schwang und davonradelte.
2. Kapitel
Bis zu Lou nach Hause war es nicht weit: einmal um die Wiese mit dem Ententeich und den Sitzbänken, am Lebensmittelgeschäft und der Dorfkneipe »Zur ersoffenen Ratte« vorbei in Richtung der weiten, flachen Felder auf der anderen Seite von Lower Donny, wo Mos Haus, gesäumt von ein paar Pappeln, einsam dastand. Mo bekam den Weg kaum mit, so vertraut war er ihr, doch als sie in die ruhige Gasse bog, die zu ihrem Haus führte, sog sie scharf den Atem ein und trat in die Bremsen … gerade noch rechtzeitig. Ein Mann war vor ihr auf den Weg getreten. Getreten? Eher aus dem Nichts (oder vielleicht der Hecke) aufgetaucht. Ein Fremder. Mo kannte jeden Einwohner von Lower Donny, und diesen Mann hatte sie noch nie gesehen. Er sagte kein Wort, stand vollkommen still da und starrte Mo aus schwarzen, tief liegenden Augen an. Sie bekam eine Gänsehaut.
»Entschuldigung, darf ich?«, murmelte sie und wollte ihr Rad um ihn herumlenken, doch er stellte sich wieder vor sie und versperrte ihr den Weg.
»Kann ich Ihnen helfen?«, fragte Mo.
»Ja, indem du Vampirkönigin wirst«, sagte der Mann mit einer tiefen, klangvollen Stimme. »Du bist Auserwählte.«
Mo blinzelte heftig.
»Wie bitte? Die Auserwählte? Auserwählt wofür?«
»Dafür, gesamtes Land als Königin aller Vampire zu regieren.«
»Was für Vampire? Ich wusste nicht, dass es überhaupt irgendwelche Vampire gibt.«
»Vampire sind überall«, sagte der Mann. »Sie leben unter euch Menschen, am Rand des Lebens, in dunklen Ecken und flackernden Schatten.«
»Echt?«, fragte Mo.
»Ja, echt«, antwortete der Mann etwas schnippisch. »Und du bist auserwählt, sie zu regieren. Mit dir als Anführerin kann es mehr Vampire, bessere Vampire geben. Dieses Land kann große, glorreiche Vampirhochburg werden! Stolze Heimat von Vampire! Du kannst alles etwas aufpeppen, ja?«
»Aber es gibt keine Vampire«, sagte Mo und schüttelte den Kopf. »Das ist ein Witz, oder? Ein Streich?«
Sie sah über die Schulter und rechnete beinahe damit, dass hinter ihr jemand mit einer Kamera stand, um diesen überaus grandiosen Scherz festzuhalten.
»Kein Witz«, antwortete der Mann. »Ich bin Bogdan, oberster Gesandter von großem, mächtigem Vampirkönig des Ostens. Es ist mir eine Ehre, dich kennenzulernen, Mo.«
Oh Gott, er weiß, wie ich heiße, dachte Mo. Woher weiß er, wie ich heiße?
»Der Vampirkönig hat mich beauftragt«, fuhr er fort, nun etwas gesprächiger. »›Bogdan‹, hat er gesagt, ›geh nach Großbritannien und schau, was dort los ist. Es ist so weit weg, und das Wetter ist mies, aber es muss da auch ein paar Vampire geben. Sieh es dir an. Wenn du der Meinung bist, dass es sich lohnt, das Land an mein Gebiet anzuschließen, finde einen König, der es an meiner Stelle regieren kann.‹ Und das habe ich getan.«
»Moment mal, Sie haben ›König‹ gesagt. Finde einen König«, wandte Mo ein. »Und Sie haben mich gefunden. Eine fünfzehnjährige Schülerin.«
»Nun ja, traditionell sind Vampirkönige männlich, aber wir können Ausnahme machen.«
Mo sträubten sich die Nackenhaare. »Auch Frauen können Führungspositionen einnehmen, wissen Sie. Wir befinden uns im einundzwanzigsten Jahrhundert. Schon mal was von Gleichberechtigung gehört?«
Bogdan zuckte die Achseln.
»Also, wenn Sie einen König wollten – so typisch übrigens, einen Mann für die Position zu suchen –, wie sind Sie dann auf mich gekommen?«
»Ich sehe etwas in dir«, antwortete Bogdan.
»Da sind Sie der Erste«, sagte Mo. »In den meisten Fällen werde ich komplett übersehen.«
»Ich bin schon eine ganze Weile auf Welt und habe mit vielen mächtigen Vampiren gearbeitet. Ich habe Talent dafür, Auserwählte zu entdecken«, sagte Bogdan. »Olaf der Sauger, der hier im achtzehnten Jahrhundert regiert hat? Habe ich gefunden. Bran der Durstige? Auch ich. Geronimo der Unauslöschliche? Auch.«
»Alles Männer«, murmelte Mo.
»Alle außergewöhnlich«, antwortete Bogdan nachdrücklich. »Ich wusste vom ersten Augenblick an, dass sie auserwählt waren. Und dasselbe gilt für dich, Mo. Tief in dir ist eine Stärke, eine Kraft, das spüre ich. Ich kann sie beinahe riechen.«
Er beugte sich zu Mo vor und atmete tief ein. Sie wich vor seinem blassen Gesicht und den stechenden, dunklen Augen zurück.
»Sind Sie sicher, dass ausgerechnet ich es sein muss? Ich meine, es gibt doch bestimmt jede Menge andere potenzielle Vampirköniginnen. Warum schalten Sie keine Anzeige für die Stelle und schauen, wer sich bewirbt? Ich könnte Ihnen bei den Vorstellungsgesprächen helfen.«
»Nein!«, widersprach Bogdan heftig, und Mo fuhr zusammen. »Du bist Auserwählte. Du musst Vampirkönigin werden. Du allein. Nutze deine Macht, Mo. Nutze sie! Werde Königin, wie es deine Bestimmung ist!«
Dann streckte er die Hand aus und krümmte die Finger, als würde er etwas melken.
»Du wirst so viel Macht haben. Mehr Macht, als du dir vorstellen kannst. Und du kannst so skrupellos sein, wie du willst!«
»Herrschende sollten gerecht sein, nicht skrupellos«, murmelte Mo.
