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Via Torino

Als Buch hier erhältlich:

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Eine große deutsch-italienische Familiengeschichte

1969: Gegen den Wunsch ihrer Familie lässt die freigeistige Eleonora ihr Jurastudium in Tübingen hinter sich, um sich den Arbeiterstreiks in Turin anzuschließen. Was als Aufbegehren gegen ihre konservativen Eltern beginnt, wird zu einer Richtungsentscheidung. In Italien lernt Eleonora die Liebe ihres Lebens kennen.

1995: Gut fünfundzwanzig Jahre später steht ihre Tochter Rosalia an einem Scheidepunkt: Eine ungeplante Schwangerschaft bringt das Leben der jungen Frau durcheinander, doch sie schwört sich, ihr Biologie-Studium in München abzuschließen und ihren Traum weiterzuverfolgen. Sie konzentriert sich ganz und gar auf ihre Karriere und zieht ihre Tochter Milena alleine groß. Doch als Milena älter wird, beginnt sie, Fragen nach ihrem Vater zu stellen und gegen Rosalias Schweigen aufzubegehren.

2018: Als plötzlich Eleonoras Mann stirbt, machen sich die drei Frauen von München aus auf die Reise nach Süditalien, um ihm seinen letzten Wunsch zu erfüllen. Eine Reise, die sie zwingt, sich neu zu begegnen und die für ein unerwartetes Wiedersehen sorgt.


»Der temporeiche Roman erinnert an ein wunderbares, echt italienisches "Uovo di Pasqua", ein Überraschungsei, so prall gefüllt ist er mit spannenden, humorvollen, aber auch tragischen Momenten und Szenen.« Süddeutsche Zeitung

»Eine deutsch-italienische Familien- und Liebesgeschichte, die vor italienischem Flair nur so strotzt!« Emotion

»Großartig!« Neue Pause

»Ein intensiver Familienroman, dem die Liebe zu Italien auf jeder Seite anzumerken ist.« Italien Magazin

»›Via Torino‹ [ist] gar kein kitschiger Frauenroman, sondern eine facettenreiche Charakterstudie. Und trotzdem kann man beim Lesen fast die sizilianische Pasta scialatielli al pesce auf der Zunge spüren.« Heilbronner Stimme


  • Erscheinungstag: 22.02.2022
  • Seitenanzahl: 496
  • ISBN/Artikelnummer: 9783749904075
  • E-Book Format: ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

PROLOG

1972

Rosalia schwieg. Sie kam ohne einen Laut in diese Welt. Hinter der Tür mit der Nummer 111 war eine solche Stille, dass die Leitende Hebamme ihr Eilen abrupt unterbrach und einer Eingebung folgend stehen blieb, um zu lauschen. Nicht den rhythmischen Schreien der Frau im Kreißsaal nebenan, die sich mit der lautstarken Kraft ihres eigenen Organs durch den einzigartigen Schmerz hindurchstieß, der seit allen Zeiten den Geburtsvorgang begleitet, nicht dem protestierenden Krakeelen des Neugeborenen in 110, den sie gerade aus dem warmen Schoß seiner Mutter herausgezogen hatte, noch gezeichnet von Käseschmiere und Blut, und der Geburtsschwester in die Hände gegeben.

Nein, sie lauschte der Stille hinter der Tür mit der 111. Rasch überschlug sie im Kopf die Stunden, seit sie gesehen hatte, wie die werdende Mutter unter der Last ihres phänomenalen Bauches durch das große Eingangsportal geschlichen und am Fuße der Treppe hinauf zu den Entbindungssälen unter einer Wehe in sich zusammengesunken war.

Zwei Schwestern waren die steinernen Stufen hinuntergeeilt, hatten sie, rechts und links gestützt, mehr hinaufgeschleift als geführt. Eine rasche Untersuchung und Feststellung der Dinge, die nun unweigerlich passieren würden – die bürokratischen Formalitäten verschob man auf später –, es hatte so ausgesehen, als würde es schnell gehen. Die junge Frau, ein zartes Wesen mit feuerrotem Haar, war wieder ein wenig zu Kräften gekommen und hatte sich ohne Zögern hineingestürzt in das Geschehen. Was blieb ihr auch anderes übrig, hatte die Leitende Hebamme bei sich gedacht, die der Oberärztin in immer gleicher jahrelang gewachsener Routine assistierte, in deren Verlauf aus einem selbstbestimmten Menschen jedes Mal unweigerlich eine Gebärende wurde, deren Entscheidungshoheit für die folgenden Stunden in die Hände des Krankenhauspersonals überging. Wenn sie klug war und sich nicht wehrte. Und, ja, diese Frau mit den wilden roten Haaren war klug.

Und doch, das Kopfnicken, mit dem sie den Anordnungen des Personals Folge leistete, hatte nichts Schicksalsergebenes an sich, nichts Fügsames, wie es einer Frau in ihrer Lage entsprochen hätte. Einer Erstgebärenden, ohne jede Ahnung vom Kinderkriegen, man hätte meinen mögen, sie hätte voll Dankbarkeit sein sollen, dass man sich ihrer annahm, ein wenig demütig auch, ihr Kind entbinden zu dürfen in dieser Münchner Klinik von einem, ja, gewissen Renommee. Aber nein, vielmehr hatte es den Anschein, sie sei diejenige, die hier die Dinge in die Hand nahm, die bereits vor jeder Anweisung wusste, was kommen würde, die schon zur Umkleide unterwegs war, bevor die Hilfsschwester ihr den Weg gewiesen hatte, die mit einem gnädigen Kopfnicken das Verschieben des Entbindungsbettes in die richtige Position im Raum quittierte, so als hätte sie selbst es eben angeordnet. Nicht dass sie unhöflich gewesen wäre, sie war schließlich nicht dumm. Aber sie übernahm ganz selbstverständlich das Zepter, ohne sich dafür auch nur im Geringsten anstrengen zu müssen.

Zumindest bis die ersten Presswehen sie erreichten, doch das sollte noch ganze sieben Stunden dauern. Was sein Gutes hatte, für das Krankenhaus zumal, denn nun hatte man doch wenigstens den Namen der Gebärenden schwarz auf weiß in einer Aufnahmeerklärung stehen. Man wusste ja nie.

Als es dann endlich so weit war, befand sich Therese, die Leitende Hebamme, im Kreißsaal nebenan und verpasste mit leichtem Bedauern den Moment, in dem die Rothaarige endlich die Kommandobrücke verließ, um sich der Unerbittlichkeit der Natur, wenn auch sonst niemandem zu fügen. Einen kurzen Blick hatte Therese hinübergeworfen durch die offen stehende Tür in den Entbindungssaal mit der 111, als es dort ans Eingemachte ging. Der erhobene Daumen der betreuenden Ärztin entband sie aller weiteren Verantwortung, und sie konnte sich wieder dem Beben und Pressen auf dem Bett vor sich widmen, das kurz darauf in jenen Schrei mündete, der ganz selbstverständlich den aussichtslosen Protest des Neugeborenen gegen das Hineingeworfenwerden in die Kälte jenseits des mütterlichen Schoßes begleitete. Damit war ihre Arbeit fürs Erste getan, und sie verließ den Kreißsaal, um zwei Türen weiter nach dem Rechten zu sehen.

Und nun also diese ungewöhnliche Stille hinter der Tür mit den drei Einsen. Das Kind hatte richtig gelegen, das hatte sie mitbekommen, die Presswehen hatten ordnungsgemäß eingesetzt, die Mutter trotz all ihrer Selbstbeherrschung wie jede andere geschrien. Längst hätte nun das Kind an der Reihe sein müssen, seine Stimme erstmals zu erheben.

Eine lähmende Angst ließ ihre Hand auf der Klinke schwer werden, ebenso schwer wie die wenigen Schritte, die sie brauchte, um zum Bett der Rothaarigen zu gelangen.

Und dann erblickte sie es. Das schönste und seltsamste Kind, das sie je gesehen hatte. Und es schwieg. Lag im Arm seiner Mutter und sah ihr entgegen, aus blauen Augen, die so nachtdunkel waren, dass man hätte meinen können, sie seien schwarz. Versunken in tiefem Nachdenken, gänzlich ohne irgendeine Missstimmung und schon im Augenblick ihrer Geburt mit dem Wissen um das Wesen der Welt ausgestattet, so lag Rosalia da, umrahmt von den roten Haaren ihrer Mutter, die sich in der Hitze der Geburt aus dem flüchtig gebundenen Zopf gelöst hatten.

»Ist sie das?«, sagte Therese und fragte sich noch im selben Augenblick, ob sie den Verstand verloren habe. Wo war nur diese dumme Frage hergekommen? Nach 27 Jahren, drei Monaten und 15 Tagen als Hebamme, nach etwa 10 000 Entbindungen, genau hatte sie nie nachgezählt, lag da dieses kleine Mädchen mit seinem Schweigen und dem unverwandten Blick und brachte sie völlig aus der Fassung. Sie zwang sich zu einem unverbindlichen Lächeln in Richtung der Mutter – die bereits wieder mit diesem Ausdruck selbstverständlicher Autorität in die Welt sah –, versicherte sich mit einem fragenden Heben des Kopfes in Richtung der beiden Schwestern, die dabei waren, den Kreißsaal nach überstandener Geburt wieder in seinen Urzustand zu versetzen, dass alles in Ordnung war, und wandte sich dann mit einem letzten schnellen Blick auf das Kind zum Gehen. Als die Tür hinter ihr ins Schloss gefallen war, stieß Rosalia ein kleines Grunzen aus und schloss die Augen, um sich von ihrem ersten tiefen Schlaf in dieser Welt davontragen zu lassen.

