José Ribeaud
Vier Sprachen,
ein Zerfall
Wie die Schweiz ihren
wichtigsten Vorteil verspielt
Aus dem Französischen
von Caroline Gutberlet
Nagel & Kimche
Der Verlag dankt der Pro Helvetia, Schweizer Kulturstiftung und der Oertli-Stiftung für ihre freundliche Unterstützung.
Titel der Originalausgabe: La Suisse plurilingue se déglingue. Plaidoyer pour les quatre langues nationales suisses
© 2010 Éditions Delibreo/Alphil, Neuchâtel
Die französische Vorlage wurde für die deutsche Ausgabe vom Autor gekürzt und aktualisiert.
ISBN 978-3-312-00591-8
© 2013 Nagel & Kimche im Carl Hanser Verlag München
Satz: Gaby Michel, Hamburg
Umschlaggestaltung: David Hauptmann, Hauptmann & Kompanie Werbeagentur, Zürich
Herstellung: Andrea Mogwitz und Rainald Schwarz
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Datenkonvertierung E-Book:
Kreutzfeldt digital, Hamburg
Inhalt
Offener Brief an die Deutschschweizer
Bitte sprecht Deutsch mit uns!
Vernachlässigung und Gleichgültigkeit
Dialekt im schweizerdeutschen Fernsehen
Mit schlechtem Beispiel voran: die Bundesämter
Die neue Mundartwelle ist anders
Die Angst vor den alten Dämonen
Das Prestige der schweizerdeutschen Mundarten
Das ewige deutsche Einwandererlied
Dialektvielfalt und Einheitssprache
Die Anglomanie: eine ansteckende Krankheit
Der Mehrwert der Mehrsprachigkeit
Die Schweiz als schlechtes Beispiel
Ein Sprachengesetz aus der Mottenkiste
Gegen alle Widerstände: das HarmoS-Konkordat
Ein Westschweizer Bildungsraum
Mehrsprachigkeit an den staatlichen Europa-Schulen
Eine mühsame Errungenschaft: die mehrsprachige Eidgenossenschaft
Vielsprachigkeit als Vorteil und Bürde
Diskriminierung der Sprachminderheiten
Italianität: unterschätzte Sprache und Kultur
Französisch gehört nicht Frankreich allein
Einleitung
Noch ein Buch über die Sprachen in der Schweiz? Welche neuen Erkenntnisse soll das bringen? Eigentlich wurde doch schon alles gesagt. In den letzten fünfzig Jahren haben wir das Sprachenthema lang und breit diskutiert, und spätestens 2007, als das Parlament ein neues Bundesgesetz über die Landessprachen und die Verständigung zwischen den Sprachgemeinschaften annahm, hat es sich erledigt. Der verabschiedete Text ist zwar nicht der Weisheit letzter Schluss, da der Gesetzgeber auf ein Primat der Nationalsprachen verzichtete, aber verglichen mit der alten Gesetzgebung bedeutet es einen Fortschritt. Außerdem bezog doch der Bundesrat durch seine klare Absage an jede neue Debatte über dieses Thema eindeutig Stellung – und kapitulierte vor dem Englischen. Und schließlich haben die Kantone einen allgemeinen Rahmen für die Harmonisierung des Fremdsprachenunterrichts geschaffen.
Warum also mein dringender, fast schon verzweifelter Appell zur Rettung der Nationalsprachen? Welche Motive liegen in dieser Insistenz?
Es ist die einfache Tatsache, dass Heuchelei, Phrasendrescherei und Zögerlichkeit zum ganz normalen Umgang der Exekutive mit diesem Thema geworden sind. Denn in Wahrheit ist der Dialog zwischen den Sprachgemeinschaften zu Ende, die zunehmende Einigung auf das Englische nur eine Scheinlösung, der nationale Zusammenhalt eine Fiktion, die betreffenden Statistiken sind Augenwischerei. Die Mehrsprachigkeit der Schweizer ist eine Illusion. Der Sprachenfrieden beruht auf einem brüchigen politischen Konsens. Bisweilen reicht eine einzige Entscheidung, wie etwa der Beschluss des Kantons Zürich, dem Englischen gegenüber dem Französischen im schulischen Sprachunterricht den Vorrang zu geben, oder ein einziger Satz wie etwa dieser: «Die Romands sind das Problem, weil sie kein Schwyzertütsch lernen wollen», um eine Gereiztheit zu erzeugen, die anderswo, etwa in Belgien, den nationalen Zusammenhalt ernsthaft gefährden würde.