»Und noch dazu du wirst ewig leben. Gut, ja?«
»Wahrscheinlich«, sagte Mo. »Ich will ziemlich viel erreichen. Studium, ein Praktikum bei den Vereinten Nationen und dann in die Politik gehen oder Menschenrechtsanwältin werden …«
»Ja, ja«, sagte Bogdan, Mos Worte ungeduldig beiseitewischend. »Ich rede von einem Leben mit echter Macht, mit Reichtümern und Untertanen, die dich fürchten. Nicht zu vergessen enorme körperliche Kraft. Willst du nicht das?«
Mo zuckte mit den Schultern.
»Du könntest jemandem den Kopf abreißen.« Bogdan schnippte mit den Fingern. »Einfach so!«
»Das ist eine furchtbare Idee. Warum sollte ich das tun wollen?«
»Probieren geht über Studieren«, sagte Bogdan lächelnd und zwinkerte ihr zu. »Komm schon. Verlasse dieses traurige, feuchte, armselige kleine Dorf …«
»Lower Donny ist nicht traurig und armselig!«
»Doch, glaube mir, das ist es«, sagte Bogdan. »Ich muss es wissen. Ich habe in meinem Leben schon einige traurige, armselige Dörfer gesehen. Egal, genug davon! Verlasse dieses schäbige, jämmerliche …«
»Ich bin hier geboren, wissen Sie«, schnaubte Mo. »Ja, ich freue mich darauf, erwachsen zu werden und eines Tages wegzugehen, aber trotzdem. Wie können Sie es wagen, buchstäblich aus dem Nichts aufzutauchen und gemeine Dinge über mein Heimatdorf zu sagen?«
»Haha, ja! Genau das!«, rief Bogdan grinsend und klatschte in die Hände. »Dieses Temperament! Diese Kampfeslust! Das ist exakt, was wir suchen. Deshalb bist du auserwählt. Besteige Thron, wie es dir gebührt, und führe dieses Land in neues Zeitalter vampirischer Größe. Nur ein Biss, und du bist vollkommen verändert. Majestätisch! Unbesiegbar! Unaufhaltbar!«
Bogdan breitete die Arme aus, legte den Kopf in den Nacken und lachte. Es klang, als würde jemand eine Krähe zerquetschen.
»Nun?«, fragte er schließlich. »Das ist ziemlich cool-geniales Angebot, oder? Was sagst du?«
Mo atmete tief ein, verschränkte die Arme vor der Brust und runzelte die Stirn. Ihre Augen huschten über Bogdan, sein intelligentes, blasses Gesicht, seine schmalen Hände und gepflegten Fingernägel. Dann sprach sie.
»Ich würde gerne einen Ausweis sehen, bitte.«
»Einen Ausweis?«, antwortete Bogdan. »Was ist das?«
»Eine Karte, mit der Sie sich identifizieren«, sagte Mo. »Woher soll ich wissen, dass Sie wirklich der oder das sind, was Sie zu sein behaupten?«
»Ich bin Bogdan!«, sagte Bogdan. Er wirkte verletzt.
»Sie sehen gar nicht aus wie ein Vampir«, sagte Mo. »Ich sehe keine Reißzähne.«
»Oh, Entschuldigung, ich habe hier hinten am Hals kleines Schalter, das macht, dass sie herunterfahren.« Er griff sich an den Hinterkopf und fummelte kurz in seinem Haar herum. Dann brach er in Gelächter aus.
»Ich mache nur kleines Spaß mit dir«, sagte er. »Nein, es gibt kein Schalter. Ha, ha, ha! Menschen fallen immer darauf herein. In Wahrheit kommen die Reißzähne automatisch hervor, wenn ich sie brauche, um jemanden anzustechen. Sonst normale Zähne, siehst du?« Er grinste.
»Aber Ihre Kleidung sieht so gewöhnlich aus«, sagte Mo.
»Du meinst, weil ich keinen Umhang trage? Das tue ich nie. Die sind total sechzehntes Jahrhundert«, antwortete Bogdan naserümpfend. »Außerdem ist das Gepäck mit meinen besten Kleidern noch unterwegs hierher aus dem Osten. Mein treuer Gefährte bringt es mir mit.«
»Aber warum ein Anzug? Und dazu noch ein schmutziger. Da ist ein Fleck auf dem linken Revers«, sagte Mo und zeigte auf die Stelle. »Sieht aus wie Ketchup.«
»Als ich ankam, war ich mir nicht sicher, wie ich mich kleiden sollte«, erklärte Bogdan. »Also habe ich mich nach großem, mächtigem Menschenmann umgesehen, um zu schauen, was so eine gebieterische Gestalt trägt. Er nannte sich Gebrauchtwagenkönig. Ah ja, habe ich mir gesagt, so muss ich mich kleiden.«
»Der Gebrauchtwagenkönig? Sie meinen Clive Bunsworth aus Middle Donny? Der, von dem Plakate an allen Bushaltestellen hängen?«, fragte Mo und unterdrückte ein Lächeln.
»Clive, jawohl«, sagte Bogdan. »Ein köstlicher Mann. Korrekter Mann, meine ich.«
»Und er hat Ihnen seinen Anzug gegeben?«
»Nicht unbedingt gegeben«, sagte Bogdan und lächelte verlegen. »Sagen wir, er benötigt den Anzug nicht mehr.«
Mo schauderte. Ihre Augen wanderten wieder zu dem Ketchup-Fleck …
»Wie auch immer!«, rief Bogdan, plötzlich ungeduldig. »Genug von Clive Bunsworth! Vergiss Clive Bunsworth. Clive Bunsworth ist nicht wichtig für uns. Reden wir über dich, die Auserwählte. Vampirkönigin dieser Insel zu werden ist dein Schicksal.«
»Ich denke eher, mein Schicksal ist es, einen hervorragenden Schulabschluss zu machen und dann an einer exzellenten Universität zu studieren.«
»Unsinn!«, widersprach Bogdan energisch. »Zu herrschen ist dein Schicksal. Nimm es an!« Er starrte Mo durchdringend an. Seine Augen leuchteten, und das Mondlicht ließ sein graues Haar schimmern.