EINS

Eleonora, 1969

Als sie im Schatten Tommasos die Wohnung betrat, hatte sie erwartet, dort drei, vier Leute vorzufinden. In der winzigen Bude aber, die sich Tommasos Bruder Toni für die Dauer eines Turiner Auslandssemesters mit einem Studienfreund teilte, war jeder Zentimeter vergeben an herumsitzende, liegende, rauchende, trinkende und diskutierende junge Leute. Eleonora schien es, als würde sie eintauchen in eine Kakofonie aus Wortfetzen und Qualm, die sich wie ein Perpetuum mobile aus sich selbst heraus ständig neu erschuf und vernichtete. Tommaso löste sich förmlich auf im Rauch vor ihren Augen und verschwand im Nichts des halbdunklen Raums, während sie noch dabei war, sich zu orientieren. Sie stolperte über ein Paar Füße, deren Besitzer sich an die Wand gelehnt hatte und auf einem Boden niedergesunken war, von dem sie lieber nicht wissen wollte, wann er zuletzt einen Putzlappen gesehen hatte. Mit jedem Schritt merkte sie, wie die Sohlen ihrer Turnschuhe am billigen Laminat kleben blieben, das den Boden bedeckte. Der dichte Rauch biss in ihren Augen, bis sie tränten. Und doch nahm sie die Blicke wahr, die sie verfolgten, war sie sich der Gesichter bewusst, die sich ihr zuwandten. Ja, sie musste auffallen mit dem leuchtenden Rot ihrer Locken, selbst in der rauchgeschwängerten Düsternis dieser vier Wände, selbst wenn die Mehrzahl der vornehmlich jungen Männer, die sich hier versammelt hatten, offensichtlich tief in hitzige Debatten verstrickt war.

Eleonora war es gewohnt, angestarrt zu werden, und – Klassenkampf hin, Strategiesitzung her – das hier war eine Wohnung voller Männer. Klar, die Mädels sind wie immer beim Kaffeekochen, dachte Eleonora nicht ohne Groll, Revolution machten die Typen immer noch ganz gerne alleine. Sie straffte sich, schließlich kannte sie die Wirkung ihrer schlanken, biegsamen, zwanzigjährigen Erscheinung. Schnell fuhr sie sich einmal mit der Hand durch die Haare, wobei sie ein ganzes Bündel roter Lichtblitze verstreute, und wuchs um ein paar Zentimeter, genährt vom wohltuenden Elixier männlicher Aufmerksamkeit. Dann steuerte sie ihre eins sechzig in den ausgewaschenen Jeans, die sie vor einem halben Jahr wieder aus der Mülltonne gezogen hatte, durch die Menge. Zuvor hatte ihr Vater sie in einem Wutanfall genötigt, das Kleidungsstück auszuziehen, um es anschließend angewidert von den Versuchen seiner Tochter, sich mit jenem Pöbel gemein zu machen, der in diesen Wochen durch die Straßen zog, eigenhändig in den Abfall zu befördern. Sie hatte sich gewundert, dass er überhaupt wusste, wo der Ascheneimer stand.

Eleonora fand Tommaso in der Küche, zwei Flaschen italienisches Bier in der Hand und bereits so sehr in eine Diskussion vertieft, dass er vergessen hatte, eine der Flaschen zu ihr zu bringen. Mehr als den Rücken ihres italienischen Freundes konnte sie im Moment allerdings nicht sehen, weil ihr ein junger Bursche, gut und gerne 160 Pfund schwer, aber mit dem Gesicht eines Teenagers den Weg durch das Gedränge versperrte. Sein ehemals wohl weißes Hemd zierten schwarze Schlieren. Öl und Schweiß hatten seine Kleidung und Haut gezeichnet, der Haarschopf wirkte, als habe er Bekanntschaft mit einem ganzen Ölfass gemacht, und all diese Stoffe hatten sich zu einer wenig appetitlichen Duftmischung zusammengetan, die sogar den Geruch nach Rauch und kaltem Knoblauch überdeckte, der in der Enge der abgewohnten Küche hing. Die Ausdünstung des Jungen ließ sie schaudern, als er noch ein wenig näher an sie heranrückte und ihr sein herausforderndes Grinsen vor die Nase hielt. Ein Grinsen, das gerne anzüglich gewesen wäre, auf Eleonora aber doch eher hilflos wirkte. Viel jünger als sie konnte er nicht sein, und doch war es ihr ein Leichtes, ihn an der in Jahrhunderten akkumulierten Selbstverständlichkeit ihrer großbürgerlich-preußischen Herkunft abprallen zu lassen, die sie wie eine Aura umgab. Sie wäre nicht die Tochter ihrer Mutter gewesen – einer »geborenen von Ringsleben«, wie jene gerne in ihrem kristallklaren Gouvernantenton fallen ließ, als habe sie dafür eine Ehrennadel verdient –, wäre sie auch nur um einen Zentimeter zurückgewichen. Eleonoras energisch gestreckter Arm, die Handfläche mit gespreizten Fingern auf der jugendlichen Brust des Papagallo, ihr unverkennbar aristokratisches Kopfschütteln – und der erhitzte Vertreter der Arbeiterklasse räumte das Feld. Das Mitgefühl, das sie ihm in ihrem sozialistischen Engagement zu schulden glaubte, hielt sich in Grenzen, als so der Weg zu Tommaso endlich frei wurde. Eleonora konnte Tommasos Gesprächspartner aber erst erspähen, als sie ganz nahe herangekommen war. Winzig, wie er war, reichte er Tommaso kaum bis an die Brust. Kluge Augen blickten durch die Gläser einer dicken Nickelbrille, seine geringe Körpergröße kompensierte er mit großen Gesten und immenser Eloquenz.

Tommaso nutzte eine kurze Atempause im Monolog seines Gegenübers, um ihn Eleonora vorzustellen: »Davide«, erklärte er mit einer Handbewegung. »Davide, l’altoparlante«, fügte er hinzu und verzog in gespielter Verzweiflung das Gesicht.

Was Davide den klingenden Beinamen »Lautsprecher« eingetragen hatte, sollte Eleonora schon bald erfahren. Zunächst jedoch war ihre Aufmerksamkeit gefangen von tiefschwarzen Augen, die ihr durch die Brillengläser entgegenblitzten, als Davide ihr mit einem flüchtigen »Ciao, come stai« die Hand drückte. Eine Flüchtigkeit, die sehr deutlich machte, dass er sich nur ungern in dem Gedankengang, den er gerade zu vermitteln versuchte, stören ließ. Das knappe Lächeln der Entschuldigung, das er ihr zwischen zwei atemlosen Sätzen dann aber doch zukommen ließ, relativierte den Eindruck geschäftiger Arroganz und machte ihr den Mann auf Anhieb sympathisch. Ohne Zweifel gehörte er zur größeren Gruppe der Studenten, die sich in Tonis Wohnung zusammengefunden hatten und die sich von den wenigen anwesenden Arbeitern in fast allem unterschieden.

Natürlich in ihrer Kleidung. Die meisten von ihnen stammten augenscheinlich aus wohlhabenden Familien, trugen die Haare lang, die Hosen eng, Lederjacken über ihren Pullundern, die Schals, die sie in der ungeheizten Wohnung nicht abgenommen hatten, waren aus edler Wolle, manche sogar aus Kaschmir, wie Eleonora zu bemerken glaubte, während sich in die weißen Hemden der Arbeiter Löcher gefressen hatten, ihre schlecht sitzenden Hosen an den Knien ausgebeult waren, die billigen Schuhe verschmutzt. Es war nur eine Handvoll von ihnen, die in die Wohnung gekommen waren, und später erfuhr Eleonora, dass Davide sie überredet hatte, sich anzuhören, was er und seine Kommilitonen zu sagen hatten. Nun standen sie in einer Ecke zusammen und suchten mit Herausforderung im Blick, ihre Würde zu wahren, glänzend die gegelten Frisuren, die ihnen ein und derselbe neapolitanische Barbier noch zu Beginn des Jahrzehnts verpasst haben musste und die sie seither beibehalten hatten.

Einer von ihnen zückte immer wieder den Kamm und zog ihn von vorne nach hinten kraftvoll durch die dicken öligen Strähnen. Einen Sonntagsanzug hätte er tragen sollen. Ein gleißender Sonnentag, das Glänzen des Meeres, die Kathedrale der Maria Santissima Assunta vielleicht hätten als Kulisse seiner Erscheinung gerade so genügt, eine junge Signorina aus Cefalù an seinem Arm, oder vielleicht aus Castelbuono, von ebenso dunkler Schönheit wie er selbst. Auch darin unterschieden er und seine Gefährten sich von den Studenten. Hellhäutig waren die Söhne Turins im Vergleich zu ihnen, durchsichtig wie ein dünn gewalzter Pastateig. Impastini nannten die Sizilianer sie spöttisch, während sie selbst die Hemdsärmel hochkrempelten und braun gebrannte Arme entblößten. Selbst jetzt, im Frühling und ganz ohne dass sie je die Turiner Sonne gekostet hätten, auf die sie ohnehin keine Lust hatten, wenn sie abends müde die Fabrik verließen. Diese Sonne, die so seltsam kraftlos im blassen Himmel über der Stadt schwamm wie sie selbst durch den Beton ihrer Straßen. Ähnlich fehl am Platz fühlten sie sich, wie diese falsche Sonne, die nichts gemein hatte mit jener Kugel aus glühendem Gold, die das Land ihrer Väter, das Meer ihrer Mütter und das sizilianische Firmament in all ihrer großartigen Schönheit und ihrem feurigen Schrecken zugleich beherrschte. So wie die norditalienische Sonne im bleiernen Himmel über Turin suchten sie nach Halt, nach Orientierung im unterschiedslosen Dahinkriechen dieser Tage voller Benzingeruch, die sie verschlungen hatten, kaum dass sie am Bahnhof aus einem überfüllten Zug gefallen waren. Was waren sie hier? Würstchen, Wesen, die sich selbst verloren hatten. Die riesige Fabrik hatte sie mit noch riesigeren Versprechungen aus ihrer Heimat gelockt. Volk des Meeres, das als atmendes Ganzes, geformt aus austauschbaren Arbeitssklaven, in einem riesigen Netz gefangen und auf dem hässlichen Corso Giovanni Agnelli wieder ausgekippt worden war. Nach Luft schnappende Fische auf dem Asphalt direkt vor den Toren des Fiat-Werks Mirafiori. Zu Verschleißteilen einer seelenlosen Maschine waren sie geworden, Sollbruchstellen im Räderwerk der Fiat-Fabrik, deren Existenz nur bemerkt wurde, wenn sie nicht mehr funktionierten, wenn ihre Hände nicht schnell genug nach der immer gleichen Schraube, dem Maschinenarm, dem Bolzen, dem Stück Blech griffen, welches das Band unerbittlich heranschaffte, sodass der nächste Arbeiter im folgenden Produktionsabschnitt, ein paar Meter entfernt, nicht seinen eigenen Bolzen, seine Schraube in die vorgesehene Stelle setzen konnte.