Sprachen sind nicht neutral. Sie verkörpern Kulturen, prägen Mentalitäten, schaffen Vorlieben, rühren an Empfindlichkeiten, drücken Gefühle aus und transportieren Denkweise, Lebensart und Weltanschauung. Sie beeinflussen und bestimmen sogar, wie die Bürger den Staat und sein Verhältnis zum Einzelnen und zur Gesellschaft verstehen.
Denn Sprachen sind nicht nur ein Instrument, um sich mitzuteilen, sich verständlich zu machen, Ideen, Argumente und Forderungen, Wahrnehmungen und Empfindungen auszudrücken. Das beweisen die jedesmal neu entfachten Diskussionen, Intrigen, Polemiken und Machtspielchen vor der Wahl eines neuen Bundesrats. Durch die unsinnigen Rivalitäten sind selbst die lateinischen Minderheiten oft nicht imstande, sich auf einen gemeinsamen Kandidaten zu einigen. Stattdessen riskieren sie, dass die Repräsentanz der Sprachminderheiten weiter geschwächt wird.
Dabei gibt es sie doch, die ideale sprachlich-kulturelle Zusammensetzung der Zentralregierung. Sie hat sich schon bewährt. Sie besteht aus vier Germanophonen, zwei Frankophonen und einem Italophonen (oder Rätoromanen). Damit diese Konstellation sich durchsetzen kann, müssen jedoch mindestens zwei Bedingungen erfüllt sein: Erstens müssen die Deutschschweizer verstehen, dass der Zusammenhalt des Landes ein Entgegenkommen ihrerseits gegenüber den Sprachminderheiten erfordert; zweitens müssen die Lateiner sich auf Persönlichkeiten einigen, die in der Lage sind, die politischen Institutionen der Schweiz zu repräsentieren und sogar zu reformieren, die dem Mediendruck standhalten und sich in eine kollegiale Staatsführung einbringen, indem sie den Konsens suchen, statt Populismus zu betreiben.
Wenn diese Bedingungen erfüllt wären, könnten die Psychodramen, die sich für gewöhnlich vor einer Nominierung abspielen, in Zukunft vermieden werden. Die kulturelle und sprachliche Repräsentanz der Regierung könnte gestärkt, die Spannungen durch die Identifizierung der Sprachregionen mit «ihrem» Bundesrat oder «ihrer» Bundesrätin könnten entschärft werden. Auch die Exekutive könnte für die eklatante Unterrepräsentanz von französisch- und italienischsprachigen Beamten in den Schlüsselpositionen der Bundesverwaltung sensibilisiert werden. Und schließlich ließe sich dadurch im Zusammenhang des Entwurfs und der Abfassung der Bundesgesetze ein gewisses Gleichgewicht zwischen den Nationalsprachen wiederherstellen. Denn auch in diesem Bereich werden die Minderheitensprachen ganz offensichtlich übergangen.
All das setzt jedoch Klarheit voraus bei der Frage, was eine Sprache, eine regionale Mundart, was Dialekt oder Patois sei. Daher ist es wichtig für die Schweiz, ein für allemal festzulegen, ob das meistgesprochene Idiom, das Schwyzertütsch, als Sprache – also zwangsläufig als Schreibsprache – angesehen werden soll und als solche auf die Liste der verfassungsmäßigen Nationalsprachen gehört. Oder ob es sich um einen seinem Wesen nach mündlichen Dialekt mit vielen Varianten handelt. Und als solcher natürlich eine Muttersprache inmitten von vielen ist – und damit die natürliche Ausdrucksform für Gefühle und Stimmungen, Herzensdinge und Privates.
