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Verstörend betörend – Im Bann der Orchidee

Als Buch hier erhältlich:

Unterhaltsam, humorvoll, verführerisch – die wundersame Welt der Orchideen


Orchideen gehören zu den beliebtesten Zimmer- und Zierpflanzen überhaupt. Keine Blume ist so sexy und betört die Menschen so sehr wie sie. Aber was macht sie so faszinierend? Woher kommt sie? Welche Mythen umgeben sie? Und warum blüht seit Jahrhunderten der illegale Handel mit ihr?

Noemi Harnickell nimmt uns mit in die wundersame Welt der Orchideen: Sie besucht Massenproduktionsstätten in Holland, spricht mit passionierten Sammlern, heftet sich an die Fersen eines vermeintlichen Orchideendiebs, begleitet einen Salep-Produzenten und folgt ihr bis zu ihren Wurzeln im Alten Griechenland. Eine grandiose Entdeckungsreise, die süchtig nach mehr macht.

Alles, was Sie schon immer über die Königin der Blumen wissen wollten


  • Erscheinungstag: 21.07.2022
  • Seitenanzahl: 256
  • ISBN/Artikelnummer: 9783365000144

Leseprobe

Für meine wundervolle Mutter Dorothea Murri

»Wie das Pferd sagt:

›In Wahrheit haben wir alle Flügel.‹«

Charlie Mackesy

Prolog

DER FALL »ORCHIDEENWIESE«

Steffen Siefert, Leiter der Inspektion für Organisierte Kriminalität bei der Kriminalpolizei Offenburg, staunte nicht schlecht, als eine Anzeige wegen Pflanzenraubs bei ihm einging. Dreitausend Orchideen waren aus dem Naturschutzgebiet Taubergießen in Südbaden verschwunden: ein Massaker aus aufgewühlter Erde, Löchern, Spatenspuren und abgezwackten Stängeln.

Anfang Mai 2019 waren einem Biologen bei einem Spaziergang Löcher im Boden der Orchideenwiesen, für die der Taubergießen bekannt ist, aufgefallen. Er ahnte sofort, was hier vorgefallen sein musste: professioneller Orchideenraub. Fünfzig Jahre, glaubte er, würden die Arten brauchen, um sich wieder zu erholen. Den Schaden schätzte er auf 250.000 Euro. Die Täter mussten augenscheinlich mit Gartenwerkzeug bewaffnet gewesen sein. Eine besonders schwere Umweltstraftat.

Die Abteilung der Offenburger Kriminalpolizei nannte den Fall »Orchideenwiese« und erhob die Funkzellendaten für den Tatort: kein Ergebnis. Stattdessen kamen über Nacht Hunderte neue Löcher dazu. Um so viele Orchideen in so kurzer Zeit auszugraben, musste die Bande aus mindestens zehn Personen bestehen. Vermutlich waren es Männer, dankbare Kleinkriminelle vielleicht, die von einem ehrgeizigen Orchideensammler angeheuert worden waren. Wer auch immer für den Raub verantwortlich war, arbeitete schnell und ohne Aufmerksamkeit zu erregen.

Sieferts Team stellte Wildkameras und Bewegungsmelder auf. Dann, in der Nacht vom 17. Mai, versteckten sich Siefert und seine Kollegen in einer Hütte am Rande des Naturschutzgebiets. Sie waren ausgerüstet mit Waffen und schusssicheren Westen und warteten darauf, dass die Orchideenräuber wieder zuschlugen.

***

In vielerlei Hinsicht erinnert mich die Sache mit den Orchideen an das Lied »Stand Up« von One Direction: »From the moment I met you, everything changed / I knew I had to get you, whatever the pain / I had to take you and make you mine« – »Von dem Moment an, als ich dich traf, wurde alles anders / Ich wusste, dass ich dich haben musste, egal wie weh es auch tut / Ich musste dich kriegen und mit dir zusammen sein.«

Viele Sammler beschreiben ihre Hingabe zu Orchideen als eine Art Liebe auf den ersten Blick, als würde es sich um eine Person und nicht um eine Pflanze handeln. So mancher scheut keine Mühe, um an besonders seltene Exemplare zu kommen. Dazu gehört, wie der Fall in Südbaden beweist, auch das großflächige Wildern in ihrem natürlichen Lebensraum.

Es war diese Kriminalgeschichte, die mein Interesse an Orchideen weckte. Ich hatte diese Pflanzenfamilie bis dahin immer für langweilig und spießig gehalten – mit ihren perfekt geformten pastellfarbenen Blüten, die irgendwie aussahen, als wären sie aus Plastik. Es waren Blumen, die bei meiner Oma im Wohnzimmer standen und die für mich Harmlosigkeit und ein geregeltes, unaufgeregtes Leben symbolisierten, nicht jedoch Kriminalität, Drogen oder Sex.

Wie sehr ich mich täuschte.

Im Jahr 2020 lebte ich in Reutlingen, der neuntgrößten Stadt in Baden-Württemberg. In meiner Straße standen hübsche Ein- und Mehrfamilienhäuser, zu deren Türen schmale gepflegte Kieswege führten. Fast in jedem dieser Häuser stand mindestens eine Orchidee in mindestens einem der Fenster. Aber ins Grübeln brachte mich die Shishalounge schräg gegenüber meiner Wohnung: In einem ihrer Fenster stand eine einzelne Orchidee. Was mich erstaunte, war keineswegs, dass die Blume nicht zu der Bar passte, sondern im Gegenteil, dass sie es tat! Die Orchidee bildete eine Schnittstelle zwischen den alteingesessenen Schwaben mit ihrer Kehrwoche und penibel gestutzten Gartenhecken und den Besuchern dieser leicht verrauchten dunklen Bar, die erst zum Leben erwachte, wenn die Lichter in den anderen Häusern bereits ausgegangen waren.

Die Orchidee in diesem Fenster war natürlich nicht gestohlen, sondern eine, wie ich heute weiß, ganz normale Phalaenopsis, die meistverkaufte Orchideengattung der Welt. 2020 machte diese Orchidee 34 Prozent aller in Deutschland verkauften Zimmerpflanzen aus. 1 Sie wird in den Niederlanden im großen Stil produziert und in unseren Supermärkten bereits für fünf Euro verkauft. Sie bestätigt das Vorurteil, das ich Orchideen gegenüber so lange hegte: Orchideen sehen alle gleich aus, und jede Exotik, die sie einst besessen haben mögen, ist ihnen im Zuge ihrer Massenproduktion abhandengekommen.