So waren sie, seit sie ein Teil der Turiner Arbeitermasse geworden waren. Und jetzt fanden sie sich hier zwischen den Zöglingen wohlhabender Familien, die sich vorgenommen hatten, Revolution zu spielen.

Der junge Mann, der Eleonora vorhin schon aufgefallen war, sah sich immer wieder im Raum um, ließ die Studenten nicht aus den Augen. Wieder kam der Kamm zum Einsatz, ein Symbol des Aufbegehrens gegen die Hilflosigkeit, die sein Besitzer den Tag über am unbestechlichen Band der Fabrik und jetzt, am Abend, auch angesichts dieser Menschen verspüren musste, die versprochen hatten zu helfen.

Eleonora, die mit ihrem Bier in der Hand den Ausführungen Davides lauschte, beobachtete ihn weiter aus dem Augenwinkel. Wieder und wieder kämmte er sich. Gaetano hatte ihn seine Mutter genannt, wie sie bald erfahren sollte. Mit all der Hoffnung, die eine Mutter nur haben kann, wenn sie zum ersten Mal auf ihren Erstgeborenen blickt, hatte sie ihrem schönen Kind einen klangvollen Namen gegeben. Das hier aber, dieses rechtlose Dasein als austauschbarer Arbeitssklave, hatte sie sich bestimmt nicht für ihn ausgemalt. Und Eleonora sah zu, wie Gaetano seinen Kamm wieder in die Tasche der viel zu weiten Hose steckte und einen wütenden Blick auf die fein betuchten Muttersöhnchen warf, die sich so selbstverständlich in diesem Raum bewegten, in jedem Raum, den sie jemals betreten hatten und künftig betreten würden, so als gehöre ihnen die Welt, was sie ja auch tat. Er schien sich zu fragen, was genau er eigentlich hier wollte, was er mit diesen Buben gemein haben sollte, die am Abend die große Revolution predigten und in der Nacht dann doch nach Hause in ihre vollbeheizten Villen in Cavoretto oder im Borgo Po zurückkehrten, jenseits des Flusses, mit eigenen Toiletten und warmem Wasser, wohin er und seinesgleichen niemals auch nur einen Fuß setzen würden. Gerade schickte er sich an, den nächststehenden seiner Freunde beim Arm zu nehmen und ihn nach draußen zu ziehen, als Davide sich einen Hocker in den Durchgang zum Nebenzimmer zog, damit ihn die Gäste in beiden Räumen sehen konnten, und hinaufstieg.

Davide räusperte sich ein paarmal, bevor er zu sprechen begann, und dann startete er ganz leise und mit einem Zitat. Das sicher nicht jeder hörte, noch waren nicht alle Gespräche verstummt, nicht alle Gesichter hatten sich dem Redner zugewandt. Tommaso beugte sich zu Eleonora hinüber und stieß seine Flasche leicht gegen ihre. Sie nickte ihm zu und sah, wie Gaetano den Ärmel seines Kumpels losließ und unschlüssig stehen blieb. Ein paar der Studenten, die neben dem Eingang gesessen hatten, tauchten hinter Davide auf und sahen zu ihm hoch, einige gemurmelte Worte wurden noch hinter Eleonoras Rücken ausgetauscht, zu ihrer Überraschung vernahm sie auch eine weibliche Stimme, doch sie hatte keine Gelegenheit mehr, nach ihrem Ursprung zu forschen, denn Davide hob erneut an zu sprechen.

Seine Worte begannen nun, die beiden Räume zu füllen, aufbauend auf das Adorno-Zitat, das keinen hier zu überraschen schien, der es vernommen hatte, von den Arbeitern vielleicht abgesehen.

Auch Eleonora hatte ihre »Minima Moralia« monatelang mit sich herumgetragen und war ehrlich genug, sich einzugestehen, dass sie sich vergeblich bemüht hatte, jeden Satz zu entschlüsseln. Wie sie auch jetzt nicht alles von dem verstand, was Davide sagte, als er den versammelten Arbeitern Unterstützung zusicherte, seine und die all der Studenten im Raum, wie er ihnen zurief, aufzustehen und sich zu wehren gegen die Ausbeutung, in der sie gefangen waren. Das alles gespickt mit Vokabeln des internationalen Klassenkampfs und dargeboten in großer italienischer Emphase. Mit dem »Unwesen der absoluten Produktion« hatte er eröffnet und mit der Ausbeutung der Besitzlosen weitergemacht, von Entfremdung, von unrechtmäßigem Besitz der Besitzenden und von Rechten der Arbeitnehmer, von der Unterschiedlichkeit der Klassen, die doch keine sein sollte, und vom Bemühen um Gerechtigkeit für alle gesprochen. Wenn Eleonora zwischendurch den Blick schweifen ließ, konnte sie sehen, dass Davides Worte gut ankamen, bei beiden Gruppen gleichermaßen. Geschickt, wie er das machte, wie er immer wieder die verdrechselten Formulierungen sozialistischer Theorie mit griffigen Beschreibungen der stupiden Arbeit bei Fiat und anderen Industriebetrieben mischte, wie er den Studenten und ihrem bislang doch eher theoretischen Wunsch nach Revolution das Ihre gab und dem Grüppchen der Arbeiter, das bereits auf praktische Revolte sann, das Seine. Dann wechselte er vom Allgemeinen zum Besonderen der Situation in Turin, wo es in den Hallen der Fabrik überall zu brodeln begonnen hatte.

»Sonst wärt ihr«, und er wandte sich jetzt direkt an die Arbeiter, »ja auch nicht hier!«

Gaetano hatte längst seinen Versuch aufgegeben, die anderen zum Gehen zu bewegen. Zumindest einer von ihnen, Pietro – auch seinen Namen sollte Eleonora bald erfahren –, nickte eifrig bei Davides Worten, die jetzt, soweit sie aus dem hochitalienischen Staccato des Vortrags heraushören konnte, die Produktionsbedingungen in den Hallen von Fiat zum Thema hatten. Und wenn sie bisher, trotz der Monate, die sie Vokabeln büffelnd und Grammatik paukend in Lernsälen zugebracht hatte, und trotz der langen Sommerabende und – nächte, in denen sie mit Tommaso zweisprachig parlierend durch die Kneipen der Tübinger Innenstadt gezogen war, schon Mühe gehabt hatte, dem Vortrag Davides zu folgen, verstand sie fast gar nichts mehr, als Pietro zu sprechen anfing.

Davide hatte den Arbeiter völlig überrumpelt, als er ihn plötzlich aus der Menge seiner Genossen herausgepickt hatte und ihn bat, aus der Fabrik zu erzählen.

Pietro, groß gewachsen, viel größer als seine Freunde und auch größer als jeder andere Sizilianer – das behauptete wenigstens sein Vater –, hielt den Kopf gesenkt. Dabei sei er eher klein gewesen, erzählte er später Eleonora, als sie sich besser kennengelernt hatten, so klein, dass alle ihn gehänselt hätten. Doch dann war er elf geworden und hatte angefangen, viel schneller zu wachsen als seine Altersgenossen, war bald schon größer als sein zwei Jahre älterer Bruder, überflügelte als Nächstes seine Mutter, dann seine große Schwester und war schließlich so groß, dass er auch auf seinen Vater hinabschauen konnte. Und dann hatte er begonnen, sich zu ducken. Das Bedürfnis, nicht aufzufallen, hatten ihm Generationen bäuerlicher Vorfahren vererbt, die wussten, dass es am gesündesten für sie war, zwischen den kargen Schollen ihrer mühseligen Existenz zu verschwinden, und es kontrastierte schmerzhaft und allgegenwärtig mit Pietros schier unaufhörlichem Wachstum. Je größer er wurde, desto weiter zog er seinen Kopf zwischen die Schultern.

Und so stand er auch jetzt neben dem Stuhl, von dem Davide wieder heruntergestiegen war, um ihm Platz zu machen, und glich einem geprügelten Hund. So wich er auch der ausgestreckten Hand des kleinen Redners aus, der ihn einlud, nun die erhöhte Position einzunehmen – unnötigerweise, denn Pietro brauchte gar kein Hilfsmittel, um genauso weit in die Höhe zu ragen wie vorher Davide auf seinem Schemel. Und dann fing Pietro an zu erzählen, die Stimme hoch und leise, was so gar nicht zu seiner Körpergröße passen wollte. Doch nicht nur deshalb hatten Eleonora und selbst einige der italienischen Studenten Mühe, ihn zu verstehen.

Sein sizilianisches »u« und das weiche »sch« verwischten jegliche Wortgrenzen, deren Identifizierung in der silbenreichen italienischen Rede sich Eleonora in langen Monaten ihres Studiums erarbeitet hatte. Sie sah sich einem Trümmerfeld aus sprachlichen Bruchstücken gegenüber, angesichts dessen sie das ganze Elend der Fabrikarbeiter, von dem Pietro erzählte, gerade so erahnen konnte. Ihr fragender Blick hinüber zu Tommaso brachte sie nicht viel weiter, weil er gebannt zu dem hoch aufgeschossenen jungen Sizilianer hinsah, um nichts von dessen Bericht zu verpassen. Als Pietros stockende Worte schließlich versiegten, herrschte zunächst tiefe Stille im Raum. Die Arbeiter um den schönen Gaetano nickten wissend und nahmen Pietro, der es kaum erwarten konnte, den Platz im Rampenlicht zu verlassen, wieder in ihre Mitte, immer noch auf einen gewissen Abstand zu den Studenten bedacht und als geschlossene Gruppe in jener Ecke der Wohnung vor einem Fenster versammelt, in die sie sich von Anfang an zurückgezogen hatten.

Dann hob ein Murmeln an im Raum unter den Studenten. Tommaso beugte sich zu Eleonora hinüber. »Ganz schön heftig, schon was anderes, das alles so direkt gesagt zu kriegen. Ich möchte wirklich nicht mit ihnen tauschen, wenn man sich das so anhört«, sagte er.

