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Wacholderglück

hier erhältlich:

Daisy ist eine Weltenbummlerin. Solange sie reist, ist sie glücklich. Allerdings hat ihr Großonkel ihr jetzt ein wunderschönes altes Bahnhofsgebäude vererbt. Bei dem Gedanken an den renovierungsbedürftigen Bau hat Daisy sofort Hunderte Ideen, was man daraus machen kann. Doch es gibt eine Bedingung: Um das Erbe anzutreten, muss sie ein Jahr lang in Ottercombe Bay bleiben, dem Ort, in dem so viele Erinnerungen auf Daisy warten, die sie lieber vergessen würde. Kann sie die Geister der Vergangenheit besiegen, ihre Angst Wurzeln zu schlagen überwinden und endlich das wahre Glück finden?

»Ich verschlinge Bella Osbornes Bücher!« Katie Fforde

»Absolut fantastisch. Lustig, herzergreifend, unterhaltsam und ich konnte es einfach nicht aus der Hand legen. Es ist der perfekte Sommerroman« Phillipa Ashley


  • Erscheinungstag: 16.09.2019
  • Seitenanzahl: 304
  • ISBN/Artikelnummer: 9783745750294
  • E-Book Format: ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Wacholderglück

Geschichten schreibt Bella Osborne, seit sie denken kann, doch für 2013 nahm sie sich vor, in diesem Jahr ihren ersten Roman fertigzustellen.

2016 kam ihr Debütroman, It Started at Sunset Cottage, in die engere Auswahl für zwei Literaturpreise, den Contemporary Romantic Novel of the Year und den RNA Joan Hessayon New Writers Award.

In Bellas Geschichten geht es um Freundschaft, Liebe und die Kunst, Probleme und Herausforderungen zu bewältigen. Sie sieht die düsteren Momente des Lebens gern mit Humor, was sie in ihre Geschichten einflechtet. Bellas Meinung nach macht nichts so viel Spaß, wie eine Geschichte niederzuschreiben, die man sich ausgedacht hat, dicht gefolgt davon, Gespräche zu führen, Schokolade zu essen, Sekt zu trinken und Urlaubsreisen zu planen.

Sie lebt in den Midlands, UK, mit ihrem großartigen Ehemann und ihrer wundervollen Tochter, die sie zum Glück beide so akzeptieren, wie sie ist (mit morgens vom Schlaf zerzausten Haaren und einem Faible dafür, im Sperrmüll nach brauchbaren Dingen zu suchen).

Danksagungen

Zunächst einmal bedanke ich mich bei meiner Lektorin, Rachel Faulkner-Willcocks, für die großartige Arbeit, die sie an diesem Buch geleistet hat, und bei Sabah Khan, Elon Woodman-Worrell und dem fantastischen Team bei Avon für ihrer aller Unterstützung. Ich danke meiner Agentin Kate Nash, die mir jederzeit Rückhalt bietet, und ein ganz besonders großes Dankeschön geht an Kim Leo für ein weiteres fantastisches Buchcover.

Mein spezieller Dank geht an Henry Yates von Burleigh’s Gin und an Graham Pound und die Angestellten vom Seven Stars Public House in Rugby, die ihr enormes Wissen über Gin mit mir geteilt haben. Darüber hinaus bedanke ich mich bei jedem, der mich so begeistert bei meinen Gin-Recherchen unterstützt hat – ich habe das Gefühl, wir haben ganze Arbeit geleistet.

Herzlichen Dank an die wunderbaren Menschen von der RNLI, an Sarah von der Devon Bat Group (die keinerlei Ähnlichkeit mit Tabitha aufweist, falls diese Frage aufkommen sollte) und an Christie von der National Bat Helpline – jawohl, so etwas gibt es wirklich!

Mein Dank geht an Morton Gray für ihre Tarot-Kenntnisse, und ich danke meiner Nichte Emma dafür, überprüft zu haben, dass meine Ausdrucksweise nicht veraltet klingt und jenseits von Gut und Böse ist.

Und wie immer danke ich von ganzem Herzen all meinen Autoren-Freunden – ich hoffe, Ihr wisst, wer Ihr seid, denn Ihr seid viel zu viele, als dass ich Euch in diesen Danksagungen einzeln nennen könnte!

Mein Dank geht an all die fantastischen Blogger – ihr seid fabelhaft, und das sind auch all die reizenden Leser, die weiterhin meine Bücher kaufen und Rezensionen schreiben. Das bedeutet mir wirklich unendlich viel.

Das dickste Dankeschön habe ich mir für den Schluss aufgehoben. Ich danke meiner wunderbaren Familie dafür, dass sie mir eine unerschütterliche Stütze ist und die Stimmen in meinem Kopf akzeptiert. Ich liebe Euch so sehr, dass es die Grenzen der Vernunft überschreitet.

Für meine Mum – danke.

Kapitel 1

Daisys Hintern fühlte sich nach der vierstündigen Fahrt auf einem alten Motorrad an, als gehöre er jemand anderem. Obwohl ein hübsches Ortsschild sie willkommen hieß, wurde Daisy von einer lange verdrängten Traurigkeit beschlichen, die über sie hinwegkroch wie Frost über eine Fensterscheibe. Nach Ottercombe Bay zurückzukehren, war ein großer Fehler. Wenn mir doch nur eine andere Wahl bliebe, dachte sie.

Urplötzlich trat ein attraktiver Mann in einer unansehnlichen Warnweste auf die Straße, stellte sich Daisys Motorrad in den Weg und riss Daisy aus ihren Gedanken. Hastig scherte sie zur Seite aus und stieg in die Bremse. Stotternd kam das uralte Gefährt zum Stehen.

»Sie können hier nicht durchfahren«, sagte der junge Mann und verschränkte seine muskulösen Arme vor seinem in Leuchtfarbe erstrahlenden Brustkorb.

»Bitte«, erwiderte sie und bedachte ihn mit dem breitesten Grinsen, zu dem sie in diesem Moment fähig war; in ihrem Hirn rotierte es, weil sie sich zu erinnern versuchte, warum ihr der dunkle Wuschelkopf des Mannes irgendwie bekannt vorkam.

Er straffte die Schultern. »Auf gar keinen Fall.«

Trotzig klappte Daisy das Visier ihres Motorradhelms hoch; so leicht ließ sie sich nicht einschüchtern. »Seien Sie nicht albern. Ich muss in die Trow Lane.« Mit sehnsüchtigem Blick schaute sie die Hauptstraße entlang, die sich vor ihr auftat. Sie war nur drei Querstraßen von ihrem Ziel entfernt.

»Sie werden außen herumfahren müssen.« Der Mann schaute Daisy mit forschendem Blick an. »Kenne ich Sie?«, wollte er wissen und runzelte für einen kurzen Moment die Stirn, was seinem von der Sonne gebräunten Gesicht einen missbilligenden Ausdruck verlieh.

»Das bezweifele ich. Schauen Sie, es wäre blödsinnig, einen Umweg von mehreren Kilometern zu fahren. Ich muss ja nur dorthin«, sagte sie und zeigte mit dem Finger auf die entsprechende Querstraße. Daisy war müde nach ihrer langen Reise und würde sich von diesem aufgeblasenen Arbeiter sicher nicht herumkommandieren lassen. Zumal sie keinen Grund dafür erkennen konnte, dass die Straße an einem sonnigen Samstagabend Ende Juni gesperrt war.