Mo räusperte sich. »Ähm, vielen herzlichen Dank für das freundliche Angebot, Mr. Bogdan«, sagte sie. »Unaufhaltbar und majestätisch zu werden klingt natürlich sehr interessant, aber ich bräuchte etwas Zeit, um darüber nachzudenken. Es ist schließlich eine große Entscheidung. Könnten Sie morgen wiederkommen?«
Bogdan seufzte. »Ernsthaft? Das ist super-hervorragendes Angebot. Wo ist Problem?«
Mo ließ sich nicht beirren.
»Na gut, wenn es sein muss«, sagte Bogdan. »Ich erwarte dich morgen an diese Stelle. Ach, und du kannst alten Vampir übrigens ruhig duzen.«
Er verbeugte sich tief, schnippte mit den Fingern und verschwand, als hätte er sich in Luft aufgelöst.
Mo atmete auf. Sie lachte nervös und blickte sich um. Hatte sonst noch jemand diesen Vampirtypen gesehen? Was für ein Witz! Aber da war niemand. Sie war allein. Vielleicht hatte sie geträumt. Oder zu wenig getrunken. Sie war zu lange in der Bibliothek gewesen und hatte nicht genug Wasser dabeigehabt. Das erklärte es, oder?
Vampire existierten schließlich nicht. Tatsache. (Mo liebte Tatsachen.) Sie gehörten in den Bereich von Folklore, Film und Fernsehen. Und in all der Folklore, den Filmen und dem Fernsehen waren Vampire fremdartig und verführerisch, und deshalb erlagen die Menschen ihrem Charme innerhalb von zwei Sekunden. Niemand fragte sie nach einem Ausweis, und sie kleideten sich nicht wie Gebrauchtwagenhändler. Also, folgerte Mo (Mo liebte Schlussfolgerungen), da die Person, der sie gerade begegnet war, sich kein bisschen verhielt oder so aussah, wie ein Vampir sich verhalten und aussehen sollte, konnte es definitiv auf gar keinen Fall einer gewesen sein.
Und doch … Und doch … Während Mo sich selbst erzählte, dass das, was gerade geschehen war, nicht geschehen sein konnte, war es geschehen. Es hätte nicht geschehen sollen, aber es war … geschehen. Tief im Innersten spürte Mo, dass sie einem Vampir begegnet war. Das war unerwartet, schwer zu glauben und ganz bestimmt nicht Teil irgendeines Plans – und genau das war das Problem, denn Mo liebte Pläne.
Der Plan, den Mo am meisten liebte, hegte und pflegte, war der, den sie sich für ihr Leben überlegt hatte: DER PLAN. Sie arbeitete auf eine wundervolle, vollkommen von ihr selbst geschaffene Zukunft hin. Dies erforderte, Tracey Caldwell zu ignorieren, wenn sie Mo als Streak bezeichnete. (»Das ist eine Mischung aus Streber und Freak«, hatte Lou ihr mit einem entschuldigenden Lächeln erklärt.) Es bedeutete, nicht auf ihren Vater zu hören, wenn er sagte, sie solle nach ihrem Abschluss in seiner Teppichbodenfirma anfangen, oder auf ihre Mutter, die fand, Mo solle Lower Donny niemals verlassen, »weil es da draußen zu gefährlich ist«. Es bedeutete, den Kopf einzuziehen, fleißig zu lernen und der Welt zu zeigen, wie stark, klug und talentiert sie war.
Was es ganz und gar nicht bedeutete und noch nie bedeutet hatte, war, sich auf eine Zukunft als Vampirkönigin einzulassen, eine Zukunft, die ihr an einem Dienstagabend im Oktober ein angeblich untotes, möglicherweise aus der Hecke gesprungenes Geschöpf der Nacht in einem verdächtigen Anzug angetragen hatte.
Mo schüttelte den Kopf, doch das Wort »Auserwählte« war wie in ihr Gehirn tätowiert. Das ist verrückt, dachte sie. Jeden Tag versuche ich, unbemerkt zu bleiben, mein Leben voranzutreiben und mich an den PLAN zu halten, und dann – BÄM! – werde ich plötzlich entdeckt, gewählt, auserwählt. Ich! Mo Merrydrew. Das ist doch total absurd!
Absurd und falsch, sagte sich Mo schnell. Ja, falsch. Und ungerecht. Um es im Leben zu etwas zu bringen, muss man hart arbeiten. Das war es, woran sie glaubte. Das war es, worum es bei dem PLAN ging. Man konnte nicht einfach willkürlich ausgesucht werden und in eine Spitzenposition katapultiert werden. So funktionierte das nicht. Es wäre nicht richtig.
Mit diesem Gedanken setzte sich Mo den Fahrradhelm fest auf den Kopf und schloss mit leicht zitternden Fingern ihre Neon-Fahrradweste. Dann richtete sie ihren Blick auf die Lichter ihres Zuhauses, die durch die Bäume vor ihr schienen, und fuhr dorthin so schnell sie konnte.
3. Kapitel
»Ich habe mich heute wieder schiefgelacht über Bill«, sagte Mos Mutter.
Sie stand am Herd und rührte in einem Topf mit Nudelsauce. Ihre braunen Locken hatte sie zu einem losen Pferdeschwanz zusammengebunden, und sie trug noch die rosa Uniform von dem Pflegeheim, in dem sie arbeitete.
»Er hat mir erzählt, wie sie als Kinder im Obstgarten des Donny-Under-Oak-Guts immer Äpfel geklaut haben«, sagte sie. »Der Gärtner verfolgte sie dann schimpfend mit einem Rechen. Bill hat ihn nachgemacht, auch sein Fluchen. Mrs. Kumari hat ihr Gebiss auf ihr Kreuzworträtsel gespuckt, so wüst war das.«
Mo lächelte schwach, während sie das Besteck für das Abendessen auslegte.
»Was ist los?«, fragte ihre Mutter, kam zu ihr herüber und strich ihr über den Arm.
»Nichts«, sagte Mo.
»Sicher? Du bist so ruhig. Probleme in der Schule? Mit deinen Freunden?«
»In der Schule ist alles in Ordnung«, sagte Mo, »und ich habe eigentlich keine Freunde, also in der Mehrzahl – nur Lou, und mit der ist auch alles gut.«
»Okay, aber du weißt, dass du mir alles erzählen kannst, Liebes, oder?«, sagte ihre Mutter.
»Danke«, antwortete Mo und dachte: Äh, nein, heute bestimmt nicht.
