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Verführung in Manhattan

Erfolg im Beruf, das ist alles, was die kühle Sydney will. Dass sie sich ausgerechnet in den bekannten Künstler Mikhail Stanislaski verliebt, den sie für einen unverschämten Macho hält, passt ihr deshalb überhaupt nicht. Genauso wenig wie ihrer eifersüchtigen Mutter, die hinter dem Rücken ihrer Tochter versucht, den attraktiven Mann für sich zu gewinnen. Doch dann stellt ein folgenschwerer Unfall Sydneys gesamten Lebensplan auf den Kopf...


  • Erscheinungstag: 26.09.2019
  • Aus der Serie: Die Stanislaskis
  • Bandnummer: 2
  • Seitenanzahl: 304
  • ISBN/Artikelnummer: 9783745751499
  • E-Book Format: ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Nora Roberts

Die Stanislaskis 2

Verführung in Manhattan

Roman

Aus dem Amerikanischen von

Louisa Christian

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PROLOG

Der Schulhof war erfüllt von Lärm, Gelächter und hitzigen kindlichen Debatten über Politik. Er war zwar erst acht, aber Mikhail wusste über Politik Bescheid. Immerhin lebte er jetzt schon fast zwei Jahre in Amerika.

Mittlerweile fürchtete er nicht mehr, dass Männer kommen und seinen Vater abholen würden. Oder eines Morgens wieder in der Ukraine aufzuwachen und herausfinden zu müssen, dass die Flucht nach Ungarn und die Reise durch Österreich und schließlich nach New York nur ein Traum gewesen waren.

Er lebte jetzt in Brooklyn, und das war gut. Und er war jetzt Amerikaner, und das war noch besser. Er und seine große Schwester und sein kleiner Bruder gingen zur Schule – und sprachen Englisch. Die meiste Zeit zumindest. Seine kleine Schwester, die Jüngste, war hier geboren worden. Sie würde nie erfahren müssen, wie es war, vor Kälte und Hunger zu zittern, versteckt in einem Zugwaggon. Darauf zu warten, dass sie entdeckt wurden.

Darauf zu warten, dass sie in der Freiheit ankamen.

Manchmal dachte er überhaupt nicht mehr daran. Er mochte es, morgens in dem kleinen Haus aufzuwachen, das ihn an ihr altes Zuhause erinnerte. Mochte es, wenn es nach dem Frühstück duftete, das seine Mutter unten in der Küche vorbereitete. Hörte zufrieden seinen Vater poltern, wenn dieser sich fertig machte, um zur Arbeit zu gehen.

Papa arbeitete hart, und manchmal kam er abends spät und müde nach Hause. Aber immer stand ein Lächeln in seinen Augen, und die tiefen Sorgenfalten in seinem Gesicht verblassten langsam immer mehr.

Jeden Abend gab es etwas Warmes zu essen und viel unbeschwertes Gelächter am Familientisch.

Und die Schule war auch nicht so schlimm, er lernte etwas. Nur dass seine Lehrer immer sagten, er würde zu oft in den Tag hineinträumen.

„Die Mädchen machen Seilspringen.“ Alexej, Mikhails kleiner Bruder, ließ sich neben ihm nieder.

Beide hatten dunkles Haar und goldbraune Augen. Schon jetzt sah man ihren Gesichtern an, dass in wenigen Jahren die Frauen bei ihrem Anblick dahinschmelzen würden. Im Moment allerdings waren Mädchen nur dazu da, um sich nicht mit ihnen abzugeben. Außer natürlich, wenn sie zur Familie gehörten.

„Natasha ist die Beste.“ Man konnte den Stolz auf seine ältere Schwester aus Alex’ Stimme heraushören.

„Klar. Sie ist eine Stanislaski.“

Alex bedachte diese Erwiderung mit einem unbeeindruckten Schulterzucken. Das war schließlich selbstverständlich. Er ließ den Blick über den Hof schweifen. Er beobachtete gerne, was andere Leute taten – oder nicht taten.

Er deutete mit dem Kopf auf zwei Jungen, die weiter hinten auf dem Platz standen. „Nach der Schule müssen wir Will und Charlie Braunstein verhauen.“

Mikhail schürzte die Lippen und kratzte sich die Seite. „Okay. Warum?“

„Weil Will gesagt hat, wir seien russische Spione, und Charlie hat gelacht und gegrunzt wie ein Schwein. Darum.“

„Also gut, einverstanden.“

Die beiden Brüder sahen sich an und grinsten.

Sie kamen viel zu spät nach Hause. Was höchstwahrscheinlich eine Strafe nach sich ziehen würde. Mikhails Hose hatte ein Loch am Knie davongetragen und Alexejs Lippe war aufgeplatzt. Das bedeutete mit Sicherheit eine gewaschene Strafpredigt.

Aber es war die Sache wert gewesen. Die Stanislaski-Brüder waren siegreich aus dem Kampf hervorgegangen. Den Arm über die Schulter des anderen gelegt, die Schultasche schwingend, schlenderten sie gemeinsam die Straße hinunter und gingen die Szenen noch einmal durch.

„Charlie kann gut boxen“, sagte Mikhail. „Wenn du dich also noch mal mit ihm prügelst, musst du schnell sein. Er hat längere Arme als du.“

„Und er hat ein blaues Auge“, fügte Alex mit tiefer Befriedigung hinzu.