Die Phalaenopsis ist jedoch nur eine von etwa tausend Orchideengattungen mit insgesamt rund dreißigtausend verschiedenen Arten. Bis heute lässt sich die Zahl der Orchideen nicht genau definieren, weil dauernd neue entdeckt werden, etwa hoch oben auf Bäumen in tropischen Urwäldern oder in kaum begehbaren Sumpfgebieten. Und während Gattung und Art in der Hierarchie der biologischen Systematik eindeutig definiert sind – die Gattung steht unterhalb der Familie und über der Art –, ist dies in der Natur oft nicht ganz so eindeutig. Das Beschreiben von Pflanzen erfolgt nach strengem Protokoll in Herbarien; dazu müssen die Orchideen aus ihrem Lebensraum zur genauen Untersuchung entfernt werden. Das ist schwierig, wenn sie etwa in Naturschutzgebieten stehen, und noch schwieriger, wenn sie dazu über Landesgrenzen transportiert werden müssen. Die Familie der Orchidee ist nämlich streng geschützt.

Insgesamt gibt es aber ungefähr so viele Orchideenarten wie alle Vogel-, Säugetier- und Reptilienarten zusammen. Nicht mitgezählt sind Tausende weitere Arten, die noch nicht entdeckt wurden oder ausgestorben sind, bevor jemand die Gelegenheit hatte, sie zu beschreiben. Dazu kommen etwa hunderttausend Hybriden, die durch Kreuzungen gezüchtet worden sind. 2

Und längst nicht alle Orchideen sind gleich. Manche Blüten sind so klein, dass man sie nur unter dem Mikroskop erkennen kann, während andere handflächengroß werden. Orchideen wachsen auf Bäumen, Felsen und unter der Erde, sie können jede erdenkliche Farbe und Form haben und nach Schokolade, Apfelstrudel oder nach Aas riechen.

Im Laufe meiner Recherche sprach ich mit vielen Sammlern und Züchtern, die meisten von ihnen Männer, die der Orchidee regelrecht verfallen sind. Bereits Shakespeare verwendete Orchideen als Symbol für Weiblichkeit und Tod; ihre Blüten stehen seit dem griechischen Altertum immer wieder für Geschlechtlichkeit, sind Ausdrucksform von Homosexualität und gesellschaftlichem Wandel – von Frauenbewegungen bis hin zu den kolonialen Zusammenbrüchen.

Orchideen haben sich in fast jede Nische unseres Lebens geschlichen. Ob wir sie persönlich mögen oder nicht, sie sind zu einem Teil unserer Kultur geworden. Dieses Buch will deshalb eine Art Reiseführer sein in die Welt hinter den Wohnzimmergardinen. Es erzählt die Geschichte einer Pflanze, die so viel Normalität ausstrahlt, dass wir sie gar nicht mehr wahrnehmen. Aber die Welt, die sich in ihr verbirgt, ist voller Mythen, Traditionen und Nonsens.

Die Orchidee passt sich der Mode der Zeit an. Als vor hundert Jahren vor allem runde Frauenkörper dem gesellschaftlichen Schönheitsideal entsprachen, wurden auch Orchideen mit runden Blättern gezüchtet. Das entspricht keiner in der Natur vorkommenden Form. Runde Blüten wurden zu diesem Zweck immer weiter selektioniert und ausgezeichnet. Heute wiederum sind es schlanke, filigrane Blüten, die im Trend liegen.

Während sich die Kultur verändert, verändert sich auch unsere Wahrnehmung von Orchideen. Umgekehrt prägen Orchideen bis heute Kultur- und Naturwissenschaften. Die Grenzen zwischen Kultur und Natur verschwimmen, wenn es um Orchideen geht.

Orchideen werden oft als prestigeträchtige Objekte gehandelt. Das wurde mir überdeutlich bewusst, als ich im September 2020 – fast vier Monate nachdem ich zum ersten Mal von Orchideenwilderern und dem Fall »Orchideenwiese« gehört hatte – ein Vereinstreffen der Deutschen Orchideen-Gesellschaft (D.O.G.) in der Nähe von Stuttgart besuchte. Fast vierzig Leute waren an diesem Freitagabend in der Denkendorfer Festhalle zusammengekommen und hatten ihre schönsten Orchideen mitgebracht, um sie von einer Jury bewerten zu lassen.

Die »Orchideenfreunde«, wie sich die baden-württembergische Ortsgruppe der D.O.G. nennt, treffen sich jeweils am zweiten Freitag des Monats. Sie saßen an langen Tischen, tranken Bier und aßen Spätzle – zu jedem guten Vereinstreffen gehört schließlich auch nahrhaftes Essen dazu. Am vorderen Ende des Raums saß ein sechsköpfiges Komitee über Bewertungsbögen gebeugt da. Neben ihnen stand ein Wäscheständer, an dem die zehn schönsten Orchideen mit Drähten aufgehängt waren. Jede Blume war mit einer Nummer versehen.

Plötzlich verstummten die lebhaften Gespräche, das Klirren von Besteck ebbte ab. Alle blickten gespannt nach vorne. Zwei Vertreter des Bewertungskomitees hielten die Orchideen nach und nach in die Höhe und zeichneten sie aus. Silber für eine besonders gesunde Wurzel, Bronze für eine gelungene Hybride, noch mal Silber für eine prächtige Blüte. Und dann: Gold.

Gold für eine fünfundzwanzigjährige Orchidee mit Hunderten winzigen gelben Blüten. Sie war mit Draht auf ein Brett gebunden und glich eher einem hübschen Gebüsch als der langweiligen Pflanze auf den Fensterbänken.

»Es beginnt immer mit einer einzigen Orchidee«, raunte mir mein Tischnachbar zu. »Inzwischen«, fuhr er fort, »geht mir in der Wohnung der Platz aus. Glauben Sie mir: Auch Sie werden noch süchtig!«

Ich lachte. Noch nie, dachte ich, war ich weiter davon entfernt, von etwas süchtig zu werden. Aber auf eine skurrile Art und Weise sollte der Mann recht behalten.