Sie ließ den Motor ihrer Maschine aufheulen, doch der Warnwestenmann stellte sich vor den Vorderreifen und versperrte ihr den Weg. Zornig starrten sie einander an. Wieder brachte Daisy den Motor zum Aufheulen, und dieses Mal sorgte sie dafür, dass das Motorrad ein paar Zentimeter nach vorn hüpfte. Er zuckte nicht einmal mit der Wimper. Dass sich ganz in der Nähe eine Menschenmenge versammelte, bekam sie nur aus den Augenwinkeln mit. Im nächsten Moment hörte sie es dann – ein schepperndes Geräusch in der Ferne. Wütend blitzte sie den Mann an, der ihren Blick ebenso wütend erwiderte. Die scheppernden Geräusche kamen näher, und Daisy erkannte einen Trommelrhythmus, begleitet von etwas, das wie das Tröten eines unbedarften Elefanten klang. Im nächsten Moment erblickte sie die Wimpelketten, mit denen man die Straße geschmückt hatte. Und da ging ihr endlich ein Licht auf – es war der Abend des Karnevalsumzugs. Er hatte recht: Dass sie heute Abend mit ihrem Motorrad durch die Stadt fuhr, war absolut unmöglich. Mit Wucht klappte sie das Visier ihres Helms wieder herunter, entschuldigte sich mürrisch und fuhr dann mit quietschenden Reifen davon. Warnwestenmanns selbstzufriedene Reflexion im Rückspiegel wurde dabei von einer Wolke aus stinkendem schwarzem Rauch eingehüllt.

Daisy war immer noch sauer, als sie vor dem Sea Mist Cottage vorfuhr. Sie stellte das Motorrad ab und riss sich den Helm vom Kopf und den schweren Rucksack von den schmerzenden Schultern. Das Ganze fing gar nicht gut an, was nur eine weitere Bestätigung dafür war, dass sie nicht hätte zurückkommen sollen. Sie drehte sich um und ließ ihren Blick über das Cottage schweifen. Es war, als sei sie mit einer Zeitmaschine in die Vergangenheit gereist – das Haus hatte sich überhaupt nicht verändert. Als kleines Mädchen hatte Daisy sich immer eingebildet, ein trauriges Gesicht zu sehen, wenn sie auf das uralte Gebäude schaute. Dieses überhängende Strohdach sah aus wie schwere buschige Augenbrauen, und die symmetrischen Fenster wirkten wie Augen, deren halb heruntergezogene Jalousien schlaffen Augenlidern ähnelten. Die schlichte Eingangsveranda ragte hervor wie eine nachträglich angebaute Nase, und der kleine Haustür-Mund seufzte den wenige Schritte entfernten Bürgersteig an. Sie erinnerte sich, dass die Tür immer leicht geklemmt hatte, aber das war Jahre her, sie war in der Zwischenzeit sicher repariert worden. Hinter der Milchglasscheibe näherte sich eine Silhouette, deren Besitzerin dem Rahmen einen Stoß versetzte und im nächsten Moment nach draußen stolperte.

»Daisy, Liebes. Du hast es geschafft«, rief Tante Coral und schloss Daisy fest in die Arme. Es war lange her, dass irgendein Mensch sie so umarmt hatte. Daisy hatte vergessen, dass man Tante Corals Umarmungen nicht entrinnen konnte.

»Lass mich dich anschauen.« Tante Coral schob Daisy auf Armlänge von sich weg. Daisy schüttelte ihre karamellblonden Haare aus, die während der letzten vier Stunden unter dem Helm wie in einen Kokon eingezwängt gewesen waren.

Tante Coral kamen die Tränen. »Oh, Daisy, eine wunderschöne junge Frau ist aus dir geworden.« Sie biss sich auf die Unterlippe. »Und du siehst deiner Mutter so ähnlich.«

Bei der Erwähnung ihrer Mutter spürte Daisy wieder, wie die Trauer sie beschlich. Obwohl inzwischen so viele Jahre vergangen waren, tat es immer noch weh, als sei es erst gestern passiert. Das Gefühl von Verlust war genau das Gleiche ebenso wie das Gefühl von Leere, das sich in ihrem Inneren breitmachte. Für Daisy bestand Ottercombe Bay ausschließlich aus Traurigkeit und schlimmen Erinnerungen.

Nichtsdestotrotz rang sie sich ein Lächeln ab, denn sie wusste, dass das die Reaktion war, die von ihr erwartet wurde. Prompt strahlte Tante Coral noch mehr. »Es ist schön, dich zu sehen. Komm herein, und ich setze Wasser auf«, sagte sie und bedeutete Daisy mit einer Handbewegung, ins Haus zu gehen. Diese wollte gerade nach der Türklinke greifen, als sie ein erstickt klingendes Kläffen vernahm und sofort wieder zurückwich. Es folgte wildes Gebell, das die Ankunft eines kleinen schwarzen Hundes begleitete, der jetzt auf der anderen Seite der Tür auf und nieder sprang, als hüpfe er auf einem Pogostab.

»Sch, Bugsy Malone, sei jetzt still«, rief Tante Coral und schob sich hastig an Daisy vorbei. Sie zog die Tür auf, und das schwarze Hündchen schoss nach draußen und schnappte nach Daisys Stiefeln, woraufhin diese einen Satz rückwärts machte. »Na, na, na«, meinte ihre Tante und hob den protestierenden Hund, der Daisy weiterhin anbellte, mit Schwung vom Boden hoch.

»Was ist das?«, fragte Daisy und wich noch weiter von dem zähnefletschenden Bündel zurück, das sich aus dem Klammergriff ihrer Tante zu befreien versuchte. Daisy hatte nicht viel Ahnung von Tieren; sie hatte nichts gegen sie, und einige schienen recht niedlich zu sein, aber da sie ein Nomadenleben führte, hatte sie nie Gelegenheit gehabt, ein Haustier zu halten.

Tante Coral lachte leise vor sich hin. »Er ist ein Mops«, sagte sie und lief voraus ins Cottage hinein. Bugsy setzte seinen lautstarken Angriff dabei unbeirrt fort, und Daisy folgte den beiden mit großzügig kalkuliertem Sicherheitsabstand.

»Er wirkt nicht gerade glücklich«, rief Daisy, um das schrille Gekläffe zu übertönen.

»Er steht ein bisschen neben sich, seit dein Großonkel Reg gestorben ist. Die beiden waren ein Herz und eine Seele. Ich glaube nicht, dass der kleine Bugsy versteht, warum er nicht mehr da ist.« Tante Corals Stimme zitterte plötzlich. Im nächsten Moment räusperte sie sich und setzte Bugsy durch die Hintertür nach draußen, wo er für ein paar Sekunden von den Gerüchen des Gartens abgelenkt wurde. »So! Tee?«

»Ja, bitte. Mit Milch und einem Stück Zucker«, antwortete Daisy und behielt dabei mit einem Auge die Pfoten im Blick, die bereits versuchten, sich ihren Weg wieder ins Cottage zu bahnen.

In der Küche duftete es nach frisch gebackenem Biskuitkuchen. Gierig atmete Daisy den Duft ein, und sofort besserte sich ihre Laune. Sie stellte ihren Rucksack ab und setzte sich an den kleinen Küchentisch mit der blütenweißen Tischdecke darauf. Während Tante Coral sich um den Tee kümmerte, schaute Daisy sich um. Auch hier war es, als sei die Zeit stehen geblieben. Die Küche sah noch genauso aus wie damals, als Daisy noch ein Kind gewesen war; die einzigen Veränderungen, die ihr auffielen, waren das Gelb der einst blauen Wände und die Pinnwand aus Kork, die es früher nicht gegeben hatte und an der eine Vielzahl von Zetteln und Briefen hing. Daisys Blick fiel auf die letzte Postkarte, die sie aus Frankreich geschickt hatte, und sofort war ihre gute Laune wieder verflogen. Sie erinnerte sie an ihre Beziehung mit Guillaume, die in einer Katastrophe geendet hatte.