Die Haustür wurde aufgestoßen, und Mos Vater kam herein, legte seinen Schlüsselbund in eine Schale auf der Arbeitsplatte und küsste sie auf die Stirn.
»Was gibt es zum Abendessen? Ich bin am Verhungern«, sagte er und gab auch Mos Mutter einen Kuss. »Harter Tag. Wieder Lieferprobleme. Wir haben kaum noch Unterlage, das ist ein Problem. Ich weiß, ich habe es schon mal gesagt, aber die Teppichwelt kann körperlich und emotional sehr fordernd sein.«
»Ja, das hast du schon einmal erwähnt«, sagte Mos Mum und zwinkerte Mo zu.
»Aber es ist eine tolle Branche, Mo. Du solltest es dir wirklich einmal durch den Kopf gehen lassen. Du kannst reisen und bleibst fit. Siehst du diese Muckis?« Stolz spannte er seine Armmuskeln an. »Als Menschenrechtsanwältin bekommst du die nicht.«
Mo verdrehte die Augen, und ihr fiel auf, wie anders als ihre Eltern sie war – ihre Mutter, die im Umgang mit Menschen so selbstsicher und ungezwungen war, und ihr kräftig gebauter, starker Vater. Sie setzten sich an den Tisch, und Mos Vater wechselte das Thema.
»Habt ihr gehört, dass Clive Bunsworth verschwunden ist?«, wollte er wissen.
»Der Gebrauchtwagenkönig?«, fragte Mos Mutter.
»Anscheinend hat er gestern irgendeinen Typen auf eine Testfahrt nach Upper Donny mitgenommen und wurde seitdem nicht mehr gesehen.«
»Sucht die Polizei nach ihm?«, fragte Mos Mutter.
»Ja, sie betrachten die Angelegenheit als verdächtig.«
Mo glitt die Gabel aus der Hand, und sie fiel klappernd auf den Teller.
»Alles okay, Mo?«, fragte ihr Vater. »Du bist ganz schön blass geworden. Blasser als sonst. Was ist los?«
Mo hätte sagen können: »Ich bin gerade einem Vampir begegnet, der sagte, ich sei die Auserwählte, und der mir Unsterblichkeit und grenzenlose Macht als Vampirkönigin anbot.«
Aber sie tat es nicht.
Stattdessen sagte sie: »Ich habe keinen Hunger.«
Sie hätte hinzufügen können: »Es scheint, als habe dieser Vampir Clive Bunsworth etwas sehr Unschönes und möglicherweise Tödliches angetan.«
Aber sie tat es nicht.
Stattdessen sagte sie: »Ich muss für eine wichtige NaWi-Arbeit lernen.«
Sie hätte außerdem sagen können: »Ich muss entscheiden, ob ich der Untotengemeinde Großbritanniens angehören und sie anführen will.«
Auch das sagte sie nicht.
Stattdessen sagte sie: »Ich mache mich mal an meine Hausaufgaben.«
»Iss wenigstens noch auf«, sagte ihre Mutter. »Komm, ein paar Bissen noch, bevor du anfängst zu lernen. Wenn du überhaupt noch lernen musst. Du bist immer so fleißig. Du solltest zwischendurch auch einmal entspannen.«
»Deine Mutter hat recht«, sagte ihr Vater. »Es ist wichtig, einen Ausgleich zu haben. Leg dir ein Hobby zu, treibe Sport. Sonst bekommst du noch einen Burn-out.«
»Das sagst du ständig, Dad«, sagte Mo und merkte, wie ihre Wangen heiß wurden. »Dauernd redest du über Burn-out.«
»Ich mache mir eben Sorgen um dich«, sagte er. »Deine Mutter auch.«
»Danke, aber ich komme schon zurecht«, sagte Mo, stand auf und ging zur Tür.
Typisch, dachte sie, als sie die Treppe hinaufrannte. Ich muss entscheiden, ob ich eine Vampirin werden will – nebenbei bemerkt eine gewaltige Entscheidung –, und meine Eltern wollen nur wieder darüber diskutieren, wie viel ich lerne und wie hoch mein Burn-out-Risiko ist.
In ihrem Zimmer zog Mo schnell und ohne einen Blick nach draußen zu werfen die Vorhänge zu und setzte sich dann an den Schreibtisch. Sie öffnete ihr Biologiebuch, konnte sich aber ausnahmsweise nicht konzentrieren. Sie fragte sich, ob sie wegen Clive Bunsworth die Polizei kontaktieren sollte, aber dann stellte sie sich das Telefonat vor.
»Hallo, Polizei, ich glaube, die Person, die Sie im Zusammenhang mit dem Verschwinden von Clive Bunsworth suchen, ist ein Vampir … Ja, korrekt … Ja, sein Name ist Bogdan … Ungefähr 1,75 Meter groß, graue Haare, tief liegende Augen … Was soll das heißen, ›guter Witz‹?«
Stattdessen räumte Mo ihre Schreibwarensammlung auf, sortierte ihre Stifte nach Farben, stapelte ihre Haftnotizen um (die rosafarbenen nach oben) und spitzte ihre vielen Bleistifte an. Trotzdem war sie nach wie vor unruhig. Sie begann, im Zimmer auf und ab zu gehen. Dabei dachte sie über Bogdans Angebot, über die Macht und Autorität als Vampirkönigin nach. Nicht als Vampirprinzessin oder Dritte in der Thronfolge oder vampirische Assistentin der Geschäftsführung der Vampirkönigin. Die echte Königin. Chefin. Herrscherin. Big Boss. Eine Frau in einer Machtposition. Das war gut, oder?
Dann wanderten Mos Gedanken zu den praktischen Dingen, doch da tat sich eine besorgniserregende Wand aus unbekannten Fakten auf. Wie waren die Arbeitszeiten? Wahrscheinlich nachts. Wo würde sie leben? Vermutlich in einem Schloss, aber vielleicht konnte sie auch ihr Zimmer zu Hause behalten. Schließlich war dort gerade erst neuer Teppichboden gelegt worden. Wie war die Kleiderordnung? Sie schaute hinunter auf ihre Schuluniform – ein langweiliger grauer Pullover mit V-Ausschnitt, eine kastanienbraune Nylon-Krawatte und ein Faltenrock. Wäre bestimmt ganz schön, etwas, nun ja, Königlicheres zu tragen. Etwas, das angemessener für eine Auserwählte war.