***

Während Steffen Siefert einer der ersten und wenigen deutschen Kriminalpolizisten ist, die sich intensiv mit dem Wildern von Orchideen beschäftigt haben, ist das Thema in Film und Fernsehen schon lange breit vertreten. Im Konstanzer Tatort »Der Name der Orchidee« von 2005 wird eine Leiche im Gewächshaus gefunden, die wertvollste Orchidee ist verschwunden. Und eine Art real crime, vergleichbar mit den Ereignissen im Taubergießen, ist Susan Orleans 1998 erschienene Reportage »The Orchid Thief«. Das Buch wurde zum Bestseller und 2002 unter dem Titel »Adaption« mit Nicolas Cage, Chris Cooper und Meryl Streep in den Hauptrollen verfilmt.

Die Jagd auf Orchideen ist nichts Neues. Schon im neunzehnten und zwanzigsten Jahrhundert waren sie beliebte Luxusgüter, die in großen Mengen aus den Kolonien über lange Seewege nach Europa gebracht wurden. Ihr Wert steigerte sich durch die Tatsache, dass viele der Pflanzen die lange Überfahrt nicht überstanden und in Europa nur mühsam – wenn überhaupt – zum Blühen gebracht werden konnten.

Die europäischen Sammler reisten selten selbst in die fernen Länder, um die Orchideen aufzuspüren. Stattdessen bezahlten sie professionelle Orchideenjäger, die sie in die Tropen schickten. Seltene Orchideen zu besitzen war Statussymbol, Indiz dafür, dass ein Sammler über genügend Reichtum verfügte, jemanden zu bezahlen, der für die Blumen sein Leben riskierte.

Zu der Ausstattung gehörte, wie der Brite Albert Millican 1891 in seinen Memoiren Travels and Adventures of an Orchid Hunter festhielt, Messer, Entersäbel, Revolver, Pistolen und ein »überquellender Vorrat an Tabak«.

Die Orchideenjäger waren tropischen Krankheiten, wilden Tieren und der Konkurrenz anderer Jäger ausgesetzt, und die Erzählungen ihrer Abenteuer, die nach Europa gelangten, waren meistens haarsträubend und dramatisch. Eine gern erzählte Geschichte ist jene der acht Orchideenjäger, die 1901 auf eine Expedition auf die Philippinen geschickt wurden. Binnen eines Monats soll einer von ihnen von einem Tiger gefressen, ein anderer mit Öl übergossen und verbrannt worden sein, und fünf verschwanden spurlos. Nur einer schaffte es angeblich unversehrt mit siebentausend – oder manchen Quellen zufolge sogar siebenundvierzigtausend! – Pflanzen aus dem Dschungel heraus. 3

Bereits im neunzehnten Jahrhundert waren die Abenteuer der Orchideenjäger der Stoff moderner Märchen. Sie wurden in Zeitungen gedruckt und in Büchern publiziert, ähnlich den Berichten früher Antarktisforscher oder Afrikareisender. Die Europäer misstrauten den Einheimischen zwar zutiefst, aber sie waren auf billige Arbeitskräfte angewiesen, wenn es etwa darum ging, hohe Bäume zu fällen, auf denen die Orchideen wuchsen. Dazu kam, dass nur die Einheimischen sich in den dichten Wäldern zurechtfinden konnten.

Das Risiko, die Pflanzen bei der Überfahrt zu verlieren, war groß. Ein gängiges Sprichwort unter den Jägern soll besagt haben, dass eine wertvolle Pflanze gefunden und ausgegraben zu haben nur der erste Schritt sei, sie wirklich zu besitzen. Manche Jäger gingen sogar so weit, dass sie die Wälder, in denen sie die Orchideen gefunden hatten, anzündeten. So verhinderten sie, dass ein nächster Jäger die gleichen Blumen finden konnte. Je mehr Orchideen nämlich auf dem Markt waren, desto größer war der Preisverfall, und viele Arten starben aus, weil sie als so wertvoll galten.

Die Methoden des Sammelns mögen sich bis heute verändert haben, der Enthusiasmus der Orchideensammler jedoch ist gleich geblieben. Sammler und Züchter organisieren sich in nationalen Gesellschaften, lokalen Ortsgruppen und Internetforen. Ihnen geht es um mehr als die Ästhetik ihrer Wohnzimmerfenster: Es geht um das Erfolgserlebnis, eine besonders anspruchsvolle Blume zum Blühen zu bringen. Orchideen wachsen nämlich nur sehr langsam. Wer Hybriden züchtet, muss fast zwei Jahre warten, bevor er zum ersten Mal ihre Blüte sieht. Manche Orchideen blühen nur nachts, andere nur vormittags zwischen zehn und zwölf, die Stanhopea sogar nur wenige Tage im Jahr. Alle Orchideenarten sind weltweit unter dem Washingtoner Artenschutzübereinkommen von 1973 streng geschützt. Das bewahrt den Bestand zwar auf der einen Seite, erschwert es Sammlern aber andererseits, Orchideen aus entlegenen Orten einzuführen und zu katalogisieren. Es verhält sich mit den Pflanzen wie mit exotischen Tieren: Wo Sammler sind, ist auch ein Schwarzmarkt. Damit kehren wir nach Baden-Württemberg und in den Frühsommer 2020 zurück.

An einem Freitagvormittag im Juni erklärte sich Rainer Ganzner, ein Naturschutzwart aus der Nähe von Reutlingen, dazu bereit, mir die wilden Orchideen in der Gegend zu zeigen. Er führte mich auf eine Wiese auf dem Roßberg, dem höchsten Berg im Landkreis Reutlingen, und ich sah mich plötzlich umgeben von Tausenden lila blühenden Blumen. Es handelte sich um Mücken-Händelwurz, eine in Deutschland heimische Orchideenart. Ihre Blüten waren klein und wären mir unscheinbar vorgekommen, hätte ihre Farbe in der Sommersonne nicht so geleuchtet. Ein kleiner Trampelpfad führte durch das Blumenmeer, der, wie Ganzner entnervt erklärte, vermutlich durch Orchideenliebhaber entstanden war, die ihre Lieblingsblume nicht nur vom Wegrand aus betrachten wollten. Wir folgten dem Pfad ein paar Schritte in die Wiese hinein, als Ganzner ganz unvermittelt stehen blieb. Vor uns lagen zwei Erdlöcher, kreisrund und gute zwanzig Zentimeter tief. Ihre Ränder wirkten niedergetrampelt: Orchideenwilderer!

Da war sich Rainer Ganzner sicher.

