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Verliebt in Virgin River

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Die Bücher zur beliebten Netflix-Serie

Die junge Shelby träumt von Freiheit, Abenteuer – und der großen Liebe. Sie hat schon eine genaue Vorstellung von Mr. Right: Ihr Traummann muss ein glattrasiertes Kinn, Hosen mit Bügelfalten und einen Hochschulabschluss haben. Luke Riordan, den sie in dem kleinen Örtchen Virgin River kennen lernt, ist das genaue Gegenteil. Doch ausgerechnet der gut aussehende Ex-Pilot weckt eine verzehrende Sehnsucht in ihr – und ein Gefühl, das sie nicht benennen kann. Dabei ist er über zehn Jahre älter als sie, zynisch und offensichtlich nur auf einen One-Night-Stand aus ...

»Die Virgin-River-Romane sind so mitreißend, dass ich mich auf Anhieb mit den Charakteren verbunden gefühlt habe.«
SPIEGEL-Bestsellerautorin Debbie Macomber

»Robyn Carr ist eine bemerkenswerte Geschichtenerzählerin.«
The Library Journal


  • Erscheinungstag: 24.11.2020
  • Aus der Serie: Virgin River
  • Bandnummer: 6
  • Seitenanzahl: 448
  • ISBN/Artikelnummer: 9783745701388

Leseprobe

1. KAPITEL

Shelby hatte nur noch wenige Kilometer bis zur Ranch ihres Onkels Walt vor sich, als sie auf dem Highway 36 zwischen Fortuna und Virgin River gezwungen wurde, am Straßenrand anzuhalten. Der Highway 36 war die Verbindung zwischen Fortuna und Red Bluff, eine Landstraße, die größtenteils nur zweispurig durch die Berge führte, und natürlich war dies der Streckenabschnitt mit dem meisten Verkehr. Sie kam hinter einem Truck zu stehen, der ihr vage bekannt vorkam, stellte den Wählhebel der Automatik ihres kirschroten Geländewagens auf »Parken« und stieg aus. Die Regenwolken hatten sich endlich verzogen und der strahlenden Sommersonne Platz gemacht, aber der Asphalt war noch nass, und überall hatten sich Schlammpfützen gebildet. Als sie die Straße hinaufschaute, konnte sie am Ende einer langen Autoschlange einen Mann erkennen, der eine leuchtend orangefarbene Weste trug und ein Stoppschild hochhielt, womit er beide Fahrspuren blockierte. Die Abzweigung zu dem Anwesen ihres Onkels lag direkt hinter dem nächsten Berg.

Den Pfützen ausweichend, ging sie zu dem Truck vor ihr, denn sie wollte den Fahrer fragen, ob er wusste, was los war. Als sie vor seinem Fenster stand, lächelte sie. »Na, so was! Hey, Doc.«

Doc Mullins sah sie durch das offene Fenster an und begrüßte sie wie üblich in einem brummigen Tonfall: »Hey, kleines Mädchen. Mal wieder ein Wochenende auf dem Rücken der Pferde?«

»Diesmal nicht, Doc. Ich habe das Haus meiner Mutter in Bodega Bay verkauft und nur das absolut Lebensnotwendige behalten und eingepackt. Ich werde eine Weile bei Onkel Walt wohnen.«

»Auf Dauer?«

»Nein. Aber für ein paar Monate schon. Ich weiß immer noch nicht so recht, wie es jetzt weitergeht.«

Docs mürrische Mine wurde ein ganz kleines bisschen weicher. »Noch einmal – mein Beileid, Shelby. Ich hoffe, dass du gut darüber hinwegkommst.«

»Es wird von Tag zu Tag besser. Danke. Mom war bereit zu gehen.« Mit einer Kopfbewegung deutete sie auf die Straße. »Wissen Sie, was uns da oben aufhält?«

»Durch die Wassermassen der letzten Tage ist der unbefestigte Seitenstreifen unterspült worden, wodurch unsere Fahrspur abgesackt ist. Jetzt sind sie dabei, es zu reparieren.«

»Leitplanken wären nicht schlecht«, bemerkte sie.

»Die gibt’s nur an den scharfen Kurven. Auf so einer geraden Strecke wie hier sind wir uns selbst überlassen. Es ist schon ein verdammtes Glück, dass nicht auch noch ein Auto oder Laster gleich mit runtergerutscht ist. Das wird jetzt noch ein paar Tage so weitergehen.«

»Wenn ich erst mal auf der Ranch bin, habe ich nicht vor, die Straße so bald wieder zu benutzen«, meinte sie achselzuckend.

»Was genau hast du denn vor, wenn ich fragen darf?« Doc sah sie fragend an.

»Nun, ich besuche meine Familie und will mich um einen Ausbildungsplatz bewerben. Ich will Krankenschwester werden«, fügte sie lächelnd hinzu. »Jahrelang habe ich meine Mutter gepflegt, da liegt das ziemlich nahe.«

»Ach, genau das, was ich brauche«, stöhnte er und machte das finstere Gesicht, das man von ihm kannte. »Noch eine Krankenschwester. Zusammen werden sie mich dem Alkohol in die Arme treiben.«

Sie lachte. »Wenigstens müssen wir Sie nicht weit treiben.«

»Das meine ich. Auch noch genauso frech wie die andere.«

Wieder lachte sie, denn sie mochte diesen grantigen alten Kerl. Sie drehte sich um. Doc lehnte sich aus dem Fenster. Beide beobachteten sie einen Mann, der seinen Truck hinter Shelbys Jeep abstellte, kurz in ihre Richtung schaute und schließlich auf sie zukam. Seine Haare waren militärisch kurz rasiert, ein Haarschnitt, an den sie ihr ganzes Leben lang gewöhnt war, denn ihr Onkel war ein General im Ruhestand. Das schwarze T-Shirt des großen Mannes spannte sich über breite, muskulöse Schultern. Taille und Hüften waren schlank und schmal. Was Shelby am meisten faszinierte, waren jedoch die sparsamen, bedächtigen Bewegungen, mit denen er auf sie zukam. Entschlossen. Selbstbewusst. Beinahe großspurig. Die Daumen vorn in die Taschen eingehakt, schlenderte er auf sie zu. Während er näher kam, konnte sie ein leichtes Lächeln in seinem Gesicht ausmachen, wobei er sie anschaute, oder genauer gesagt, in Augenschein nahm. Mit glühenden Augen musterte er sie von Kopf bis Fuß. Träum du nur, dachte sie, musste dann aber auch lächeln.

Als er an ihrem Jeep vorbeiging, warf er einen Blick auf all die Kisten, die darin verstaut waren, setzte seinen Weg fort und stellte sich neben sie an Docs offenes Fenster. »Ist das Ihrer?«, fragte er und deutete mit dem Kinn auf den Jeep.

»Ja.«

»Wohin geht’s?«, fragte er weiter.

»Virgin River. Und Sie?«

»Dasselbe Ziel.« Er grinste. »Irgendeine Ahnung, was da oben los ist?«

»Ein abgerutschter Seitenstreifen«, knurrte Doc. »Die Straße wird repariert, und uns bleibt nur eine Fahrspur. Was führt Sie nach Virgin River?«

»Ich besitze dort ein paar alte Hütten am Fluss.« Er sah zwischen den beiden hin und her. »Sie wohnen beide in dem Ort?«

»Ich habe Verwandte dort«, antwortete Shelby und reichte ihm die Hand. »Shelby.«

Er ergriff die schmale Hand. »Luke Riordan.« Dann wandte er sich an Doc und wollte auch ihm die Hand schütteln. »Sir?«

Doc ging darauf nicht ein, sondern nickte nur. Seine Hände waren von Arthritis gekrümmt, daher gab er niemals jemandem die Hand.

»Mullins«, stellte er sich vor.

»Doc Mullins hat sein ganzes Leben in Virgin River verbracht. Er ist der Arzt im Ort«, teilte Shelby ihm mit.

»Ich freue mich, Sie kennenzulernen, Sir«, sagte Luke.

»Noch so ein Jarhead?«, fragte Doc.

Luke straffte sich. »Verzeihung, Sir. Army, Sir.« Dann richtete er das Wort an Shelby: »Was heißt das? Noch ein Marine?«

»Ein paar unserer Freunde, die im Ort arbeiten, sind Marines. Ausgeschieden oder im Ruhestand. Manchmal schauen ihre Freunde hier vorbei, die zum Teil noch aktiv oder in der Reserve sind«, erklärte sie. »Auch mein Onkel, bei dem ich eine Zeit lang wohnen werde, war in der Army. Er ist jetzt pensioniert.« Sie grinste. »Mit Ihrer Frisur werden Sie also nicht besonders auffallen. Keine Ahnung, was Ihr Kerle an diesen rasierten Köpfen so toll findet.«

Er lächelte. »Wir können einfach nicht mit diesen Trockendingern umgehen.«

»Ah, Föhnphobiker, ich verstehe.«

Während sie auf ihrer gesperrten Fahrbahnseite warten mussten, wurde die andere Fahrspur freigegeben, um einen großen gelben Schulbus passieren zu lassen. Angesichts der vielen Fahrzeuge, die auf ihrer Seite warteten, würden sie so bald nicht weiterkommen, also gab es auch keinen Anlass, möglichst schnell wieder in die Wagen zu steigen. Deshalb blieben sie auf der Straße stehen, was sich jedoch für Luke als großer Fehler erweisen sollte. Als er nämlich den Bus immer schneller den Hügel herunterfahren sah, bemerkte er gleichzeitig eine sehr große Schlammlache direkt neben sich. Schnell drängte er Shelby gegen Docs Auto und stützte sich mit beiden Händen rechts und links vom offenen Fenster ab. In dem Moment kam auch schon der Bus vorbeigerauscht, und eine Fontäne aus matschigem Wasser ergoss sich über Lukes Rücken.

Shelby unterdrückte ein Kichern. So ein Macho, dachte sie ziemlich amüsiert.

Luke hörte, wie der Bus runtergeschaltet wurde, und dann das Quietschen von Bremsen. »Lieber Himmel«, murmelte er, trat einen Schritt zurück und verfolgte den Bus mit wütenden Blicken.

In dem Augenblick, in dem Luke sich umdrehte, lehnte die Fahrerin sich aus dem Fenster. Sie war ungefähr Mitte fünfzig, hatte ein rundes Gesicht mit roten Wangen und kurze schwarze Haare, die ihren Kopf wie eine Kappe bedeckten. Und sie grinste ihn an. Sie grinste! »Tut mir leid, mein Freund«, rief sie. »Das konnte ich leider nicht verhindern.«

»Sie hätten es verhindern können, wenn Sie sehr viel langsamer gefahren wären«, rief er zurück.

Erstaunt musste er feststellen, dass sie lachte. »Ach was, ich bin nicht zu schnell gefahren. Schließlich muss ich einen Fahrplan einhalten«, konterte sie. »Wenn ich Ihnen einen Rat geben darf – stehen Sie nicht auf der Straße herum.«

Er merkte, wie die Kopfhaut unter seinem kurzen Haar brannte, und am liebsten hätte er laut geflucht. Als er sich wieder zu Shelby und Doc umdrehte, sah er, dass sie hinter vorgehaltener Hand lächelte, und auch in Docs Augen glitzerte es verdächtig.

»Sie haben da ein wenig Matsch auf dem Rücken, Luke«, sagte sie und gab sich große Mühe, ihre Lippen unter Kontrolle zu halten.

Docs Miene hatte sich nicht verändert. Noch immer wirkte er schlecht gelaunt und ungeduldig, wenn da nicht dieses Funkeln in den Augen gewesen wäre. »Molly hat diese große gelbe Röhre jetzt schon dreißig Jahre lang durch die Berge hier geschaukelt, und es gibt niemanden, der diese Straßen besser kennt als sie. Da wird sie ja wohl mal ein Schlagloch übersehen dürfen.«

»Es ist noch nicht mal September!«, protestierte Luke.