„Ja.“ Mikhail war stolz auf seinen kleinen Bruder. „Wenn wir morgen in der Schule ankommen, werden wir … Oh, oh.“

Er brach unvermittelt ab.

Nadia Stanislaski stand auf dem kleinen Treppenabsatz vor der Haustür. Seine Mutter hatte die Hände in die Hüften gestützt, und Mikhail wusste, dass sie mit Adleraugen selbst aus der Entfernung den Riss in seiner Hose längst bemerkt hatte.

„Jetzt sind wir dran“, murmelte Alex neben ihm. Er bemühte sich um sein unschuldigstes Lächeln, obwohl die aufgeplatzte Lippe das fast unmöglich machte.

Nadia kniff die Augen zu einem dünnen Strich zusammen. Sie stieg die wenigen Stufen hinab wie ein Cowboy vor dem Duell. „Hattet ihr Streit?“

Als Ältester stellte Mikhail sich vor seinen Bruder. „Nur ein bisschen.“

Ihr scharfer Blick glitt von Kopf bis Fuß über ihre beiden Söhne, und sie stufte den Schaden als gering ein. „Habt ihr euch untereinander geprügelt?“

„Nein, Mama.“ Alex sah hoffnungsvoll auf. „Will Braunstein hat gesagt …“

„Ich will nicht wissen, was Will Braunstein gesagt hat. Bin ich Will Braunsteins Mutter?“

Der Ton ihrer Stimme reichte, dass die beiden schuldbewusst ihre Köpfe senkten, bis das Kinn die Brust berührte. „Nein, Mama.“

„Wessen Mutter bin ich?“

Beide seufzten schwer. „Unsere Mutter.“

„Stimmt. Und das ist, was ich mit meinen Söhnen mache, wenn sie mir Sorgen bereiten und zu spät von der Schule heimkommen und sich wie Hooligans benehmen.“ „Hooligans“, das war ein Wort, das sie von ihrer Nachbarin gehört hatte – und das leider nur allzu gut auf ihre beiden Jungs passte. Und diese beiden quiekten jetzt gepeinigt auf, als sie ihnen die Ohren lang zog.

Doch bevor sie sie am Ohrläppchen ins Haus ziehen konnte, kündigte lautes Rattern die Ankunft ihres Mannes Yuri in seinem gebrauchten Pick-up an.

Er fuhr an den Straßenrand und hob die Augenbrauen, als er seine Frau bemerkte, die seine Söhne am Wickel hatte. „Was haben sie schon wieder angestellt?“

„Sich mit den Braunsteins geprügelt. Sie werden jetzt Mrs. Braunstein anrufen und sich entschuldigen.“

„Au! Au!“ Mikhails Protest ging in ein leises Wimmern über, als Nadia geübt das Ohrläppchen drehte.

„Das hat noch Zeit. Ich habe nämlich etwas mitgebracht.“ Yuri kletterte aus dem Truck und hielt einen kleinen grauen Welpen hoch. „Das ist Sasha, unser neues Familienmitglied.“

Beide Jungen brachen in freudiges Jubelgeschrei aus – sie waren freigelassen worden –, rannten auf ihren Vater zu und wurden von Sasha begeistert begrüßt. Yuri drückte Mikhail den Welpen in die Arme.

„Er ist für dich und Alexej und Tash und Rachel. Und ihr werdet euch auch um ihn kümmern, nicht eure Mama. Ist das klar?“ Dass Nadia die Augen zum Himmel aufschlug, entging ihm nicht.

„Wir werden gut auf ihn aufpassen, Papa. Ich will ihn halten, Mik!“ Alex versuchte seinen Bruder mit dem Ellbogen zur Seite zu schieben.

„Ich bin der Älteste. Ich halte ihn zuerst.“

„Jeder wird ihn halten. Jetzt geht und zeigt ihn euren Schwestern.“ Yuri scheuchte sie mit beiden Händen fort. Doch bevor sie davonstürmten, drückten sie ihren Vater fest.

„Danke, Papa.“ Mikhail küsste seine Mutter auf die Wange. „Wir werden Mrs. Braunstein anrufen, Mama.“

„Oh ja, das werdet ihr.“ Nadia sah ihnen kopfschüttelnd nach, wie sie ins Haus rannten. „Hooligans“, wiederholte sie voller Inbrunst.

„Jungs bleiben eben immer Jungs.“ Yuri lachte volltönend und hob seine Frau hoch. „Wir sind eine amerikanische Familie.“ Er setzte sie wieder ab, ließ aber seinen Arm um ihre Hüfte liegen und führte sie ins Haus. „Was gibt’s zum Abendessen?“

1. KAPITEL

Sydney Hayward war keine geduldige Frau. Verspätungen und Ausreden ließ sie selten gelten und nahm sie niemals bereitwillig hin. Musste sie doch einmal warten – und das war im Moment der Fall –, sank ihre Laune stufenweise auf den Nullpunkt. Und bei Sydney war eiskalte Verärgerung erheblich gefährlicher als kochende Wut. Ein kühler Blick oder eine eisige Bemerkung konnte ihr Gegenüber das Fürchten lehren.