Auserwählte. Schon wieder dieses Wort. Es tobte in ihrem Kopf herum wie ein sechsjähriges Kind, das zu viel Zucker gegessen hat. Bogdan hatte etwas in ihr gesehen, eine Macht, eine Stärke. Hatte er womöglich recht? Konnte das sein? Mo blieb vor dem Spiegel stehen und betrachtete sich – was sie normalerweise nicht gern tat. Während Tracey Caldwell von Spiegeln angezogen wurde wie ein Hund von einem heruntergefallenen Döner, ging Mo ihnen lieber aus dem Weg. Sie sagte sich: »Was zählt, ist, wer du bist, nicht, wie du aussiehst«, aber in ihrem tiefsten Inneren war sie bloß kein großer Fan ihres blassen Gesichts und ihrer rabenschwarzen Haare, die keine Ähnlichkeit mit den braunen Locken ihrer Mutter oder den dichten grau-schwarzen Wellen ihres Vaters hatten.
»Ich bin albern. Ein Spiegel wird mir nicht helfen, Recherche schon. Bevor du eine wichtige Entscheidung triffst, machst du deine Hausaufgaben«, sagte sie sich.
Sie ließ sich wieder am Schreibtisch nieder, klappte den Laptop auf und tippte »Vampir« in die Suchmaske. Hunderte Bilder wurden angezeigt. Vampire mit bleichen Gesichtern, spitzen Vorderzähnen und Blut, das ihnen von den Lippen tropfte. Alle wirkten wütend, als hätten sie ein Aggressionsproblem und jemand hätte gerade ihre Mutter beleidigt.
Keiner dieser Vampire hatte graues Haar und ein schiefes Grinsen wie Bogdan. Bogdan, der den ganzen Weg aus dem Osten nach Großbritannien auf sich genommen hatte, um sie zu finden. Sie konnte sein Angebot nicht einfach wegen ein paar geschmackloser Bilder ablehnen. Sie musste mehr erfahren.
Die Fakten häuften sich schnell. Vampire können getötet werden, indem man ihnen einen Holzpflock ins Herz treibt, oder durch Köpfen.
»Ja, ja, das ist nichts Neues«, murmelte Mo. »Sie fürchten außerdem Kruzifixe und Sonnenlicht. Auch bekannt. Oh, Moment mal, hier steht, sie haben kein Spiegelbild. Das wusste ich nicht. Endlich etwas, das ich nachvollziehen kann.«
Mo las weiter.
»Historisch gibt es viele Vampirfiguren. Ihre größte Gemeinsamkeit ist, dass sie sich von der Lebenskraft eines lebendigen Wesens ernähren«, las sie laut, und ihr stellten sich die Nackenhaare auf.
Hier war es, das eine Detail, das sie ignoriert hatte. Die eine praktische Angelegenheit, der sie nicht ins Gesicht sehen wollte. Keine Mini-Muffins mehr, wenn sie ihrer Verwandlung zustimmte. Stattdessen würde auf ihrem Speiseplan menschliches Blut stehen.
Mo klickte sich zu den Bildern zurück und sah wieder die blassen Gesichter mit den stechenden Augen. Manche Vampire wurden dargestellt, wie sie ihrem wehrlos daliegenden Opfer in den Hals bissen. Sie dachte kurz an den nach wie vor vermissten Clive Bunsworth. War es das, was ihm zugestoßen war? Durch Bogdan? Rasch klappte sie den Laptop zu und stand auf.
»Ich kann nicht Teil dieser Welt werden. Das passt nicht zu mir«, sagte sie. »Sie ist gewalttätig. Schrecklich. Und definitiv ungeeignet für eine Vegetarierin.«
Sie schnappte sich ihren ältesten Teddy, Mr. Bakewell, und drückte ihn an sich. Dann schrieb sie Lou eine Nachricht:
Morgen Bus? Muss mit dir reden.
GROSSE Neuigkeiten.
Lou schrieb zurück: Du hast einen Freund?
Mo antwortete: Ich will keinen Freund,
schon vergessen?
Eine Freundin?
Auch nicht. Größere Neuigkeiten.
Lou textete: OMG, es gibt nichts Größeres als das. ERZÄHL ES MIR SOFORT!!
Mo schickte ihr ein und schrieb: Bis morgen.
Sie schaltete ihr Handy stumm und kroch ins Bett.
4. Kapitel
Während Mo an der Bushaltestelle wartete, wehte ihr der kalte Wind das Haar ins Gesicht, und es sah aus, als würde es winken. Sie kuschelte sich in ihren Mantel. Sie hatte nicht viel geschlafen. Vampire waren durch ihre Träume geschwebt, hatten sie Flure entlanggejagt, die sich ausdehnten wie Gummi. Ein Vampir hatte Ähnlichkeit mit Mos Mathelehrer Mr. Chen in einem seiner selbst gestrickten Cardigans gehabt. Ein anderer hatte ausgesehen wie ein süßer Baby-Koalabär, doch als Mo ihn hochgenommen hatte, hatte er gefaucht und seine riesigen Zähne aus Plastikbesteck gezeigt.
Der Bus kam an die Haltestelle gefahren. Mo stieg ein und atmete den vertrauten Geruch nach muffigen Veloursledersitzen, penetrantem Körperspray und den Käse-Zwiebel-Chips, die ein Kind namens Emir immer zum Frühstück aß, ein. Tracey Caldwell saß auf ihrem gewohnten Platz ganz hinten, von wo aus sie den ganzen Bus im Blick hatte, wie ein römischer Kaiser im Kolosseum.
»Ach, da kommt ja der Streak, die blasse Bohnenstange«, rief sie.
Mit gesenktem Kopf eilte Mo zu Lou und setzte sich neben sie.
»So, dann erzähl mal deine Neuigkeiten«, sagte Lou, und ihre Manga-Augen funkelten. Bevor Mo den Mund aufmachen konnte, wurde sie gestört.
»Habe ich dir erlaubt, meinen Bus zu betreten?«
Tracey Caldwell war durch den Gang zu ihr stolziert und ragte nun bedrohlich über ihr auf. Mo versuchte, sie zu ignorieren. Das war gar nicht so einfach, denn Tracey stach mit ihrem Zeigefinger in Mos blasse Wange.