»Sie fährt das ganze Jahr über. Sommerschule, spezielle Programme, Sportveranstaltungen. Irgendwas ist immer los. Sie ist eine Heilige. Kein Geld der Welt könnte mich dazu bringen, diesen Job zu machen. Was soll’s, wenn da hier und da mal ein Schlammloch im Weg ist?« Dann warf der alte Arzt geräuschvoll seinen Truck an. »Jetzt sind wir an der Reihe.«

Shelby beeilte sich, zu ihrem Jeep zu kommen, und auch Luke machte sich auf zu seinem Truck, an den er einen Wohnwagen angekoppelt hatte. Er hörte, wie Doc ihm hinterherrief: »Willkommen in Virgin River, mein Junge. Viel Spaß auch.« Dem folgte ein meckerndes Lachen.

Obwohl Shelby McIntyre monatelang das Haus ihrer verstorbenen Mutter renoviert hatte, war sie dennoch den Sommer über fast jedes Wochenende von Bodega Bay nach Virgin River zum Reiten gefahren. Ihr Onkel Walt hatte sie häufig besucht, um die Renovierungsarbeiten zu beaufsichtigen, die er selbst in Auftrag gegeben hatte. Inzwischen hatte Shelby wieder Farbe im Gesicht, und weil sie ihre Shorts meist aufgerollt hatte, waren ihre Beine von der Sonne gebräunt. An Po und Oberschenkeln hatten sich feste Reitmuskeln gebildet, und ihre Augen strahlten vor Gesundheit. Es war Jahre her, dass sie zuletzt derart von einer regelmäßigen sportlichen Betätigung hatte profitieren können.

Als sie jetzt aber Mitte August vor Walts Haus anhielt, war es ein völlig anderes Gefühl als sonst. Sie hatte ihr Haus verkauft, und all ihre Sachen waren hinten im Jeep verstaut. Mit fünfundzwanzig Jahren begann für sie nun ein völlig neues Leben. Sie drückte auf die Hupe, kletterte aus dem Wagen und streckte sich. Es dauerte nur wenige Augenblicke, da trat Onkel Walt auch schon vor die Haustür, stemmte die Hände in die Hüften und lachte übers ganze Gesicht. »Willkommen zurück«, begrüßte er sie. »Oder sollte ich lieber sagen – willkommen daheim?«

»Hallo!« Sie ging auf ihn zu und ließ sich von ihm in die Arme nehmen. Walt war eins dreiundachtzig groß, hatte dichtes silbergraues Haar, dunkle buschige Augenbrauen und die Arme und Schultern eines Ringers. Er war kräftig gebaut für einen Mann, der gerade sechzig geworden war.

Er zog sie fest an sich. »Ich wollte gerade zum Stall und aufsatteln. Bist du zu müde dazu? Hast du Hunger, oder brauchst du sonst etwas?«

»Ich sehne mich danach, wieder auf einem Pferd zu sitzen, aber ich glaube, diesmal muss ich passen. Ich habe gerade mehr als vier Stunden Fahrt in einem Jeep hinter mir.«

Er lachte. »Und den Po gut platt gesessen?«

»Und wie«, erwiderte sie und rieb sich die entsprechende Stelle.

»Ich will nur mal ein Stündchen am Fluss entlangreiten. Vanni ist unten auf der neuen Baustelle und mischt sich in Pauls Arbeit ein. Aber sie wird rechtzeitig zurückkommen und ein schönes Begrüßungsessen für dich kochen.«

Shelby warf einen Blick auf ihre Armbanduhr. Es war erst halb vier. »Weißt du was? Während du deinen Ausritt machst und Vanni ihr neues Haus inspiziert, werde ich mal ins Dorf fahren. Ich will Mel Sheridan Hallo sagen und schauen, ob ich sie zu einem Bier überreden kann, um meinen Umzug zu feiern. Ich bin pünktlich wieder zurück, um dir vor dem Abendessen noch bei den Pferden zu helfen. Vielleicht sollte ich vorher noch die Sachen aus dem Jeep holen und ins Haus bringen?«

»Schätzchen, lass die Sachen, wo sie sind. Die stören doch niemanden. Paul und ich werden sie vor dem Essen ausladen.«

Sie lächelte ihn an. »Aber morgen früh haben wir eine Verabredung, okay? Dann reiten wir gemeinsam aus.«

»Gute Idee. War es nicht schwer für dich, das Haus zu verlassen?«

»Es war etwas emotionaler, als ich erwartet hatte.«

»Bereust du es?«

Sie hob ihren Kopf und schaute ihn aus ihren großen haselnussbraunen Augen an. »Während der ersten fünfzig Meilen habe ich geweint. Danach fand ich es immer spannender. Ich bin mir sicher, dass es die richtige Entscheidung war.«

»Gut zu hören«, sagte er und drückte sie kurz. »Ich freue mich sehr, dass du hier bist.«

»Nur für ein paar Monate. Dann will ich ein bisschen reisen und mich mit meinem Erfahrungsvorsprung an mein Studium machen. Es ist so lange her, dass ich aus der Schule bin.«

»Hier läuft das Leben ziemlich entspannt. Nutze die Gelegenheit.«

Sie lachte. »Ja … wenn es nicht gerade eine Schießerei gibt oder Waldbrände.«

»Also wirklich, Mädchen, wir wollen doch, dass es nicht langweilig wird!« Er begleitete sie zu ihrem Jeep.

»Warte, bis ich zurück bin, dann kann ich die Ställe ausmisten und die Pferde füttern.«

»Genieß es nur, dass du mal Zeit mit einer Freundin verbringen kannst. Davon hast du in den letzten Jahren nicht genug gehabt. Es wird noch reichlich Pferdemist geben, um den du dich kümmern kannst, solange du hier bist.«

Sie lachte. »Danke, Onkel Walt. Ich bleibe nicht zu lange.«

Er gab ihr einen Kuss auf die Stirn. »Ich habe dir doch gesagt, lass dir Zeit. Du hast so gut für meine Schwester gesorgt, dass du jede Zeit der Welt verdient hast.«

»Wir sehen uns in zwei Stunden«, meinte Shelby und machte sich auf den Weg ins Dorf.

Luke Riordan fuhr mit seinem Truck in Virgin River ein. Auf der Ladefläche stand gut verschnürt seine Harley, und im Schlepptau hatte er einen kleinen Wohnwagen. Es war jetzt sieben Jahre her, dass er den Ort zuletzt gesehen hatte, und hier hatte sich einiges verändert. Die Kirchentür war mit Brettern zugenagelt, und das, was er als alte, verlassene Hütte im Ortszentrum in Erinnerung hatte, war renoviert worden. Vor der Eingangsveranda standen Trucks, und im Fenster konnte er ein Schild erkennen: »Geöffnet«. Hinter dem Haus schienen irgendwelche Bauarbeiten im Gange zu sein; das Rahmenwerk eines Anbaus stand bereits. Da er selbst ein Renovierungsprojekt plante, hatte er nichts dagegen, sich einmal anzuschauen, was aus dieser alten Hütte entstanden war. Er parkte etwas abseits, um niemanden zu blockieren, und stieg aus. Bevor er hineinging, kletterte er aber noch in den Wohnwagen, um sein Hemd zu wechseln.

An diesem Augustnachmittag war es warm, allerdings wehte eine erfrischend kühle Brise. Nachts würde es in den Bergen hier kalt werden, und er hatte das Haus, in dem er wohnen wollte, noch gar nicht gesehen. Seit einem Jahr stand es nun leer. Sollte es unbewohnbar sein, hatte er immer noch seinen Camper. Er atmete tief durch. Die Luft war so verdammt sauber hier, dass sie einem schon in den Lungen stach. Das war etwas völlig anderes als die Wüsten im Irak und El Paso und genau das, was er brauchte.

Er betrat die ausgebaute Hütte und stellte fest, dass es sich dabei um eine kleine ländliche Bar handelte, die einen guten Eindruck machte. Er blieb in der Tür stehen und sah sich anerkennend um. Der solide Holzfußboden glänzte, im Kamin glühten ein paar Scheite, und an den Wänden hingen einige Jagd- und Angeltrophäen. Die weitere Ausstattung bestand aus etwa einem Dutzend Tischen und einem langen, glänzenden Tresen. Die Regale dahinter waren mit Gläsern und Flaschen gefüllt, die einen ausgestopften Königslachs umrahmten, der beim Fang mindestens achtzehn Kilo gewogen haben musste. Auf einem Fernseher, der oben in einer Ecke angebracht war, liefen bei niedriger Lautstärke die überregionalen Nachrichten. An einem Ende des Tresens saßen zwei Angler, erkennbar an ihren Kakiwesten und Hüten, und spielten Cribbage. Nicht weit davon entfernt hockten ein paar Männer in Arbeitshemden und Jeans vor ihren Getränken an einem Tisch. Luke schaute auf die Uhr: genau vier. Er ging zum Tresen.

»Was darf’s sein?«, fragte der Barkeeper.

»Ein Kühles vom Fass, bitte. Als ich das letzte Mal hier war, hat es diese Bar noch nicht gegeben.«

»Dann muss das lange her sein. Es ist über vier Jahre her, dass ich die Bar eröffnet habe. Vorher war ich nach dem Kauf der Hütte damit beschäftigt, sie zu dem zu machen, was sie jetzt ist.«

»Also das ist Ihnen verdammt gut gelungen.« Luke nahm sein Bier in Empfang. »Ich habe selbst vor, einiges umzubauen.« Er streckte die Hand aus und stellte sich vor: »Luke Riordan.«

»Jack Sheridan. Freut mich, Sie kennenzulernen.«

»Ich besitze ein paar alte Hütten unten am Virgin, die jetzt schon seit Jahren leer stehen und verfallen.«

»Etwa die alten Chapman-Hütten?«, erkundigte sich Jack. »Der alte Mann ist doch erst letztes Jahr gestorben.«

»Ja, ich weiß. Damals, als wir sie entdeckt haben, war ich mit einem meiner Brüder und ein paar Freunden zum Jagen hier. Mein Bruder und ich fanden, dass die Lage direkt am Fluss eine kleine Investition wert sein könnte. Uns war aufgefallen, dass die Hütten nicht bewohnt waren. Gern hätten wir sie gekauft und wieder in Schuss gebracht, um sie dann schnell wieder zu verkaufen und ein paar Dollar zu machen. Aber der alte Chapman wollte sich unser Angebot nicht einmal anhören …«

»Das hätte ihn aus seinem Haus vertrieben«, sagte Jack und wischte mit einem Tuch über den Tresen. »Allzu viele Möglichkeiten wird er wohl kaum gehabt haben, er war ganz allein.«

Luke trank einen Schluck von dem eiskalten Bier. »Genau. Deshalb haben wir ihm dann auch alles abgekauft, sein Haus inklusive, und haben ihm versichert, dass er bis zum Ende seines Lebens mietfrei dort wohnen könnte. Daraus wurden dann sieben Jahre.«

Jack lächelte. »Ein guter Deal für ihn. Und für Sie war es ein kluges Geschäft. Es kommt nämlich nicht so oft vor, dass man hier in der Gegend Immobilien erwerben kann.«

»Uns war von Anfang an klar, dass das Land unter diesen Hütten mehr wert sein müsste als die Gebäude selbst. Allein die Lage direkt am Fluss. Seitdem hatte ich keine Gelegenheit mehr, noch mal hierherzukommen, und mein Bruder ist auch nur ein Mal wieder hier oben gewesen, um nachzuschauen. Er hat mir gesagt, es wäre alles beim Alten.«

»Was hat Sie abgehalten?«

»Nun«, erklärte Luke und rieb sich die Bartstoppeln am Kinn. »Afghanistan. Irak. Fort Bliss und noch ein paar andere Gebiete.«

»Army?«

»Ja. Zwanzig Jahre.«

»Bei mir waren es zwanzig Jahre Marine Corps«, bemerkte Jack. »Dann hatte ich vor, hier raufzukommen, ein paar Drinks zu servieren und die nächsten zwanzig Jahre mit Angeln und Jagen zu verbringen.«

»Klingt nach einem guten Plan.«

»Tja, der wurde dann allerdings von einer reizenden Krankenschwester namens Melinda sabotiert, die obendrein auch noch Hebamme ist.« Er grinste. »Ich wäre ja auch so zufrieden gewesen, aber was diese Frau mit einer Jeans anstellen kann, sollte gesetzlich verboten werden.«

»Tatsächlich?«

»Na ja, und da hab ich mir gedacht, Fische aus dem Wasser ziehen kann jeder«, fuhr Jack mit einem zufriedenen Lächeln auf dem Gesicht fort.