Ungeduldig lief sie in ihrem neuen Büro im zehnten Stock von Midtown Manhattan auf und ab. Alles lag an seinem Platz: die Papiere, die Akten, der Terminkalender und das Adressbuch. Selbst ihre Schreibtischgarnitur aus Bronze war sorgfältig ausgerichtet. Die Kugelschreiber und Bleistifte lagen parallel zueinander auf dem polierten Mahagoni, der Notizblock befand sich an der richtigen Stelle neben dem Telefon.

Sydneys eigene Erscheinung zeigte die gleiche penible Sorgfalt und geschmackvolle Eleganz wie die des Büros. Ihr helles Kostüm saß makellos, und der kniekurze Rock brachte ihre wohl geformten Beine gut zur Geltung. Als Schmuck trug sie eine schlichte Perlenkette mit passenden Ohrringen sowie eine schmale goldene Armbanduhr, die ebenfalls äußerst dezent und exklusiv wirkte.

Das dunkelrote Haar hatte sie zusammengebunden und mit einem Goldclip festgesteckt. Die blassen Sommersprossen waren unter dem zarten Puder kaum zu erkennen. Sydney fand, dass sie sie zu jung und zu verletzlich wirken ließen. Sie war achtundzwanzig, und ihre Züge verrieten ihre Herkunft: hohe Wangenknochen, ein Kinn, das Willensstärke verriet, sowie eine schmale gerade Nase. Ihr aristokratisches Gesicht war wie Porzellan, ihr weicher Mund, der sich häufig schmollend verzog, war sanft geschwungen, und ihre Augen waren so groß und blau, dass die Leute sie manchmal fälschlicherweise für arglos hielten.

Wieder blickte sie auf ihre Armbanduhr, zischte leise und ging zu ihrem Schreibtisch zurück. Bevor sie den Hörer aufnehmen konnte, summte ihre Sprechanlage.

„Ja?“

„Miss Hayward, hier ist ein Mann, der unbedingt den Verantwortlichen für das Soho-Gebäude sprechen möchte. Sie haben einen Termin um vier Uhr …“

„Es ist bereits vier Uhr fünfzehn“, unterbrach Sydney die Sekretärin. „Schicken Sie den Mann herein.“

„Ja, Ma’am. Aber es ist nicht Mr. Howington.“

Howington hatte also einen Untergebenen geschickt. Verärgert reckte Sydney den Kopf etwas höher. „Schicken Sie ihn herein“, wiederholte sie und schaltete die Gegensprechanlage wieder aus. Die Firma Howington bildete sich also ein, sie ließe sich mit einem Nachwuchsmanager abspeisen.

Nur jahrelange Übung in Selbstbeherrschung hielt sie davon ab, den Mann, der nun eintrat, mit offenem Mund anzustarren. Nein, er tritt nicht ein, verbesserte sie sich, er stolziert wie ein Pirat über das Deck eines soeben gekaperten Schiffes.

Ihr anfänglicher Schreck hatte nichts mit der Tatsache zu tun, dass der Mann ausgesprochen abenteuerlich aussah. Sein dichtes, lockiges schwarzes Haar wurde hinten mit einem Lederband zusammengehalten, eine Frisur, die seiner unübersehbaren Männlichkeit jedoch nichts anhaben konnte. Sein schmales markantes Gesicht war tief gebräunt, und seine Augen waren beinahe ebenso dunkel wie sein Haar. Er hatte volle Lippen und trug einen Ein- oder Zwei-Tage-Bart, der ihm ein düsteres, gefährliches Aussehen verlieh.

Obwohl der Mann nur knapp einsachtzig groß und von schlanker Gestalt war, wirkte ihr Büro bei seiner Anwesenheit wie eine Puppenstube.

Noch schlimmer war, dass der Mann Arbeitskleidung trug, staubige Jeans, ein durchgeschwitztes T-Shirt und abgewetzte Stiefel, die eine Schmutzspur auf dem hellen Teppich hinterließen.

Man hat mir keinen Juniormanager geschickt, sondern einen gewöhnlichen Arbeiter, der es nicht einmal für nötig gehalten hat, sich vorher wenigstens zu waschen und umzuziehen, dachte Sydney erbost und presste verärgert ihre Lippen zusammen.

„Heißen Sie etwa Hayward?“

Sein unverschämter Tonfall und der unverkennbare slawische Akzent erinnerten sie an Männer am Lagerfeuer mit einer Peitsche am Gürtel, und sie antwortete unnötig scharf: „Ja. Und Sie kommen zu spät.“

Seine Augen wurden schmal, und er sah sie eindringlich über den Schreibtisch an. „Tatsächlich?“

„Ja. Vielleicht sollten Sie eine Armbanduhr tragen. Meine Zeit ist beschränkt, Mr. …?“

„Stanislaski.“ Er hakte seine Daumen in die Gürtelschlaufen und verlagerte das Körpergewicht überheblich auf ein Bein. „Sydney ist ein Männername.“

Sie zog eine Braue in die Höhe. „Das ist offensichtlich ein Irrtum.“

Er ließ den Blick halb interessiert, halb verärgert über ihren Körper gleiten. Die Frau war hübsch wie ein Kuchen mit Zuckerguss. Aber er war nicht völlig verschwitzt auf dem schnellsten Weg von der Arbeit hergekommen, um seine Zeit mit einem weiblichen Wesen zu verschwenden. „Offensichtlich. Ich dachte, Hayward wäre ein alter Mann mit Glatze und einem weißen Bart.“