»Ich hab leider nicht alles verstanden«, gab sie zurück. »Aber er macht keinen besonders glücklichen Eindruck.«

Tommaso lachte kurz auf: »Nein, würdest du auch nicht an seiner Stelle. Sei froh, dass du nicht alles mitgekriegt hast. Ist nichts für ein Mädchen.«

»Was soll das denn heißen?« Eleonora trat so unvermittelt einen Schritt nach hinten, dass sie auf dem Fuß eines Studenten landete und sich rasch entschuldigen musste. Als sie sich immer noch aufgebracht wieder zu Tommaso wandte, sah sie sein Grinsen. Nach dem einen Jahr, das sie sich jetzt kannten, wusste er genau, wie er sie auf die Palme bringen konnte, und hielt ihr nun versöhnlich seine Bierflasche entgegen, um erneut mit ihr anzustoßen. Grummelnd ließ sie sich darauf ein und wollte gerade nach Einzelheiten von Pietros Erzählung fragen, als Davide wieder bei ihnen auftauchte. Er hatte als Erster den Raum zwischen beiden Parteien mit großen Schritten durchmessen – so groß, wie es bei seiner geringen Körpergröße eben möglich war – und Pietro mit einem Handschlag für seine Geschichte gedankt. Einige andere waren ihm gefolgt, hatten dem jungen Arbeiter auf die Schulter geklopft, ihm und den anderen ihre Solidarität zugesichert. Jetzt standen sie alle etwas verlegen herum und wussten nicht so recht, was sie mit den neuen Erkenntnissen anfangen sollten. Bis eine Stimme »Moretti per tutti, Moretti für alle«, durch den Raum rief, und jeder, der gerade keine volle Flasche in der Hand hielt, begann, sich in Richtung Küche zu bewegen. Im allgemeinen Schieben und Drängen löste sich auch die verlegene Anspannung, die Arbeiter wurden mitgerissen und fanden sich nolens volens in der Mitte der wohlgeborenen Gesellschaft wieder.

Nach ein, zwei weiteren Bieren und einer geteilten Packung Nazionali fanden Gaetano, Pietro und ihre Kameraden die Studenten offenbar längst nicht mehr so vornehm, und die Studenten bemerkten, dass es sich mit den operai, den Arbeitern, genauso saufen ließ, wenn nicht sogar besser als mit ihresgleichen. Eleonora geriet irgendwann an die Seite des jungen Arbeiters, der sie zu Beginn so ungeschickt anzugraben versucht hatte, erfuhr, dass er Enzo hieß und stieß, ein versöhnliches Lächeln im Gesicht, mit ihm an.

Mit schweren Köpfen und großen Plänen verließen sie und Tommaso weit nach Mitternacht die Wohnung. Davide und ein weiterer Freund aus der Studentenschaft begleiteten sie ein Stück in Richtung der Pension, in der sie fürs Erste untergekommen waren. In der Tasche hatte sie den Entwurf eines Flugblatts, den zu vervielfältigen sie und Tommaso versprochen hatten.

ZWEI

Rosalia, 1981

Christopher war der Rädelsführer. Ohne ihn wäre dieser letzte Schultag vor den Osterferien für Rosalia ein Freudentag gewesen, an dem sie ihrer Mutter bei den letzten Vorbereitungen helfen wollte für die große Fahrt in den Süden und sich darüber hinaus der Vorfreude hingeben, Vorfreude auf das Abenteuer Italien und natürlich auf das Meer, das sie so faszinierte.

Doch dann kam ihr Christopher in die Quere. Chris, wie er sich nennen ließ, war ein Jahr älter als Rosalia und seit Beginn des Jahres in ihrer Klasse. Er wohnte zwei Häuserblocks entfernt, und seit Rosa sich erinnern konnte, hatte sie ihn in dem mit Maschendraht abgezäunten Hof neben dem Wohnhaus spielen sehen, wenn sie an der Hand ihrer Mutter vorbeigegangen war. Der Kindergarten lag am Ende der Straße, die Grundschule ein bisschen weiter, und auch, um ins Bel Paese zu kommen, der Pizzeria von Ettore und Francesca, wo Rosalia viele ihrer Nachmittage verbrachte, musste sie an dem Haus vorbei, in dem Christopher lebte. Fast immer hatte er ein paar gleichaltrige Jungs um sich herum, die im selben Mietshaus wohnten, und sie waren ebenso mitgewachsen wie Christophers große Klappe, aus der nichts als Mist kam. Zumindest, wenn man seine Lehrerin Frau Wildemut fragte.

Die unterrichtete seit Beginn dieses Jahres auch Rosalia, und Christopher kannte ihre unerbittliche Strenge schon vom Vorjahr. Er absolvierte die dritte Klasse gerade zum zweiten Mal. Vielleicht war er ja wirklich dumm, wovon Rosalia überzeugt war, vielleicht wollte er nur einfach nicht so, wie seine Lehrerin es wollte, und kam deshalb auch in diesem Jahr in keinem Fach über eine Vier hinaus. Nur in einem waren die Lehrerin und der Junge einer Meinung: Sie hatten etwas gegen Rosalia. Und ließen es das Mädchen spüren.

»Ach, faules Mädchen näht wieder mit langem Fädchen«, war noch einer der netteren Sprüche, welche die dürre, turmhohe Lehrerin mit den grauen Löckchen für Rosalia parat hatte, wenn sie hinter ihr stand und mit Argusaugen beobachtete, wie die kleine Halbitalienerin anhand der Vorlage für eine zierliche Mädchentasche ein riesiges Stoffungetüm zusammenflickte, das mit viel gutem Willen als Altkleidersammelbeutel taugte. Nicht dass Rosalia dem Thema Handarbeiten irgendeine Bedeutung zugebilligt, gar die Länge des Rück- oder die Symmetrie des Kreuzstichs für wichtig gehalten hätte. Dass sie ihre Lehrerin das jedoch allzu deutlich spüren ließ, bestärkte die noch darin, das Mädchen auch in den anderen Fächern zu drangsalieren. Immer fand sie noch einen Punkt in den Prüfungen, den sie ihr abziehen konnte. Was allerdings weniger mit Rosas offensiver Ablehnung selbst genähter modischer Accessoires, sondern mehr mit ihrem südländischen Äußeren zusammenhing. Ihre Lehrerin Frau Wildemut mochte einfach keine Gastarbeiterkinder, wie sie bei jeder Gelegenheit betonte, und so entging ihr auch nicht die kleinste Unachtsamkeit, ein fehlendes Komma hier, eine angeblich nicht lesbare Zahl dort. Dafür übersah sie großzügig die spielerische Leichtigkeit, mit der Rosalia ihre schulischen Pflichten erledigte, und den bemerkenswerten Ehrgeiz, mit dem sie sich bis zu Frau Wildemuts Erscheinen in ihrem jungen Leben allem Schulstoff gewidmet hatte. Innerhalb weniger Wochen sackte Rosalias Durchschnitt von Eins auf Drei.

Im Sportunterricht hatte Frau Wildemut für die anderen Mädchen in der Klasse immer eine helfende Hand, nicht aber für Rosalia, auch nicht für Lucija, deren Eltern aus Jugoslawien stammten und die kaum Deutsch konnte. Und Ayaz’ Namen merkte sie sich gar nicht erst, sagte einfach immer »Türke« zu ihm. Nach Beginn des dritten Schuljahrs dauerte es keine 14 Tage, bis Frau Wildemut befand, »Rosalia quatscht zu viel«, und sie wegsetzte von ihrer besten Freundin Katja in der ersten Reihe.

»Setz dich nach hinten, zum Türken«, befahl sie ihr, und Rosalia, zu deren hervorstechendsten Eigenschaften eine sicher nicht gehörte, nämlich ein loses Mundwerk, sah Frau Wildemut fest in die Augen mit allem Ekel, dessen sie fähig war, während sie sich erhob und betont langsam ihren Schulranzen packte. Allerdings änderte ihr demonstrativer Stolz nichts an Frau Wildemuts Order, und so zog sie vor den Augen der Klasse mit Sack und Pack in die letzte Reihe um. Christopher, an dem sie vorbeimusste, feixte und rief ihr ungestraft irgendwas von Kümmel und Knoblauch hinterher. Und dann musste Rosalia auch noch feststellen, dass ihr neuer Sitznachbar Ayaz nicht nur kaum Deutsch sprach, sondern es offensichtlich auch nicht sprechen wollte, jedenfalls nicht mit ihr.

Bis Weihnachten hatte er auf kein einziges ihrer Worte reagiert, und so ließ sie es schließlich auf sich beruhen. Wenn jemand schweigen konnte, dann sie. Und in den Pausen wartete Katja an der Klassenzimmertür auf sie, während Lucija sich fortan an Rosalias Rockzipfel hängen und ihr treu bleiben sollte, bis sie mit ihren Eltern zurück nach Jugoslawien ging.

Jahre später, Rosalia lernte gerade für ihr Abitur, erfuhr sie, dass Lucija bei der Schlacht um Dubrovnik gestorben war. Mit tiefer Trauer im Herzen dachte sie an die vielen Momente zurück, in denen Frau Wildemut dem zarten Mädchen mit den dünnen Zöpfen und dem schlechten Deutsch das Leben schwer gemacht hatte. In ihrer rückwärtsgewandten Borniertheit hatte sie viele Wege gefunden, Lucija, Rosalia und Ayaz zu drangsalieren. Pflichtaufgaben, wie Abfalleimer ausleeren, nach dem Unterricht den Klassenzimmerboden fegen oder die Stühle hochstellen, wurden gleichmäßig an alle Schüler in der Klasse verteilt. Und ein bisschen gleichmäßiger an die »Ausländer«, wie sie die drei Kinder mit tiefstem Widerwillen in der Stimme nannte. So blieb es nicht aus, dass Rosalia, Lucija und Ayaz oft später aus dem Unterricht kamen als der Rest der Klasse und, da sie alle in unterschiedlichen Richtungen wohnten und Ayaz sowieso nichts mit den Mädchen zu tun haben wollte, meist auch allein nach Hause gehen mussten.

Nicht, dass Rosalia sich sehr daran gestört hätte, auf dem Heimweg keine Klassenkameraden um sich zu haben. Sie liebte es, für sich zu sein. Bis Christopher ihr zum ersten Mal aufgelauert hatte. Natürlich war er nicht allein. Er saß auf einem dicken Zaunpfosten am Rand des Hofs neben dem Mietshaus, in dem er wohnte, und ließ die Beine über dem Gehweg baumeln, als Rosalia vorbeikam. Zwei seiner Freunde lehnten innen am Zaun und zogen blöde Grimassen.