Ich glaubte Spatenstiche erkennen zu können. Jemand musste die Pflanzen mitsamt den Wurzeln entfernt haben. »Im Internet werden wilde Orchideen für bis zu 80 Euro das Stück verkauft«, erklärte Ganzner. »Aus den Knollen wird dann ein Potenzgetränk gemacht. Salep heißt das, und dafür werden unsere Orchideen gewildert!«

Wahrscheinlicher ist, dass die Orchideen an Sammler gehen, die gerne einzigartige und im Handel nicht erhältliche Blumen in ihren Gewächshäusern haben wollen. Aber ganz unrecht hatte Rainer Ganzner dennoch nicht: Salep ist ein Milchgetränk aus dem östlichen Mittelmeerraum. Es wird aus dem Pulver gemahlener Orchideenknollen gewonnen und mit heißer Milch, Zimt, Ingwer und Zucker angerührt. In den Wintermonaten wird es an Straßenständen ausgeschenkt. Allein in der Türkei werden jedes Jahr schätzungsweise 30 Tonnen Knollen für die Produktion von Salep geerntet. 4 Wegen der hodenähnlichen Form der Knollen wird Salep traditionell eine aphrodisische Wirkung nachgesagt. Die Knollen sind auch die Namensgeber der Orchidee: »Orchidee« stammt vom altgriechischen orkhis und bedeutet »Hoden«. Salep gibt es auch in Deutschland zu kaufen, und er wird unter anderem sogar von Dr. Oetker mit künstlichen Orchideenaromen produziert. Weil wilde Orchideen schwer zu züchten und legal nicht zu kaufen sind, ist Rainer Ganzners These zwar naheliegend, dass sich die lokalen Salepproduzenten die Pflanzen auf illegale Weise beschaffen, allerdings sind mindestens tausend Knollen für ein einziges Kilo Saleppulver nötig. Die einzelnen Löcher auf der Schwäbischen Alb hätten nicht weit gereicht.

***

Und wie ging es mit der Orchideenräuberbande vom Taubergießen weiter?

Nach meinem Ausflug mit dem Naturschutzwart kontaktierte ich die Kriminalpolizei Offenburg, und ein paar Wochen später besuchte ich Steffen Siefert in seinem Büro. Siefert ist ein großer Mann um die vierzig mit blonden Locken und einem Mund, der immer zu einem Lächeln anzusetzen scheint. Aufregung schwang noch immer in seiner Stimme mit, als er von diesen zwei Wochen im Mai 2019 erzählte: Da lauerte sie also, eine Gruppe bewaffneter Kriminalpolizisten in einer leeren Hütte im Naturschutzgebiet, umgeben von tiefer Nacht. Um 4 Uhr früh zeichnete eine Wildkamera Bewegungen auf. Siefert spürte das Adrenalin, die Aufregung stieg. Es war so weit. Die Verfolgung konnte beginnen.

Die Beamten stürmten aus ihren Verstecken aufs Feld. Schon aus einiger Entfernung konnten sie die Täter hören. Rascheln und Trippeln und Scharren. In der Dunkelheit erspähten sie die Schatten, und ein Verdacht wurde Gewissheit: Es waren Wildschweine.

Und die Spatenstiche? Siefert seufzte. »Wildschweine haben Eckzähne, mit denen sie die Löcher ausgehoben haben. Die Spuren könnten danach fast ebenso gut von einer Schaufel stammen.« Davor hatte es nach langer Trockenheit zum ersten Mal geregnet, die Erde war aufgelockert. Die Tiere hatten sich auf die Orchideen gestürzt, die Knollen gefressen und die Stängel am Tatort zurückgelassen.

»Wir hatten uns schon gewundert, wie Menschen das wohl angestellt hätten«, gestand Siefert. »So etwas im Dunkeln zu bewerkstelligen, das richtige Werkzeug dabeizuhaben und dann auch noch die richtigen Pflanzen zu erwischen – ganz zu schweigen davon, dass sie die Knollen offensichtlich noch am Tatort abtrennten. Was für ein Aufwand das gewesen wäre!« Zwei Wochen dauerten die Ermittlungen an: Zeugenaussagen, DNA-Tests an den ausgegrabenen Stängeln, bundesweite Berichterstattung in den Medien – dann ein Täter, der keiner ist. Für Siefert frustrierend, denn: »Ein Tier ist nicht haftbar, darum ist der Fall in den Polizeiakten offiziell als ungeklärt abgelegt. Ich hätte lieber jemanden angezeigt.«

Für mich war dieser verrückte Baden-Württemberger Krimi der endgültige Anstoß dazu, eingehender zu recherchieren. Ich beschloss, dass es für mich an der Zeit war, den Orchideen und ihrem Geheimnis auf den Grund zu gehen …

Erste Station

THESSALONIKI

Singe mir, oh Muse, von sexy Orchideen und den Männern, die sie beschreiben!

Der Glaube, dass Orchideenknollen eine aphrodisische Wirkung hätten, geht auf die Medizin und Pflanzenkunde im dritten Jahrhundert v. Chr. zurück. In jener Zeit war ein umfassendes Verständnis von Pflanzen als Heilmittel unabdingbar.

Der erste Europäer, der über die Funktion von Orchideen schrieb, war Theophrastos von Eresos (ca. 371 bis 287 v. Chr.), ein Schüler von Aristoteles. Theophrastos’ Naturgeschichte der Gewächse ist das älteste noch erhaltene Kräuterbuch. Es bietet einen Einblick in das damalige europäische Wissen über die Pflanzenvielfalt und ihren Nutzen für den Menschen. Enthalten darin sind auch viele Informationen über Pflanzen aus Asien. Männer, die Alexander den Großen auf seinem Asienfeldzug begleitet hatten, brachten sie zurück nach Griechenland. Über die Orchideen schrieb Theophrastos:

»Neben der Beeinflussung von Gesundheit, Krankheit und Tod sagt man einigen Pflanzen weitere spezifische Wirkungen nach, physische und psychische. Erstens die physischen Wirkungen, womit ich die Begünstigung oder Hemmung der Fortpflanzung meine: Es gibt mindestens eine Pflanze, deren Wurzel beide Kräfte zugeschrieben werden. Das ist der sogenannte Salep, der eine doppelte Knolle hat, eine große und eine kleine. Die größere, in der Milch einer Bergziege gegeben, erzeugt mehr Kraft beim Geschlechtsverkehr; die kleinere hemmt und verhindert.« 1

Neben diesem verfasste Theophrastos angeblich über zweihundert weitere Bücher, von denen nur ein Bruchteil erhalten geblieben ist, hauptsächlich Fragmente seiner botanischen Arbeiten. Sie sind es, die ihm den verdienten Titel des ersten Botanikers der Welt sicherten. Der Autor erkannte, dass sich Pflanzen in zwei bedeutende Kategorien teilen lassen: sogenannte Dikotylen und Monokotyledonen – zweikeimblättrige und einkeimblättrige Pflanzen. Bei den Dikotylen sind die Samen in zwei embryonalen Keimblättern eingeschlossen, während die Monokotyledonen nur ein Samenblatt haben. In diese Gruppe gehören die Orchideen.