Die Welschen strengen sich in durchaus löblicher, aber unzureichender Weise an, das Hochdeutsche zu erlernen, von dem behauptet wird, es sei die Sprache der Mehrheit der Schweizer (bei rund 4,4 Millionen Deutschschweizern und 1,5 Millionen Angehörigen der lateinischen Sprachminderheiten). Eine irreführende Behauptung, genau wie die, es gebe eine Diglossie der Deutschschweizer, eine Zweisprachigkeit mit Dialekt als gesprochener und Deutsch als Schriftsprache. Die Rätoromanen führen ihrerseits einen zermürbenden Kampf um das Überleben einer Sprache, die mit fünf regionalen Idiomen gerade mal 30000 Menschen gemein haben. Die Italienischschweizer bemühen sich währenddessen vergeblich darum, auf unserer Seite des Gotthards Gehör zu finden, unabhängig davon, welche Nationalsprache sie mit Charme und Talent sprechen.
In diesem ganzen Sprachgewirr wiegen sich die Deutschschweizer in der Illusion, dass ihr Schweizerdeutsch eine Nationalsprache sei, die sie ruhigen Gewissens der guten Million Ausländer, die bei ihnen arbeiten, aber auch den Schweizern der Sprachminderheiten, die sich mit ihnen unterhalten wollen, aufzwingen könnten. Viele sind davon überzeugt, dass an den Schulen dem Englischen der Vorrang gegeben werden muss und dass das Swiss English dem gesamten eidgenössischen Volk als gemeinsame Sprache verordnet werden sollte.
«Sie übertreiben», wenden auf beiden Seiten des Röstigrabens die Soziologen vom Dienst und gutmeinende, aber schlecht informierte Journalisten ein. «Die Lage ist gar nicht so düster, wie Sie behaupten. Schauen Sie sich die Statistiken an! Sie zeigen, dass es mit dem Französischen eher aufwärts geht, während das Deutsche stagniert. Und was die Deutschschweizer angeht: Es ist ihr gutes Recht, ihre Muttersprache zu sprechen und nicht die Stiefmutter-Sprache des nördlichen Nachbarn. Es ist an Ihnen, Schwyzertütsch zu lernen, wenn Sie Beziehungen mit ihnen unterhalten und Geschäfte mit ihnen machen wollen.»
Worauf die Sachwalter der eidgenössischen Eintracht hinzufügen, die Deutschschweizer seien doch gar nicht so sprachunbegabt, wie immer behauptet wird: «Sie lesen doch deutsche Zeitungen! Hören Nachrichten auf Hochdeutsch im Rundfunk und im Fernsehen! Selbst die Kinder sehen sich schon im zartesten Alter Sendungen auf deutschen Kanälen an. Vor diesem Hintergrund zu behaupten, dass die Nationalsprachen gefährdet seien, grenzt an Ignoranz und Boshaftigkeit.»
So wiegen wir uns in der Illusion, in der viersprachigen Schweiz sei alles zum Besten bestellt. Und tatsächlich liegt es mir fern, irgendwem den Schwarzen Peter zuzuschieben. Durch die Schilderung persönlicher Erfahrungen und anhand von Erlebnissen, Anekdoten, Fakten und Interviews möchte ich vielmehr zeigen, wie wenig Interesse die Deutschschweizer für die anderen Sprachgemeinschaften aufbringen, weil sie viel zu sehr damit beschäftigt sind, ihre eigenen Dialekte zu sprechen und Englisch zu lernen. Darüber hinaus macht sie der Erfolg der nationalistischen Blocher-Anhänger in der Romandie glauben, dass wir alle Deutschschweizer sind und folglich alle Schwyzertütsch lernen müssten.