»Hast du etwa das Schild vorne am Bus übersehen? ›Keine Streber. Keine Freaks.‹ Nicht gesehen? Großes Schild mit gelben Buchstaben.«
Mo starrte in ihren Schoß und schwieg. Tracey Caldwell schien das Licht zu verdrängen und allen Sauerstoff aufzusaugen. Sie war groß und kräftig – ihr Partytrick war es, mit bloßen Händen einen Apfel zu zerteilen –, und ihre üppigen braunen Locken fielen ihr über die Schultern wie ein Schokoladenwasserfall.
Sie sah proper und anständig aus, wie ein Mädel vom Lande aus einem viktorianischen Roman, das mit nicht pasteurisierter Milch und ehrlicher Arbeit auf dem Feld groß geworden war. Doch an dem, was aus ihrem Mund kam, war nichts proper oder anständig. Tracey beherrschte fließend die Sprachen Klatsch und Tratsch (über ihre Freunde) und Beleidigungen (über Mitmenschen, die weniger Tracey-mäßig waren als sie).
»Du verdirbst mir meinen Schulweg, weißt du, Merrydrew«, sagte Tracey.
»Lass sie in Ruhe«, sagte Lou.
»Ist sie stumm, oder was?«, fragte Tracey schnippisch.
»Sie will nicht mit dir reden«, sagte Lou.
Mo tippte Lous Oberschenkel an, damit sie aufhörte. Es war lieb, wie treu Lou sie verteidigte, aber es machte alles nur noch schlimmer.
»Tja, stell dir vor, Lou Townsend, und ich will nicht mit dir reden. Ich will mit dem Vogel reden, nicht mit dem Wurm.«
Tracey begann, Strähnen von Mos schwarzem Haar in die Hand zu nehmen und zu betrachten, als würde sie ein besonders grausiges Beweisstück in einem Mordprozess in die Höhe halten.
»Hau ab, Tracey«, sagte Mo und zuckte innerlich zusammen. Hau ab … Etwas Besseres fiel ihr nicht ein? Ernsthaft?
»Trace, warum verschwendest du deine Zeit mit der?«
Es war Jez Pocock, der bestaussehende, beliebteste Junge der Stufe und manchmal Traceys Freund, der von der Rückbank rief.
»Komm zurück«, rief er und runzelte die Stirn, wie er es immer tat. Vielleicht dachte er, es würde ihn männlich und tiefsinnig wirken lassen. Mo fand, es sah aus, als hätte er Probleme, die letzte Zeile beim Sehtest zu entziffern.
»Denk dran, mich nächstes Mal, wenn du mit meinem Bus fahren willst, um Erlaubnis zu fragen, du Vogel«, sagte Tracey, verstrubbelte Mos Haare einmal kräftig und schritt dann zurück an ihren Platz.
Mo strich sich die Haare glatt.
»Das war eine ordentliche Portion Tracey Caldwell am frühen Morgen«, sagte Lou.
»Wie auch immer, das ist überhaupt nicht ihr Bus«, murmelte Mo. »Er gehört Terry von Terrys Omnibusbetrieb, also liegt sie komplett daneben über die Eigentums…«
»Halt die Klappe, Mo, und erzähl mir, was es Neues gibt«, sagte Lou.
»Ich kann nicht gleichzeitig die Klappe halten und dir meine Neuigkeiten erzählen«, sagte Mo, während ihr ein Lächeln über die Lippen huschte. »Außer, ich verwende Telepathie, um meine Neuigkeiten in dein Gehirn zu transportieren, ohne meinen Mund zu öffnen.«
»Du weißt, was ich meine!«, wimmerte Lou frustriert. »Hör auf, dich darüber auszulassen, wem der Bus gehört, ignoriere die dumme Tracey Caldwell und erzähl mir deine großen Neuigkeiten. Bitte!«
Mo atmete tief durch. »Du wirst es nicht glauben, aber …«, sagte sie, »… ich habe gestern einen Vampir getroffen.«
»Was?«, sagte Lou.
»Pst, nicht so laut!«, zischte Mo.
»Sorry, Moment mal, was?«, wiederholte Lou nun etwas leiser. »Es gibt keine Vampire.«
»Das dachte ich auch, aber dann stand plötzlich einer vor meinem Fahrrad.«
»Ist er vielleicht aus der Hecke gesprungen?«, schlug Lou vor.
»Weiß ich nicht«, sagte Mo. »Aber darum geht es auch gar nicht.«
»Woher wusstest du, dass es ein Vampir war? Bist du sicher, dass es nicht bloß Danny Harrington mit Umhang und spitzen Zähnen war, der dich erschrecken wollte?«
Mo warf einen Blick nach hinten zu Danny Harrington, der mit Tracey und Jez in der letzten Reihe saß und sich Kaugummi aus den Haaren klaubte. Danny, der einmal wegen einer Wette ein ganzes Brathähnchen gegessen hatte; der April für ein Sternzeichen hielt; der glaubte, man könne allergisch gegen Skifahren sein.
»Nein, der Typ war viel älter, er hatte graue Haare und nannte sich Bogdan. Er stammt aus dem Osten, was zugegebenermaßen genauso Ost-Donny wie Sibirien heißen könnte, aber ich denke eher an Osteuropa. Er hatte einen coolen Akzent. Und keinen Umhang.«
»Hat er dich gebissen?«
»Nein, wir haben uns nur unterhalten.«
»Was? Vampire halten Menschen nicht in dunklen Gassen auf, um zu plaudern«, sagte sie. »Sie saugen ihr Blut. Das war kein Vampir, Mo.«
»Ich weiß, dass es schwer zu glauben ist, Lou, aber ich schwöre, es war einer«, fuhr Mo fort. »Er meinte, ich sei ›auserwählt‹, Vampirkönigin zu werden.«
»Vampirkönigin?«, wiederholte Lou mit ungläubig aufgerissenen Augen.