„Sie meinen meinen Großvater.“

„Dann möchte ich mit Ihrem Großvater sprechen.“

„Das ist leider nicht möglich, Mr. Stanislaski, denn mein Großvater ist seit fast zwei Monaten tot.“

Seine Überheblichkeit verwandelte sich augenblicklich in Bedauern. „Tut mir Leid. Ich weiß, wie es schmerzt, ein Familienmitglied zu verlieren.“

Sie hätte nicht sagen können, weshalb diese wenigen Worte eines Fremden sie tiefer berührten als alle Beileidsbezeugungen, die sie sonst erhalten hatte. „Ja, das stimmt. Wenn Sie bitte Platz nehmen würden, könnten wir zur Sache kommen.“

Außerdem ist sie kühl, hart und distanziert, dachte er.

„Ich hatte Ihrem Großvater mehrere Briefe geschrieben“, begann Mikhail Stanislaski und setzte sich auf den zierlichen Queen-Anne-Sessel vor dem Schreibtisch. „Vielleicht sind die letzten in dem Durcheinander nach seinem Tod ja verloren gegangen.“

Hier geht während der letzten Monate tatsächlich alles drunter und drüber, dachte sie. „Richten Sie in Zukunft bitte Ihre Korrespondenz direkt an mich“, antwortete sie und faltete die Hände auf dem Schreibtisch. „Wie Ihnen wohl bekannt ist, zieht Hayward Enterprises mehrere Firmen in Erwägung.“

„Weshalb?“

Sydney bemühte sich, nicht zu zeigen, dass sie sich über die Unterbrechung ärgerte. „Wie bitte?“

„Wozu ziehen Sie mehrere Firmen in Erwägung?“

Nervös trommelte sie mit den Fingern auf die Schreibtischplatte. „Was für eine Stellung nehmen Sie ein, Mr. Stanislaski?“

„Stellung?“

„Ja, als was arbeiten Sie?“

Er lächelte über ihre Ungeduld. Seine Zähne waren sehr weiß, allerdings saßen sie nicht ganz gerade. „Sie meinen, was ich tue? Ich arbeite mit Holz.“

„Sind Sie Tischler?“

„Gelegentlich.“

„Gelegentlich“, wiederholte sie und lehnte sich zurück. „Dann können Sie mir vielleicht verraten, weshalb Howington Construction mir einen Gelegenheitsarbeiter als Gesprächspartner geschickt hat. Ich habe einen Mitarbeiter aus der Führungsetage erwartet.“

Im Raum duftete es nach Zitrone und Rosmarin. Stanislaski war es warm, und er hatte Durst. „Das könnte ich sicher – wenn man mich geschickt hätte“, antwortete er ungeduldig.

Es dauerte einen Moment, bis Sydney begriff. „Sie kommen nicht von Howington?“

„Nein. Ich bin Mikhail Stanislaski und wohne in einem Ihrer Häuser. Falls Sie Howington mit der Renovierung beauftragen wollen, würde ich es mir an Ihrer Stelle gut überlegen. Ich habe einmal für die Firma gearbeitet. Die Leute waren mir nicht korrekt genug.“

„Entschuldigen Sie bitte einen Moment.“ Verärgert drückte sie auf die Sprechtaste. „Janine, hat Mr. Stanislaski gesagt, er käme im Auftrag von Howington?“

„Oh nein, Ma’am. Er wollte Sie nur sprechen. Howington hat vor etwa zehn Minuten angerufen und um Verschiebung seines Termins gebeten. Wenn Sie …“

„Schon gut.“ Sydney lehnte sich wieder zurück und betrachtete den Mann näher, der sie freundlich anlächelte. „Offensichtlich bin ich einem Missverständnis aufgesessen.“

„Sie meinen, dass Sie sich geirrt haben. Das stimmt. Ich bin hier, um mit Ihnen über Ihr Apartmenthaus in Soho zu reden.“

„Kommen Sie wegen einer Mieterbeschwerde?“

„Ich komme wegen vieler Mieterbeschwerden“, verbesserte er sie.

„Ihnen ist hoffentlich klar, dass es für solche Fälle gewisse Verfahrensweisen gibt.“

Mikhail zog eine Augenbraue in die Höhe. „Das Haus gehört Ihnen doch, oder?“

„Ja, aber …“

„Dann tragen Sie auch die Verantwortung dafür.“

Sydney stand auf. „Ich bin mir meiner Verantwortung durchaus bewusst, Mr. Stanislaski. Und jetzt …“

Er stand ebenfalls auf, rührte sich aber nicht von der Stelle. „Ihr Großvater hatte uns einige Verbesserungen versprochen. Wenn Sie sein Andenken in Ehren halten wollen, müssen Sie sie einlösen.“

„Ich muss vor allem die Firma leiten“, antwortete sie kühl. Und ich versuche verzweifelt zu lernen, wie man das macht, fügte sie stumm hinzu. „Sagen Sie den anderen Mietern, dass Hayward Enterprises sich in Kürze mit einem Bauunternehmen in Verbindung setzen wird. Uns ist bekannt, dass zahlreiche Gebäude dringend renoviert werden müssen. Die Wohnungen in Soho kommen ebenfalls an die Reihe.“