In den Augen dieser Patrioten ist die Einforderung des Deutschen für den nationalen Zusammenhalt ein Widersinn, eine welsche Erfindung, eine Überspanntheit! Im Dialekt sei immerhin ihre Sprachidentität verankert. Aber welcher Dialekt ist eigentlich gemeint, bei den vielen Spielarten, die es davon gibt? Nicht zuletzt dank dieser Unklarheit gibt es ja den Vorschlag, für eine «eidgenössische Sprachidentität» das Englische zu nehmen.
Was für eine Idee! Und leider die traurige Bilanz von fünfzig Jahren Palaver, patriotischer Reden, akademischer Debatten und wissenschaftlicher Publikationen über die Schweizer Vielsprachigkeit, von der bis zum Überdruss behauptet wird, sie sei Bestandteil der nationalen Identität und einer der Grundpfeiler – neben der Neutralität, der direkten Demokratie und dem Föderalismus – des «Sonderfalls» Schweiz.
Die Schweiz ist das einzige Land, das sich etwas darauf einbilden kann, an den drei großen Sprachen und Kulturen teilzuhaben, die das Fundament der heutigen europäischen Gemeinschaft bilden: der deutschen, der französischen und der italienischen. Im europäischen Mosaik bietet die Schweiz auf begrenztem Raum die originellste, repräsentativste und reichste Sprachensynthese, die Teil des Geschichts- und Kulturerbes unseres Kontinents ist. Und dann wird der mehrstimmige Kanon der Schweiz noch durch das Rätoromanische komplettiert, dessen Zugehörigkeit zur romanischen Sprachfamilie nicht nur den deutschsprachigen Nachbarn, sondern selbst den französisch- und italienischsprachigen «Verwandten» häufig nicht bekannt ist. Dabei sind die Rätoromanen das älteste Volk der Alpenregion. Sie sind die Minderheit, über die man am wenigsten weiß, die am wenigsten Aufsehen erregt und die in ihrer Existenz am meisten bedroht ist.
Diese sprachlichen, historischen und kulturellen Besonderheiten haben mehr verdient als Verachtung durch die einen, Gleichgültigkeit durch die anderen oder Kapitulation seitens der Politiker. Denn die Bevorzugung des Angloamerikanischen an den Schulen, wie sie in der Zentral- und Ostschweiz unter dem Einfluss der Wirtschaftsmetropole Zürich betrieben wird, kann sich, soviel steht fest, nur zum Nachteil der Nationalsprachen auswirken. Diese Entwicklung dürfte sich durch die Verankerung der Mundart in den Kindergärten (Zürcher Volksabstimmung vom 15. Mai 2011) beschleunigen. Denn das bedeutet zum einen, dass die Deutschschweizer noch weniger Wert auf die Beherrschung des Hochdeutschen legen werden – und damit zwangsläufig auch des Französischen und Italienischen. Zum anderen führt es dazu, dass die Schweizer, die sich für das Angloamerikanische als Verständigungssprache untereinander entschieden haben, was in Wirtschafts- und Universitätskreisen bereits der Fall ist, nicht mehr wissen werden, wer sie sind und warum sie zusammenleben.
Diese Feststellung wird durch das Ergebnis des 2009 vom Nationalen Forschungsprogramm veröffentlichten Berichts NFP 56, «Sprachenvielfalt und Sprachkompetenz in der Schweiz», nicht widerlegt. Und der Themenkomplex wurde nie zuvor in derartigem Umfang analysiert. Mit einem Budget von acht Millionen Franken haben sechsundzwanzig Forschungsteams aus allen Schweizer Universitäten, vier Fachhochschulen und einem Privatunternehmen über drei Jahre hinweg die Vielfalt der Schweizer Nationalsprachen untersucht, insbesondere unter den Aspekten: nationaler Zusammenhalt, Sprachunterricht an Schulen, Rentabilität der Sprachen von Einwanderern, Vielsprachigkeit als Ressource für die Wirtschaft, Erhalt der Minderheitensprachen und (am Rande) Sonderstellung des Englischen und allgemeine Verbreitung der schweizerdeutschen Mundart. Leider sind die Ergebnisse zu den zwei letztgenannten Punkten äußerst dürftig. Das Thema Schweizerdeutsch wurde erst gar nicht behandelt. Wogegen der Vorschlag, Englisch in den Rang einer Teil-Nationalsprache zu erheben, nicht nur abwegig und ungerecht ist, sondern unlogisch und kontraproduktiv, etwa für die Integration der hier lebenden Ausländer und für den Nutzen, den diese ausländischen Gäste aus der helvetischen Vielsprachigkeit ziehen können. Es erscheint mir daher notwendig, die akademische Debatte zu verlassen, um die Viersprachigkeit der Schweiz unvoreingenommen und sachlich anhand persönlicher Erfahrungen und vieler Gespräche zu beleuchten.