»Ich weiß! Ich! Jüngste Premierministerin, das wäre nicht völlig abwegig, aber Vampirkönigin … Ich weiß nicht.«
»Aber was heißt das? Ich meine, was müsstest du als Vampirkönigin machen?«
»Regieren und, na ja, das Sagen haben«, sagte Mo. »Er hat darüber gesprochen, Großbritannien zu einer neuen Vampirhochburg zu machen. Davon wäre ich die Königin und hätte anscheinend enorme Macht.«
»Wow«, sagte Lou. »Das ist eine Menge Stoff zum Nachdenken, oder? Eine ganze Menge. Und dafür müsstest du eine echte Vampirin sein, oder?«
»Ja«, sagte Mo und runzelte kurz die Stirn. »Wahrscheinlich. Er hat irgendetwas von einem einzigen Biss gesagt, der mich verwandeln würde, aber wir sind nicht wirklich ins Detail gegangen.«
Lou zog ihre kleine Hamsternase kraus. »Du müsstest Blut trinken«, sagte sie, ihre Stimme leise und zögerlich.
»Vermutlich«, sagte Mo. »Ich meine, man hört nicht oft von veganen Vampiren, oder?« Sie lachte nervös.
Einen Augenblick lang schwiegen beide.
»Sorry, Mo, ich komme noch nicht ganz darauf klar«, sagte Lou irgendwann. »Ich dachte, es gäbe Vampire nicht einmal, und jetzt sagst du, dass es sie doch gibt und dass du ganz oben auf der Liste ihrer potenziellen Herrscherinnen stehst. Das ist unglaublich!«
»Ich weiß!«, sagte Mo.
»Das war jedenfalls definitiv nicht Teil deines Lebensplans.«
»Ich weiß!«, sagte Mo wieder.
»Wie würde es mit unserer Freundschaft weitergehen, wenn du Vampirkönigin wärst?«, fragte Lou. »Du würdest mich nicht beißen, oder?«
»Nein!«, sagte Mo.
»Und, machst du es?«, fragte Lou.
»Ich weiß nicht. Ich glaube nicht. Ich bin verwirrt«, sagte Mo.
»Oh, oh, das ist nicht gut. Du bist fast nie verwirrt«, sagte Lou.
»Genau!«, sagte Mo. »Es ist merkwürdig. Das alles ist merkwürdig. Vielleicht muss ich einfach noch ein bisschen mehr darüber herausfinden, bevor ich mich entscheide. Bogdan glaubt wirklich, dass ich diejenige bin, die es werden soll, weißt du? Nicht, dass ich die Position annehmen würde, nur weil er sagt, dass ich auserwählt sei. Das wäre bescheuert. Außerdem hat er eigentlich nach einem König Ausschau gehalten, nicht nach einer Königin. Das ganze Vampirding scheint so ein Alter-Weißer-Mann-Ding zu sein, weißt du?«
»Wann musst du dich entscheiden?«, wollte Lou wissen.
»Heute Abend kommt er wieder«, antwortete Mo.
»Glaubst du, es ist sicher für dich?«, fragte Lou. »Gestern hat er dich nicht gebissen, aber vielleicht tut er es heute.«
»Darüber habe ich noch gar nicht nachgedacht«, sagte Mo und kaute auf ihrer Lippe herum. Plötzlich fiel ihr Clive Bunsworth wieder ein. »Aber er wirkte ganz in Ordnung. Er hat sich verbeugt. Würde sich jemand, der nicht ganz in Ordnung ist, verbeugen?«
»Ich bin mir nicht sicher«, sagte Lou. »Kann sein. War er denn gruselig? Du hattest doch bestimmt Angst.«
»Angst? Vor wem?«
Tracey Caldwell wieder, die neben Mo stand, als der Bus auf den Schulhof einbog.
»Hast du Angst vor mir, Merrydrew?«, fragte sie, und der Gedanke schien ihr zu gefallen.
Mo stand auf, drängte sich an ihr vorbei und zog Lou an der Hand mit sich. Sie spürte Traceys Blick in ihrem Rücken brennen, als sie aus dem Bus ausstieg.
»Wenn du Vampirkönigin wärst, könntest du Tracey Caldwell zum Schweigen bringen«, sagte Lou und hakte sich bei Mo unter, während sie zum Eingang gingen. »Ist das nicht verlockend? Ich gäbe eine Menge dafür, ihr Gesicht zu sehen, wenn du deine spitzen Eckzähne hervorblitzen ließest.«
»Das habe ich auch gerade gedacht«, sagte Mo, und ihre Mundwinkel zuckten leicht nach oben, als sie sich vorstellte, sie wäre wirklich die Vampirkönigin. Ja, es würde bedeuten, über andere Vampire zu herrschen (total undemokratisch) und skrupellos zu sein (undemokratisch und unmoralisch), aber es würde auch bedeuten, dass alle im ganzen Land Angst vor ihr hätten. Alle! Sogar Tracey Caldwell. Die sie seit Jahren auf dem Kieker hatte, auf ihr herumhackte und sie auslachte … Wie es sich wohl anfühlte, von ihr respektiert, ja, gefürchtet zu werden? Und nicht irgendwann in der Zukunft, wenn Mo sich an die Spitze gearbeitet haben würde, sondern gleich morgen im Bus auf dem Weg zu Schule.
»Aber es geht gegen alles, wofür ich stehe«, sagte Mo. »›Wenn die anderen ihre schlechteste Seite zeigen, zeigen wir unsere beste‹ – so macht Michelle Obama das.«
»Ja, aber Michelle Obama wurde nicht tagtäglich von Tracey Caldwell geärgert, oder? Sonst wäre sie auch mehr auf dem Trip: ›Wenn die anderen ihre schlechteste Seite zeigen, zeigen wir unsere Vampirzähne und gruseln sie bis nach Upper Donny und zurück.‹«
Mo lachte und stellte sich vor, wie sie Tracey Caldwell mit einem Aufblitzen ihres Vampirlächelns zum Schweigen bringen würde.
»Oh Gott, du überlegst echt, oder?«, rief Lou aus, die Mos Gesicht beobachtete und ihre Gedanken erriet.