»He, Knoblauchtante«, riefen sie, »Spaghettifresserin, blöde, Spaghettifresser seid ihr doch alle!«

Mehr fiel ihnen nicht ein, dafür verdoppelten sie ihre Lautstärke, als Rosalia die Straßenseite wechselte und so tat, als würde sie das Geschrei gar nichts angehen. Nur Rosas Schritte wurden ein bisschen länger, und als sie das Ende der Straße erreicht hatte und endlich abbiegen konnte, blieb sie hinter der Ecke stehen und schnappte nach Luft.

Auch in den Wochen danach lauerten Christopher und seine Freunde ihr immer wieder auf. Bis zu diesem Freitag vor den Osterferien jedoch war es bei den üblichen Beschimpfungen geblieben, und Rosalia hatte sich daran gewöhnt. Sie machte sich längst nicht mehr die Mühe, schneller zu gehen, manchmal wechselte sie nicht einmal mehr die Straßenseite. Warum Chris ausgerechnet an diesem Tag beschlossen hatte, seinen gehässigen Worten Taten folgen zu lassen, wusste er vermutlich selbst nicht. Etwas von einem »Denkzettel« hatte er geschrien, als er auf den Gehweg sprang, wenige Meter vor Rosalias Füßen. Dann rief er nach seinen Freunden, und plötzlich waren sie alle um sie herum. Sie lachten und feixten und fingen an, sie zu schubsen. Einer packte ihren Schulranzen und riss so lange an ihm, bis der eine Träger entzweiging, ein anderer angelte nach Rosas langem schwarzen Pferdeschwanz. Sie wirbelte herum, versuchte, sich zu befreien, geriet ins Straucheln und fiel auf die Knie. Dann war es Chris, der nach ihrem Schulranzen griff und mit einem Ruck dessen Seite aufriss, sodass die Schulbücher oben herausragten und ein loses Blatt zu Boden segelte. Rosalia schlug ihm auf die Hand, konnte seine Überraschung nutzen, aufstehen und einen Schritt zurückweichen. Den Stein, der ihre Schläfe traf, hatte sie nicht kommen sehen, und sie ging vor Schmerz und Schock erneut zu Boden, konnte sich nicht mehr abfangen und landete bäuchlings auf dem Asphalt. Das Blut, das in ihre Augen tropfte, ließ sie nur noch verschwommen wahrnehmen, dass zwei der Jungen auf sie spuckten. Dann waren sie plötzlich verschwunden.

Niemand half ihr, als sie sich mühsam hochrappelte. Sie schaffte es bis zur nächsten Straßenecke, brachte sich dahinter, wie schon so oft, außer Sichtweite, hoffte, dass die Jungen nicht wiederauftauchen würden, und blieb am ganzen Leibe zitternd stehen. Und diesmal war es um ihre Selbstbeherrschung geschehen. Tränen schossen aus ihren Augen und vermischten sich mit dem Blut, das über ihre Wange lief. Sie versuchte, den Schulranzen so gut es ging zuzuhalten, und humpelte unter Schmerzen den restlichen Weg bis nach Hause, wo ihre Mutter, als sie sie sah, die Reisetasche, die sie gerade zum Auto hatte bringen wollen, fallen ließ und einen Laut des Entsetzens ausstieß. Rosalia weinte umso mehr, als Eleonora sie in den Arm nahm, um dann, als sich Rosalia ein wenig beruhigt hatte, vorsichtig mit der freien Hand die Haare am Schläfenrand auseinanderzustreichen, wo der Stein den Kopf getroffen hatte. Rosalia war nicht in der Lage zu erklären, was passiert war, der Schock war ihr tief in die Glieder gefahren, sie fühlte sich wie gelähmt. Auch ihr Tränenstrom versiegte auf dem Weg ins Krankenhaus – ihre Mutter hatte sie behutsam auf den Rücksitz des Käfers bugsiert und ins Rechts-der-Isar gefahren. Die Stiche, die ein junger Arzt durch die Haut an ihrer Schläfe zog, spürte sie kaum. Ebenso wenig, wie sie seine Fragen wahrnahm, oder die Spritze, die sie in den Arm bekam. Erst eine duftende Pizza im Bel Paese, von Francesca extra mit ein paar dicken, schwarzen Oliven belegt, holte sie zurück in die Gegenwart und gab ihr das Gefühl, genug Kraft zu haben, um erzählen zu können, was passiert war. Worauf ihre Mutter erst blass, dann rot im Gesicht wurde und für eine Weile verschwand. »Ich hab was zu erledigen«, hörte Rosalia sie sagen, mehr nicht, bevor sie, mit einer Decke zugedeckt, erschöpft auf einer Eckbank einschlief. Der Schmerz und die Angst forderten ihren Tribut. Eine gute Stunde später kam Eleonora zurück, um sie abzuholen, einen Ausdruck tiefer Befriedigung im Gesicht. »Dieser kleine Feigling wird sich nicht mehr trauen, dich anzufassen«, hörte Rosalia ihre Mutter murmeln, doch sie war immer noch zu erledigt, um nachzufragen, was geschehen war. Und Eleonora verlor auch kein Wort mehr darüber. Die Fahrt in den Süden konnten sie an diesem Tag nicht mehr antreten, Rosalia solle sich möglichst schonen für ein, zwei Tage, hatte der Arzt im Krankenhaus gesagt. Nun, das war etwas, das Rosa gerade so verkraften konnte, doch die Schmerzen, die ihr die Jungen zugefügt hatten, und die Demütigung würde sie Christopher niemals verzeihen.

DREI

Eleonora, 1968

Fünf Finger. Die Kuppen gegeneinandergepresst, nach oben gereckt und dann in kleinen, aber mit unbedingter Überzeugung ausgeführten Schwüngen zur Untermalung des Gesagten benutzt. Diese Handbewegung war es, die Eleonora mitten im Lauf stoppen ließ. Gerade noch war sie in großen Sprüngen von der hintersten Reihe des Hörsaals hinuntergerannt, um möglichst schnell aus dem Mief der Jura-Vorlesung nach draußen in die Sonne zu kommen, als ihr diese Geste ins Auge fiel, die wahrscheinlich typischste aller italienischen Gesten. Eleonora bremste ab, zwei Bankreihen vom Dozenten-Pult entfernt, und tat dann so, als habe sie etwas Entscheidendes in ihrer Umhängetasche zu suchen, die sie auf die nächstgelegene Bank hievte, um darin herumzuwühlen. Dabei ließ sie den jungen Mann nicht einen Moment aus den Augen, der am Fuß des Hörsaals mit dem Dozenten diskutierte. Sie war zu weit entfernt, um genau zu verstehen, worum es ging, konnte aber deutsche Wortfetzen heraushören, die so gar nicht zur Gestik des Sprechers passen wollten. Einige Minuten ging das so. Untermalt von schwungvollen Bewegungen seiner Hände prasselte der Wortschwall des jungen Mannes auf den Dozenten ein, der ein nachsichtiges Lächeln aufgesetzt hatte und die flammende Begeisterung seines Gegenübers nicht bremsen zu wollen schien.

Eleonora hatte sich gerade entschlossen, das Feld zu räumen, so groß war ihre Tasche nun auch wieder nicht, da sah sie, wie die beiden am Pult sich die Hand reichten und der junge Italiener – ein Irrtum war ausgeschlossen – sich in Richtung Tür entfernte. Wie der Blitz war sie hinter ihm her. Ein echter Italiener hier in der Uni, den musste sie kennenlernen.

Außer den Münchner Gastarbeitern, den armen Kerlen mit den dicken Lederschürzen, die bei ihren Eltern draußen im noblen Münchner Vorort Harlaching die blechernen Mülleimer aufsammelten und in die grauen Müllwägen kippten, und Herrn Mario, dem Hausmeister ihres Internats, kannte sie kaum Italiener. Und selbst die Müllfahrer waren meist Türken. Auch wenn sie ebenso schöne Schnurrbärte trugen wie Herr Mario.

Der hieß eigentlich gar nicht Herr Mario, aber er hatte sich so vorgestellt, damals, als er kam, um sich um den Hausmeisterjob im Internat zu bewerben. Sein Name sei schwer auszusprechen, hatte er gesagt, und: »Sag einfach Herr Mario!«

Eleonora hatte zufällig im Schulhof gesessen und ihre Hausaufgaben in der Junisonne erledigt, als er in seinem ferrariroten Overall durch die Eingangspforte in der Schulmauer trat und sich suchend umsah. Neben dem Overall war es der schwarze Moustache, welcher der gerade Elfjährigen besonders an ihm aufgefallen war – und nach allem, was sie in ihrem ersten Jahr im Internat am See mitbekommen hatte, bezweifelte sie sehr, dass Direktor Scheuermann einen Ausländer im Rennanzug als Nachfolger für seinen in Rente gegangenen Zuchtmeister, den dicken Dimpfl – »Herrn Dimpfl, bitte« – haben wollen würde.

Eleonora hatte ein kleines Grinsen hinter dem Vorhang ihrer roten Haare verstecken müssen, als der Schulleiter zwei Wochen zuvor sämtliche Klassen zum Abschied des Dicken hatte antreten lassen. Eigentlich hätte der ungeliebte Hausmeister erst zum nächsten Herbst die Schule in Richtung Ruhestand verlassen sollen, wo er sich dann, nach eigenen Worten, nicht mehr mit den »verzogenen Schratzen neureicher Vorstädter« würde herumärgern müssen. Da werde es nur noch seine Märklin 800 geben, seine große und, wenn man den Gerüchten Glauben schenken durfte, auch einzige Liebe, seit seine Frau ihm davongelaufen war, weil sie es leid war, ihm in den Schulferien ständig das Essen in den Keller des gemeinsamen Hauses hinunterbringen zu müssen – auch das sagten die Gerüchte –, ihm und seiner Eisenbahn.