Theophrastos beschrieb die Anatomie der Pflanzen und wo sie zu finden waren im Detail. Daneben erklärte er ihre medizinischen, kulinarischen und aphrodisischen Eigenschaften sowie die Bedingungen, unter denen sie gediehen. Das Besondere an seiner Arbeit ist, dass er die lebenden Dinge um ihrer selbst willen erforschte. Aus seinen Schriften geht hervor, dass er im Gegensatz zu seinen Zeitgenossen Pflanzen nicht nur als Mittel zum Zweck betrachtete. Er sagte den Orchideen eine potenzfördernde Wirkung nach, lange bevor die Blume überhaupt ihren heutigen Namen hatte. Und das Getränk, das er beschrieb, gibt es in wenig geänderter Form bis heute.

***

Konstantinos Traganitis ist Deutschgrieche und lebt in Thessaloniki. Ich finde ihn über eine Anzeige auf Ebay, wo er mit dem Verkauf von echtem Saleppulver wirbt. Traganitis heißt eigentlich anders, aber da er sich mit seinem Geschäft in einer rechtlichen Grauzone befindet, habe ich seinen Namen zu seinem Schutz geändert.

Es sei die Schönheit der Blume gewesen, erzählt mir Traganitis am Telefon, die ihm als Erstes aufgefallen sei. »Dieses Lila!«, sagt er immer wieder, die Stimme voll Begeisterung. »Diese Blume ist knalllila!«

Die Blüten seien ihm zum ersten Mal vor etwa fünfzehn Jahren beim Spaziergehen im Wald mit seiner Frau aufgefallen. Mit dem Bilderkennungstool GoogleLens fand Traganitis ihren Namen heraus: Orchis mascula. Männliches Knabenkraut. Aus seinen Knollen wird Saleppulver gemacht. Im Frühjahr steckt Traganitis das Gebiet der blühenden Orchideen ab. Nur so findet er sie im Herbst wieder. Salep wird aus den Knollen der verwelkten Pflanzen gemacht, die im Herbstwald nur noch schwer zu finden sind. Aber Traganitis kennt die Stellen, wo sie wachsen, kennt die Blätter der Orchis. Um halb 5 Uhr morgens zieht er im frühen September los, kleine Spaten im Gepäck. Seine Frau und seine Hunde begleiten ihn, manchmal auch die beiden Kinder. Gemeinsam graben sie die Orchideen aus und trennen die kleinere der beiden Knollen ab.

Eigentlich sind Orchideen unter der Convention on International Trade in Endangered Species of Wild Fauna and Flora (CITES), dem bereits erwähnten Washingtoner Artenschutzübereinkommen, geschützt. Der internationale Handel mit ihnen – oder auch mit bloßen Pflanzenteilen – ist nur unter strengen Auflagen erlaubt. Aber Traganitis hat keine Bedenken, mir das alles anzuvertrauen. »Die Förster wissen, was ich da mache, die drücken ein Auge zu. Schließlich bringt meine Arbeit der griechischen Wirtschaft etwas.« Eine Knolle lasse er dran und pflanze die Blume dann wieder ein. »Mir bringt das nichts, wenn die Orchideen nächstes Jahr nicht mehr wachsen.«

Die Pflanzen, erklärt er mir, wachsen nur in Symbiose mit einem Pilz, und das auch wiederum nur, wenn der Boden weder zu feucht noch zu fettig ist. Eine wilde Orchidee im eigenen Garten zum Blühen zu bringen, ist deshalb fast unmöglich. Aus einer einzigen Knolle gewinnt Traganitis höchstens drei Gramm Saleppulver, jedes Jahr sammelt er etwa vier Kilogramm Orchideenknollen ein. Neunzig Gramm Pulver kosten bei Traganitis 18,90 Euro. Zu seinen Kunden gehören neben Privatpersonen vor allem Lebensmittelhändler in ganz Europa, die den Salep mit Zimt, Ingwer und Zucker mischen und ihn als fertige Getränkemischung weiterverkaufen. Die Kunst des Salepbrauens hat Traganitis 2006 bei einem Mönch des Archangelosklosters gelernt. Er schält und kocht die Knollen auf, bis ihre ätherischen Öle auf dem Wasser schwimmen. Das ist wichtig, denn die Orchis mascula stinkt grauenhaft. Traganitis lässt die Knollen zwei Wochen in einem eigenen Raum trocknen, bis sie hart sind und er sie zu Pulver mahlen kann. Selbst dann ist der faule Geruch immer noch wahrzunehmen. »Deswegen mischen wir am Ende Zimt und Ingwerpulver dazu«, erklärt er. »Sonst schmeckt Salep wie Kuhdung!«

Salep sei auch heute noch ein Potenzmittel, meint Traganitis, als ich ihm von meinem Gespräch mit dem Reutlinger Naturschutzwart erzähle. »Aber das wissen die meisten Leute nicht mehr«, fügt er lamentierend hinzu. »Sie trinken ihn nur noch zum Genuss.« Als eine Art orientalischer Glühwein wird Salep im Herbst und Winter auch auf deutschen Märkten verkauft, zum Beispiel auf dem sonntäglichen Mauerparkflohmarkt in Berlin oder auf dem Weihnachtsmarkt in Hamburg-Altona.

Als ich nach meinem Gespräch mit Traganitis einen gehäuften Teelöffel voll Saleppulver in heiße Milch einrühre, wird die Masse sofort dickflüssig. Ich erinnere mich, dass mich Traganitis gewarnt hat, zu viel Pulver mache aus dem Getränk einen Pudding. Wie Mist schmeckt der Salep jedenfalls nicht. Eher nach Milchreis – mit sehr viel Zucker.