Luke schien es nicht zu stören, einem Mann zu begegnen, der mit seinem Leben zufrieden war. Er erwiderte das Lächeln und fragte dann: »Haben Sie das alles hier selbst gemacht?«

»Das meiste, ja. Ich hatte nur ein bisschen Hilfe. Zum Beispiel der Tresen hier ist Maßarbeit und wurde mir fertig geliefert. Ich habe die Regale angebracht und den Holzfußboden verlegt. Die Klempnerarbeiten habe ich mir von vornherein nicht zugetraut, und bei der Verlegung der elektrischen Leitungen habe ich so viel Mist gebaut, dass ich jemanden anheuern musste. Aber mit Holz kann ich gut umgehen. Ganz allein habe ich es geschafft, hinten ein großes Einzimmerapartment anzubauen, in dem ich wohnen konnte. Inzwischen wohnt mein Koch Preacher dort, und er ist gerade dabei, es noch weiter auszubauen. Er hat Familienzuwachs bekommen, wohnt aber gern direkt bei der Bar. Haben Sie vor, die Hütten auszubauen?«

»Ich will mich erst einmal um das Haus kümmern. Chapman war schon ziemlich alt, als wir das Ganze gekauft haben. Wahrscheinlich muss an dem Haus einiges getan werden. Und ich habe keine Ahnung, in welchem Zustand sich die Hütten befinden, aber im Augenblick habe ich nichts Besseres zu tun. Im schlimmsten Fall kann ich das Haus in Ordnung bringen und eine Zeit lang darin wohnen. Und wenn alles gut geht, kann ich sowohl das Haus als auch die Hütten renovieren und auf den Markt bringen.«

»Wo ist denn Ihr Bruder?«

»Noch immer aktiv. Sean ist auf der Beale Air Force Base stationiert. Er fliegt die U2. Fürs Erste bleibt also alles an mir hängen.«

»Und was haben Sie für die Army getan?«

»Black Hawks geflogen.«

»Alle Achtung«, stieß Jack aus und schüttelte den Kopf. »Die hat man in ein paar verdammt heißen Hexenkesseln eingesetzt.«

»Das können Sie laut sagen. Ausgeschieden bin ich auf die harte Tour.«

»Haben Sie einen geschrottet?«

»Zum Teufel, nein, wo denken Sie hin«, erwiderte Luke beleidigt. »Die mussten mich schon abschießen.«

Jack lachte. »Mann, wenigstens haben Sie die zwanzig Jahre geschafft.«

»Es war nicht mal mein erster Abschuss. Aber diesmal hatte ich einen genialen Geistesblitz und habe beschlossen, dass es das letzte Mal sein sollte.«

»Irgendwas sagt mir, dass wir zum Teil in denselben Gebieten waren, vielleicht sogar um dieselbe Zeit.«

»Sie werden wohl auch das eine oder andere Gefecht erlebt haben, richtig?«

»Afghanistan, Somalia, Bosnien, zweimal Irak.«

»Mogadischu«, bestätigte Luke mit einem Kopfschütteln.

»Ja, da haben wir euch Jungs einen ganz schönen Schlamassel hinterlassen. Das hat mir überhaupt nicht gefallen. Ihr habt eine Menge Leute dort verloren. Tut mir leid, Mann.«

»Richtig, das war übel«, stimmte Luke ihm zu. Was als eine von den Vereinten Nationen sanktionierte Hilfsmission begonnen hatte, hatte in einem schrecklichen Aufstand geendet, nachdem das Marine Corps abgezogen worden war und nur die Army weiter im Land blieb. Bei einer blutigen Auseinandersetzung mit dem somalischen Kriegsherrn Aidid waren achtzehn Soldaten der U.S. Army ums Leben gekommen und mehr als neunzig verletzt worden. »Irgendwann dieser Tage sollten wir beide uns mal betrinken, Jack, und dann reden wir über all diese Kämpfe.«

Jack streckte den Arm aus, legte Luke eine Hand auf die Schulter und sagte: »Darauf kannst du wetten. Willkommen in der Nachbarschaft, Bruder.«

»Gut. Dann sag mir doch jetzt mal, wo man hier abends ausgehen und vielleicht auch eine Frau treffen kann. Wen kann ich anrufen, wenn ich beim Haus und den Hütten Hilfe brauche? Und wann und wie lang am Tag bekomme ich hier ein Bier?«

»Es ist jetzt lange her, dass ich mich nach Frauen umgesehen habe, Kumpel. In den Küstenstädten gibt es ein paar nette Möglichkeiten. Versuch’s mal mit Fortuna oder Eureka. Dann das Brookstone Inn in Ferndale. Das ist ein gutes Restaurant mit einer Bar. Die Altstadt von Eureka lohnt sich immer. Und etwas näher gelegen wäre da vielleicht noch die kleine Bar mit der Jukebox in Garberville zu nennen.« Jack zuckte mit den Schultern. »Ich kann mich daran erinnern, dort hin und wieder hübsche Mädchen gesehen zu haben. Und was deinen Umbau angeht, da habe ich genau den richtigen Mann für dich. Einer meiner Freunde ist Bauunternehmer in Oregon und hat gerade eine Zweigstelle seines Familienunternehmens hier aufgemacht. Für Preacher macht er den Anbau, und mir hat er dabei geholfen, mein Haus fertigzustellen. Das ist jemand, der sein Handwerk verdammt gut versteht. Ich hole dir mal schnell seine Visitenkarte.«

Jack verschwand im hinteren Teil der Bar und war noch keine Minute weg, als zwei Frauen hereinkamen, die bei Luke fast einen Herzschlag auslösten. Es waren zwei hübsche Blondinen, die eine um die dreißig mit goldblonden Locken, die andere sehr viel jünger mit einem honigfarbenen Zopf, der ihr fast bis zur Taille reichte. Es war das Mädchen vom Straßenrand, die junge Frau, die er vor einem Schlammbad bewahrt hatte. Shelby. Beide trugen enge Jeans und Stiefel. Die Frau mit den goldblonden Haaren hatte sich einen weiten Strickpullover übergeworfen, während Shelby noch immer die frische weiße Bluse mit aufgerollten Ärmeln und offenem Kragen trug, die sie in der Taille zusammengeknotet hatte. Luke versuchte, sie nicht anzustarren, musste aber einfach hinschauen, auch wenn die Frauen keinerlei Notiz von ihm nahmen. Spontan fiel ihm dazu ein, dass er nicht einmal nach Garberville fahren müsste. Die beiden schwangen sich auf zwei Barhocker, als auch Jack schon wieder nach vorne kam.

»Hey, Baby«, sagte er, beugte sich über den Tresen und gab der älteren Frau einen Kuss. Aha, dachte Luke. Das wäre dann wohl die gesetzlich verbotene Jeans, die ihn vom Angeln abhält. Welcher Mann würde auch nicht das Angeln aufgeben, um mehr Zeit für eine solche Frau zu haben? »Ich will euch einen neuen Nachbarn vorstellen. Luke Riordan – meine Frau Mel und Shelby McIntyre. Sie wohnt hier bei Verwandten.«

»Sehr erfreut«, meinte Luke und wandte sich den beiden Frauen zu.

»Luke ist der Besitzer der alten Chapman-Hütten unten am Fluss und hat vor, sie zu renovieren. Er war bei der Army, deshalb darf er auch bleiben.«

»Herzlich willkommen«, sagte Mel.

Shelby sagte nichts, sondern schaute Luke unter gesenkten Lidern an und lächelte. Er schätzte sie auf etwa achtzehn Jahre – ein Mädchen halt. Wäre sie etwas älter, hätte er sie vielleicht schon da draußen auf der verschlammten Straße nach ihrer Telefonnummer gefragt. So etwas konnten Eureka oder das Brookstone unmöglich übertreffen, auch wenn diese beiden Frauen eindeutig tabu für ihn waren. Mel war Jacks Frau, und Shelby schien noch ein Teenager zu sein. Wenn auch ein sehr reizvoller Teenager, wie er dachte. Luke merkte, wie ihm leicht warm wurde. Jedenfalls war ihr Erscheinen hier vielversprechend, denn wenn zwei derart schöne Frauen in einer kleinen Bar in Virgin River anzutreffen waren, dann musste es über die Berge verteilt doch auch noch ein paar mehr davon geben.

»Hier, bitte«, sagte Jack und schob ihm eine Visitenkarte über den Tresen. »Mein Freund Paul. Abgesehen von dem Anbau hier ist er momentan noch damit beschäftigt, neben unserem Haus eines für meine Schwester Brie und ihren Mann zu bauen. Und dann hat er auch noch das Haus für sich und seine Frau in Arbeit.«

»Meine Cousine«, fügte Shelby erklärend hinzu.

Luke sah sie fragend an.

»Paul ist mit meiner Cousine Vanessa verheiratet. Sie wohnen bei meinem Onkel Walt, und ich wohne jetzt auch da.«

»Möchtest du ein Bier, Mel?«, fragte Jack. »Shelby?«

»Ich will nur schnell mit Shelby etwas Alkoholfreies trinken, dann fahre ich nach Hause, um Brie die Kinder abzunehmen, damit sie und Mike in Ruhe zusammen essen können. Ich wollte bloß kurz vorbeischauen und dir sagen, wo ich bin. Die Kinder müssen gefüttert und dann ins Bett gebracht werden. Bringst du uns nachher, wenn du nach Hause kommst, etwas von Preachers Abendessen mit?«

»Natürlich, gerne.«

»Und ich will nach Hause, um bei den Pferden zu helfen«, sagte Shelby. »Aber zuerst hätte ich doch gern noch ein Bier.«

Dann ist sie also mindestens einundzwanzig, ging es Luke durch den Kopf. Es sei denn, Jack nahm es in seiner kleinen Nachbarschaftsbar mit den Altersvorgaben nicht so genau, was absolut denkbar wäre.

»Ich sollte mich wahrscheinlich auch lieber auf den Weg machen …«, meinte er.

»Bleib noch etwas hier«, bat Jack, »natürlich nur, wenn du noch Zeit hast. Die Stammgäste tauchen nämlich immer erst ab fünf so nach und nach auf. Das wäre die Gelegenheit für dich, die Nachbarn kennenzulernen.«

Luke warf einen Blick auf seine Uhr. »Ich denke, das kann ich machen.«

Jack lachte. »Junge, das Erste, was hier verschwinden muss, ist diese Uhr.« Er stellte Shelby ein Bier hin und reichte Mel eine Cola.

Eine Weile redete Luke mit Jack über die Renovierungsarbeiten in der Bar, während die Frauen sich miteinander unterhielten. Keine zehn Minuten später sagte Jack: »Entschuldige mich kurz, ich will meine Frau nach draußen begleiten.« Und damit saß Luke mit Shelby allein am Tresen.

»Wie ich sehe, haben Sie sich umgezogen«, bemerkte sie.

»Hm, das war auch dringend nötig. Diese Busfahrerin hat mich ganz nett erwischt.«

Sie lachte leise. »Ich habe mich noch gar nicht bei Ihnen dafür bedankt, dass Sie meine Bluse gerettet haben.«

»Nichts zu danken«, entgegnete er und trank einen Schluck Bier.

»Ich kenne Ihre Hütten, denn ich reite gern am Fluss entlang. Sie sehen ziemlich heruntergekommen aus.«

Luke lachte. »Es überrascht mich nicht, das zu hören. Ich werde wohl von Glück sagen können, wenn noch nicht alles zu spät ist.«

»Sie sind vor langer Zeit gebaut worden, als die Leute noch Qualitätsbaustoffe verwendet haben. Solche Sachen weiß ich von meiner Cousine. Ein paar der alten Häuser sehen allerdings eher aus, als hätte man Dungziegel verwendet. Na ja. Warten Sie darauf, dass Ihre Familie Ihnen hierher folgt?«

Es überraschte ihn, dass sie ihm diese Frage so schnell und direkt stellte. Grinsend beugte er sich über sein Bier, schaute wieder auf und sah sie an. »Nein. Ich habe nur eine Mutter und in aller Welt verteilt ein paar Brüder.«

»Keine Frau?«, fragte sie mit einem schiefen Lächeln, bei dem sie eine ihrer hübschen Augenbrauen leicht anhob.