»Spurbreite null, nix anders, verstehst«, dozierte Dimpfl gerne in breitestem Oberbayerisch. An guten Tagen konnte er richtig ins Erzählen kommen, meist dann, wenn Direktor Scheuermann eine Schülerin auf seine Anzeige hin für irgendein Vergehen mit Hausarrest oder Hofkehren belegt hatte und er das dann nicht selbst tun musste. Dann hatte Herr Dimpfl einen guten Tag. Dann nahm er die Trillerpfeife aus dem Mund, die während der Woche sicherlich hundertmal durch die Schule schrillte, weil er wieder irgendeine Schülerin bei einer Grenzübertretung erwischt hatte, und erzählte jedem, der es hören oder auch nicht hören wollte, in schwärmerischem Tonfall von seiner Märklin 800, dem zugehörigen Tender und den ausgetüftelten Weichensystemen, die seine drei Bahnhöfe miteinander verbanden. »Alle aus den Dreißigern«, geerbt, ja. »Vo’ mei’m Vatter, der hat no’ g’wusst, wo’s langgeht, da brauch’ ich des ganze neimodische Zeigs ned.«

Vom Vater waren auch die Bauern und die Landarbeiter. Und auch die 88 Spielzeugsoldaten, die der dicke Dimpfl in seinen Hügeln postiert hatte, auf dass sie seine Eisenbahnzüge bewachten, welche auf ständig wachsendem Gleisnetz immer im Kreis herumfuhren, »Spurbreite 0, nix anders, ois andere is’ a Schmarrn, und die Soldaten, immer auf Zack, habt’s es g’heart? Die ham an Karabiner immer im Anschlag, habt’s es g’heart? Auf Zack! Net so wie ihr, Waschlappen, windelweiche, Zotzen auf’m Kopf. Bin i froh, wenn’s vorbei is, wenn i do draußen bin.«

Eleonora fand seine Erzählungen genauso unerträglich wie sein ganzes Blockwartgehabe, die Ausführungen zu seinem heimischen Keller aber ausgesprochen inspirierend. Sie begann darüber nachzudenken, welche Möglichkeiten der Internatskeller bot, der direkt unter der Hausmeisterwohnung lag, in der Dimpfl während der Schulwochen wohnte. Und als Dimpfl schließlich zu seinem Abschied an den aufmarschierten Schülerinnen vorbeiwatschelte, auf seinen kurzen Beinen, die unvermeidliche Trillerpfeife aus alter Gewohnheit noch immer im Mundwinkel hängend, konnte sie mit Fug und Recht behaupten, einen ordentlichen Beitrag zu seinem frühzeitigen Rückzug geleistet zu haben.

Sechs Wochen nachdem sie in die fünfte Klasse gekommen war und die obere Hälfte eines Stockbetts in einem Seitenflügel des imposanten Gebäudes bezogen hatte, noch immer zutiefst getroffen von der Herzlosigkeit ihrer Eltern, die sie ungefragt im Internat angemeldet hatten, begann der ungeliebte Hausmeister, schlecht zu schlafen. Viel Zeit hatte Eleonora nicht gebraucht, um ihren Plan zu entwickeln. Ende Oktober hatte er sie erwischt, wie sie über die Schulmauer geklettert war, um den Hund des Nachbarn zu kraulen. Noch in derselben Stunde hatte Herr Dimpfl sie beim Direktor denunziert, mit den zu erwartenden Folgen: Das Buchenlaub, herabgefallen von den altehrwürdigen Bäumen, die den Pausenhof umstanden, türmte sich unangenehm hoch in diesem Oktober. Es würde längst dunkel sein, bis sie es fortgeschafft haben würde, das war ihr klar, als sie mit dem breiten Rechen aus der Schultür in den Hof hinaustrat. Weil aber Herr Dimpfl ständig wegen irgendwelcher Kleinigkeiten zum Schulleiter lief, nahm Eleonora an, dass ihm ebenso bewusst wie egal war, dass die gesamte Schülerschaft ihn gern zum Teufel geschickt hätte, und so sein erster Verdacht nicht unbedingt auf sie fallen würde, als eines Nachts in der Wand hinter seinem Bett ein leises, aber penetrantes Rascheln einsetzte. Sie und ihre Klassenkameradinnen stellten sich jedes Mal mit großem Vergnügen vor, wie sich das Geräusch in seine Träume mischte und in grausamer Regelmäßigkeit seinen Schlaf störte, wenn sie unten im Keller saßen. Versteckt hinter einem Holzregal lugte dort das untere Ende einer Perlonschnur aus der Wand, die, wenn sie leicht daran zogen, ein Stockwerk darüber ein zusammengeknülltes Papier in raschelnde Bewegung versetzte, das sie durch ein stillgelegtes Heizungsrohr in einen Hohlraum in der Wand hinter seinem Bett bugsiert hatten. Nacht für Nacht fanden sich einige der nervenstärkeren Mädchen aus Eleonoras Klasse im Keller des Internats ein und zersetzten so die Nachtruhe des Hausmeisters.

Weil das Rascheln nicht aufhörte, selbst dann nicht, als bis Ende März ein Dutzend Mäuse in Dimpfls Fallen ihr Leben ausgehaucht hatten – Kollateralschäden, wie Eleonora trocken und ohne mit der Wimper zu zucken ihrer Freundin Hilde erklärte –, warf er im April das Handtuch, vier Monate vor dem regulären Ende seiner dreißigjährigen Dienstzeit, und polterte – beobachtet von einem halben Dutzend Fünftklässlerinnen, unter ihnen Eleonora, die ihn abgepasst hatten – wieder einmal ins Büro des Direktors. Diesmal, um seine vorzeitige Kündigung einzureichen.

Dunkle Ringe untermalten seine wasserblauen Augen, als er zum Abschied an den aufgereihten Schülerinnen vorbeischlich. Auf Höhe der 5. Klasse schien er einen Augenblick zu zögern. Vielleicht suchte er in der Menge der Mädchen einen Rotschopf, vielleicht bildete sich Eleonora das aber auch nur ein. Doch dann machte er eine Handbewegung, die aussah, als werfe er ein gebrauchtes Taschentuch von sich, straffte die Schultern, und das Letzte, was die Mädchen von ihm sahen, war sein dicker Rücken im grün-rot karierten Pullunder, den Dimpfl immer zu Festlichkeiten angezogen hatte. Vorne wie hinten spannte er gleichermaßen, und das Bild, wie dieser Pullunder durch die Pforte verschwand, ging ins kollektive Gedächtnis jener Mädchenjahrgänge ein, die Eleonoras erstes Jahr im Internat am See begleitet hatten.

Ebenjene Pforte, durch die zwei Wochen später Eleonora hatte Herrn Mario kommen sehen. Und sie fand es höchst überraschend, dass er nicht etwa mit hängendem Schnurrbart, sondern einem kleinen Tänzeln aus dem Büro des Direktors zurückkam. Einem Tänzeln, das zu ihm gehörte wie der rote Overall und seine Angewohnheit, beim Kehren des Hofs italienische Lieder zu singen, und das Eleonora selbst an schwarzen Tagen zum Lachen brachte. Er tänzelte auch an einem Nachmittag im Mai 1967, als sie ihm voller Freude über den ganzen Schulhof hinweg zurief, dass sie ihr Abitur bestanden hatte – und das auch noch weitaus besser, als sie zwischenzeitlich erwartet hatte. Zumindest in Englisch war sie wirklich nicht ganz auf der Höhe gewesen. Der Prüfung war am Abend zuvor eine kleine Feier vorausgegangen, in deren Verlauf eine Gitarre, ein silbernes Armband und ein Satz Unterwäsche die Besitzerin gewechselt hatten.

Aus Herrn Marios Tänzeln wurde zwei Wochen später ein handfester Tanz, den er mit Eleonora nach der offiziellen Abiturfeier aufs Parkett legte. Die meisten Eltern und Lehrer waren längst gegangen, die offizielle Feier vorüber, als sie und ihre Schulfreundinnen zu ihrer letzten Schulparty in der Aula aufdrehten und mit eingeschmuggelten Campari-Soda bis in die frühen Morgenstunden hinein ihr bestandenes Examen feierten.

Irgendwann im Lauf ihrer Schuljahre, die nun vorüber waren, hatte sie Herrn Mario von den Papiermäusen in der Wand hinter dem Bett des dicken Dimpfl erzählt – die seltsamerweise plötzlich und unerwartet verschieden waren, als der Exhausmeister der Schule den Rücken gekehrt hatte. Sie hatten auch keine Nachkommen hinterlassen. Als Herr Mario von der Geschichte erfuhr – von Eleonora mit Händen und Füßen sowie mit den ersten Brocken Italienisch, die sie von ihm gelernt hatte, in Szene gesetzt –, hatte er gegrinst wie Guareschis Peppone, der gerade Don Camillos Hühner gestohlen hat, und Eleonora ins Herz geschlossen. Es war klar, dass der kleine Italiener im knallroten Einteiler nie an seinen Job gekommen wäre, hätten nicht Eleonora und ihre Freundinnen den dicken Blockwart vor der Zeit vergrault und wäre somit Schulleiter Scheuermann nicht plötzlich ohne Hausmeister gewesen.

Und Herr Mario war geblieben, auch nach der Übergangszeit, er hatte den Direktor offenbar von seinen Qualitäten überzeugen können. Und nicht nur ihn, auch die Schar der Schülerinnen. Schließlich sah man in der Folgezeit nie mehr eine von ihnen den Hof kehren. Was Eleonora anging, befiel Herrn Mario regelmäßig sogar eine Art chronischer Blindheit, wenn es darum ging, sie bei einer ihrer Verfehlungen zu ertappen, bis sie mit dem Abi in der Tasche und der geschenkten Gitarre in der Hand die Schule verließ.

Weder fiel ihm auf, wenn sie wieder einmal von Staub und Kletten bedeckt über die Mauer gerutscht kam, hinter welcher der Nachbarshund sich gerade über die Kotelettknochen hermachte, die sie beim Essen hatte verschwinden lassen, noch schlug er Alarm, als sie an einem Sonntagabend im Herbst erst nach Einbruch der Dunkelheit aus dem Dorf-Bus stieg. Sie hatte es nicht fertiggebracht, vor der letzten Zeile des Abspanns das kleine Lichtspielhaus am gegenüberliegenden Seeufer zu verlassen und sich der sonntäglichen Ausflugsgruppe wieder anzuschließen, welche, im Gegensatz zu ihr, rechtzeitig den Rückweg zur Schule angetreten hatte. Mit den Verfilmungen jener Guareschi-Bücher, aus denen Herr Mario entsprungen zu sein schien und die das Kino hin und wieder zeigte, war Eleonoras Vorliebe für Italien noch gewachsen, die ihren Ursprung in einem Bildband über italienische Traumstrände hatte. Als Acht- oder Neunjährige hatte sie ihn beim Stöbern im Bücherschrank ihrer Mutter entdeckt. Wie er dorthin gekommen war, konnte ihre Mutter Friederike ihr selbst nicht erklären, und der einzige Besuch in Italien, den Eleonora mit ihren Eltern je unternahm, führte sie noch nicht einmal in die Nähe irgendeines Strandes.