***

Die Orchidee wird bereits seit ihrer ersten Erwähnung in der westlichen Wissenschaft mit Sex in Verbindung gebracht. Nach Theophrastos schrieb auch der römische Gelehrte Gaius Plinius Secundus, meistens Plinius der Ältere genannt, in seiner Naturgeschichte über Orchideen. Er zitierte Theophrastos zu großen Teilen über ihre Wirkung und ergänzte dazu die besonderen Eigenschaften des Pyramiden-Hundswurz, einer in Griechenland heimischen Orchideenart: »Die Wurzel ist doppelt; der untere Teil, der auch der größere ist, fördert die Zeugung eines Mannes, der obere oder kleinere Teil die einer Frau.« 2

Geschichten über die erotisierenden Kräfte der Orchideen waren in der Antike weit verbreitet und lokal gefärbt. So schrieb etwa der römische Arzt Dioskurides, ein Zeitgenosse von Plinius:

»Man sagt, wenn die größere Wurzel von Männern gegessen wird, macht sie ihre Nachkommen männlich, und die kleinere, die von Frauen gegessen wird, lässt sie Weibchen zeugen. Weiterhin wird erzählt, dass die Frauen in Thessalien sie mit Ziegenmilch zu trinken geben. Die zartere Wurzel wird gegeben, um Geschlechtskrankheiten zu fördern, und die trockene Wurzel, um Geschlechtskrankheiten zu unterdrücken und aufzulösen.« 3

Die thessalischen Frauen galten ihrerzeit oft als Hexen. Es liegt insofern also nahe, dass sie Geschlechtskrankheiten sowohl verursachen als auch heilen konnten. Die Schriften von Theophrastos, Plinius und Dioskurides bildeten über Jahrtausende die Grundlage des westlichen Wissens über Orchideen. Der Nutzen einer Pflanze wurde lange Zeit von ihrem Aussehen abgeleitet. Das mag erklären, weshalb Orchideen in asiatischen Schriften zum Beispiel nie mit Sex in Verbindung gebracht wurden. Die meisten Orchideen außerhalb Europas haben filigrane Luftwurzeln anstelle von Knollen, womit die geschlechtliche Assoziation entfällt.

Wer sich einmal kurz und nur oberflächlich in die Kulturgeschichte der Orchideen einliest, wird in zahlreichen Büchern und im Internet unweigerlich auf den Mythos des tragischen Helden Orchis stoßen. Orchis, Sohn eines Satyrs und einer Nymphe, ist in der Erzählung ein junger Tunichtgut, dessen »ganzes Thun in Vergnügung seiner Begierde« 4 besteht. Er ist zwar mit der Waldnymphe Pornis liiert, verlässt sie und die gemeinsamen Kinder aber wegen einer anderen Frau. Bei einem Fest zu Ehren des Weingottes Bacchus vergreift er sich an einer der Priesterinnen und wird dafür auf der Stelle bestraft: Die Frauen auf dem Fest stürzen sich wütend auf ihn und reißen Orchis in Stücke, woraufhin die Götter ihn schließlich in eine Blume verwandeln, die fortan seinen Namen trägt.

Dass diese Erzählung Teil der klassischen Mythensammlung ist, scheint auf den ersten Blick plausibel. Der Weingott Bacchus mit seinen Nymphen und lüsternen Satyrn wurde immer schon mit Gärten und Fruchtbarkeit in Verbindung gebracht. Zahlreiche klassische Friese und Gartenfresken machen das deutlich. Der Name von Orchis ist allerdings in keiner antiken Quelle zu finden. Überhaupt gibt es keine Hinweise darauf, dass die Geschichte vor 1704 in irgendeiner Form im Umlauf war. In Wahrheit stammt die Erzählung aus der Feder des französischen Autors Louis Liger, der sie 1704 in seinem Buch Le Jardinier Fleuriste et Historiographe (dt.: Historischer und verständiger blumen-gärtner) veröffentlichte. Darin erzählt Liger Mythen und Legenden über die Herkunft der Namen verschiedener beliebter Gartenblumen.

Zugleich hat die Erzählung von Orchis aber etwas durchaus vertraut Mythisches an sich. Sie basiert offensichtlich auf der Geschichte des Königs Pentheus von Theben, der bei einem dionysischen Fest einer Gruppe Frauen nachspioniert. Dafür wird er von ihnen, einschließlich seiner eigenen Mutter, in Stücke gerissen. Am eindrücklichsten erzählt die Geschichte der Dramatiker Euripides in seinem Stück Die Bakchen. Und dann ist da auch noch Orchis Frau, Pornis, die Waldnymphe. Die meisten in Griechenland heimischen Orchideen wachsen tatsächlich in Wäldern. Der Name Pornis geht auf die Wurzeln des griechischen Wortes pornographos zurück, was so viel wie »Darstellen von Prostituierten« bedeutet. 5

Die Geschichte von Orchis erinnert außerdem an die Geschichte des Hyakinthos, dem Geliebten des Gottes Apollon. Nach seinem Tod verwandelt ihn der trauernde Apollon in eine Hyazinthe. Überhaupt sind Ovids Metamorphosen voller Geschichten über Menschen und Götter, die zu Pflanzen werden. Nur von Orchis fehlt im klassischen Kanon jede Spur. Liger versieht die Geschichte von Orchis mit einer Moral: »Der Rache des Himmels entgehet nichts, und ob er gleich seine Streiche eine Zeitlang pflegt zurück zu halten, so strafet er dannoch die, welche sich in ihren Lastern immer mehr und mehr vertieffen, anstatt sie sich deren entschlagen solten.« 6

Ligers Buch wurde 1706 ins Englische übersetzt und, ihres französischen Kontexts beraubt, wurde die Orchis-Geschichte als klassischer Mythos wahrgenommen und weitererzählt. Die Pariser Cafégesellschaften, für die das Buch geschrieben war, waren mit der griechischen Mythologie und ihren Figuren bestens vertraut. Witzige, pseudomoralische Fabeln, alte und neu erzählte, waren ihnen keineswegs fremd, und vermutlich kam es Ligers Leserschaft gar nicht erst in den Sinn, die Authentizität seiner Geschichten zu hinterfragen. Dieses Publikum schätzte ganz einfach clevere und witzige Unterhaltung.

Doch ob griechischer Mythos oder nicht, die Geschichte von Orchis illustriert jene Eigenschaften, die die westliche Kultur mit den Orchideen bis heute verbindet. Orchis ist lustvoll wie sein Vater, der Satyr, und schön wie seine Mutter, die Nymphe. Sowohl Orchis als auch die Orchidee stehen hier für Zierlichkeit und Sexappeal. Orchideen sind im wahrsten Sinne des Wortes verstörend betörend.