Sein Gesichtsausdruck veränderte sich nicht. Breitbeinig blieb er stehen und erklärte im selben Ton wie zuvor: „Wir sind es leid, ständig zu warten, sondern verlangen, dass die Zusagen endlich eingehalten werden.“

„Schicken Sie mir bitte eine Liste mit Ihren Forderungen.“

„Das haben wir bereits getan.“

Sydney presste die Zähne zusammen. „Ich werde mir die Akten heute Abend ansehen.“

„Akten sind leblos. Sie, Miss Hayward, kassieren jeden Monat die Miete, aber Sie denken nicht an die Menschen, die sie zahlen müssen.“ Er stemmte die Hände auf den Schreibtisch und beugte sich vor. Er roch nach Sägespänen und Schweiß, eine Mischung, die Sydney seltsam anziehend fand. „Haben Sie das Gebäude oder die Leute, die darin leben, je gesehen?“

„Ich kenne die Unterlagen.“

„Unterlagen!“ Er schimpfte in einer Sprache, die sie nicht verstand, war aber sicher, dass es sich um einen Fluch handelte. „Sie haben Ihre Wirtschaftsprüfer und Ihre Rechtsanwälte. Sie sitzen in einem hübschen Büro und sehen die Akten durch.“ Er machte eine abwehrende Bewegung. „Aber Sie haben keine Ahnung. Sie frieren ja nicht, weil die Heizung streikt, und Sie brauchen keine fünf Stockwerke nach oben zu steigen, weil der Fahrstuhl nicht funktioniert. Es kümmert Sie nicht, ob das Wasser heiß wird oder die elektrischen Leitungen zu alt sind, um noch als sicher zu gelten.“

Niemand hatte bisher je so zu ihr gesprochen. Ihr Herz begann vor Entrüstung zu rasen. „Sie irren sich. Ich kümmere mich sehr um diese Dinge, und ich habe die Absicht, sie so bald wie möglich zu verbessern.“

Seine Augen blitzten. „Diese Zusage hatten wir schon einmal.“

„Die heutige Zusage stammt von mir, und meine hatten Sie bisher noch nicht.“

„Und wir sollen Ihnen vertrauen? Ausgerechnet Ihnen, die zu träge oder zu ängstlich ist, sich ihren Besitz auch nur anzusehen?“

Sie wurde kreidebleich, das einzige äußere Anzeichen für ihre Verärgerung. „Für heute reichen mir Ihre Beleidigungen, Mr. Stanislaski. Entweder gehen Sie freiwillig, oder ich rufe den Sicherheitsdienst, damit er nachhilft.“

„Ich bin schon auf dem Weg“, antwortete Mikhail ruhig. „Eines sage ich Ihnen ganz deutlich, Miss Sydney Hayward. Entweder lösen Sie Ihre Zusage innerhalb der nächsten beiden Tage ein, oder wir wenden uns an die Baubehörde und die Presse.“

Sie wartete, bis der Mann gegangen war, dann setzte sie sich wieder. Langsam zog sie einen Firmenbogen aus der Schublade und zerriss ihn mechanisch. Sie betrachtete die großen Abdrücke, die Stanislaskis Handflächen auf ihrer glänzenden Schreibtischplatte hinterlassen hatten, und zerriss ein weiteres Blatt. Endlich beruhigte sie sich und drückte wieder auf die Sprechtaste. „Janine, bringen Sie mir bitte alles, was wir über das Soho-Gebäude besitzen.“

Eine Stunde später schob Sydney die Akten wieder beiseite und führte zwei Telefongespräche. Mit dem ersten sagte sie eine Verabredung zum Abendessen ab. Mit dem zweiten rief sie Lloyd Bingham zu sich, den ehemaligen Direktionsassistenten ihres Großvaters, der jetzt für sie arbeitete.

„Sie haben mich gerade noch erwischt“, erklärte Lloyd und betrat Sydneys Büro. „Ich wollte eben gehen. Was kann ich für Sie tun?“

Sydney warf ihm einen kurzen Blick zu. Lloyd war ein gut aussehender, ehrgeiziger Mann und bevorzugte italienische Anzüge und französisches Essen. Er war noch keine Vierzig, stand kurz vor seiner zweiten Scheidung und zeigte sich gern in Begleitung von Frauen aus der Gesellschaft, denen seine blonden Locken und seine ausgezeichneten Manieren gefielen. Er hatte schwer gearbeitet, um seine jetzige Position bei Hayward zu bekommen, und hatte die Firma während der Krankheit ihres Großvaters praktisch allein geführt.

Sydney wusste, dass er sie nicht leiden konnte, weil sie seiner Ansicht nach hinter einem Schreibtisch saß, der eigentlich ihm zustand.

„Als Erstes erklären Sie mir bitte, weshalb wir wegen der Wohnungen in Soho noch nichts unternommen haben.“

„Das Apartmenthaus in Soho?“ Lloyd nahm eine Zigarette aus einem schmalen Goldkästchen. „Es steht auf unserer Planungsliste.“

„Dort befindet es sich seit über anderthalb Jahren. Der erste Brief eines Mieters, der sich in unserer Akte befindet, ist fast zwei Jahre alt und enthält siebenundzwanzig Beschwerden.“

„Vermutlich werden Sie der Akte ebenfalls entnommen haben, dass wir einigen dieser Klagen nachgegangen sind.“ Lloyd stieß eine dünne Rauchfahne aus und machte es sich auf einem Stuhl bequem.