Ohnehin war es keine Urlaubsreise gewesen, der sie ihren ersten und bis dahin einzigen Aufenthalt in Italien verdankte, vielmehr ein geschäftliches Treffen, das ihren Vater Otto zu einem Besuch in Mailand zwang, Eleonora und ihrer Schwester aber zu einem unerwarteten Abenteuer verhalf. Sie und Rosemarie hatten vor der Tür gelauscht an jenem Abend, als Otto seiner Frau von der Einladung nach Mailand berichtete, und den Abscheu in der Stimme des Vaters gespürt. Schon dass er das Abendessen um Punkt 19 Uhr verpasst hatte, wegen des Anrufs aus Italien, wäre für ihn Grund genug für schlechte Laune gewesen. Und so hatte er erst einmal Eleonoras kleinen Bruder Peter rundgemacht, der um kurz nach 20 Uhr seine Zähne noch nicht geputzt hatte. Und nun auch noch diese Einladung seines Mailänder Geschäftspartners. »Unsteter Mensch das«, schimpfte Otto Eisenfeld, »habe den ganzen Nachmittag auf seinen Anruf gewartet, und dann das, genau zur Abendessenszeit!«

Aber weil der »unstete Mensch« aus Gründen, die er selbst nicht zu verantworten hatte und die bis in die 30er-Jahre zurückreichten, zu den wichtigsten Geschäftspartnern der Firma Eisenfeld gehörte – »gutes Geld, aber schlechte Sitten«, dozierte Eleonoras Vater –, war ihm nichts anderes übrig geblieben, als in seinem Büro nicht nur auf den späten Telefonanruf zu warten, sondern auch die Einladung des Signore Preziosi anzunehmen, der seinen Münchner Geschäftsfreund mitsamt Familie in sein Mailänder Domizil gebeten hatte. Unbedingt solle er doch seine liebe Frau mitbringen, und seine Kinder, den Buben und die hübschen Töchter, die er allerdings noch nie gesehen hatte. »Ah, 13 und 15 sind die jungen Signorine, fantastico!«, sie würden einen Ausflug ins schöne Italien doch sicher genießen, die Stadtwohnung mitten im Zentrum von Mailand biete ausreichend Platz – »und vermutlich Ungeziefer in jeder Ecke«, haderte Otto Eisenfeld.

Doch was blieb ihm anderes übrig, Ertrag ging über Empfindelei. Und so stieg Eleonora mit den Eltern und der Schwester ein paar Tage später ins Auto, der arme Peter war zur Tante gebracht worden – »was hat er schon von so einer Reise, ist viel zu gefährlich da unten für den Buben«. Über ihrer freudigen Aufregung vergaß Eleonora fast, sich heimlich über die feinen Schweinslederhandschuhe zu mokieren, die ihr Vater immer überstreifte, bevor seine Hände nach dem Steuer der kleinen Heckflosse griffen, des dunkelroten Mercedes, der der ganze Stolz seiner großbürgerlichen Natur war. Sie ließ sich in den Rücksitz fallen, und während draußen die sich stetig verändernde Landschaft auf ihrem Weg in die Hauptstadt der Lombardei vorbeizog, dachte sie über den Streit vom Vorabend nach. Wäre es nach ihrem Vater gegangen, hätten sie Mailand gleich am nächsten Tag in der Früh wieder verlassen. So jedenfalls hatte er es offenbar geplant, dabei aber die Rechnung ohne seine Frau gemacht – und Eleonora war ihrer Mutter zutiefst dankbar für ihr überraschendes Aufbegehren. »Ich bin doch nicht zu Fuß durch halb Europa gelaufen, um nicht für alle Ewigkeit bei den Russen und ihrem kommunistischen Stumpfsinn zu versauern, um dann nach Mailand zu kommen und nicht einmal die Scala zu sehen!«, hatte Friederike mit erhobener Stimme erwidert, als Otto sie aufgefordert hatte, für eine Nacht zu packen. Und Eleonora und Rosemarie, die am Tisch gesessen und der Auseinandersetzung gebannt gelauscht hatten, waren nach dem Essen so schnell wie möglich in ihre Zimmer verschwunden, um zu packen. Kurz darauf war Friederike mit äußerst zufriedenem Gesicht immer wieder an ihren offen stehenden Türen vorbeigesaust, mal ein in raschelnde Seide gehülltes türkisfarbenes Etuikleid, mal einen zweiten Anzug für Otto über dem Arm. Und die Mädchen hatten sie leise im Elternschlafzimmer vor sich hin summen gehört. Bis die Schwestern ihre Kostüme für die Oper einpacken sollten, war im oberen Stockwerk die Stimmung aufgeräumt gewesen und wäre es wohl auch geblieben, hätte nicht Rosemarie dagegen aufbegehrt, den gleichen Rock und die gleiche Bluse wie ihre kleine Schwester tragen zu müssen. Da half es auch nichts, dass der Rock ausreichend kurz war, schließlich durfte inzwischen sogar im britischen Königshaus Knie gezeigt werden. Aber die Blusen waren hochgeschlossen und mit Rüschen besetzt, »das geht gar nicht, Mama!«, hatte Eleonora ihre Schwester brüllen gehört und war in Rosemaries Zimmer hinübergelaufen, wo Schwester und Mutter inzwischen in einen ordentlichen Streit geraten waren. Dann war ihr Vater aufgetaucht und hatte ihrer Schwester seinen Solange-deine-Füße-unter-meinem-Tisch-stehen-Blick zugeworfen. Rosemarie hatte stillschweigend Rock und Bluse in ihre Tasche gestopft und seitdem nichts mehr gesagt. Sie schmollte noch, als sie die Mailänder Stadtgrenze passierten.

Recht viel Gelegenheit, sich in aller Öffentlichkeit des Partnerlooks mit ihrer Schwester zu schämen, bekam Eleonoras Schwester allerdings nicht. Beim Abendessen mit Familie Preziosi – dem ältesten Sohn versuchte die brünette Rosemarie vergeblich, schöne Augen zu machen – behielten beide ihre Reisekluft an. Und zur Oper in der Scala am nächsten Abend kamen sie zu spät – ihr Gastgeber hatte mit dem geschätzten Signore Otto unbedingt noch einen Grappa trinken wollen. Sie konnten sich gerade noch zu ihren Plätzen schleichen, bevor sich der Vorhang öffnete, was bei ihrem Vater normalerweise zu einem Tobsuchtsanfall geführt hätte. War er doch sonst einer von denen, die lieber eine halbe Stunde zu früh als auch nur eine Minute zu spät kamen. Aber die Opernkarten waren schließlich ein Geschenk von Signore Preziosi. Weder Oper noch Regisseur hatte ihr Vater sich also selbst aussuchen können, und so schimpfte er auf dem ganzen Weg zum Konzert, den sie in einem Wagen mit Chauffeur zurücklegten, vor sich hin.

»Zum Glück versteht ihn der Chauffeur nicht«, flüsterte Eleonora ihrer Schwester ins Ohr.

»Alles Zeitverschwendung, Italien, Oper«, giftete ihr Vater. Warf einen wütenden Blick auf seine Frau. »Und dann noch dieser Strehler«, moserte er.

»Was ist mit ihm?«, wollte Friederike in bemüht sanftem Tonfall wissen.

»Der ist Sozialist, weiß man ja, wahrscheinlich noch Schlimmeres!«

Friederikes Einwand, dass der berühmte Regisseur Giorgio Strehler das Mailänder Piccolo Teatro leitete und mit der Scala in diesen Tagen so gar nichts zu tun habe, tat er als bedeutungslos ab.

»Diese Kommunisten, Anarchisten, Sozialisten, die sind doch alle gleich. Da können wir auch noch kommen, wenn das Stück schon vorbei ist, das merkt so einer sowieso nicht! Disziplinloses Pack.«

Am nächsten Tag brach Eleonora mit ihrem unwilligen Vater und dem Rest der Familie nach einem sehr kurzen Bummel durch die Mailänder Modegeschäfte auch schon wieder auf, hatte Otto doch kurzfristig noch einen Abstecher eingeplant, den er nicht mit seiner Familie abzustimmen gewillt war. Er steuerte den Wagen von der Wohnung der Familie Preziosi aus nach Süden und schlug den Weg in Richtung Modena und Bologna ein.

Erst nachdem Eleonora und ihre Schwester ihn mit Fragen gelöchert hatten, verriet er ihnen, dass er nach Florenz wolle. Aber nicht etwa des Doms wegen mit seiner Brunelleschi-Kuppel, den ihre Mutter gar zu gern besichtigt hätte. Sie hatte eine Vorliebe für Kirchen jeder Art – was Eleonora verstehen konnte –, war dort aber gerne auch, wenn Gottesdienste gefeiert wurden, wovon Eleonora wiederum weniger hielt. Ihr Vater jedoch hatte nicht vor, ins Innere der toskanischen Hauptstadt zu fahren, Brunelleschi hin oder her.

»Seid ihr närrisch? Ich lass mir doch nicht das Auto klauen«, lautete sein Kommentar auf den ersten begeisterten Aufschrei von Frau und Töchtern. In Mailand hatte Signore Preziosi ihm einen Parkplatz im riesigen Innenhof des luxuriösen Wohnhauses reserviert, in dem er mit seiner Familie residierte. Sonst wäre ihr Vater wahrscheinlich gar nicht erst hingefahren, so wie Eleonora ihn kannte.

Aber nein, natürlich war es nicht die florentinische Kultur, für die er den Aufenthalt im gefährlichen südeuropäischen Ausland ausdehnen wollte, sondern ein sehr persönliches Anliegen. Er wollte das Grab seines Bruders Alfons besuchen. Jahrelang hatte Eleonoras Vater nicht gewusst, wo er lag, ob überhaupt irgendjemand seine sterblichen Überreste beerdigt hatte. Bis er eines Tages einen Brief bekam mit italienischem Stempel. Ein Foto war beigelegt, das ein grob zusammengezimmertes Holzkreuz zeigte, verwittert und von Mohn und wildem Hafer fast vollständig bedeckt. Wer auch immer es aufgestellt hatte, musste gewusst haben, wen er da unter die Erde brachte. Er hatte mit einem Messer den Namen ins Holz geschnitzt, nur den Namen und eine Zahl, Alfons Eisenfeld, 1944. Mehr stand da nicht.