Zweite Station

KEW GARDENS, LONDON

»Vielleicht hinter diesem Baum.«

Meiner Freundin Tashina steht die Erschöpfung ins Gesicht geschrieben. Schweiß perlt auf ihrer blassen Stirn, während sie sich unter dem riesigen Blatt eines Bananenbaumes hinwegduckt. Es ist warm, 28 Grad, der Himmel über dem Blätterdach, das uns schirmt, ist wolkenlos und makellos blau. Ich spüre, wie sich der Schweiß an meinem Rücken sammelt, und seufze tief. Wir suchen bereits seit einer guten Stunde nach den Orchideen, die Spätsommerhitze lässt es noch länger erscheinen.

»Ich denke«, sage ich ehrlich, »dass wir in Taiwan suchen müssen.«

Tashina wirft einen Blick auf den Lageplan. Ihre Augen scannen den Weg, aber noch bevor sie antworten kann, mischt sich ihr Freund in das Gespräch ein: »Leute, können wir erst eine Cola trinken gehen?«

Also gehen wir eine Cola trinken. Tashina kauft mir ein Eis. Eigentlich war es meine Idee gewesen, eine Orchideenexpedition zu machen, aber Tashina fällt ganz locker in ihre Rolle der Wegführerin. Im Gegensatz zu mir kann sie nämlich Karten lesen, hat Bargeld dabei und ist viel aufmerksamer als ich beim Durchstreifen der Wälder.

»Hier«, sagt sie irgendwann, als wir in einem Gebüsch stehen, irgendwo in Lateinamerika. »Eine Popcornorchidee.«

Und tatsächlich: Auf einem Baumstamm haften ganz unscheinbar die schlanken dunkelgrünen Blätter einer Oncidium sphacelatum. Ihre gelbe Blüte gleicht normalerweise fettigem Popcorn – oder aber den Gewändern von Tänzerinnen weshalb die Blume in Sri Lanka auch unter dem Namen Kandysche Tänzerin (Kandyan dancer) bekannt ist. An dem Gewächs vor uns wären wir womöglich aber vorbeigezogen, hätte uns nicht ein kleines Schild am Baumstamm auf Art und Herkunft der Pflanze hingewiesen.

Die Royal Botanic Gardens im Londoner Stadtteil Kew beherbergen die ganze Welt. Die Glashäuser glitzern wie Kristalle in der Nachmittagssonne, jedes von ihnen ist ein kleiner Palast, in dem man sich zwischen Farnen, Mammutbäumen, Blumen und Lianen verirrt. Und ich kann ein bisschen nachvollziehen, wie es sich damals angefühlt haben muss, als die ersten Orchideensammler die fremden Dschungel auf der Suche nach besonderen Blumen durchforsteten.

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Die Wiege der europäischen Orchideenzucht liegt in England. Über die britischen Kolonien gelangten die englischen Aristokraten des neunzehnten Jahrhunderts an tropische Pflanzen, die die europäische Welt noch nie gesehen hatte. Die Vielfalt der Formen ließ die Sammler und Züchter geradezu in ein Orchideenfieber verfallen. Der Reiz und die Seltenheit der Pflanzen waren der höchste Preis für Gärtner, die ihre Sammlungen zur Schau stellen wollten. Dazu kam, dass es äußerst schwierig war, die Orchideen in Europa überhaupt am Leben zu halten, geschweige denn zur Blüte zu bringen. Der erste Europäer, dem dies gelang, war vermutlich der britische Stoffhändler Peter Collinson. Über seine Kontakte in den Kolonien erhielt er immer wieder exotische Pflanzen und Tiere, darunter eine Orchidee von Province Island auf den Bahamas. Sie blühte 1731 zum ersten Mal und erhielt 1732 den Namen Helleborine americana (heute: Bletia verecunda). 1

Dass es einem privaten Sammler gelang, ohne die Ressourcen eines botanischen Gartens eine tropische Orchidee erblühen zu lassen, war ein seltener Erfolg. Die Orchideen, die die lange Schiffspassage nach Europa überlebten, hielten es hier in dem viel zu kühlen Klima nicht aus. Die meisten der Pflanzen starben bereits in den Laderäumen. In zahlreichen Berichten klagen Sammler, wie sie daheim die Transportkisten öffneten und in ihnen nichts als schwarze, verfaulte Pflänzchen vorfanden.

Die Kew Gardens in London können sich mit einer der frühesten Orchideensammlungen brüsten. Bereits 1780 wurden etwa zwanzig verschiedene Arten aus Westindien, China und Java in Grubenhäusern gezüchtet. Diese Gewächshäuser waren zur Hälfte in die Erde eingelassen und simulierten die feuchtheißen Bedingungen der Tropen. In den Glashäusern waren die Temperaturen dagegen so hoch, dass die Orchideen geradezu gekocht wurden. Man dachte lange, tropische Pflanzen bräuchten viel Wärme, und vergaß dabei, dass sie oft aus kühlen Bergregionen stammten, wo die Nächte kalt sind. 2

Viele Orchideen sind sogenannte Epiphyten. Sie wachsen auf den Stämmen und Ästen von Bäumen, und ihre Wurzeln graben sich nicht in die Erde, sondern ragen in die Luft. Sammler gingen lange Zeit davon aus, es handele sich bei den Orchideen um Parasiten, die nur auf einer ganz bestimmten Art von Baum wuchsen und kein Wasser brauchten. Andere glaubten hingegen, das Wachsen an Baumstämmen sei nichts weiter als eine Wachstumsphase. Um der Pflanze einen Gefallen zu tun – oder was die Europäer zumindest für einen solchen hielten –, stellten sie die Pflanzen samt ihren Luftwurzeln in Torf oder Erde. Natürlich starben die Orchideen bei diesem Versuch, weil ihre Wurzeln nicht mehr an genügend Sauerstoff kamen und erstickten. Vermutlich war das größte Problem der Züchter die Vorstellungen, die der Begriff »Dschungel« in ihren Köpfen auslöste. In seinem Ursprung bedeutet das Wort Ödland, Wüste oder Dickicht, aber in der Fantasie der Europäer handelte es sich um saftig grüne Wälder voller Gefahren und Geheimnisse. Giftige Pflanzen wucherten in heißer, drückender Luft, die im Blätterdickicht stand. So ähnlich fühlten sich auch die frühen Gewächshäuser an. Es dauerte eine geraume Zeit, bevor die Züchter allmählich begriffen, dass es sich bei ihren Gewächshäusern in Wahrheit um regelrechte Orchideenfriedhöfe handelte.