Daisy sah zu ihrem Rucksack, der neben ihr auf dem Fußboden stand. Abgesehen von dem Motorrad befanden sich all ihre Habseligkeiten in diesem Rucksack. Mehr gab es nicht. Ihr gesamter irdischer Besitz in einem Bündel. Daisy straffte die Schultern und gab sich einen Ruck. Genauso gefiel ihr das Leben doch. Keine Bindungen, nichts, das sie an einen Ort fesselte oder zurückhielt. Sie war frei wie ein Vogel, und so fühlte sie sich wohl. Tante Coral kam mit einem großen Tablett an den Tisch, auf dem eine Teekanne und zwei zerbrechlich aussehende Tassen und Unterteller standen. Sie nahm gegenüber von Daisy Platz und deutete auf den Rucksack. »Du hast also nicht vor, lange zu bleiben?« Traurigkeit spiegelte sich in Tante Corals Augen, als sie ihnen beiden Tee einschenkte.

»Nein, tut mir leid. Ich muss gleich nach der Beerdigung wieder weg.« Daisy konnte dem Blick nicht länger standhalten und griff nach der zierlichen Teetasse. Sie wusste nicht, wohin sie als Nächstes fahren würde. Sie hatte in Canterbury in einer Jugendherberge gewohnt und sich von einem Job zum anderen gehangelt, als der Anruf von Tante Coral gekommen war. Es war ihr wie eine einmalige Gelegenheit vorgekommen, Kent für immer zu verlassen. Sie hatte zwar keine Ahnung, was ihr nächstes Ziel sein würde, aber in diesem kleinen Städtchen in Devon wollte sie nicht länger als unbedingt nötig bleiben.

»Nun ja, gleich nach der Beerdigung kannst du leider nicht weg, weil dann nämlich das Testament verlesen wird und –«

Es klopfte an der Haustür, und sofort schallte wildes Gebell aus dem Garten. Daisy hatte das Gefühl, aus zwei Richtungen angegriffen zu werden. Tante Coral stand in aller Ruhe auf und ging zur Tür. Kaum dass Daisy die hohe Stimme hörte, regte sich etwas in den hintersten Winkeln ihrer Erinnerungen.

Die Besucherin sprach mit einem ausgeprägten Devonshire-Dialekt und mit jedem Schritt, den sie näher kam, lauter und schneller. »Oh, mein Gott. Ich kann nicht fassen, dass du es wirklich bist. Ich meine, ich hatte es gehofft, als ich das Motorrad sah, weil ich niemand anderen kenne, der so eines hat. Nicht bei uns in der Gegend. Du bist es tatsächlich, du bist hier!« Eine junge Frau mit langen, glatten, dunklen Haaren warf sich Daisy an den Hals und drückte sie fest an sich. »Ich habe dich so vermisst«, sagte sie und setzte sich hin, ohne dabei den Blick von Daisy zu wenden, was recht befremdlich war.

»Tamsyn«, sagte Daisy, als sie die Frau erkannte. »Es ist schön, dich zu sehen. Wohnst du immer noch nebenan?«

»Ja, mit Mum und Dad. Die werden sich auch wahnsinnig freuen, dich wiederzusehen.«

»Tamsyn ist mir eine wunderbare Hilfe gewesen«, schaltete Tante Coral sich ein. »Wenn ich zur Arbeit musste, hat sie immer ein Auge auf Reg gehabt. Er hat alle Postkarten und Briefe aufbewahrt, die du ihm von deinen vielen Reisen geschickt hast, und sie Tamsyn wohl etliche Male vorgelesen. Und du weißt ja, wie viel Spaß er daran hatte, Geschichten zu erzählen, auch da bist du häufig vorgekommen.«

»Außer in den Fantasy-Geschichten mit den Zwergen. In denen warst du nicht«, stellte Tamsyn mit todernster Miene klar.

Daisy wusste nicht, was sie darauf erwidern sollte, aber zum Glück sprach Tante Coral schon weiter. »Ich weiß nicht, was ich in den letzten Monaten ohne Tamsyn getan hätte. Sie gehört jetzt praktisch zur Familie. Habe ich recht, Tamsyn?«

»Oh, mein Gott. Macht uns das zu Schwestern?«, fragte Tamsyn und wippte dabei aufgeregt auf ihrem Stuhl auf und ab – eine Reaktion, die der Hund an der Hintertür sofort kopierte.

»Ich glaube nicht«, erwiderte Daisy mit einem Schmunzeln. Tamsyn musste scherzen, oder? Sie war ein Paradebeispiel dafür, warum Menschen ihre Heimat verlassen und die Welt erkunden sollten, dachte Daisy. Dass sie hiergeblieben war, hatte aus Tamsyn Ottercombe Bays Antwort auf Phoebe Buffay aus Friends gemacht: Die Grenzen zwischen entzückend und verrückt waren verschwommen.

Tamsyn umklammerte mit beiden Händen ihre Teetasse. »Wohin fährst du denn als Nächstes?«, fragte sie mit weit aufgerissenen Augen. Daisy wünschte, Tamsyn würde häufiger blinzeln, so zu starren konnte nur ungesund sein. Sie sah, dass Tante Coral sie ebenfalls gespannt anschaute. Seltsamerweise überwältigte sie neben dem Drang, etwas sagen zu müssen, auch das Bedürfnis, die beiden zu beeindrucken.

»Äh, genau weiß ich das noch nicht. Wahrscheinlich wieder ins Ausland …« Im Moment hatte sie dafür zwar kein Geld, aber auf lange Sicht hatte sie wirklich vor, ausgedehntere Reisen zu unternehmen. »Südamerika«, hörte sie sich plötzlich sagen. Dahin hatte sie schon immer gewollt, aber da sie von der Hand in den Mund lebte, würde das wohl immer ein Wunschtraum bleiben.

Tamsyn fiel die Kinnlade herunter. »Wow, du bist meine absolute Heldin.« Sie sah zu Tante Coral, die stolz nickte.

Daisy fühlte sich unwohl in ihrer Haut, und das stand ihr ins Gesicht geschrieben. Sie senkte den Blick und starrte in ihre Teetasse. Allmählich ordneten sich ihre Gedanken ein wenig, und die Erinnerungen an Tamsyn kamen langsam zurück. Sie erinnerte sich an das kleine Mädchen, das ihr auf Schritt und Tritt folgte und am Strand mit ihr auf Schatzsuche ging. Tamsyn hatte es geliebt, Muscheln zu sammeln, sich aber vor Krabben geekelt. Daisy erinnerte sich daran, wie sie nebeneinander am Straßenrand gesessen und sich den Karnevalsumzug angesehen hatten. Sie erinnerte sich an die schlaksigen und ungelenken Teenager, die sie gewesen waren, als sie sich hinter den Strandhütten mit Apfelwein betrunken hatten. Sie erinnerte sich an eine Freundin.

»Gehst du heute Abend nicht zum Karneval?«, fragte Daisy.