»Keine Frau.«

»Ach, das ist aber zu schade.«

»Sie müssen mich nicht bedauern, Shelby. Zufällig mag ich es so.«

»Dann sind Sie also sozusagen ein einsamer Mann?«

»Nein. Nur sozusagen ein unverheirateter Mann.« Ihm war schon klar, dass das jetzt das Stichwort für ihn wäre, seinerseits zu fragen, ob sie an jemanden gebunden sei, aber das war irrelevant, denn darauf würde er sich nicht einlassen. Dennoch, auch wenn er genau wusste, dass es kaum besonders klug war, sie näher kennenlernen zu wollen, stützte er den Ellbogen auf den Tresen, legte den Kopf in die Hand, sah ihr in die Augen und fragte: »Sie sind also nur zu Besuch hier, hm?«

Sie trank einen Schluck Bier und nickte.

»Wie lange werden Sie denn hierbleiben?«

»Das steht alles noch nicht so genau fest.« Jack hatte wieder seinen Platz hinter dem Tresen eingenommen, und Shelby stellte ihr noch halb volles Glas ab und legte zwei Dollar dazu. »Ich sollte mich lieber um die Pferde kümmern. Danke, Jack.«

»Shelby, warum bestellst du nicht einfach nur ein halbes Glas Bier?«, wollte Jack wissen.

Lächelnd zuckte sie mit den Achseln, reichte Luke die Hand und sagte: »Es war schön, Sie wiederzusehen, Luke. Bis bald einmal.«

»Natürlich«, erwiderte er und nahm ihre Hand. Dann sah er ihr nach, während sie hinausging. Es war eigentlich gar nicht seine Absicht, aber er konnte dem Anblick einfach nicht widerstehen. Als er sich wieder zu Jack umdrehte, grinste dieser und machte sich dann hinter dem Tresen zu schaffen.

Es war noch nicht sieben, da hatte Luke den Koch Preacher – oder John, wie seine Frau ihn nannte – kennengelernt und dessen kleinen Stiefsohn. Er war Paige vorgestellt worden, Jacks jüngerer Schwester Brie und ihrem Mann Mike. Auch hatte er den alten Doc Mullins wiedergesehen und sich die Zeit mit ein paar seiner neuen Nachbarn vertrieben. Er genoss ein Stück vom besten Lachs, den er je gegessen hatte, ließ sich ein paar alte Legenden aus der Gegend erzählen und fühlte sich schon ganz als Mitglied der Bande. Ständig kamen und gingen Menschen, um etwas zu essen oder zu trinken, und alle begrüßten Jack und Preacher wie alte Freunde.

Dann kam ein weiteres Paar herein, und Luke wurde Paul Haggerty, dem Bauunternehmer, und seiner Frau Vanessa vorgestellt. »Jack hat mich angerufen«, erklärte Paul. »Er hat mir erzählt, dass Sie unser neuer Nachbar sind.«

»Das ist sehr optimistisch. Bislang bin ich noch nicht einmal auf dem Grundstück gewesen.«

»Ist das da draußen Ihr Camper?«, fragte Paul.

»Eine Vorsichtsmaßnahme«, erklärte Luke lachend. »Falls das Haus nicht bewohnbar ist, muss ich wenigstens nicht im Truck schlafen.«

»Vergewissern Sie sich und sagen Sie mir Bescheid, wenn Sie möchten, dass ich mir da mal was anschaue.«

»Das weiß ich zu schätzen. Mehr, als Sie ahnen.«

Letztendlich blieb Luke sehr viel länger in der Bar als ursprünglich beabsichtigt. Tatsächlich war er sogar noch dort und trank mit Jack Kaffee, als dessen Freunde sich schon wieder verabschiedeten. Sie alle schienen nette Leute zu sein, auch wenn die Frauen ihn leicht aus der Fassung brachten. Die Vorstellung, dass Jack mitten in Virgin River eine solche Schönheit gefunden hatte, war für ihn ja noch akzeptabel gewesen, aber hier schien es von schönen Frauen nur so zu wimmeln. Shelby, Paige, Brie und Vanessa waren alle verdammt attraktiv. Daher hatte er die größten Hoffnungen, im nächsten Ort hinter dem Berg zumindest ein wenig Unterhaltung zu finden.

»Du wirst Pauls Schwiegervater kennenlernen wollen«, sagte Jack. »Er war bei der Army und ist jetzt pensioniert.«

»Tatsächlich? Ich glaube, Shelby hat so etwas in der Art erwähnt.«

»Drei Sterne. Ein netter Kerl.«

Luke stöhnte unwillkürlich auf. Genauer gesagt, er ließ den Kopf hängen. Und Jack schien seine Reaktion zu verstehen.

»So ist es. Shelbys Onkel Walt.«

»Shelby. Die Achtzehnjährige?«

Jack lachte. »Etwas älter ist sie schon. Aber ich gebe zu, sie ist jung. Ein Hingucker, nicht wahr?«

Kaum zu übersehen, dachte Luke. »Auf den ersten Blick hatte ich sofort das Gefühl, dass ich Gefahr laufe, verhaftet zu werden.« Damit brachte er Jack zum Lachen. »Geht es denn noch gefährlicher, hm? Jung, hübsch und wohnt bei einem Onkel mit drei Sternen.«

»Allerdings.« Jack lachte wieder. »Aber zum Teufel, sie ist erwachsen. Und ich würde sagen, gut gewachsen.«

»Hey, da werde ich mir die Finger nicht verbrennen.«

»Ganz wie du meinst.«

Luke erhob sich, legte Geld auf den Tresen und reichte Jack die Hand. »Danke, Jack. Mit einer so herzlichen Begrüßung hatte ich wirklich nicht gerechnet. Ich bin froh, dass ich auf meinem Weg zum Haus noch im Ort vorbeigeschaut habe.«

»Sag Bescheid, wenn wir etwas tun können, um dir zu helfen. Es ist schön, dich bei uns zu haben, Soldat. Es wird dir hier gefallen.«

2. KAPITEL

Gewöhnlich nahmen Mel und Jack Sheridan ihr Abendessen gemeinsam in der Bar ein, oft in Gesellschaft von Freunden und Verwandten. Anschließend half Jack dann, seine kleine Familie im Wagen zu verstauen, und verabschiedete sich, sodass Mel die Kinder ins Bett bringen konnte, während er noch bis zum Schluss in der Bar bediente. An diesem Abend hatte Mel es jedoch eilig gehabt, um Brie vom Babysitten zu erlösen. Also stahl Jack sich ein wenig früher davon und nahm das Essen mit nach Hause.

Noch immer konnte er nur staunen, welche Befriedigung ihn erfüllte, wenn er zu seiner Familie heimfuhr. Es war erst drei Jahre her, dass er als Junggeselle neben der Bar in einem Zimmer gewohnt hatte, ohne auch nur das geringste Interesse an solchen häuslichen Fesseln zu verspüren. Und jetzt konnte er sich ein anderes Leben gar nicht mehr vorstellen. Immer wieder dachte er, dass die starken Gefühle für seine Frau mittlerweile eigentlich einer Art Wohlbehagen gewichen sein müssten, stattdessen wuchsen jedoch seine Leidenschaft, seine tiefe Liebe für sie von Tag zu Tag weiter an. Mel hatte sein Herz mit ihrer süßen Liebe umfangen, und er gehörte ihr mit Leib und Seele. Er konnte sich nicht mehr vorstellen, wie er so lange ohne sie hatte leben können, und hatte keine Ahnung, warum andere Männer einer solchen Bindung aus dem Weg gingen. Endlich verstand er seine Freunde, die schon seit Jahren ein solches Leben führten.

Es war gar nichts Besonderes: ein Essen am Küchentisch, ein Gespräch über die Bauarbeiten in der Bar, den neuen Mann im Ort und Shelby, die diesmal gekommen war, um bei einem ausgedehnten Besuch in aller Ruhe ihre Bewerbungen an die Colleges zu verschicken. Aber für Jack war es der wichtigste Teil des Tages, die Zeit, in der er Mel ganz für sich hatte und die Kinder schon im Bett lagen.

Nachdem das Geschirr gespült war, wollte Mel erst einmal duschen. Jack holte Holz herein und schichtete ein paar Scheite für ein Feuer im Kamin ihres Schlafzimmers auf. Dann ging er durchs Haus, um den Abfall einzusammeln, den er am nächsten Morgen im Ort in den Müllcontainer werfen wollte. An der Hintertür zog er sich die Stiefel aus, und als er an der Wäschekammer vorbeikam, auch noch Hemd und Socken, die er auf der Waschmaschine liegen ließ. Als er dann ins Schlafzimmer zurückkehrte, lief in der Dusche kein Wasser mehr. Er hängte seinen Gürtel in den Wandschrank und ging ins Bad.

Von der Tür aus sah er, wie sich Mel, die vor dem Spiegel stand, rasch bedeckte, indem sie ihr Handtuch vorn zusammenschlug. Als sich ihre Blicke im Spiegel trafen, machte sie ein schuldbewusstes Gesicht. »Melinda, was machst du da?«, fragte er und zog seinen Reißverschluss auf, um selbst unter die Dusche zu steigen.

»Nichts«, antwortete sie und wandte den Blick ab.

Mit gerunzelter Stirn ging er auf sie zu und hob mit einem Finger ihr Kinn an, damit sie ihm in die Augen sah. »Hast du dich verhüllt? Vor mir?«, fragte er erstaunt.

»Jack, ich gehe völlig aus dem Leim«, erklärte sie und zog das Handtuch noch enger zusammen.

»Wie bitte?« Er lachte ungläubig auf. »Wovon redest du?«

Mel holte tief Luft. »Ich habe Hängebrüste, mein Hintern ist mir auf die Schenkel gerutscht, ich habe einen dicken Bauch, und als wäre das noch nicht genug, habe ich auch noch so viele Schwangerschaftsstreifen, dass ich aussehe wie ein Luftballon, aus dem die Luft raus ist.« Sie legte eine Hand auf seine festen Brustmuskeln. »Du bist acht Jahre älter als ich und bestens in Form.«

Jack lachte. »Ich dachte schon, du wolltest ein Tattoo oder so etwas vor mir verbergen. Mel, ich habe schließlich auch keine zwei Kinder zur Welt gebracht, die nur ein Jahr auseinanderliegen. Emma ist doch erst ein paar Monate alt. Gib dir noch ein bisschen Zeit, hm?«

»Ich kann es nicht ändern. Mir fehlt mein früherer Körper.«

»Oh, oh«, sagte er und schloss sie in die Arme. »Wenn du auf solche Gedanken kommst, dann muss ich etwas falsch machen.«

»Aber es stimmt, das kannst du nicht leugnen«, beharrte sie und legte den Kopf an sein weiches Brusthaar.

»Mel, du wirst von Tag zu Tag schöner. Ich liebe deinen Körper.«

»Er ist nicht mehr das, was er mal war …«

»Ja, vielleicht. Aber jetzt ist er besser«, stellte er fest und zupfte an dem Handtuch, das sie noch immer festhielt. »Komm schon.« Sie ließ es los, und er zog es ihr weg. »Na also!« Er lächelte. »Ich finde diesen Körper ganz erstaunlich. Einfach unglaublich. Jeden Tag noch ein bisschen reizvoller und unwiderstehlicher.«

»Das kann nicht dein Ernst sein.«

»Aber natürlich.« Er drückte seine Lippen auf ihren Mund. Mit einer Hand umschloss er ihre Brust, während er ihr mit der anderen zärtlich über Rücken und Po streichelte. »Dieser Körper hat mir so viel geschenkt. Ich verehre diesen Körper.« Er hob ihre Brust leicht an. »Sieh doch nur.«

»Ich kann es nicht ertragen«, klagte sie.