Offener Brief an die Deutschschweizer
Bitte sprecht Deutsch mit uns!
Liebe Landsleute,
mehr als vierzig Jahre (von April 1966 bis Juni 2007) habe ich mit Frau und Kindern unter euch gelebt. Zugegeben, ein paar Mal bin ich euch ein wenig untreu geworden. Da waren die sechs Jahre, die ich im zweisprachigen Kanton Freiburg verbrachte, und die knapp zwei Jahre auf Madagaskar. Aber ich kam immer wieder zurück. Ich habe mich hier sehr wohl gefühlt. Alles hat gut gepasst.
Mit euch war ich privat glücklich und die meiste Zeit beruflich erfüllt. Es war ein Glück für mich, meinen Beruf als Journalist bei euch ausüben zu können, «jenseits der Saane», wie meine welschen Freunde zu sagen pflegen, wenn sie die Mischung aus Distanz, Furcht und Respekt vor dem Unbekannten ausdrücken wollen.
Meine Aufgabe als Beobachter des Lebens und Treibens in der deutschen Schweiz, aber auch in der rätoromanischen und in geringerem Maß in der italienischen Schweiz, im Auftrag der Télévision Suisse Romande über einen Zeitraum von einem Vierteljahrhundert (1966 bis 1990) war äußerst spannend und befriedigend. So möchte ich euch von Herzen für den warmen Empfang, eure Sympathie und eure Geduld danken.
Der Ehrlichkeit halber muss ich hinzufügen, dass ich der einzige Anwärter auf diesen Posten war. Kein anderer Journalist aus der Romandie konnte sich damals vorstellen, an die Limmat zu ziehen. So erhielt ich den Auftrag ohne große Anstrengung und sah ihm mit Freude und Neugierde, aber auch ein bisschen ängstlich entgegen.
Ihr habt mich verwöhnt. Wie oft las ich in euren Augen oder vernahm aus eurem Munde vertrauliche oder bedauernde Aussagen wie «Sie armer Journalist aus der Romandie interessieren sich für uns, aber fühlen Sie sich nicht entwurzelt, verloren, unglücklich?» oder «Was finden Ihre Zuschauer bloß an unserem banalen Leben und unseren seltsamen Gebräuchen?» Aber, liebe Landsleute, es gibt keinen Grund, solche Komplexe zu haben. Leidenschaftlich gern war ich bei euren – leider fast verschwundenen – Landsgemeinden dabei und habe über sie berichtet, oder bei eurer Fasnacht, euren Almabzügen, euren Volksfesten, euren patriotischen und religiösen Feiern, euren Sport- und Kulturveranstaltungen, euren Bauprojekten, euren politischen Debatten, euren Festivitäten …
Ihr habt mich aber nicht nur auf Feste eingeladen. Ich war einer der ersten Journalisten, die bei dem Basler Chemieunfall in Schweizerhalle vor Ort waren, ich war auf Demos vor dem Globusprovisorium und der Oper in Zürich oder bei Protesten gegen das akw Kaiseraugst, ich berichtete über terroristische Attentate und verbrachte mehrere Tage bei den Drogenkranken auf dem Platzspitz. Die Reportage, die hier entstand, ging fast weltweit über die TV-Bildschirme. Ich machte Porträts von besonderen, berühmten und von unbekannten Menschen. Ich traf Bauern, die gegen die Einrichtung von Waffenplätzen und den Bau von Autobahntrassen kämpften. Ich begleitete zwei Königinnen, einen König und einen Papst sowie die Präsidenten François Mitterrand, Richard von Weizsäcker und Sandro Pertini auf ihren Reisen zu euch. Ich versuchte, meinen Zuschauern die hiesigen wirtschaftlichen Umbrüche zu erklären, die Bankenfusionen, die medizinischen Errungenschaften und technologischen Erfindungen, oder gewaltige Leistungen wie den Durchbruch des Gotthardtunnels. Ich berichtete aus den Kantonsparlamenten der Deutschschweiz und des Tessins. Und informierte dann noch fünfzehn Jahre lang das Publikum der Romandie über die Sessionen der Bundesversammlung in Bern.