Tamsyn grinste. »Ich wollte mich gerade auf den Weg machen, als ich das Motorrad sah.«

»Tut mir leid«, erwiderte Daisy. »Das solltest du dir meinetwegen nicht entgehen lassen.«

»Ach, kommt ja gar nicht infrage. Du bist wesentlich besser als irgendein popeliges Straßenfest. Ich wollte nur hin, um einen Blick auf die Männer in ihren Uniformen zu erhaschen.«

Sofort erinnerte Daisy sich an den übereifrigen Typen in der Warnweste. »Echt?«

»Oh ja. Polizisten, Feuerwehrmänner, die Mannschaft der Seenotrettung, die haben bei dem Umzug jetzt alle einen eigenen Festwagen.« Als sie die Mannschaft der Seenotrettung erwähnte, warfen Tante Coral und Daisy einander einen kurzen Blick zu.

»Es ist so schade, dass mein Bruder es nicht zur Beerdigung schafft«, meinte Tante Coral mit einem kaum merklichen Nasenzucken. Daisy fiel auf, wie nonchalant Tante Coral damit ihren Vater zur Sprache brachte.

»Dad tut es wahnsinnig leid, und er lässt dich sehr herzlich grüßen«, erwiderte Daisy. Sie hatte selbst gehofft, dass ihr Vater wenigstens versuchen würde, zur Trauerfeier zu kommen. Da er allerdings in Goa lebte, hatte sie ihre Erwartungen gar nicht erst hochgeschraubt. Tante Coral nickte, als habe sie Verständnis für die Situation.

»Oh, ich erinnere mich an deinen Dad«, rief Tamsyn. »Er hat mir mal das Leben gerettet. Ich hatte eine tolle Sandburg mit eigenem Festungsgraben gebaut und war so damit beschäftigt gewesen, mein Meisterwerk trocken zu halten, dass ich gar nicht bemerkt hatte, dass die Flut kam. Auf einmal war das Wasser überall, und ich saß mittendrin. Er ist einfach zu mir gewatet, um mich zu retten.« Sie ratterte die Geschichte herunter, ohne auch nur ein einziges Mal Luft zu holen.

Daisy grinste. »An den Tag erinnere ich mich auch noch. Das Wasser ging dir nur bis zu den Knöcheln; du brauchtest gar nicht gerettet zu werden.«

Tamsyn spielte die Beleidigte und zog eine Schnute. »Was? Die Flut hätte mich mit sich reißen können – es gibt hier sehr starke Strömungen.«

Immer mehr Erinnerungen kamen jetzt zurück, und ehe sie sich versah, war Daisy in eine angeregte Unterhaltung vertieft. Diesmal waren es angenehme Dinge, an die sie gern zurückdachte. Die Zeit schien wie im Flug zu vergehen, und Daisy bekam nur ganz vage mit, dass Tante Coral plötzlich einen Schlafanzug trug. Daisy warf einen Blick auf ihre Armbanduhr, woraufhin Tamsyn auf die Küchenuhr schaute.

»Sapperlot! So spät ist es schon?«, rief Tamsyn überrascht. Daisy musste über den altmodischen Ausdruck schmunzeln. »Mum und Dad werden sich schon fragen, wo ich bin.« Tamsyn stand auf und nahm Daisy erneut fest in die Arme. »Ich freue mich, dass du wieder zu Hause bist.« Sie verabschiedete sich von Tante Coral mit einem Kuss auf die Wange. »Bye. Bis morgen.«

»Ja, danke, Tamsyn.«

»Bis morgen?«, hakte Daisy nach, als sicher war, dass Tamsyn fort war. Es war nicht zu überhören gewesen, wie kraftvoll sie die Haustür aufgezogen und wieder zugedrückt hatte.

»Sie kommt fast jeden Tag vorbei.«

»Arbeitet sie nicht?«

»Oh doch. Tamsyn ist ein sehr fleißiges Mädchen, aber ihr Job im Strandcafé ist eher unregelmäßig. Die stellen in den Sommermonaten Schüler ein, denen sie so gut wie nichts bezahlen, und lassen die arme Tamsyn nur in den Mittagsstunden arbeiten, wenn der größte Andrang herrscht.«

Das war interessant. Daisy hatte immer geglaubt, ihre häufigen Umzüge seien der Grund dafür, dass sie keine anständige Anstellung finden konnte. Doch anscheinend hätte es keinen Unterschied gemacht, wenn sie an einem Ort geblieben wäre. Weiter kam sie gedanklich nicht, weil in diesem Moment ein verärgert wirkender Bugsy in die Küche stürmte. Er rannte schnurstracks auf Daisy zu und schüttelte sich. Daisy hielt ihm ihren rechten Zeigefinger hin, damit er daran schnuppern konnte, und prompt wischte er sich die Nase daran ab.

»Igitt!« Daisy zuckte zusammen, zog ein Taschentuch aus ihrer Hosentasche und wischte sich die Hand daran ab. Bugsy schien recht stolz auf sich zu sein und wedelte sogar kurz mit seinem Ringelschwanz, bevor er sich umdrehte und Daisy seinen Hintern zeigte.

»So, ich gehe jetzt ins Bett«, sagte Tante Coral und hob den Hund vom Fußboden. »Es ist schön, dass du wieder hier bist, auch wenn es nur für ein paar Tage ist.«

»Ach ja, das hätte ich fast vergessen. Du hast gesagt, ich könnte nicht gleich nach der Beerdigung wieder fahren. Was hast du damit gemeint?«

Tante Coral zwinkerte ihr zu. »Oh ja. Du musst bei der Verlesung des Testaments anwesend sein. Großonkel Reg hat dir etwas von beträchtlichem Wert hinterlassen – so hat der Rechtsanwalt es ausgedrückt. Und jetzt gute Nacht, Liebes, wir sehen uns morgen früh.« Sie drückte Daisy einen flüchtigen Kuss auf die Stirn und verschwand nach oben.

Kapitel 2

Daisy wurde von einem Kratzen an der Zimmertür aus dem Schlaf gerissen. Sie war noch gar nicht richtig wach und fragte sich gerade, wo sie überhaupt war, als die Tür plötzlich aufsprang und etwas in den Raum schoss. Entsetzt schreckte Daisy hoch, stellte aber schnell fest, dass dieses Etwas lediglich Bugsy war. Praktisch zeitgleich schien der Hund zu erkennen, wer in dem Bett lag. Er bekundete seine Empörung mit einem Schnauben und stolzierte sofort wieder nach draußen. Im Untergeschoss zu schlafen schien den Nachteil zu haben, von Bugsy geweckt zu werden.

Es war Montagmorgen, der Tag der Beerdigung. Daisy hatte am Vortag versucht, mit Tante Coral über das Testament zu sprechen. Doch diese wusste auch nicht mehr als das, was sie bereits erzählt hatte – außer dass Daisys Vater, Ray, nichts bekommen würde, weil Reg ihm in der Vergangenheit finanziell unter die Arme gegriffen hatte. Er und Ray hatten die Abmachung getroffen, dass der ihm zustehende Anteil an der Erbschaft damit abgegolten war. Schon das war für Daisy eine völlig neue Erkenntnis gewesen. Andererseits hatte ihr Vater in ihrer Kindheit und Jugend nur selten einen festen Job gehabt. Das Geld, von dem sie gelebt hatten, musste also von irgendwo gekommen sein. Reg war immer sehr großzügig gewesen, eines der vielen Dinge, die sie an ihm geliebt und bewundert hatte.