»Schau hin, Mel. Sieh in den Spiegel. Manchmal, wenn ich dich so ohne Kleider sehe, kann ich gar nicht mehr atmen. Jede kleine Veränderung macht dich in meinen Augen nur attraktiver, begehrenswerter. Du kannst doch nicht ernsthaft glauben, dass ich außer absoluter Bewunderung etwas anderes für den Körper empfinden könnte, der mir meine Kinder geschenkt hat. Du gibst mir so viel Freude, dass ich manchmal glaube, ich werde verrückt. Baby, du bist perfekt.«

»Ich wiege jetzt fast zehn Kilo mehr als damals, als wir uns kennengelernt haben.«

Er musste über sie lachen. »Welche Kleidergröße hast du jetzt? Vierunddreißig?«

»Du weißt gar nichts. Das ist viel mehr. Bald werde ich vierzig brauchen …«

»Meine Güte, das sind doch nur zehn Kilo mehr, die ich vernaschen kann.«

»Und was ist, wenn ich nun immer fetter und fetter werde?«

»Wirst du dann noch in deinem Körper sein? Du bist es doch schließlich, die ich liebe. Ich liebe deinen Körper, Mel, weil du es bist. Das verstehst du doch, oder?«

»Aber …«

»Würdest du etwa aufhören, mich zu lieben und zu begehren, wenn ich einen Unfall hätte, bei dem ich die Beine verlieren würde?«

»Natürlich nicht! Das ist doch nicht dasselbe!«

»Wir sind nicht unsere Körper. Wir hatten Glück mit unseren Körpern, aber wir sind mehr als das.«

»Es war mein Hintern in Jeans, der deine Aufmerksamkeit geweckt hat …«

»Meine Liebe für dich geht sehr viel tiefer als das, und das weißt du.« Er grinste. »Allerdings haust du mich jedes Mal um, wenn du eine Jeans trägst. Solltest du tatsächlich zehn Kilo zugenommen haben, dann sind die jedenfalls gut verteilt.«

»Ich denke an eine … Bauchstraffung.«

»Was für ein Unsinn.« Wagemutig beugte er sich hinab, um sie nun ernsthaft zu küssen. Mit den Händen fuhr er auf ihrem nackten Rücken auf und ab, und es dauerte keine Sekunde, bis sie sich in seiner Berührung verloren hatte. »Als wir das erste Mal miteinander geschlafen haben, war es für mich das Schönste, das ich je erlebt hatte. Die beste Erfahrung meines Lebens. Es war für mich unvorstellbar, dass es noch besser werden könnte. Aber so ist es. Jedes Mal ist es noch köstlicher und intensiver.«

»Ich werde aufhören, Preachers kalorienreiche Kost zu essen.« Ihr Atem ging schon ein wenig schneller. »Ich bestehe darauf, dass er anfängt, Salate zu machen.«

Er nahm ihre Hand und legte sie auf seinen Bauch, um sie dann langsam tiefer zu schieben. »Ich werde gar keine Zeit mehr haben für die Dusche«, stellte er mit heiserer Stimme fest und glitt mit den Lippen über ihren Hals. »Es sei denn, du würdest noch einmal mit mir zusammen duschen.«

»Jack …«

»Du weißt, wie sehr ich in dieser ersten Nacht nach dir verlangt habe?«, flüsterte er an ihrer Wange. »Seitdem ist mein Verlangen nach dir jede Nacht ein bisschen stärker geworden. Komm mit«, sagte er und hob sie auf die Arme. »Ich will dir zeigen, wie schön du bist.« Er trug sie zum Bett und legte sie behutsam auf die Laken. Dann kniete er sich über sie und stützte die Arme rechts und links neben ihr auf. »Soll ich das Feuer anmachen?«, fragte er.

Sie strich ihm mit den Händen über die schmalen Hüften, wobei sie seine Jeans nach unten schob. »Jack, wenn du anfängst, mich unattraktiv zu finden, wirst du mir das sagen? Bitte, solange ich noch Zeit habe, etwas dagegen zu unternehmen.«

Er verschloss ihr den Mund mit einem leidenschaftlichen Kuss. »Sollte es jemals so weit kommen, Melinda, werde ich es dir auf jeden Fall sagen.« Und nach einem weiteren Kuss fuhr er fort: »Gott, du schmeckst so gut.«

»Du schmeckst auch nicht schlecht«, flüsterte sie und schloss die Augen.

»Irgendwelche besonderen Wünsche?«, fragte er sie.

»Alles mit dir ist etwas Besonderes.«

»In Ordnung. Dann machen wir eben einfach alles …«

Als Luke sich abends im Dunkeln sein Haus und die Hütten anschauen wollte, brauchte er eine große Taschenlampe, denn nachdem der alte Mr. Chapman letztes Jahr gestorben war, hatte man den Strom abgestellt. Doch er konnte nicht viel erkennen. Nur ein stockdunkles Haus und ein paar Hütten, deren Dächern Schindeln fehlten und an denen einige Fenster vernagelt waren. Eine genauere Inspektion würde bis morgen warten müssen.

Aber das Rauschen des Flusses, der hier vorbeiströmte, war fantastisch. Es war ein wunderbarer Platz, an dem man es eine Weile aushalten könnte. Luke erinnerte sich daran, wie gut ihm die Stelle gefallen hatte, als er zum ersten Mal hier gewesen war. Das Rauschen des Flusses, der Ruf der Eulen, der Wind, der mit einem leisen Pfeifen durch die Pinien strich, das gelegentliche Schnattern einer Gans oder das Quaken einer Ente. Er suchte ein paar zusätzliche Decken heraus, und obwohl es kühl war, beschloss er, über Nacht im Wohnwagen ein Fenster offen zu lassen, denn er wollte den Fluss und die anderen Geräusche der Natur hören können.

In der frühen Morgendämmerung schlüpfte er in Jeans und Stiefel und ging nach draußen. Der Himmel färbte sich gerade erst rosa, die Luft war frisch und feucht. Er trat ans Ufer und sah, wie der Fluss zu seinen Füßen über natürliche Wasserfälle stürzte. Im Herbst würden hier die Lachse stromaufwärts springen, um zu ihren Laichplätzen zu gelangen. Gegenüber am anderen Flussufer standen vier Rehe, die sich am Wasser labten. Und was ihn kaum überraschte – das Haus und die Hütten waren in einem fürchterlichen Zustand. Ein einziger Schandfleck in dieser schönen Landschaft!

Aber er hatte auch nichts anderes erwartet. Vor ihm lag eine Menge Arbeit, die allerdings mit einem großen Potenzial verbunden war. Jetzt sofort könnten sie die Immobilie für den Preis verkaufen, den das Grundstück wert war. Wenn er jedoch die Gebäude instand setzte, würden sie einen sehr viel höheren Preis erzielen. Und er musste etwas Konstruktives tun, während er noch darüber nachdachte, was er als Nächstes tun sollte. Er könnte sich nach einem Job als Hubschrauberpilot umschauen – es gab Nachrichten-Helikopter, medizinische Transporte und auch Möglichkeiten in der Privatwirtschaft. Luke atmete tief ein. Im Augenblick war dieses kleine Fleckchen Land am Fluss genau das Richtige für ihn.

Als Erstes sah er sich das Haus genauer an. Die Eingangsveranda war hübsch und geräumig, er würde sie jedoch abstützen müssen, dann schmirgeln und beizen oder anstreichen. Die Haustür klemmte und ließ sich nur mit Gewalt öffnen, wobei das faule Holz am Türrahmen teilweise splitterte. Natürlich war es drinnen völlig verschmutzt. Nicht nur, dass es bereits vor Mr. Chapmans Tod lange Zeit nicht mehr richtig geputzt worden war, in dem Jahr, das seither verstrichen war, hatten sich einige Tiere hier eingenistet. Er hörte ein Trippeln. Die Spuren auf dem staubigen Fußboden und den Arbeitsplatten wiesen auf eine ganze Menagerie hin. Mit Sicherheit war das Haus bevölkert von Mäusen, Waschbären und vielleicht sogar Beutelratten. Er konnte nur hoffen, dass nicht auch noch ein Bär hier seine Höhle gefunden hatte. Fürs Erste wollte er lieber im Wohnwagen schlafen, das erschien ihm angenehmer.

Der Geruch gefiel ihm auch nicht. Alles war noch immer genau so wie an dem Tag, als Mr. Chapman gestorben war. Selbst das Bett war noch zerwühlt, als wäre der alte Mann gerade erst aufgestanden. Auf dem Boden lagen schmutzige Kleidungsstücke herum, und in der Küche fanden sich verdorbene und versteinerte Lebensmittel. Alle Möbel standen noch an ihrem Platz. Scheußliche, muffige, fleckige Möbelstücke, die es wirklich hinter sich hatten. Selbst die Küchengeräte schienen Tausende von Jahren auf dem Buckel zu haben, und der Kühlschrank war nicht ausgeräumt worden, bevor man den Strom abgestellt hatte. Bei dem Gestank war er völlig unbrauchbar und musste erst einmal gründlich geschrubbt werden.

Durch die Haustür trat man direkt in ein recht geräumiges Wohnzimmer mit einem Steinofen, der noch ganz gut aussah. Links schloss sich ein großes leeres Esszimmer an, das durch einen durchhängenden Frühstückstresen von der Küche getrennt war. Die Küche selbst war groß genug für einen Tisch mit vier Stühlen – oder besser noch für eine rustikale Arbeitsinsel.

Geradeaus gelangte man in einen kurzen Flur, von dem links ein großes Badezimmer abging, in dem eine Badewanne mit Löwenfüßen stand. Gegenüber lag der Wirtschaftsraum, und geradeaus ging man ins Schlafzimmer. Es war ein altmodisches Haus, also gab es hier auch keinen begehbaren Kleiderschrank. Der alte Mann hatte mannshohe Kommoden und Kleiderschränke hinterlassen sowie ein riesiges Himmelbett aus Holz. Luke gefielen die Möbel nicht besonders, aber er nahm an, dass sie wertvoll waren, denn es handelte sich um solides, unverwüstliches Eschenholz.

Er drehte sich um und begab sich wieder ins Wohnzimmer, wo er auch die Treppe zum Obergeschoss fand. Vorsichtig stieg er hinauf, denn er war nicht sicher, ob auf die Stufen Verlass war. Hinzu kam, dass es dort oben dunkel war. Wenn er sich richtig erinnerte, gab es da zwar zwei geräumige Schlafzimmer, jedoch kein Bad. Wieder hörte er das Trappeln und lief schnellstens zurück nach unten. Er würde sich oben umschauen, nachdem der Kammerjäger dem Haus einen Besuch abgestattet hatte.

Im Wohnzimmer blieb er stehen und machte im Kopf eine Bestandsaufnahme. Das Gute war, es sah nicht so aus, als müsste man das Haus komplett auseinandernehmen und umbauen, um es bewohnbar zu machen. Das Schlechte war, dass das, was getan werden musste, kosten- und zeitaufwendig sein würde. Mit Ausnahme der Schlafzimmermöbel aus Esche musste alles entsorgt werden. Und zwar gründlich. Das hatte nicht mal Secondhandniveau. Die Fußböden würde er abschleifen müssen, die Wandschränke rausreißen und neue einbauen; er müsste in der Küche neue Arbeitsplatten anbringen, die alten Tapeten abreißen, Fensterbänke, Türen, Rahmen, Sockelleisten abschleifen und beizen oder vielleicht einfach komplett ersetzen.

Aber erst einmal würde er mächtig damit zu tun haben, das Haus zu entrümpeln und von Ungeziefer zu befreien. Wenigstens war das eine Arbeit, die er mithilfe eines Kammerjägers selbst erledigen konnte. Das Dach würde er sich später anschauen.