„Ja, einigen“, wiederholte Sydney. „Zum Beispiel wurde der Heizungskessel repariert. Die Mieter glauben jedoch, dass er ersetzt werden muss.“

Lloyd machte eine abwehrende Bewegung. „Sie sind noch neu im Geschäft, Sydney, und werden bald selbst feststellen, dass Mieter grundsätzlich alles neu und besser haben möchten.“

„Mag sein. Es scheint mir jedoch nicht unbedingt wirtschaftlich zu sein, einen dreißigjährigen Heizkessel zu reparieren und ihn zwei Monate später auszutauschen.“ Sie hob die Hand, bevor er etwas erwidern konnte. „Zerbrochene Treppengeländer, abblätternde Farbe, nicht funktionierende Heißwasserboiler, ein defekter Fahrstuhl, gesprungene Waschbecken …“ Sie sah auf. „Ich könnte weitere Dinge aufzählen, aber das dürfte kaum nötig sein. Hier ist eine Aktennotiz meines Großvaters an Sie, in der er Sie bittet, sich um die Instandsetzung des Gebäudes zu kümmern.“

„Was ich getan habe“, erklärte Lloyd steif. „Sie wissen sehr wohl, dass in der Firma wegen der Erkrankung Ihres Großvaters alles drunter und drüber ging. Das Mietshaus ist nur eines von vielen Gebäuden, die ihm gehörten.“

„Sie haben vollkommen Recht.“ Ihre Stimme klang ruhig, aber ohne jede Wärme. „Mir ist jedoch ebenfalls klar, dass wir eine rechtliche und moralische Verantwortung gegenüber unseren Mietern tragen, gleichgültig, ob sie in Soho oder am West Central Park wohnen.“ Sie schloss den Aktenordner und legte besitzergreifend beide Hände darauf. „Ich will Sie nicht kränken, Lloyd, aber ich habe beschlossen, mich persönlich um diese Angelegenheit zu kümmern.“

„Weshalb?“

Sydney lächelte ein wenig. „Das weiß ich selbst nicht genau. Sagen wir, dass ich ins kalte Wasser springen möchte und deshalb das Gebäude zu meinem Lieblingsprojekt machen werde. Sehen Sie sich bitte die Angebote der Bauunternehmen an und sagen Sie mir anschließend, wen Sie empfehlen würden.“ Sie übergab ihm einen anderen Aktenordner. „Darin befindet sich eine Liste unserer Gebäude in der Reihenfolge ihrer Wichtigkeit. Am Freitag, um zehn Uhr, werden wir abschließend darüber reden.“

„In Ordnung.“ Lloyd drückte seine Zigarette aus, bevor er aufstand. „Nehmen Sie es mir nicht übel, Sydney“, erklärte er, „aber eine Frau, die bisher vor allem gereist ist und ihre Zeit mit dem Einkaufen ihrer Garderobe verbracht hat, versteht nicht allzu viel von geschäftlichen Dingen oder davon, wie man Gewinne erwirtschaftet.“

Sie nahm ihm die Bemerkung übel, hütete sich jedoch, es zu zeigen. „Dann sollte ich es wohl schleunigst lernen, nicht wahr? Gute Nacht, Lloyd.“

Erst nachdem sich die Tür geschlossen hatte, merkte Sydney, dass ihre Hände zitterten. Lloyd hatte Recht –völlig Recht, wenn er sie auf ihre Unzulänglichkeiten hinwies. Er konnte nicht ahnen, wie viel ihr daran lag, sich zu bewähren und etwas aus dem zu machen, was der Großvater ihr hinterlassen hatte. Erst recht wusste er nicht, wie groß ihre Angst war, dass sie dem Ruf ihrer Familie schaden könnte – noch einmal.

Bevor sie es sich anders überlegen konnte, schob sie den Ordner in ihre Aktentasche und verließ das Büro. Sie lief den breiten Flur mit den geschmackvollen Aquarellen an den Wänden und den prächtigen Grünpflanzen hinab und durchquerte die dicke Glastür, die ihre Büroräume von den übrigen trennte. Mit ihrem Privatfahrstuhl fuhr sie in die Halle hinab, nickte dem Pförtner zu und trat nach draußen.

Die Hitze traf sie wie ein Schlag. Obwohl es erst Mitte Juni war, litt New York unter einer heftigen Hitzewelle mit hoher Luftfeuchtigkeit. Rasch stieg sie in ihren wartenden Wagen, nannte dem Fahrer ihr Ziel und lehnte sich zurück, um nach Soho zu fahren.

In seiner Wohnung schnitzte Mikhail an einem Stück Kirschbaumholz. Er wusste selbst nicht, weshalb er daran weiterarbeitete. Denn er war nicht mit vollem Herzen dabei, aber er musste seine Hände unbedingt beschäftigen.

Sydney Hayward ging ihm nicht aus dem Sinn. Eine eiskalte, stolze Frau, überlegte er. Alles in ihm wehrte sich dagegen. Obwohl er noch ein Kind gewesen war, als seine Familie nach Amerika flüchtete, konnte er seine Herkunft nicht verleugnen. Seine Vorfahren waren heißblütige, temperamentvolle Kosaken aus der Ukraine gewesen, die den Herrschenden wenig Respekt zollten.