Was Großonkel Reg ihr wohl hinterlassen hatte? Das letzte Mal hatte sie ihn vor fast drei Jahren gesehen, kurz nachdem sie zum zweiten Mal ihr Studium hingeschmissen hatte. Daisy spürte, wie die Schuldgefühle sie überkamen. Onkel Reg hatte trotz seines fortschreitenden Alters so lebensfroh gewirkt. Sie erinnerte sich an seine graue Haarmähne und den widerspenstigen Bart, der ganz und gar nicht zu seinem stets adretten Auftreten inklusive Krawatte gepasst hatte. Er würde ihre Zukunft sichern, hatte er Daisy damals versprochen, doch sie hatte dieser Äußerung keine weitere Bedeutung beigemessen. Jetzt wünschte sie, sie hätte noch einmal nachgefragt, was er damit meinte, denn die Neugier brachte sie fast um.

Ein leises Klopfen an der Tür riss sie aus ihren Gedanken. »Guten Morgen. Ich bin froh, dass du wach bist«, sagte Tante Coral. »Tamsyn wird jeden Moment hier sein, und wir haben eine ganze Wagenladung Sandwiches zu belegen. Für den Leichenschmaus. Oder die ›Sargträger-Party‹, wie Reg das gern nannte«, fügte sie leise lachend hinzu, bevor sie in der Küche verschwand.

Das mit der Wagenladung war kein Witz gewesen, denn kurze Zeit später war Daisy bereits Teil eines wie geschmiert laufenden Sandwich-Fließbands. Bei der Arbeit bemühte Tamsyn sich nach Kräften, ihr Namensgedächtnis für die Feier aufzufrischen.

»An Max erinnerst du dich doch bestimmt noch, oder?«, fragte Tamsyn.

Daisy schob die Unterlippe vor und legte etwas Schinken auf die mit Butter bestrichene Scheibe Brot, die Tante Coral ihr gerade reichte. »Ich bin mir nicht sicher.« Doch noch während sie es aussprach, tauchte vor ihrem geistigen Auge das unschöne Bild einer von zu viel Apfelwein angeheizten Knutschparty ihrer Teenagerjahre auf. Sie hatte Ottercombe Bay zwar im Alter von sieben Jahren verlassen, war aber jedes Jahr für einen zweiwöchigen Urlaub zurückgekehrt, was ihr Momentaufnahmen des Lebens bescherte, aus dem man sie herausgerissen hatte.

»An den musst du dich erinnern«, behauptete Tamsyn. »Max Davey, der hat sich nie das Hemd in die Hose gesteckt.«

»Meiner Meinung nach hat das keiner der Jungen in der Grundschule getan.«

»Jason Fenton, erinnerst du dich denn noch an den?«

Mit einer Scheibe Schinken in der Hand hielt Daisy inne. »Ein dürres Kerlchen, das in den Pausen immer mit Zügen spielte?«

»Ja, genau der! Heute ist er Polizeibeamter«, sagte Tamsyn mit einem bekräftigenden Kopfnicken.

»Wow, alle Achtung. Und warum sollten Jason und dieser Max zur Beerdigung meines Großonkels kommen?«

Tamsyn setzte zur Erklärung an, doch Tante Coral kam ihr zuvor. »Sie gehören beide zur Mannschaft der Seenotrettung. Dein Großonkel hat sie zeit seines Lebens unterstützt. Er war dort viele Jahre lang Einsatzleiter«, sagte Tante Coral voller Stolz. »Max und Jason sind beide immer mal wieder auf einen Kaffee vorbeigekommen, um sich seine Geschichten anzuhören.« Sie hielt kurz mit dem Broteschmieren inne, das von Butter glänzende Messer in der Hand. »Es gibt in dieser Stadt viele Menschen, die ihn vermissen werden.«

Daisy tätschelte ihr den Arm, woraufhin Tante Coral ihr ein mattes Lächeln schenkte und sich gleich wieder dem Buttern der Sandwiches widmete.

Daisy vergoss während des Trauergottesdienstes ein paar Tränen, doch insgesamt war die Beerdigung eine überraschend fröhliche Veranstaltung, ganz wie Reg es sich gewünscht hätte. Der eine oder andere erzählte seine Lieblingsgeschichten über Reg – in einer ging es um einen Esel und einen Zylinder, und sie ließ wirklich jeden in Gelächter ausbrechen –, sodass die meisten bei Verlassen der Kirche lächelten. Genau das hätte Reg gewollt.

Als Daisy auf die vielen Blumengestecke und Kränze hinabsah, fragte sie sich, wer all diese Menschen im Leben ihres Großonkels gewesen waren. Für Daisy waren sie alle Fremde, vor allem zwei, die sich Bunny und Toots nannten.

»Hi … noch einmal«, sagte eine tiefe Stimme hinter ihr. Daisy drehte sich um und erblickte einen attraktiven jungen Mann mit markanten Gesichtszügen. »Es tut mir leid, dass Reg gestorben ist, er war ein anständiger Kerl. Bist du okay, Daisy?«

»Hi …« Sie stockte an der Stelle, an der ihr sein Name hätte einfallen müssen, weil unzählige Erinnerungen auf sie einstürzten.

Er machte eine ruckartige Bewegung mit dem Kopf. »Erinnerst du dich nicht an mich? Zum einen habe ich dich am Samstag davon abgehalten, mit deinem Motorrad durch den Karnevalsumzug zu brettern. Und damit, wie ich annehme, ein Blutbad verhindert.« Er sprach mit dem für diese Gegend typischen Dialekt, der in seinem Fall nur sehr schwach und kaum wahrnehmbar war.

»Ach ja«, erwiderte Daisy. Wie sie sich an jenem Abend aufgeführt hatte, war ihr ausgesprochen peinlich. »Dafür entschuldige ich mich.« Jetzt sah er nur halb so aggressiv aus wie am Samstag, hatte gepflegte Haare und trug ein schickes Hemd und eine Krawatte. Allerdings griff er sich ständig mit dem Finger unter den Hemdkragen. Er schien sich in seiner Aufmachung nicht sonderlich wohlzufühlen. »Du bist Max. Der Junge, der sich in der Schule das Hemd nie in die Hose gesteckt hat.« An die Eskapaden ihrer Teenagerjahre wollte sie ihn auf keinen Fall erinnern.

Um seine Augen herum bildeten sich kleine Lachfältchen. »Stimmt. Genau, der war ich.«

»Und du warst ein Freund meines Großonkels?« Daisy fand nach wie vor, dass die beiden ein merkwürdiges Pärchen abgaben.

»Ja, Reg und ich haben uns hin und wieder getroffen. Ich werde immer gern an ihn zurückdenken.«

Der Ausdruck in Max’ Augen bei diesen Worten machte sie neugierig. »Was wird dir am meisten im Gedächtnis bleiben?«

»Er hat mir beigebracht, dass ich genauso viel wert bin wie jeder andere …« Max atmete tief und langsam aus und sah dabei für einen kurzen Moment so aus, als würde er die Fassung verlieren. »… und Ebbe und Flut zu verstehen.«

»Das ist schön«, sagte Daisy. Ihr war auf einmal unbehaglich zumute. Ihre eigenen Erinnerungen waren längst nicht so tiefgründig. »Ich werde nie vergessen, wie ich zusammengerollt neben ihm auf dem Sofa saß und wir uns mit einem Becher dampfenden Kakao in der Hand Filme angesehen haben.« Im selben Moment blitzte eine Erinnerung an den Spielfilm Bugsy Malone vor ihrem geistigen Auge auf, und plötzlich wurde ihr klar, wie der Hund seinen Namen bekommen hatte. Als kleines Mädchen hatte sie diesen Film viele Male mit Reg zusammen gesehen.