Hoch im Apennin, ein paar Hundert Meter von einem kleinen Weiler ein Stück vor Florenz, sollte das Kreuz zu finden sein.

Also kein Meer in der Nähe, stellte Eleonora resigniert fest. Doch in diesem Augenblick hütete sie sich, den Mund aufzumachen. Sie war dabei gewesen, als ihr Vater mit dem Briefmesser die Falzung des Umschlags entlangfuhr, den sie an einem Dezembertag aus dem Briefkasten geholt und ihm gebracht hatte, als er aus der Firma gekommen war. Sie hatte gesehen, wie seine Hand zitterte, das schwere Metallmesser mit den erhabenen Verzierungen darin fiel ihm zweimal fast zu Boden, noch bevor er den Inhalt überhaupt gesehen hatte. Als er das Foto mit dem Holzkreuz endlich in der Hand hielt, schickte er sie aus dem Zimmer. Und bevor sie die Tür hinter sich schloss, sah sie noch, wie er sich schwer auf den Esstisch stützte, bevor er auf einen Stuhl niedersank.

Vier Jahre jünger und im Gegensatz zu Otto mit zwei gesunden Beinen gesegnet, war Alfons gleich im September 1939 begeistert mit der Heeresgruppe Nord in Richtung Warschau marschiert. Ein Schulterdurchschuss brachte ihn zunächst einmal zurück nach Berlin, was ihn vermutlich davor bewahrt hatte, schon im von Hitler befohlenen »fanatischen Widerstand« in der Winterschlacht bei Moskau das Zeitliche zu segnen. Den Winter 41/42 verbrachte Alfons daheim bei den Eltern und seinem Bruder Otto, dem Rittmeister und Firmenerben, der sich bei einem Reitunfall im Frühjahr ’39 so kompliziert das Bein gebrochen hatte, dass ein Einsatz an der Front für ihn ausgeschlossen war und er fortan im Windschatten seines Vaters an einem Stock durch die wirtschaftsmächtigen Salons der reichsdeutschen Hauptstadt humpeln musste.

Marga Eisenfeld, Eleonoras Großmutter, die weder sie noch Rosemarie je kennengelernt hatten, packte Alfons über Weihnachten in Watte und pflegte ihn so gründlich und kompromisslos, dass er nach einem Jahr angeblich immer noch unter Schmerzen litt, die derart übel waren, dass sie eine Rückkehr an die Ostfront unmöglich machten. Was für ein Glück, dass Eleonoras Großvater Fritz Eisenfeld und der Arzt, der die Untauglichkeit seines jüngeren Sohnes bestätigte, nicht nur dieselbe braune Uniform trugen, sondern auch als Kinder schon im selben Klassenzimmer gesessen hatten.

Als dann im Juli ’43 die Italiener beschlossen, Mussolini, den Duce, abzusetzen, waren sie als Land und Nation bei Großvater Fritz völlig unten durch. Mehr Hochverrat, als den obersten Führer des Landes aus dem Amt zu jagen, war in seinen Augen unmöglich. »Wenn das jeder täte …« Was die Sache für ihn noch schlimmer machte, war die damit verbundene Schwächung der reichsdeutschen Südfront und die Tatsache, dass angesichts der Entwicklungen auch der Eisenfeld’sche Hausarzt Alfons’ Dienstunfähigkeit nicht weiter glaubwürdig bescheinigen konnte. Margas Nesthäkchen, inzwischen 23-jährig, hatte sich mit kleineren Aufträgen für die Firma des Vaters über die Zeit gerettet und so den Anschein einer gewissen Wichtigkeit gewahrt. Doch nun musste er zusammen mit der neu aufgestellten 10. Armee in einen Zug nach Süditalien steigen. In Salerno geriet er mitten hinein in die deutschen Rückzugsgefechte, die ihn seiner Heimat und den Eltern noch einmal 600 Kilometer näher brachten, bis er in der Nähe des Futa-Passes von einer Handgranate zerrissen wurde.

Aus dem Brief eines Kameraden hatten Otto und seine Eltern von Alfons’ letzten Minuten erfahren und von dem schrecklichen Knall, der das Lager der deutschen Soldaten hochfahren ließ und der genau von jener Stelle kam, an der sie Alfons gerade noch gesehen hatten. Die Granate war seine eigene gewesen.

An einem Donnerstag war es, als jener Brief durch den Briefschlitz des Eisenfeld’schen Hauses in Berlin-Grunewald gefallen war, just in einem der wenigen Momente, in denen Marga nicht am Fenster gestanden und auf die Heimkehr ihres Sohnes gewartet hatte, wie jeden Tag, seit sein Vater mit ihm zum Bahnhof gefahren war. Am nächsten Tag führte Eleonoras Vater seine völlig verstörte Mutter zum Firmenautomobil, das er und sein Vater gemeinsam beladen hatten, während Marga, die Hände im Schoß, auf ihrem Bett gesessen hatte und nicht in der Lage gewesen war, selbstständig ihre Reisekleidung anzulegen. Otto setzte sich ans Steuer, sein Vater Fritz nahm neben ihm auf dem Beifahrersitz Platz, ohne seine traumatisierte Frau auf dem Rücksitz eines Blickes zu würdigen, als wäre sie allein durch die Tatsache, Alfons geboren zu haben, schuld an seinem Schmerz. Dann folgten die Eisenfelds ihrem längst auf neutrale Züricher Bankkonten transferierten Vermögen in die Schweiz.

Dass Jahre später noch einmal ein Brief aus Italien kam, in dem diesmal von Alfons Eisenfelds Grab die Rede war, sollte dessen Vater nicht mehr erfahren. Ein Herzinfarkt setzte dem Leben von Eleonoras Großvater schon an Weihnachten 1944 in einem Züricher Hotelzimmer ein Ende, genau drei Jahre, nachdem er seine Frau unter dem Christbaum angeherrscht hatte, den jüngeren Sohn nicht allzu sehr zu verhätscheln.

Achtzehn Jahre danach verließen Eleonora und ihre Familie die große Straße nördlich von Florenz. In unendlichen Kurven schlängelte sich der Weg zwischen Eichen und Kastanien hindurch immer weiter in den Apennin hinein. Eleonora klebte am Fenster der Heckflosse, sog die Namen der wenigen Orte in sich ein, die sie durchquerten, Covigliano, Pagliana, sie spürte ihrem Klang nach, versuchte, sich alle zu merken. Als ihr Vater plötzlich den Motor drosselte und auf einen Feldweg steuerte, um zu parken, holte sie das recht brutal in die Wirklichkeit zurück.

»Nach dem Ortsschild noch 200 Meter, dann rechts in einen Feldweg abbiegen«, hatte es in der Beschreibung geheißen, die ihrem Vater von der Deutschen Kriegsgräberfürsorge geschickt worden war und die ihn zum Grab seines Bruders führen sollte. Es war die letzte Gelegenheit, das Originalgrab zu sehen. Demnächst würden Alfons’ Überreste umgebettet werden, auf einen großen Soldatenfriedhof.

Und dann standen sie vor dem Grab, Eleonoras Vater ganz vorne nahm den Hut ab, den er immer trug. Ihre Mutter stand ein paar Schritt hinter ihm. Wie so oft, wenn sie in Gedanken war, hatte sie sich nach einer Handvoll Erde gebückt und ließ sie jetzt zwischen den Fingern zu Boden rieseln. Die Schwestern hielten Abstand. Und dann, Eleonora konnte es kaum glauben, sah sie ihren Vater, den hinkenden Rittmeister a. D., vor dem Kreuz salutieren, das da mehr in der Erde hing, als dass es stolz in die Höhe ragte, und blickte sich entsetzt in alle Richtungen um aus Angst, es könne ihn jemand gesehen haben. Sie musste sich auf die Zehenspitzen stellen, um ihrer Schwester ins Ohr zu flüstern: »Hast du das gesehen? Das kann er doch nicht machen!«

Sie war empört, vor allem, als Rosemarie beschwichtigend den Finger auf die Lippen legte und ebenfalls im Flüsterton zurückgab: »Nun lass ihn doch, du musst das verstehen.«

»Nein! Muss ich nicht. Dieses ganze militärische Gehabe …« Eleonoras Stimme hob sich unwillkürlich und wurde von dem knallenden Geräusch unterbrochen, das ihres Vaters Hacken machten, die er jetzt zusammenschlug, als er ein weiteres Mal zum Abschied von der trostlosen Ruhestätte die durchgestreckten Finger an die Stirn führte. Dann näherte er sich seinen Töchtern, bebend die Unterlippe. Aber nicht vor Trauer, zu trauern war noch nie seine Stärke gewesen, sondern vor Zorn. »Verdammt sollen sie sein! Verdammt! Sie haben ihn umgebracht!«

Eleonoras Mutter war kaum in der Lage, ihm zu folgen, als er so forschen Schrittes auf die Mädchen zusteuerte, und Eleonora konnte an ihrem Gesicht ablesen, dass sie ebenso peinlich berührt war wie sie selbst. Und doch traute sie sich nicht, mäßigend auf ihren Mann einzuwirken. Eleonora, ohnehin abgestoßen von jeglichem soldatischen Habitus, fühlte sich erst recht herausgefordert durch die offenkundige Schwäche ihrer Mutter und baute sich vor ihrem Vater auf.

»Wer soll ihn umgebracht haben?«

»Ach«, ihr Vater machte eine wegwerfende Handbewegung, »du hast doch keine Ahnung!« Er schob sie zur Seite und marschierte zackig an ihr vorbei in Richtung Auto, doch Eleonora – sie hätte selbst nicht genau sagen können, was sie eigentlich ritt – schüttelte Rosemaries Hand ab, die noch versuchte, sie zu bremsen, und lief ihm und ihrer Mutter nach. Die Eltern hatten den Mercedes erreicht, und ihr Vater schloss gerade die Autotür auf, als sie ihn stellte und noch einmal fragte: »Also, wer hat ihn umgebracht?«

»Was willst du eigentlich?« Er ließ den Schlüssel im Türschloss stecken, wandte sich ihr zu und knurrte gefährlich: »Was genau willst du mir sagen?«

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