Mikhail betrachtete sich als Amerikaner – außer wenn es ganz nützlich war, als Ukrainer zu gelten.

Die Holzspäne fielen auf den Tisch und auf den Boden. Beinahe die ganze Wohnung war mit Arbeitsutensilien voll gestopft: Holzblöcke, Platten, sogar eine knorrige Eichenwurzel, Schnitzmesser, Meißel, Hammer, Greifzirkel und Bohrer lagen auf den Regalen. In der Ecke befand sich eine kleine Drehbank, unzählige Pinsel standen in Gläsern. Im Raum roch es nach Leinöl, Schweiß und Sägespänen.

Mikhail trank einen Schluck Bier und lehnte sich zurück, um das Kirschbaumholz zu betrachten. Noch erkannte er nicht, was darin steckte. Nachdenklich strich er mit dem Finger über die Maserung und in die Kerben, während der Verkehrslärm, die Musik und die Rufe durch das geöffnete Fenster hereinschallten.

Er war während der beiden letzten Monate ziemlich erfolgreich gewesen und hätte sich durchaus eine größere, modernere Wohnung leisten können. Aber ihm gefiel die lebhafte Umgebung mit dem Bäcker gleich um die Ecke, der basarähnlichen Atmosphäre am Kanal, nur wenige Schritte entfernt, den Frauen, die morgens auf der offenen Veranda tratschten, und den Männern, die abends dort saßen.

Er brauchte keine Wohnung mit Teppichboden, eingelassenen Marmorwannen oder einer großen Küche mit den neuesten technischen Geräten. Er wollte nur ein Dach über dem Kopf, das nicht leckte, eine Dusche, aus der heißes Wasser floss, und einen Kühlschrank, in dem er sein Bier und einen kalten Imbiss kühl halten konnte. Zurzeit hatte er das nicht, und deshalb hatte Miss Sydney Hayward ihn heute gewiss nicht zum letzten Mal gesehen.

Er sah auf, denn es hatte dreimal kurz geklopft, und seine Wohnungsnachbarin stürzte herein. „Na, wie ist es gelaufen?“ fragte er.

Keely O’Brian schlug die Tür zu und tänzelte ein paar Schritte. „Ich habe die Rolle!“ jubelte sie, eilte zum Tisch und warf Mikhail die Arme um den Nacken. „Ich habe sie bekommen! Meine erste Fernsehrolle!“ Sie gab ihm einen schmatzenden Kuss auf die Wange.

„Habe ich doch gesagt.“ Freundschaftlich zerzauste Mikhail Keelys kurzes, strohblondes Haar. „Hol dir ein Bier, das muss gefeiert werden.“

„Oh Mik!“ Keely ging zu dem winzigen Kühlschrank. Sie trug neongrüne Shorts, die ihre langen schlanken Beine gut zur Geltung brachten. „Ich war so nervös, dass ich vor dem Probesprechen einen Schluckauf bekam und literweise Wasser trinken musste. Trotzdem habe ich die Rolle bekommen. Eine ganze Woche filmen! Natürlich ist es keine großartige Sache, aber ich werde erst im dritten Akt ermordet.“ Sie trank einen Schluck und stieß plötzlich einen grauenhaften Schrei aus. „Das muss ich tun, wenn der Serienmörder mich in der Allee in die Enge treibt. Ich glaube, mein Schrei hat den Ausschlag gegeben.“

„Zweifellos.“ Wie immer belustigte ihn ihre rasche, nervöse Sprechweise. Keely war dreiundzwanzig, besaß einen reizvollen Körper, lebhafte grüne Augen und ein Herz, das so weit wie der Grand Canyon war. Hätte Mikhail sich nicht wie ihr großer Bruder gefühlt, hätte er längst versucht, sie in sein Bett zu locken.

Keely trank einen weiteren Schluck Bier. „He, möchtest du etwas Chinesisches essen oder eine Pizza? Ich hab eine gefrorene Pizza da, aber mein Herd streikt mal wieder.“

Seine Augen blitzten. „Ich war heute bei Hayward.“

„Persönlich? Von Angesicht zu Angesicht?“

„Ja.“ Er legte sein Schnitzwerkzeug hin.

Keely war tief beeindruckt und setzte sich auf die Fensterbank. „Toll. Wie ist er?“

„Er ist tot.“

Sie verschluckte sich, sah ihn mit großen Augen an und klopfte sich auf die Brust. „Tot? Du hast ihn doch nicht …“

„Umgebracht?“ Diesmal lächelte Mikhail. Keelys Sinn für Dramatik machte ihm jedes Mal Spaß. „Nein, das habe ich nicht. Aber ich hätte gern der neuen Hayward – seiner Enkelin – den Hals umgedreht.“

„Unsere neue Vermieterin ist eine Frau? Wie ist sie?“

„Sehr hübsch – und eiskalt.“ Er runzelte die Stirn und strich erneut mit der Fingerspitze über die Holzmaserung. „Sie hat rotes Haar und porzellanweiße Haut. Ihre Augen sind so blau wie Eisblumen. Und wenn sie spricht, bilden sich Eiszapfen an ihren Lippen.“

Keely verzog das Gesicht und trank einen Schluck. „Reiche Leute können es sich leisten, eiskalt zu sein“, erklärte sie.