»Ach, hier bist du«, sagte Tante Coral und gesellte sich zu ihnen. »Daisy, wir fahren jetzt alle zu mir nach Hause. Du kannst mit den älteren Herrschaften in Wagen eins mitfahren; ich fahre mit den Exeter-Leuten in Wagen zwei.« Sie drehte sich zu Max. »Wie lieb von dir, dass du heute gekommen bist, Max. Kommst du auch zum Leichenschmaus?«

»Nein, Coral, leider nicht, ich muss arbeiten. Ich habe meine Schicht getauscht, damit ich mich von Reg, dem alten Haudegen, verabschieden konnte, aber jetzt muss ich los. Stoßt auf der Party in meinem Namen auf ihn an.«

»Natürlich, das werden wir.« Tante Coral gab ihm einen flüchtigen Klaps auf die Schulter und lief weiter, um andere Dinge zu organisieren.

»Wir laufen uns bestimmt noch häufiger über den Weg, wenn du erst mal hierbleibst«, sagte Max.

»Ich kann leider nicht bleiben«, antwortete Daisy. »Es war aber schön, dich wiederzusehen. Bye.«

Max rührte sich nicht von der Stelle. »Das ist schade«, sagte er. Seine Augen hatten dabei einen derart herzlichen und ernsthaften Ausdruck, dass sie sich um Haaresbreite dazu verleitet fühlte, ihre Entscheidung noch einmal zu überdenken.

Am nächsten Morgen saß Daisy in dem stickig warmen Büro des Anwalts und trank viel zu starken Filterkaffee.

»Glaubst du, die Party hätte ihm gefallen?«, wollte Tante Coral wissen.

Es war eine seltsame Frage, doch Daisy wusste, dass Tante Coral sich den Kopf darüber zerbrochen hatte, wie sie Reg einen würdigen Abschied bereiten konnte. »Er hätte sich pudelwohl gefühlt. Und den vielen Portwein hätte er mit Sicherheit befürwortet.«

Tante Coral entspannte sich sichtlich, und Daisy überkam eine Woge von Zuneigung für ihre Tante. Der Leichenschmaus war gut besucht und abwechslungsreich gewesen – von ernsten Unterhaltungen über Küstenerosion bis zu einer spontanen Gesangseinlage. Genau so hätte Reg es sich gewünscht.

Im Grunde wollte Daisy gar nicht hören, wie sein Testament verlesen wurde. Sie brauchte nichts, um Großonkel Reg nicht zu vergessen; sie hatte ihre Erinnerungen. Sie musste jedoch zugeben, dass sie neugierig war, was er ihr hinterlassen hatte, dessen Wert man ›beträchtlich‹ nennen konnte. Vielleicht handelte es sich ja um Bargeld. Allerdings hatte sie keine Ahnung, ob Reg viel Geld besessen hatte. Zumindest wäre das etwas, was sie gut gebrauchen könnte; sie hasste es, von der Hand in den Mund zu leben. Es war aber auch möglich, dass er ihr einen Anteil am Cottage vermacht hatte, was sich äußerst heikel gestalten würde, weil es Tante Corals Zuhause war und sie es mit Sicherheit nicht verkaufen wollte. Daisy beschloss, diese Möglichkeit gleich wieder zu vergessen. Schon bei dem Gedanken daran wurde ihr ganz mulmig zumute. Vielleicht handelte es sich ja um ein Familienerbstück, obwohl … die einzigen Dinge, die ihr da einfielen, waren Möbelstücke. Das war es vermutlich, dachte sie. Die große Uhr im Flur und die Kommode in der Küche hatten beide einen Wert, den man beträchtlich nennen konnte. Sie ließ ihre Gedanken schweifen und sah sich schon im Nachmittagsfernsehen, wo sie ihre Enttäuschung darüber verbergen musste, dass die Experten ihre Besitztümer als wertlos beurteilt hatten.

»Es tut mir schrecklich leid, dass ich Sie habe warten lassen«, entschuldigte sich der Anwalt, als er mit einem Aktenordner in der Hand in das Büro eilte. »Dafür werde ich Sie jetzt nicht mehr lange aufhalten.« Der alte Herr war Daisy auf der Stelle sympathisch; sie wollte endlich wieder ihre Siebensachen packen und auf der M5 nach Nordosten düsen. Sie hoffte, es heute Abend noch bis Gloucester zu schaffen; wohin sie anschließend fahren würde, wusste sie noch nicht.

»Das hier ist der letzte Wille und das Testament von Reginald Montgomery Fabien Wickens …« Diesen Worten folgte ein Absatz, der aus offiziellem Juristen-Kauderwelsch bestand, und erst danach hörte Daisy wieder zu. »… Meiner Nichte, Coral Anne Wickens, hinterlasse ich den gesamten Besitz Sea Mist Cottage, Trow Lane, Ottercombe Bay …« Tante Coral schluchzte leise auf, und Daisy nahm tröstend ihre Hand. Ihr eigenes Herz begann schneller zu schlagen. »Meiner Großnichte, Daisy May Wickens, hinterlasse ich Gebäude und Grundstück der ehemaligen Eisenbahnstation von Ottercombe Bay sowie den angrenzenden Parkplatz unter der Voraussetzung, dass sie für den Zeitraum von zwölf Monaten ab Verlesung dieses Testaments in Ottercombe Bay ansässig ist. Mein restliches Vermögen soll zu gleichen Teilen zwischen Coral Wickens, Daisy Wickens und der örtlichen Seenot-Rettungsstation, der Royal National Lifeboat Institution Ottercombe Bay, aufgeteilt werden. Sollte einer der Begünstigten die Erbvoraussetzungen nicht erfüllen, wird dessen Anteil zu gleichen Teilen unter den anderen Begünstigten aufgeteilt. Unterzeichnet Reginald Wickens.« Der Anwalt legte seine Hände flach auf das Dokument und tätschelte es sacht. Keiner sprach ein Wort.

Daisys Mund war auf einmal staubtrocken; sie war völlig verwirrt, und ein kurzer Blick auf Tante Coral bewies ihr, dass es ihr ebenso ging. Daisy tastete nach ihrer Halskette und schloss die Finger um das Medaillon, um sich damit Mut zu machen. »Entschuldigen Sie«, sprach sie den Rechtsanwalt an, »aber was genau hat er mir da vererbt?«

»Den Bahnhof von Ottercombe Bay und den dazugehörigen Parkplatz.«

»Aber dort fahren doch schon seit Jahren keine Züge mehr«, stellte Tante Coral fest.

Der Anwalt blätterte einen Stapel Papiere durch und lehnte sich über den Schreibtisch, um Daisy ein Dokument auszuhändigen. Es handelte sich um eine etwas zerknitterte Versteigerungsanzeige. »Der Bahnhof von Ottercombe wurde 1975 stillgelegt und käuflich erworben von …« er warf einen prüfenden Blick in seine Notizen, »… von einem Mr. Arthur Wickens, der ihn nach seinem Tod Ihrem Großonkel vererbt hat. Es gab seither auch diverse Baugesuche für den Abriss des Gebäudes und die Erschließung des Baulands, die abgelehnt wurden, und zwar in den Jahren 1989, 1992, 2001 und 2010.« Er nahm seine Brille ab und lächelte sie herzlich von der anderen Seite des Schreibtisches an.