Er verließ das Haus und brach die Tür der ersten Hütte auf. Auch hier dasselbe Bild. Die Möbel fielen auseinander, der Boden war mit Schutt übersät. Alle Hütten waren Einzimmerapartments, die seit Jahren nicht mehr benutzt worden waren. Die kleinen Herde und großen Kühlschränke waren veraltet und funktionierten vermutlich nicht mehr. Mit Holz und Farbe konnte Luke gut umgehen, aber an Gas und Elektrizität wagte er sich nicht heran. Also stand er vor sechs leeren Hütten, die alle komplett neu eingerichtet werden mussten, inklusive neuer Heißwasserboiler, Herde und Kühlschränke. Die Dächer musste er sich noch von oben ansehen, um genau beurteilen zu können, wie sie die Jahre überstanden hatten, aber von dort, wo er stand, sah es aus, als würden die meisten Schindeln fehlen oder vermodert sein. Und die hölzernen Außenwände der Hütten müsste er komplett abschleifen, schmirgeln und streichen und schließlich sämtliche Fenster ersetzen.

Er rechnete nach. Jetzt war es schon fast September. Von Januar bis Juni, bevor die Sommerurlauber zum Campen und Wandern kamen, war es in diesem Teil der Welt feucht, und alles lief langsam und gemächlich ab. Wenn er das Haus und die Hütten bis zum Frühjahr auf Vordermann gebracht hätte, könnte er sie dann entweder auf den Markt bringen oder an Urlauber vermieten. Sollte sich bis dahin herausgestellt haben, dass die Berge ihn langweilten, würde er einfach alles abschließen und sich entweder nach San Diego auf die Socken machen, wo sein Bruder Aiden stationiert war und es massenhaft Strand und Bikinis gab, oder nach Phoenix, wo seine verwitwete Mutter lebte, die ihm für seinen Besuch ewig dankbar wäre. Und wenn er wollte, könnte er sich jederzeit um einen Pilotenjob bewerben.

Also koppelte er den Wohnwagen vom Truck ab, rollte seine Harley von der Ladefläche und stellte sie vor dem Haus auf den Ständer. Dann holte er ein paar Arbeitshandschuhe, Besen und Schaufel von der Ladefläche, die Werkzeugkiste aus dem Anhänger und begann, das Haus auszuräumen. Bevor er nach Eureka fuhr, wo er die Strom- und Wasserversorgung regeln, einen Kammerjäger anheuern und einen großen Müllcontainer anmieten wollte, konnte er wenigstens seinen Truck schon mal mit Schrott beladen und auf dem Weg dorthin auf der Müllkippe entsorgen.

Gegen Mittag hatte sich bereits ein riesiger Schrotthaufen vor der Veranda angesammelt. Luke machte sich daran, alles hinten auf den Pick-up zu werfen. Die starke Sonne wärmte die Luft, und Luke schwitzte wie ein Landarbeiter. Also zog er sich das Hemd aus. Er war gerade damit beschäftigt, einen großen dreibeinigen, dick gepolsterten Sessel auf die Ladefläche zu hieven, als er sie entdeckte. Den Sessel über den Kopf gehoben, hielt er mitten in der Bewegung inne.

Shelby ritt ein großes Paint Horse und hatte auf der Lichtung angehalten. Sie lächelte ihn an, ein Lächeln, das glänzte wie reiner, purer Honig. Luke konnte sich nicht rühren. Es war ein schönes Pferd mit einem Stockmaß von mindestens einem Meter fünfzig. Shelby trug hochgekrempelte kakifarbene Shorts, die ihre gebräunten Oberschenkel zeigten. Die Socken hatte sie über den geschnürten Wanderschuhen einmal umgeschlagen, und unter der ebenfalls kakifarbenen Anglerweste hatte sie ein weißes T-Shirt an. Mit dem langen hellblonden Zopf, der ihr über den Rücken fiel, und dem Stetson-Hut sah sie aus wie eine kleine, gut gebaute Fünfzehnjährige. Sofort schoss ihm durch den Kopf, dass es eine Straftat wäre, wenn … Und er fühlte jeden einzelnen Tag seiner achtunddreißig Jahre.

Das Pferd tänzelte und scharrte am Boden, schnaufte und warf den Kopf nach oben, aber das kleine Mädchen im Sattel nahm nicht einmal Notiz davon. Mit gekonnter Leichtigkeit hielt sie es unter Kontrolle.

»Ich musste mir das einfach mal anschauen«, erklärte sie. »Sie sind tatsächlich schon dabei und räumen dieses Chaos auf. Wow!« Sie lachte. »Sieht aus, als werden Sie da noch einiges zu tun haben.«

Er warf den Sessel auf die Ladefläche und zog ein Tuch aus der Tasche, um sich den Schweiß von der Stirn zu wischen. »Vielleicht können Sie das Potenzial hier nicht erkennen. In dem Fall werde ich Sie beeindrucken.«

»Ich bin schon jetzt sehr beeindruckt. Es sieht nach massenhaft Arbeit aus. Als ich ein Teenager war, standen in dem Ort, in dem ich aufgewachsen bin, am Strand ein paar alte Hütten, die genauso aussahen. Sie wurden fast nie benutzt , und die Kids aus der Gegend haben sich dort immer heimlich getroffen, um Pot zu rauchen und … na ja, andere Sachen zu machen. Dann waren sie eines Tages verschwunden. Einfach abgerissen.«

»Als Sie ein Teenager waren …« Er stopfte das Tuch wieder in die Tasche. »Letzte Woche?«

»Hey!« Sie lachte. »Ich rede von vor zehn Jahren.«

»Wenn das stimmt, werden Sie nicht älter.«

»Warum fragen Sie mich nicht einfach?«, forderte sie ihn heraus.

»Okay. Wie alt sind Sie?«

»Fünfundzwanzig. Und Sie?«

»Einhundertzehn.«

Wieder lachte sie und warf dabei den Kopf zurück, sodass der Zopf auf ihrem Rücken tanzte. »Richtig, ich dachte mir schon, dass Sie wahrscheinlich ziemlich alt sind. Wie alt genau?«

»Achtunddreißig. Vollkommen jenseits Ihrer Zielgruppe.«

»Kommt darauf an«, erwiderte sie achselzuckend.

»Worauf?«

»Ob ich eine bestimmte Zielgruppe habe.«

Oh Gott, dachte er schwach. Sie mag mich. Das war kein kleines Geplänkel mehr, sondern richtiges Flirten. Sie beide ganz allein. Luke war ein Mann, der wenig Skrupel kannte und sogar noch weniger von Zurückhaltung hielt. Es war keine gute Idee von ihr. Sie war verführerischer, als ihr guttat. »Sie können sehr gut mit dem Pferd umgehen. Es ist wunderschön.«

»Das ist Chico«, erklärte sie ihm. »Verspielt wie ein kleiner Junge. Onkel Walt hat ihn als Fohlen adoptiert, da sollte man doch meinen, dass er sich besser benehmen würde. Sie verstehen etwas von Pferden?«

»Ich habe oft vom Hubschrauber aus die wilden Pferde in der Wüste beobachtet. Es sind ganz unglaubliche Geschöpfe.«

»Reiten Sie?«

»Seit Jahren habe ich nicht mehr auf einem Pferd gesessen.«

»Angeln Sie?«

»Wenn ich die Möglichkeit dazu habe. Und Sie? Jagen Sie?«

»Nein.« Shelby schüttelte den Kopf. »Außer auf Tontauben würde ich niemals auf etwas schießen. Aber das kann ich gut. Neuerdings arbeite ich im Garten und betätige mich als Kindermädchen. Und ich lese sehr viel.«

»Weshalb sind Sie hier?«, fragte er sie und ging auf sie zu.

»In Virgin River? Ich bin hergekommen, um mir bei meiner Familie eine Weile die Zeit zu vertreiben, bis ich wieder zur Schule gehe. Onkel Walt, Vanessa und Paul, mein Cousin Tom – sie sind meine Familie.«

»Nein, das meinte ich nicht«, sagte er lächelnd. »Wieso sind Sie zu mir gekommen?«

»Werden Sie mir ja nicht übermütig. Ich schaue nicht nach Ihnen, ich schaue nach den Hütten.« Sie erwiderte sein Lächeln. »In diesem Sommer bin ich ein paarmal hier vorbeigeritten und hatte wirklich geglaubt, dass die Hütten eines Tages verschwinden würden. Wäre es nicht leichter, neue zu bauen?«

»Mag sein, dass es leichter wäre, aber gewiss nicht billiger. Und ich habe etwas gesucht, womit ich mich beschäftigen kann.«

»Warum? Sind Sie gefeuert worden oder so?«

»Ich bin von der Army pensioniert.«

Verblüfft sah sie ihn an. »Wie mein Onkel!«

»Nein, nicht wie Ihr Onkel. Wie ein Stabsfeldwebel, ein Hubschrauberpilot. Jack hat mir erzählt, dass Ihr Onkel ein pensionierter Dreisternegeneral ist. Das ist etwas völlig anderes, Kleine.«

Sie grinste ihn an, aber ihre Wangen röteten sich leicht. »Vergessen Sie nicht, er ist jetzt pensioniert. Er hat nicht mehr das Sagen.«

Luke hatte bemerkt, dass sie rot geworden war. Offensichtlich wollte sie mit ihm flirten, aber sie war darin nicht geübt, das spürte er. Er könnte es ihr leichter machen, denn er wusste sehr wohl, wie man eine Frau beruhigte, dafür sorgte, dass sie sich wohlfühlte. Aber eigentlich genoss er es so, wie es war.

Er fühlte einen Ansturm reiner Lust in sich aufsteigen, zwang sich jedoch, sie im Keim zu ersticken. Sie hatte behauptet, fünfundzwanzig zu sein, aber er ging davon aus, dass sie in jeder anderen Bar außer bei Jack den Ausweis vorlegen musste. Er nahm sein Hemd vom Geländer der Veranda, um es anzuziehen.

»Das ist nicht nötig«, sagte sie. »Nicht wegen mir. Ich werde nicht bleiben, denn ich wollte nur vorbeischauen, um mich von Ihrem Projekt zu überzeugen. Das ist alles. Ich war in der Nähe.«

Luke lachte in sich hinein und zog das Hemd an, ohne es allerdings zuzuknöpfen. »Richtig, wir sind ja Nachbarn«, sagte er und lächelte sie an. »Ich sollte mich wieder an die Arbeit machen, es sei denn, ich kann irgendetwas für Sie tun.«

»Nein. Ich sehe Sie bestimmt einmal bei Jack.«

»Die einzige Möglichkeit, wo man im Ort ein Bier bekommt, deshalb können Sie damit rechnen.«

»Also dann. Viel Glück noch mit allem hier«, sagte sie und nahm die Zügel in die Hand. Chico bäumte sich auf und wäre am liebsten sofort losgeprescht. »Noch nicht«, rief sie und lenkte den Wallach zum Flussufer. Luke sah ihr nach, wie sie davontrabte. Sobald sie aus den Bäumen heraus waren, trieb sie ihr Pferd zum Galopp an, beugte sich tief über den Hals des Pferdes und ritt so temperamentvoll und schnell, dass der Zopf hinter ihr herflog. Jetzt bist du verloren, dachte Luke.

Er sah, wie ihr kleiner, sattelfester Hintern der Bewegung des Pferdes folgte. Lieber Himmel, was sind denn das für Gedanken? fragte er sich. Was sind denn das für Gefühle? Sie konnte unmöglich wissen, was der Anblick einer schlanken kleinen Schönheit auf einem großen Pferd bei ihm anrichtete! Es wäre ungefähr der größte Fehler, den er je zu begehen in Erwägung gezogen hatte. Aber er konnte die Tatsache nicht leugnen, dass er sie zu gerne überall berühren würde. Er fing an, dafür zu beten, dieses eine Mal genügend Intelligenz und Zurückhaltung zu besitzen, aber das wäre das erste Mal.

Während Shelby zum Haus ihres Onkels zurückritt, musste sie ständig daran denken, dass Luke glauben könnte, sie hätte mit ihm geflirtet. Aber er war absolut nicht ihr Typ.