Der Verlust der Orchideen – auch durch die Transportschäden – war so katastrophal, dass die britische Gartengesellschaft, die Royal Horticultural Society, in den 1820er-Jahren ihren Assistenzsekretär, John Lindley, damit beauftragte, das Wachstum der Orchideen systematisch zu erforschen. Viele von Lindleys Erkenntnissen waren weit davon entfernt, perfekt zu sein. Zum Beispiel erkannte er zwar die Notwendigkeit, den Pflanzen ein Entwässerungssystem zu bieten, aber weil er glaubte, dass die große Hitze den Orchideen guttat, wurden sie nun zwar nicht mehr gekocht, dafür aber gebraten. Lindley stellte aber ebenfalls fest, dass sich die Wachstumsbedingungen der Orchideen je nach Klima und Standort des Lebensraums, aus dem sie stammten, maßgeblich unterschieden und so gut es ging nachgeahmt werden mussten.

Eine ganze Reihe von Veränderungen fegte im achtzehnten und frühen neunzehnten Jahrhundert über die gesamte Weltkugel. Mit der Ausweitung des Kolonialismus wuchsen auch die Handelsnetzwerke, durch die immer mehr fremde Tiere und Pflanzen nach Europa gelangten. Infolge der Industrialisierung wurde die Schifffahrt gestärkt, außerdem konnten Materialien wie Eisen und Glas auf einmal billig produziert werden. Glas war lange Zeit ein Luxusprodukt gewesen, weil seine Herstellung äußerst kompliziert und teuer war. Erst 1838 wurde Flachglas erfunden. Es kühlte schnell ab und musste nicht wie seine Vorläufer poliert werden. So konnten zum ersten Mal große Fensterscheiben in unbegrenzten Mengen relativ günstig auf den Markt gebracht werden. Was den Bau moderner Gewächshäuser zusätzlich erleichterte, war die Abschaffung der Fenster- und der Glassteuer. Die Fenstersteuer war im Grunde eine »Steuer auf Luft und Sicht«, und sie war so hoch, dass in vielen Häusern die Fenster, wo möglich, nur aufgemalt wurden. Die Glassteuer wiederum richtete sich nach dem Gewicht des Glases in den Fenstern, weshalb oft nur schwaches Glas verwendet wurde. Die Glassteuer wurde 1845 aufgehoben, die Fenstersteuer schließlich 1851. Was Glas für die Menschen im neunzehnten Jahrhundert bedeutete, ist für uns heute kaum mehr vorstellbar. Der amerikanische Journalist Bill Bryson schreibt in seiner Kurzen Geschichte der alltäglichen Dinge dazu:

»Heute sind wir große Glasflächen gewohnt, doch für jemanden, der im Jahre 1851 lebte, war die Möglichkeit, durch weite, hohe, luftige Räume im Innern eines Gebäudes zu wandeln, überwältigend, ja, schwindelerregend. Den Blick, der sich dem ankommenden Besucher von Weitem auf die glitzernde, transparente gläserne Ausstellungshalle bot, können wir uns einfach nicht mehr vorstellen. Es muss so zart und flüchtig, so wunderbar zauberisch ausgesehen haben wie eine Seifenblase.« 3

Die britischen Gewächshäuser wurden stetig größer und besser, damit stieg auch die Nachfrage nach tropischen Pflanzen. Zugleich gelangten englische Pflanzenjäger infolge Großbritanniens kolonialer Ausdehnung mithilfe indigener Führer in die entlegensten Ecken der Tropen und entdeckten dauernd neue Pflanzenarten. Minigewächshäuser, sogenannte wardian cases, erleichterten außerdem den Transport der Pflanzen, sodass sie die Fahrt nach Europa häufiger überlebten. Die Berichte der Reisenden zu Vegetation und Klima half den europäischen Forschern dabei, die Bedingungen zu verbessern, die die Pflanzen zum Wachsen brauchten.

Ein wahres Verständnis für die Orchideen aus den fernen Urwäldern wuchs mit der Entwicklung von Bergsteigertechniken. Den Wissenschaftlern war es plötzlich möglich, Bäume relativ sicher zu erklimmen und die Baumkronen als funktionierendes Ökosystem zu erforschen. Erst als sie sich eine geraume Zeit selbst in den Wipfeln der Bäume aufhielten, konnten sie die Herausforderungen, die mit dem Leben dort oben verbunden sind, auch verstehen.

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Das Princess of Wales Conservatory, ein Gewächshaus mit zehn verschiedenen Klimazonen im Londoner Stadtteil Kew, führt den Besucher durch ein gläsernes Labyrinth der Ökosysteme. Die tropischen Orchideen füllen einen eigenen Raum, und vermutlich könnte man einen Tag nur damit verbringen, sie alle zu entdecken. In einem Glaskasten sind besonders alte und sehr wertvolle Orchideen ausgestellt. Eine Dendrobium glomeratum mit ihren strahlenden lila Blüten, eine Miltonia regnellii, deren rosa Lippe zwischen den weißen Blütenblättern hervorsticht, eine Paphiopedilum stonei, ein Frauenschuh, der in der Natur nur in Borneo vorkommt. Obwohl die Blüten in allen Farben schillern, von Gelb über Rot, Pink und Lila bis Weiß, ist der Raum auf den ersten Blick grün. Ein kleiner künstlicher Wasserfall plätschert durch das Pflanzendickicht, dicke Blätter und strauchartige Gewächse verbergen die Pracht. Erst beim nahen Herantreten erkennt man die vielen winzigen weißen Blüten der Ornithophora radicans oder das tiefe Dunkellila der Vanda coerulea, die von Weitem fast blau scheint – eine Seltenheit unter den Orchideen.

Tashina kauert vor dem Glaskasten mit seinen Besonderheiten und weist ihren Freund und mich an, aus der Spiegelung zu treten. Sie fotografiert jede Blüte sorgfältig, dann richtet sie sich wieder auf und schiebt zufrieden lächelnd ihr Handy zurück in die Tasche. »Ich mag Orchideen«, sagt sie versonnen.

»Warum?«

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