Daisy starrte auf das Blatt Papier in ihrer Hand mit dem verblassten Foto eines viktorianischen Bahnhofsgebäudes darauf. »Er hat mir einen alten Bahnhof hinterlassen?«

Tante Coral schielte über Daisys Arm hinweg auf das Foto. »Dass diese Baugesuche alle abgelehnt wurden … heißt das, dass sie nicht viel damit anfangen kann?«

»Ganz und gar nicht. Es heißt lediglich, dass sich der Gemeinderat gegen den Abriss des Gebäudes ausgesprochen hat. Es gibt hier aber ein Schreiben aus dem Jahr 2010, in dem es heißt, dass man bereit sei, einen Antrag auf Nutzungsänderung zu unterstützen.«

»Kann ich ihn verkaufen?«, fragte Daisy mit plötzlich heiserer Stimme.

»Sobald er offiziell in Ihren Besitz übergegangen ist, also nach Einhaltung der vorbehaltlichen Klausel.«

Daisy starrte ihn an. Warum benutzten diese Menschen keine normalen Worte? »Und wann genau geht er offiziell in meinen Besitz über?«

Der Anwalt zuckte mit den Schultern. »Genau heute in einem Jahr, vorausgesetzt, Sie hatten während der gesamten zwölf Monate Ihren Wohnsitz hier in Ottercombe Bay. Das ist ebenfalls für Sie«, sagte er und reichte Daisy einen dicken eierschalenfarbenen Briefumschlag, über den sich in wunderschöner Handschrift ihr Name in Tinte schnörkelte. »Ich glaube, dieser Brief wird das Ganze etwas eingängiger erklären.«

Daisy wollte etwas sagen, fand jedoch ausnahmsweise keine Worte und schloss den Mund. Was ging hier vor?

»Das mag eine dumme Frage sein«, hob Tante Coral derweil an, »aber sind Sie sicher, dass das alles korrekt und rechtmäßig ist und es keine Möglichkeit gibt, die Bedingungen, die an die Erbschaft geknüpft sind, zu umlaufen?«

»Das ist leider so«, gab der Anwalt zur Antwort und fing an, die Bezahlung der Beerdigung und des Erbschaftsverfahrens zu erörtern. Daisy strich sachte über den Umschlag in ihrer Hand und begutachtete die leicht verwackelten Buchstaben, die sie eindeutig als Regs Handschrift erkannte; sie konnte sich bildhaft vorstellen, wie er beim Schreiben auf seinem Lieblingsstuhl gesessen hatte.

»Damit hatte ich nicht gerechnet«, sagte Tante Coral, als sie die Anwaltskanzlei ein paar Minuten später verließen. »Wie geht es dir?«

»Ich bin total überwältigt, aber es geht mir gut«, gab Daisy zur Antwort, obwohl sie in Wahrheit das Bedürfnis verspürte, die Flucht zu ergreifen.

Auf dem Heimweg sagte Daisy kaum etwas. Ein klaustrophobisches Unbehagen machte sich in ihr breit, als würde sie eingeengt und angekettet werden. Sie musste dagegen ankämpfen und sich retten. Kaum waren sie wieder im Cottage, schlüpfte Daisy aus ihren eleganten Sachen in etwas Bequemeres und stopfte ihre gesamte Habe in ihren Rucksack.

»Wie wäre es mit einer Tasse Tee?«, rief Tante Coral aus der Küche.

Daisy geriet in Panik. Unabhängig vom Tee konnte sie keine weitere Minute hierbleiben. Es war einfach nicht gut für sie, an diesem Ort zu sein; jedes Mal, wenn sie hier war, fühlte sie sich durchgehend unwohl in ihrer Haut, und allein die Gewissheit, dass es sich nur um ein paar Tage handelte, hatte es erträglich gemacht. Ein ganzes Jahr hier zu sein war unvorstellbar. Daisy stand einen Moment still und griff nach ihrem Medaillon. Solange sie das hatte, konnte sie überall sein – ihre Mutter war bei ihr. Sie atmete tief durch, um sich ein wenig zu beruhigen, dann antwortete sie Tante Coral: »Nein, vielen Dank. Ich muss kurz weg.« Sie schnappte sich einen Kugelschreiber, suchte nach einem Stück Papier und kritzelte ihre Nachricht schließlich auf die Rückseite eines alten Briefumschlages.

Es tut mir sehr leid, aber ich muss gehen. Ich melde mich. Pass auf dich auf. Alles Liebe, D.

Sie legte die Nachricht auf ihr Kopfkissen, hob ihren Rucksack vom Boden und verließ das Schlafzimmer, so leise sie konnte. Der Kampf mit der klemmenden Haustür ließ sie fast durchdrehen. Es war eine Sache, die Flucht zu ergreifen, aber beim Versuch ertappt zu werden, wäre grauenvoll. »Verdammtes Mistding«, knurrte sie und wurde bereits im nächsten Moment von einem Winseln abgelenkt. Bugsy saß ihr zu Füßen und beobachtete sie, den Kopf zu einer Seite gelegt. Forsch blickte er sie mit seinen merkwürdigen Glupschaugen an, und sie hielt einen Moment inne. Aus irgendeinem seltsamen Grund hatte sie das Gefühl, ihm erklären zu müssen, warum sie fortging. Dabei war sie sich ziemlich sicher, dass es ihn nicht allzu traurig stimmen würde, sie los zu sein.

»Ich muss weg«, wisperte sie. »Dieser Ort ist für mich mit zu vielen schlimmen Erinnerungen verbunden. Hier gibt es zu viele Geister.«

Bugsy erhob sich, drehte sich um und verschwand mit einem ein Fhhht, dem widerlicher Gestank folgte. Daisy schüttelte den Kopf, drückte noch einmal fest gegen die Tür, bis sie aufging, und schlich nach draußen.

Sie setzte ihren Helm auf, stieg auf das Motorrad und war dankbar dafür, dass es gleich beim ersten Versuch ansprang. Sie warf einen letzten Blick auf Sea Mist Cottage und hoffte, dass sie diesen Ort damit für sehr lange Zeit zum letzten Mal gesehen hatte. Dann gab sie Gas und fuhr los.

Kapitel 3

Schon nach wenigen Minuten war sie wieder in der Lage, ruhig und gleichmäßig zu atmen. Sie wusste, dass sie das Richtige tat, obwohl ihr das Wie ein wenig zu schaffen machte. Es behagte ihr ganz und gar nicht, sich nicht von Tante Coral verabschiedet zu haben, aber diese hätte lediglich versucht, sie zum Bleiben zu bewegen. Sie bog in die Hauptstraße ein und bremste vor der Ampel ab. Im nächsten Moment sprang Tamsyn vor ihr Motorrad und wedelte mit den Armen.

Mist, dachte Daisy.

»Hallo. Ich wusste, dass du das bist; dein Motorrad macht so schleifende Geräusche. War das nicht ein großartiger Trauergottesdienst? Das war so eine richtig zünftige Abschiedsfeier mit vielen Leuten, was wirklich schön ist, vor allem wenn die Verstorbenen schon alt waren, denn zu deren Beerdigungen kommen manchmal nicht viele, weil ihre Freunde alle schon tot sind, aber Reg haben alle gemocht. Warum hast du denn deinen Rucksack dabei?«

»Äh«, meinte Daisy.

Tamsyn stellte sich neben das Motorrad. »Reist du ab?« Sie wirkte auf der Stelle niedergeschlagen und machte ein langes Gesicht.