Sie war vollkommen auf ihre Pläne konzentriert. Solange sie darauf warten musste, von einem College angenommen zu werden, wollte sie etwas reisen. Allein. Sie erinnerte sich noch gut daran, wie aufregend sie es immer gefunden hatte, wenn sie in den Sommerferien an die Ostküste oder nach Europa geflogen war, um zwei Monate mit ihren Cousins zu verbringen. Aber von den karibischen Inseln, von Mexiko, Italien, Frankreich oder Japan hatte sie noch nichts gesehen. Am liebsten würde sie eine Kreuzfahrt machen und dann einen Urlaub anschließen, vielleicht in Italien, Südfrankreich oder Cabo San Lucas. Und nach einer schönen kleinen Pause, bei der sie wieder aufgetankt hatte, wollte sie sich auf ihr Studium vorbereiten. Sie wollte sich einen Teilzeitjob suchen und schon mal ein paar Kurse besuchen, um wieder in die Lernroutine zu finden, bevor im Herbst ihr Diplomstudiengang offiziell begann.

Aber vielleicht würde sie sich unterwegs auch ein kleines Abenteuer gönnen. Eventuell auf der Kreuzfahrt oder bei einem ihrer Ausflüge.

Natürlich nicht mit einem solchen Mann. Schon allein, weil er viel zu erfahren war. Auf den ersten Blick hatte sie erkannt, dass er alles über Männer und Frauen wusste, während sie nur sehr wenig Erfahrung hatte. Er wirkte ein bisschen gefährlich und sehr, sehr körperlich. Es war beängstigend. Er war das Bild eines Kriegers – komplett mit Tattoos und allem.

Es hatte sie verunsichert, ihn so mit nacktem Oberkörper zu sehen, aber das große Pferd, auf dem sie saß, hatte ihr Selbstvertrauen gestärkt. Seine Schultern waren sehr breit, kräftig und muskulös, und um seinen gewölbten Oberarm war ein Stacheldrahtarmband tätowiert. Über seinen flachen, festen Bauch verlief eine dünne Haarspur, die in seiner Jeans verschwand. Die Stoppeln an seinem Kinn ließen sein Lächeln ein wenig spöttisch und auf jeden Fall frech erscheinen; es hatte ihr einen Schauer über den Rücken gejagt. Und dann seine lässige Art. Er würde von ihr mal einen Bissen probieren, sie dann ausspucken und noch vor dem Morgengrauen wieder vergessen haben.

Aber während Shelby ihn unter die Lupe genommen hatte, war ihr innerlich ganz warm geworden. Er hatte etwas an sich, etwas Köstliches, das verboten gehörte. Selbst dieser ganze Schmutz sah an ihm irgendwie gut aus. Wider alle Vernunft fragte sie sich, ob er nicht doch interessant sein könnte. Und ihr nächster Gedanke war: Nein, nein, nein, nicht er! Mein Abenteuer wird ein Poloshirt tragen. Seine Wangen sind glatt wie ein Babypopo, dazu ein gepflegter Haarschnitt. Tattoos wird es nicht geben, dafür hoffentlich einen gehobenen akademischen Grad. Jedenfalls nicht so ein Black-Hawk-Pilot, der seinen Doktor in One-Night-Stands gemacht hat!

Mel stürmte in die Küche der Bar. Preacher hatte ihr den Rücken zugewandt und hielt die Hände ins Waschbecken. »Hey, Preach«, sprach sie ihn an, aber er drehte sich nicht um. »Preach?«, fragte sie diesmal. Wieder nichts. Dann schrie sie: »John!«

Überrascht schreckte er zusammen. Er drehte sich zu ihr um und nahm die Ohrstöpsel heraus. »Immer langsam, Mel. Du hast dich an mich herangeschlichen.«

»Also, eigentlich nicht wirklich. Ich habe laut geschrien.«

»Ja, also, bei dem ganzen Lärm hier dröhnt mir nach einer Weile der Kopf. Ich würde ja einfach angeln gehen, aber es gibt hier einiges zu tun.«

»Hör mal«, begann sie und setzte sich auf den Hocker an seiner Arbeitsinsel. »Wir beide müssen mal miteinander reden, du und ich.«

»Na klar.«

Mel holte Luft. »Seit ich hier angekommen bin, habe ich zehn Kilo zugenommen. Das sind schon fast fünf Kilo im Jahr. Wenn das so weitergeht, werde ich, bis ich vierzig bin, hundert Kilo wiegen.«

Preacher runzelte die Stirn. Er wusste nicht recht, was er dazu sagen sollte. Schließlich meinte er mit einem schwachen Lächeln: »Also bekommt es dir gut.«

»Mir bekommt es überhaupt nicht!«

Der ärgerliche Ton ihrer Stimme ließ ihn leicht zusammenzucken. Er schaute sie mit finsterer Miene an.

»Hör zu«, fuhr sie fort, »du musst mal damit anfangen, ein paar Sachen zu kochen, die nicht so dick machen. Verstehst du?«

»Es hat sich noch niemand über meine Küche beklagt, Mel. Das Essen schmeckt gut …«

»Das weiß ich, das weiß ich. Aber du kochst für Männer, die körperlich wirklich schwer arbeiten. Mit Ausnahme von dir selbst, denn du stehst den ganzen Tag in der Küche, und ich weiß, dass du alles probierst. Ich habe keine Ahnung, wie du es schaffst, nicht fett zu werden.«

»Hier gibt es viel zu putzen. Dann arbeite ich mit den Gewichten, aber nicht mehr so viel wie früher, wo jetzt die beiden Kinder da sind.«

»Ja, nun, du hast viele Muskeln, und die verbrauchen eine Menge Kalorien. Frauen haben keine solchen Muskeln, John. Du musst aufhören, so viel Sahne und Butter zu verwenden. All diese Sachen. Ungesund ist es sowieso. Es ist nicht gut fürs Gewicht, den Cholesterinspiegel und den Blutdruck, und es ist nicht gut für das Herz. Mach einfach mal ein paar Salate, öfter auch mal ein Gemüse, das nicht in Butter schwimmt. Ich kann doch nicht der einzige Mensch in diesem Ort sein, der von deinem Essen dick wird.«

»Salate? Normalerweise mache ich nicht viele Salate.«

»Das weiß ich«, sagte sie müde. »Aber daran müssen wir etwas ändern. Nur ein bisschen. Kauf mal ein Vollkornbrot für die Sandwiches. Serviere nicht zu jeder Mahlzeit Nudeln, Brot und Kartoffeln. Mach ein paar Salate und halte frisches Obst bereit.«

»Es gibt massenhaft Früchte hier«, wandte er ein.

»Ja, und die wandern alle in deine Obstkuchen.«

»Aber du isst doch auch fast jeden Tag was von meinen Obstkuchen«, wunderte er sich. »Du liebst sie. Du mehr als jeder andere, glaube ich.«

Jetzt war sie es, die ihn finster anschaute. »Damit werde ich aufhören. Hör doch, kannst du nicht einfach ein paar leichtere Gerichte zur Auswahl stellen, bitte? Sonst werde ich hier nicht mehr ständig essen können. Dann muss ich mir mein Mittagessen einpacken und das Abendessen zu Hause selbst kochen. Dieser Wahnsinn muss aufhören. Ich kann einfach nicht immer weiter so zunehmen. Ich will nicht dick werden!«

Preacher legte den Kopf auf die Seite. »Hat Jack sich über dein Aussehen beklagt?«, fragte er vorsichtig.

»Natürlich nicht«, antwortete sie frustriert. »Er findet mich perfekt.«

»Also bitte.«

»John, ich glaube, dass du mir nicht richtig zuhörst. Ich muss eine Diät machen. Soll ich dir aufschreiben, was ich brauche?«

»Nein«, antwortete er unglücklich. »Ich denke, ich habe verstanden.«

»Danke. Das ist alles, was ich will. Ich brauche dabei nur ein bisschen Hilfe, mehr nicht.«

»Wir wollen doch, dass du glücklich bist«, sagte er mit Vorsicht in der Stimme.

Nachdem sie gegangen war, blieb Preacher eine geraume Zeit in der Küche stehen und dachte nach. Dann ging er nach hinten, wo die Männer am Bau arbeiteten. Er entdeckte Jack im Gespräch mit Paul an der Stelle, wo früher einmal sein Schlafzimmer gewesen war. Beide trugen Schutzhelme, während Preachers Kopf unbedeckt war. Er wartete. Schließlich drehten Paul und Jack sich zu ihm um, und als er Preacher sah, seufzte Paul und schüttelte mit düsterer Miene den Kopf. Dann trat er in zwei großen Schritten zur Seite und schnappte sich einen Schutzhelm, den er Preacher reichte.

»Ich werde es dir nicht noch einmal sagen. Du sollst nicht ohne Schutzhelm hier rauskommen.«

»Ja, hast ja recht«, sagte Preacher und setzte den Helm auf, der ihm zu klein war und nur ganz oben auf seinem Kopf saß.

»Du hast den größten Kopf hier draußen«, erklärte Paul. »Wir bauen den Rahmen für das Obergeschoss. Da ist ein Unfall geradezu vorprogrammiert.«

»Ja, ich hab’s begriffen.« Dann richtete Preacher sich an Jack. »Mel war gerade hier. Sie beschwert sich über das Essen.«

»Hä? Mel?«

»Ja. Sie sagt, mein Essen macht sie dick.«

Jack schmunzelte. »Ach das. Ja, das hat sie mir gegenüber auch schon mal erwähnt. Mach dir deswegen keine Sorgen.«

»Sie klang aber nicht so, als sollte ich mir deswegen keine Sorgen machen. Sie war ganz schön geladen.«

»In vierzehn Monaten hat sie zwei Kinder zur Welt gebracht. Dazu noch die Hysterektomie. Und auch wenn sie es nicht gerne hört, sie wird einfach älter, ob sie will oder nicht. Frauen werden dann halt mal ein bisschen dicker. Du verstehst.«

»Woher willst du das wissen?«

»Ich habe vier Schwestern. Das scheint ihre größte Sorge zu sein – der Umfang ihres Hinterns und der Brust. Und Oberschenkel. Von Oberschenkeln ist auch sehr oft die Rede.«

»Sie hat mich angeschrien«, sagte Preacher noch immer leicht verblüfft. Paul lachte laut, und Jack schüttelte den Kopf. »Hast du ihr das gesagt?«, fragte Preacher. »Ich meine, dass Frauen mit zunehmendem Alter dicker werden?«

»Sehe ich aus, als wäre ich lebensmüde? Abgesehen davon finde ich nicht, dass sie dick wird. Aber meine Meinung zählt da nicht viel.«

»Sie will Salate haben und frisches Obst.«

»Macht das sehr viel Mühe?«, fragte Jack.

»Nein, das nicht«, antwortete Preacher achselzuckend. »Aber ich zwinge sie doch nicht dazu, jeden Tag bei meinen Obstkuchen zuzuschlagen.«

Paul lachte schallend. Jack sagte: »Lass sie das nicht hören, Preach.«

»Sie will, dass ich weniger Butter und Sahne verwende, damit mein Essen nicht so viele Kalorien hat. Jack, dann wird es einfach nicht mehr so gut schmecken. Man kann Bratensoßen und Dips nicht ohne Sahne, Butter und Fett machen. Die Leute mögen diese Sachen. Lachs in Dillsoße, Fettuccine Alfredo, gefüllte Forelle, Rinderbrust an Knoblauch-Kartoffelpüree. Eintopfgerichte mit einer dicken Soße. Die Leute kommen von weit her, um bei mir zu essen.«

»Ja, ich weiß, Preach. Du musst ja auch nicht alles ändern, aber mach halt für Mel irgendeine Kleinigkeit, okay? Einen Salat, eine gegrillte Hühnerbrust, Fisch ohne Sahnesoße, solche Sachen halt. Du weißt doch, wie das geht, oder?«

»Natürlich. Du meinst aber nicht, dass sie jetzt alle Leute im Ort auf Diät setzen will? Denn sie hat gesagt, dass meine Küche nicht gesund wäre.«

»Ach wo. Ich glaube, das ist so eine Phase. Aber wenn du deine Ruhe haben willst, dann gib ihr doch den Salat.« Er grinste. »Und anstatt des Kuchens einen Apfel.«

Preacher schüttelte den Kopf. »Weißt du, ich glaube, egal, was sie jetzt sagt, es wird sie sauer machen.«

»Sie hat aber gesagt, dass sie es so haben will, richtig?«

»Richtig.«

»Möge die Macht mit dir sein!« Jack grinste.