Auf kulturellem Gebiet war es auch sehr spannend. Ich nahm an den legendären Aufführungen der Stücke von Friedrich Dürrenmatt und Max Frisch am Schauspielhaus Zürich teil. Zwanzig Jahre lang gehörten die großen Kunstausstellungen in der Deutschschweiz und im Tessin zu meinem Ressort. Ich berichtete über spektakuläre Prozesse, Fälle von Geldwäscherei, Naturkatastrophen, Unfälle, Brände, Staus, Entgleisungen, Krawalle. Als Patriot und Romand – oder Welscher – vom Dienst durfte ich sogar dreimal die Nationalfeiertagsrede am 1. August halten: in Schaffhausen, in Fällanden und in Einsiedeln.
Mein Leben war also alles andere als betrüblich oder langweilig. Ich war ganz in meinem Element und fühlte mich bei euch kein bisschen fremd. Manchmal ein bisschen wie ein Voyeur, das brachte der Beruf so mit sich, aber weder ausgegrenzt noch ausgeschlossen noch abgelehnt. Im Gegenteil, bei meinen Begegnungen mit Politikern, Richtern, Bankiers, Künstlern, Gewerkschaftern, Landwirten, Unternehmern erfuhr ich gelegentlich Dinge, die man meinen Kollegen vom Schweizer Fernsehen vorenthielt. Aus Sympathie, sicher auch ein bisschen aus Mitleid «für den Journalisten aus der Romandie, der sich für uns interessiert».
Ich war überzeugt, bei euch trumpfen zu können mit meinen Kenntnissen der deutschen Sprache – ihr nennt sie «Schriftdeutsch» –, die ich mir während eines einjährigen Aufenthalts als Französischlehrer in der Hansestadt Lübeck angeeignet hatte. So war ich auch in Bari für mein Italienisch und in London für mein Englisch vorgegangen. Ich sagte mir, dass die Tore zum Journalistenberuf, den ich ergreifen wollte, sich sicher bereitwilliger öffnen würden, wenn ich drei oder vier europäische Sprachen beherrschte. Leider hat mir mein Hochdeutsch in Zürich nicht nur Sympathien eingebracht, und es eignete sich nicht immer als Türöffner. Da war es gut, dass ich meinen starken französischen Akzent nie ablegen konnte! Wer euch nämlich auf Hochdeutsch anspricht, bringt sich sofort in eine missliche Lage und riskiert eure Antipathie, zuweilen sogar unverhohlene Feindseligkeit.
Die Missverständnisse begannen gleich am ersten Tag nach meiner Ankunft. Ich bot meiner Etagennachbarin an, sie in die Stadt mitzunehmen. «Wo möchten Sie hin?», fragte ich sie. «I gang go poschte», war ihre Antwort. Als ich ein Postamt erblickte, hielt ich an und nickte erwartungsfroh hinüber. Ich wusste eben noch nicht, dass «go poschte gah» auf Züritütsch «einkaufen gehen» bedeutet. Später haben wir über dieses Missverständnis köstlich gelacht. Aber es war der Auftakt zu weitaus unangenehmeren Fehltritten.