»Nein, nicht wirklich«, sagte Mo. »Natürlich ist es nett, wenn man gebeten wird, eine wichtige Position zu übernehmen, und Bogdan hat spezifisch mich ausgewählt, eine Frau, und nicht wie ursprünglich geplant einen Mann. Das ist also unbestreitbar ein Fortschritt …«
»Aber du müsstest eine echte Vampirin werden, Mo.«
»Ja, ich müsste eine echte Vampirin werden, und das will ich nicht – natürlich nicht. Ehrlich gesagt klingt es so, als wäre die ganze Vampirwelt im Grunde genau wie das menschliche Patriarchat, nur noch gewalttätiger und mit spitzen Eckzähnen. Nein, danke. Außerdem ist es nicht Teil des PLANS. Es ist bloß eine vollkommen willkürliche, bekloppte Sache, die passiert ist. Ich habe nicht darum gebeten, und es passt nicht. Überhaupt nicht. Ich denke nicht, dass ich es machen kann. Das versteht Bogdan sicher.«
5. Kapitel
Bogdan verstand es nicht.
»Was meinst du, du willst nicht Vampirkönigin sein?«, tobte er.
Er war genau wie am Vortag vor Mo aufgetaucht. Sie hatte den Bus zurück nach Lower Donny genommen, nachdem sie in der Bibliothek gelernt hatte, war durch die Gasse gegangen, und plötzlich war er da gewesen. Vielleicht hatte er sich wirklich in der Hecke versteckt gehabt. Mo war sich immer noch nicht ganz sicher.
»Das ist sehr interessantes Angebot«, sagte er. »Du bist Auserwählte. Nur du. Es gibt nicht Auserwählte Nummer drei oder sechzehn. Nur eine. Dich. Nur dich! In ganze Land.«
Mo biss sich auf die Unterlippe. Sie spürte, dass sich ihr Bauch zusammenkrampfte vor Angst. Gestern war Bogdan relativ freundlich gewesen. Heute war er wütend. Er seufzte tief, ging ein paar Schritte, kam dann zurück und funkelte sie an.
»Was ist Problem?«
»Das ganze Blutessen ist nichts für mich. Ich bin Vegetarierin«, sagte Mo.
»Man isst es nicht, man trinkt es«, sagte Bogdan. »Und es ist köstlich. Wie guter Wein, nur fleischiger.«
Mo schüttelte sich und probierte es anders.
»Mir gefällt auch die Idee willkürlicher Macht nicht«, sagte sie. »Sollten die britischen Vampire nicht abstimmen? So ist es nicht besonders demokratisch, oder?«
»Was ist dieses ›demokratisch‹?«, wollte Bogdan wissen.
»Na ja, ich bin vielleicht ›auserwählt‹, aber von wem? Niemand hat für mich gestimmt«, sagte Mo.
»Ja, und?«, fragte Bogdan.
»Außerdem hast du mir die Position überhaupt nicht erklärt. Ich weiß gar nicht genau, was man als Königin tut.«
»Ich habe dir gesagt: schöne Vampirhochburg aufbauen«, sagte Bogdan. »Aus Großbritannien Zentrum für aufgeregte Vampirzeiten machen. Du kannst tun, wie du willst. Ich empfehle skrupellos sein, viel Gewalt, nicht so viel reden. Taten sprechen lassen. Aber du bist Auserwählte, du kannst tun, wie du willst.«
Stirnrunzelnd schüttelte Mo den Kopf. »Tut mir leid, aber das ist nicht die Art von Tätigkeit, die ich im Auge habe«, sagte sie. »Wenn ich älter bin, möchte ich eine richtige Arbeit haben, in der Politik oder in einer Wohltätigkeitsorganisation oder als Anwältin. Das ist mein Plan, und den will ich nicht aufgeben. Jemandem den Kopf abzureißen, war nie mein berufliches Ziel, und wenn ich irgendwann eine einflussreiche Stellung habe, dann, weil ich dafür gearbeitet habe, nicht weil irgendein verkrusteter Vampir aus dem Osten in Clive Bunsworths Anzug mir sagt, ich sei auserwählt.«
Bogdan schwieg. Mo biss sich erneut auf die Lippe. War sie zu weit gegangen? Wenn sie aufgewühlt war, neigte sie dazu, Reden zu schwingen. (Kein Wunder, als Vorsitzende des Debattierklubs.)
»Ich bin nicht verkrustet«, murmelte Bogdan schließlich. »Ich habe kleines Ekzem. Das ist die feuchte Oktoberwetter hier. Ich verstehe nicht, wie ihr es ertragt.«
»Ich kann dir eine Salbe dafür geben«, sagte Mo.
»Danke, das wäre nett«, sagte Bogdan. Er ließ die Schultern hängen und seufzte, als wäre all sein Ärger weggeschmolzen wie Eis über einem Lagerfeuer.
»Wo waren wir stehen geblieben?«, fragte er. »Ah ja, du hast nicht damit gerechnet, Auserwählte zu sein, und du hast Plan für Zukunft. Das verstehe ich, meine liebe Mo, aber das Leben läuft nicht immer nach Plan.«
»Ach, wirklich?«, sagte Mo.
»Natürlich nicht«, antwortete Bogdan. »Denkst du, ich wollte Vampir werden?«
Mo zuckte die Achseln.
»Ich war zufrieden damit, kleines Stück Land am Schwarzen Meer zu bewirtschaften, damals in den 1380er-Jahren. Ja, Boden war steinig und karg. Ja, meine Eltern, sechs Brüder und fünf Schwestern waren an der Pest gestorben. Okay, meine teure Kuh Ruxandra war von dem kleinen, diebischen Wurm Petru aus dem Dorf hinter den Bergen gestohlen worden« – er unterbrach sich, um auf den Boden zu spucken –, »aber alles in allem ging es mir gut.«
»Was ist dann passiert?«, fragte Mo.
»Ich wurde zu Vampir gemacht! Ganz plötzlich. Eines Abends döste ich am Strand, wachte auf und – ahhh!« Bogdan griff sich an den Hals, und Mo zuckte zusammen.
»Etwas Spitzes kratzte an meinem Hals. Ich dachte zuerst, es wäre Mücke – die können zu der Jahreszeit, es war August, schlimm sein. Aber nein! Es war Vampir, der sich an meiner Halsschlagader labte.«
»Ekelhaft«, sagte Mo. »Und nicht in Ordnung. Dieser Vampir hätte dich nie ohne deine Zustimmung beißen dürfen.«
»Er trank viel von meinem Blut. Ich war machtlos. Dann sah er mich mit schwarze Augen an und sagte, ich hätte zwei Möglichkeiten. Das fand ich nett. Jeder mag es, Möglichkeiten zu haben, nicht wahr?«
»Was für Möglichkeiten waren das?«, wollte Mo wissen.