3. KAPITEL

Die ersten paar Wochen in Virgin River waren für Shelby ungewohnt. Ihre Verwandten nahmen sie wie selbstverständlich als Mitglied ihrer Familie auf – und es war eine lebhafte, geschäftige, sehr präsente Familie, zu der sie nun gehörte. Eine ganz neue Erfahrung für sie.

Kurz nach ihrer Ankunft kehrte Tom aus dem Ausbildungslager heim. Er hatte zehn Tage Urlaub, bevor er in West Point antreten musste. Vanessa und Paul holten das Baby in ihr Zimmer, und Shelby zog in die Gäste-/Kinderzimmer-Kombination um, damit Tom in seinem Zimmer wohnen konnte. Und wenn Tom nicht bei seiner Freundin Brenda war, dann war sie bei ihm, denn die beiden waren unzertrennlich. Das Haus der Booths war geräumig, aber Shelby hatte das Gefühl, als wären sie dort wie die Sardinen zusammengepfercht. In ihrem kleinen Haus in Bodega Bay hatte sie nur mit ihrer Mutter gelebt und war deshalb daran gewöhnt, sehr viel Platz zu haben. Und immer hatte es Zeiten gegeben, in denen sie allein sein konnte, Zeiten der Ruhe. Jetzt war sie niemals allein, es sei denn, sie machte einen Ausritt, und selbst da gab es ständig jemanden, der sie begleiten wollte.

Auch gab es eine neue Entwicklung, von der Shelby nichts geahnt hatte und die sie deshalb vollkommen überraschte. Vanessa hatte es ihr eines Abends geflüstert. Tommy war bei Brenda, und Walt wollte, wie er sagte, noch auf ein schnelles Bier in den Ort. Aber Vanessa meinte: »Auf ein Bier ins Dorf, so ein Quatsch! Ich wette, dass er Muriel besucht, und dann wird das ein sehr langes Bier.« Mit einem Zwinkern fügte sie hinzu: »Daddy hat eine Freundin.«

»Nicht möglich!«

»Das kannst du mir glauben.« Vanessa grinste. »Ich hatte schon lange den Verdacht, dass sie mehr als nur gute Nachbarn sind, aber dann bist du gekommen und anschließend Tom, deshalb bleibt er seitdem die meiste Zeit zu Hause.«

»Kennst du sie?«

Vanessa lächelte. »Schon mal den Film ›Never Too Late‹ gesehen?«

»Ja«, antwortete Shelby verwirrt. »Den fand ich total klasse.«

»Das ist Muriel St. Claire. Sie spielt die frisch geschiedene Frau.«

Shelby verschlug es den Atem. »Sie lebt hier

»Sie hat eine Ranch weiter unten am Fluss gekauft. Das ist nur etwas mehr als eine Meile von hier. In Virgin River hat sie sich zur Ruhe gesetzt und will keine Filme mehr machen. Ihr Haus restauriert sie selbst. Ich habe Muriel und Dad erst dreimal in einem Raum zusammen erlebt. Sie lassen sich wirklich nichts anmerken. Aber ich kann dir sagen – ihre Augen leuchten, wenn sie sich anschauen. Ich habe Dad gefragt, ob wir sie nicht bald einmal zum Abendessen einladen können, und er hat mir geantwortet, dass er hin und wieder gern mal außer Haus speist. Dann hat er noch gesagt, dass dafür noch immer reichlich Zeit sei. Ich glaube, er versucht, möglichst oft mit ihr allein zu sein. Ich würde mein Leben darauf wetten, dass sich zwischen den beiden eine heiße Geschichte abspielt, aber sie wollen es nicht zugeben. Sowie ich anfange, ihm Fragen zu stellen, verschließt er sich wie eine Auster.«

»Onkel Walt hat eine Freundin?«, fragte Shelby völlig verblüfft. »Eine berühmte Schauspielerin

»Nun, er hat sich lange genug Zeit gelassen. Ich schätze, in den fünf Jahren seit dem Tod meiner Mutter hat er nicht einmal daran gedacht. Da wird es höchste Zeit. Jeder braucht doch einen Partner. Das ist bestimmt im Alter nicht anders. Aber ich wünschte, sie würden ein bisschen lockerer werden. Ich brenne darauf, von all diesen berühmten Leuten zu hören, die sie kennt.«

Dann hatten also jetzt alle einen Menschen, den sie besonders liebten – ihr kleiner Cousin, sogar ihr Onkel Walt.

Als Teenager war Shelby im Großen und Ganzen ein ganz normales Mädchen gewesen, wenn auch vielleicht ein wenig schüchtern. Sie war gut in der Schule, hatte eine Menge Freundinnen und nahm aktiv am Schulgeschehen teil. Neben der Schule hatte sie einen netten kleinen Job in der Bücherei, und sie hatte auch schon ein paar Erfahrungen mit Jungs gemacht. Sie ging zu Sportveranstaltungen, Pyjamapartys und Tanzveranstaltungen. Meistens war ihre Clique eher als Gruppe unterwegs, als dass sie mit einem Date als Paar auftraten. Die eine oder andere ihrer Freundinnen hatte einen festen Freund, der es ernst meinte, aber die meisten waren wie Shelby verdammt froh, wenn sie zum Abschlussball einen Partner fanden.

Vielleicht war Shelby ein bisschen vorsichtiger als die meisten ihrer Altersgenossinnen. Ihre Mom hatte ihr sehr offen erzählt, dass ihre Schwangerschaft mit achtzehn keineswegs geplant und ihre kurze Ehe ein Reinfall gewesen war. Shelby war noch ein Säugling gewesen, da war ihre Mutter schon wieder geschieden. Unter keinen Umständen wollte Shelby zulassen, dass es ihr ähnlich erging. Sie hatte immer gewusst, dass sie ein Spätzünder sein würde.

Allerdings hatte sie nicht damit gerechnet, dass es ganz so spät würde …

Shelby war erst neunzehn gewesen, als das normale Leben einer jungen Frau für sie zum Stillstand kam und von einer Anzahl neuer Verpflichtungen ersetzt wurde. Onkel Walt war mehr als bereit gewesen, die Kosten einer Heimpflege für seine Schwester aufzubringen, aber Shelby hatte sich geweigert. »Es ist doch keine Sache, die ewig dauern wird. Wirklich, sie wird uns viel schneller verlassen haben, als ich mir überhaupt vorstellen mag. Ihr ganzes Erwachsenendasein hat sie mir geopfert und mich immer an erste Stelle gesetzt. Wenn ich jetzt nicht auch ein paar Jahre für sie übrig hätte, wäre der Rest meines Lebens keinen Pfifferling wert.«

Das lag nun hinter ihr, und es war an der Zeit, darüber nachzudenken, was vor ihr lag. Noch ehe sie von Vanessa über ihren Onkel Walt aufgeklärt worden war, hatte Shelby sich öfter bei dem Gedanken ertappt, genauso sein zu wollen wie die anderen Frauen in ihrem Alter, wie ihre Freundinnen, die alten und die neuen. Sie wollte dasselbe wie sie – eine Beziehung aufbauen. Sie wollte Liebe mit allem Drum und Dran: Romantik, Sex, Idealismus, Leidenschaft, Streit und Versöhnungen. Sie wollte alles. Sie war mehr als bereit dazu. Sie wollte ganz sein.

Sie wollte einen Mann.

Walt stand vor Muriels Gästehaus und klopfte zweimal an die Tür, bevor er sie öffnete. Muriel hatte die ehemalige Schlafbaracke renoviert, um darin wohnen zu können, solange sie an dem großen Haus arbeitete. Meistens traf er sie bei seinen Besuchen noch in Arbeitskleidung an, aber diesmal hatte sie nicht nur geduscht und sich umgezogen, sondern auch schon den Tisch gedeckt und eine Kerze in die Mitte gestellt. Er lächelte und reichte ihr die Tüte mit dem Essen, das er aus Jacks Bar mitgebracht hatte. Dann bückte er sich, um die beiden Labrador Retriever Luce und Buff, die schon ganz aufgeregt um ihn herumliefen, hinter den Ohren zu kraulen. »Sieht aus, als gäbe es etwas zu feiern«, bemerkte er mit Blick auf den Tisch.

»Richtig. Ich bin oben mit den Fußböden fertig. Jetzt fehlt nur noch ein zweiter Anstrich im Badezimmer und im Flur, und ich kann dort einziehen, wann ich will. Gestern habe ich einen Tortenschrank fürs Esszimmer gekauft, den ich in diesem kleinen Antiquitätenladen in Arcata gefunden habe. Er ist groß. Allein kann ich ihn nicht vom Truck heben, deshalb habe ich in der Scheune geparkt. Vielleicht kannst du mir dabei helfen?«

»Natürlich.«

Sie warf einen Blick in die Tüte. »Was ist das?«

»Rinderbrust, gekochte rote Kartoffeln, grüne und weiße Bohnen.«

Sie schnupperte daran. »Kuchen?«

»Selbstverständlich auch Kuchen.«

Sie neigte den Kopf zur Seite und lächelte ihn an. »Was hast du diesmal deiner Tochter und Nichte erzählt, wo du bist?«, fragte sie.

»Ich habe ihnen gesagt, dass ich ein Bier trinken gehe«, antwortete er grinsend.

»Walt«, ermahnte sie ihn. »Meinst du nicht, dass dein Spaß ein bisschen zu weit geht? Ich wette, dass du niemandem etwas vormachen kannst. Abgesehen davon bin ich mir auch gar nicht so sicher, was ich davon halten soll, dass du mich so verheimlichst.«

Bestürzt sah er sie an. »Muriel, ich verheimliche dich doch nicht. Ganz und gar nicht! Und ich habe doch auch ein Bier getrunken, während ich auf das Essen gewartet habe.«

»Und warum hast du mich bisher noch nicht zu einem Abendessen mit der Familie eingeladen?«

»Du willst zum Abendessen kommen?«

»Walt, so werde ich dich nicht davonkommen lassen. Erinnere dich, ich weiß, was ich tue, und mit Männern kenne ich mich aus. Du gehst keinen Schritt weiter, ziehst dich aber auch nicht zurück. Ich wäre mehr als zufrieden damit, deine gute Freundin zu sein, wenn es das ist, was du willst.«

Er senkte kurz den Blick. »Also gut«, räumte er beklommen ein. »Du hast mich ertappt. Die Zeit mit dir genieße ich ungemein, Muriel. Unsere Ausritte, die Abendessen hier bei dir, selbst wenn ich dir beim Anstreichen oder Schmirgeln helfe oder beim Möbelrücken. Aber … ich warte immer darauf, dass du irgendetwas sagst, das so richtig zu Hollywood passen würde. Zum Beispiel: ›Ich finde romantische Beziehungen grauenvoll und langweilig.‹«

Sie lachte. »Was ist das, was wir haben? Ist das etwa keine Beziehung? Und ich genieße sie. Übrigens sagt man so etwas in Hollywood nicht.«

»Und was sagt man dann?«

»Also das findet man meist fett gedruckt im Zeitungsständer gleich neben der Kasse im Supermarkt, und es klingt gewöhnlich so: ST. CLAIRE UNGLÜCKLICH IN IHRER BEZIEHUNG. Oder: ST. CLAIRES MANN MIT BADEMODENMODEL GESICHTET. Ersetzbar durch Prostituierte.« Sie zuckte die Achseln. »Oder etwas anderes, das genauso geschmacklos ist.« Überrascht sah sie, dass sein herbes Gesicht einen ganz weichen Ausdruck angenommen hatte. Sie stellte die Tüte mit dem Essen auf den Tisch und stemmte die Hände in die Hüften. »Lieber Himmel, glaubst du etwa, ich lasse dich ständig herkommen und mir auf die Pelle rücken, weil du der einzig verfügbare Mann in meinem Alter bist?«

Er zog eine dichte schwarze Augenbraue nach oben. »Aber das bin ich doch!«

»Das ist völlig irrelevant! Es war noch nie unter meiner Würde, einem gut aussehenden Dreißigjährigen nachzustellen!«

Walt musste lachen. Das war der Dreh- und Angelpunkt – sie brachte ihn immer wieder zum Lachen. »Das überrascht mich nicht. Aber auch davon gibt es hier nicht allzu viele.«

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