„Ich habe ihr gesagt, sie hätte zwei Tage Zeit. Anschließend würde ich die Bauaufsichtsbehörde verständigen.“

Diesmal lächelte Keely. So sehr sie Mikhail bewunderte, er war ziemlich naiv. „Na, dann viel Glück. Vielleicht sollten wir lieber Mrs. Bayfolds Vorschlag aufgreifen und die Miete nicht mehr bezahlen. Dann riskieren wir zwar eine Kündigung, aber … He!“ Sie lehnte sich aus dem offenen Fenster. „Sieh dir mal diesen Wagen an. Es muss ein Lincoln sein. Mit Chauffeur. Und jetzt steigt eine Dame aus.“ Fasziniert holte sie tief Luft. „Eine Karrierefrau wie aus dem Bilderbuch.“ Lächelnd blickte sie über die Schulter zu Mikhail zurück. „Ich glaube, deine Eisprinzessin sucht die Slums auf.“

Aufmerksam betrachtete Sydney das Gebäude. Eigentlich ist es ganz hübsch, dachte sie. Es gleicht einer alten Frau, die sich ihre Würde und einen Schimmer ihrer jugendlichen Schönheit bewahrt hat. Der rote Backstein war zu einem sanften Rosa verblasst und hier und da von Ruß und Abgasen geschwärzt. Die Stuckornamente waren gerissen, und die Farbe an den Fenstern blätterte ab, aber das ließ sich leicht ausbessern. Sie zog einen Block hervor und machte sich Notizen.

Sie bemerkte die Männer, die auf der offenen Veranda saßen und ihr zusahen, beachtete sie aber nicht weiter. Die Gegend ist furchtbar laut, stellte sie fest. Die meisten Fenster waren geöffnet, und die unterschiedlichsten Geräusche drangen nach draußen: Fernsehen, Radio und Babygeschrei. Irgendwo sang eine Frau eine italienische Arie. Die viel zu kleinen Balkons waren mit Topfblumen, Fahrrädern und Wäsche voll gestopft, die in der immer noch heißen Luft trocknete.

Sydney schirmte ihre Augen mit der Hand ab und ließ den Blick nach oben wandern. Die meisten Geländer waren stark verrostet, häufig fehlten Stäbe. Plötzlich entdeckte sie Mikhail, der beinahe Wange an Wange mit einer erstaunlich blonden Frau aus einem Fenster im oberen Stockwerk lehnte. Da sein Oberkörper nackt war und die Frau nur ein winziges Oberteil trug, waren die beiden vermutlich bei einem intimen Beisammensein gestört worden. Sydney nickte Mikhail kühl zu und beschäftigte sich weiter mit ihren Notizen.

Als sie in Richtung Eingang ging, rückten die Männer beiseite und gaben ihr den Weg frei. Die kleine Eingangshalle war nur schwach beleuchtet und drückend heiß. Der alte Parkettboden war fleckig und völlig zerkratzt, und es roch eindeutig nach Schimmel. Zweifelnd betrachtete Sydney den Fahrstuhl, drückte neugierig auf den Knopf nach oben und horchte auf das Rattern und Knarren der Anlage. Ungeduldig machte sie sich eine weitere Notiz. Das ist ja erbärmlich, dachte sie.

Die Türen öffneten sich quietschend, und Mikhail trat heraus.

„Na, sind Sie gekommen, um Ihr Reich zu besichtigen?“ fragte er.

Sydney schrieb absichtlich erst ihre Notizen zu Ende, bevor sie aufsah. Zumindest hat er ein Hemd übergezogen – falls man dieses Kleidungsstück so bezeichnen kann, dachte sie. Das dünne weiße T-Shirt war an den Ärmeln eingerissen und am Bund zerschlissen.

„Ich sagte doch, ich würde mir die Akte ansehen. Anschließend hielt ich es für sinnvoll, das Gebäude selbst zu inspizieren.“ Sie blickte zum Fahrstuhl und sah Mikhail erneut an. „Entweder sind Sie sehr mutig oder sehr dumm, Mr. Stanislaski.“

„Ich bin Realist“, verbesserte er sie. „Es kommt, wie es kommen muss.“

„Vielleicht. Trotzdem wäre es mir lieber, wenn die Mieter den Fahrstuhl erst wieder benutzten, nachdem er repariert oder ausgetauscht worden ist.“

Er schob seine Hände in die Taschen. „Und wann wird das geschehen?“

„So schnell wie möglich. Sie erwähnten in Ihrem Brief ebenfalls, dass das Treppengeländer an manchen Stellen defekt sei.“

„Das Schlimmste habe ich repariert.“

„Sie?“ fragte Sydney verblüfft.

„In diesem Haus wohnen Kinder und alte Leute.“

Die schlichte Antwort beschämte sie. „Verstehe. Da Sie sich bereit erklärt haben, auch im Namen der anderen Mieter zu sprechen, könnten Sie mich vielleicht herumführen und mir die größten Probleme zeigen.“

Während sie die Treppe hinaufstiegen, stellte Sydney fest, dass das Geländer erneuert worden war. Das saubere Holz fühlte sich ausgesprochen stabil an. Sie notierte, dass es von einem Mieter ersetzt worden war.

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