Daisy wünschte, besser lügen zu können, und schob das Visier ihres Helms hoch. »Tut mir leid, Tamsyn, ich muss weg. Mach’s gut.«

»Nein. Du bist doch gerade erst wiedergekommen, da kannst du doch nicht schon wieder wegfahren …« Ihre Augen füllten sich mit Tränen, und Daisy fühlte sich, als foltere sie ein kleines Kind.

Die Ampel sprang auf Grün. »Es tut mir leid«, sagte Daisy erneut und meinte es auch. Sie klappte das Visier wieder herunter. Hinter ihr hupte jemand, und sie fuhr an.

»Sandy will, dass du bleibst!«, rief Tamsyn mit verzweifelter Stimme.

Keine anderen Worte hätten Daisy aufgehalten. Sie schallten in ihren Ohren, während sie ihr Motorrad an den Straßenrand fuhr und den Motor abschaltete. Mit banger Miene kam Tamsyn ihr entgegen.

Daisy fühlte sich wie betäubt. Sie nahm ihren Helm vom Kopf. »Was meinst du mit ›Sandy will, dass ich bleibe‹?«, blaffte sie Tamsyn an. Sandy war der Name ihrer Mutter gewesen. Konnte es um sie gehen?

Tamsyn biss sich auf die Unterlippe. »Erinnerst du dich noch an meine Mum, Min?« Die Frage hörte sich an wie ein Zungenbrecher.

Wenn jetzt wieder eine langatmige Geschichte folgte, würde Daisy schreien. »Ja, warum?«

»Sie hat manchmal diese Gefühle – wie ein Medium, nur anders. Sie sind wie so ein sechster Sinn für Botschaften von denen, die von uns gegangen sind. Und sie wollte, dass ich dir das sage, aber ich wusste nicht, ob du sie dann für verrückt halten würdest, und ich wollte dich auch nicht aus der Fassung bringen und –«

»Spuck es bitte aus, Tamsyn.«

Tamsyn holte tief Luft. »Sie hat die Präsenz deiner Mum gefühlt. Sie hat gesagt, sie konnte spüren, dass Sandy froh ist, dass du wieder zu Hause bist, und dass sie will, dass du hierbleibst.«

Daisy wusste nicht, was sie davon halten sollte. Ihr selbst war noch nie ein Beweis für ein Leben nach dem Tod untergekommen, daher hatte sie auch keinen Grund, daran zu glauben. Doch die Vorstellung, ihre Mum habe auf irgendeine Art Kontakt aufgenommen, faszinierte sie trotz aller logischer Gegenargumente. Daisy schluckte. Wieder hupte sie ein Wagen an, überholte sie und streifte dabei um Haaresbreite ihr Motorrad.

»Wir können hier nicht stehen bleiben. Steig auf«, entschied sie.

Tamsyn schüttelte den Kopf. »Ohne Helm ist das zu gefährlich.«

»Wenn ich nicht mehr als acht km/h fahre, passiert dir nichts. Oder noch besser, du kannst meinen haben.«

Tamsyn schüttelte den Kopf. »Das ist verboten. Moment, ich habe eine Idee.« Sie rannte in den Salon des Herrenfriseurs. Einen Augenblick später kam sie wieder nach draußen und trug einen schwarzen Sturzhelm, der mit einem blutüberströmten Totenkopf bedruckt war. Mit ihrem langen fließenden Sommerkleid gab das ein äußerst interessantes Gesamtbild ab.

»Der Friseur hat ein Motorrad«, erklärte sie und setzte sich hinter Daisy. Die hinterfragte das nicht, warf den Motor wieder an und fädelte sich sicher in den Verkehr ein. Sie hätte überallhin fahren können, aber spontan kam ihr ein ganz bestimmter Ort in den Sinn. Sie fuhr aus dem Innenstadtbereich heraus und auf die Küstenstraße. Nach einer relativ kurzen Strecke bog sie ab und fuhr auf ein mit Schotter befestigtes Gelände, das sowohl als kleiner Parkplatz als auch als Aussichtsplattform diente.

Daisy stellte das Motorrad ab und lief den Küstenpfad entlang. Tamsyn folgte ihr brav, wie damals, als sie noch Kinder gewesen waren. In der Ferne erhaschte Daisy einen Blick auf das Meer. Der dunkelblaue Klecks wurde mit jedem Schritt, den sie sich dem Kap von Ottercombe Bay näherten, größer. Zu ihrer Linken tat sich die perfekte Sichel auf. Aus der Höhe hatte sie einen klaren Blick auf die felsige Landspitze, die seit nahezu einhundert Jahren das Wahrzeichen der Bucht war und den Strand teilte; auf der einen Seite waren reihenweise Fischerboote in allen möglichen Formen und Größen und auf der anderen eine Vielzahl von Liegestühlen, Picknickdecken und Touristen. Ab und zu schallte der Schrei eines Kindes nach oben und verhallte, doch ansonsten war es auf der Spitze der Klippen still und friedlich.

Als die Brise des Meeres Daisys Sinne streichelte, konnte sie spüren, dass sie ruhiger wurde und der Frust über ihren vereitelten Fluchtversuch etwas nachließ. Sie konnte das Meer riechen, diesen frischen Duft, der mit keinem anderen zu vergleichen war. Er erinnerte sie an die Sommer, in denen sie mit ihrem Vater in die Bucht zurückgekehrt war. Jahr um Jahr, bis er es nicht mehr hatte ertragen können. Wieder in der Bucht zu sein, hatte für Daisy bedeutet, jedes Mal neuerlich mit ihrer Traurigkeit konfrontiert zu werden. Aber auch wenn sie wieder abgereist waren, hatte es geschmerzt, sich angefühlt, als entwurzele man sie und nehme ihr alles, was ihr vertraut war.

Sie spazierten ans äußerste Ende der Kaps, an die Spitze der Sichel. Daisy zog ihre Lederjacke aus, legte sie auf den Boden, und Tamsyn und sie ließen sich darauf nieder.

»Ich liebe diesen Ausblick«, sagte Tamsyn schließlich. Daisy war erstaunt, dass sie es geschafft hatte, bis jetzt den Mund zu halten.

»Ich auch.« Sie hatte vergessen, wie sehr sie ihn liebte. Bilder von den Picknickausflügen, die sie als Kind hier erlebt hatte, rollten vor ihrem geistigen Auge ab. Wie ihre Mutter und ihr Vater miteinander tanzten und Daisy sich kichernd noch ein weiteres Plätzchen stibitzte. Wie die Sonne auf sie niederstrahlte, während unter ihnen das Meer in seinem ewigen Rhythmus rauschte – das war eine glückliche Zeit gewesen. Ihre Eltern hatten diese Stelle offenbar auch geliebt, denn sie waren regelmäßig hergekommen. Daisy fuhr mit den Fingern durch das Gras und fragte sich, ob ihre Mutter irgendwann einmal an dieser Stelle gesessen und genau das Gleiche getan hatte; sie hielt es für wahrscheinlich. Ein vertrautes Gefühl von Verlust machte sich in ihr breit. Daisy erinnerte sich wieder, warum sie hier war. »Ist deine Mutter so etwas wie eine Hellseherin?«, fragte sie.

Tamsyn riss ihren Blick vom Meer los. »Nicht offiziell, aber sie hatte schon immer diese Gefühle und Gedanken, die nicht ihre eigenen waren. Mein Dad nennt das einen Haufen Stuss, aber ich glaube, dass etwas Wahres daran ist.«

»Und warum glaubst du das?« Daisy begutachtete sie, um ihre Reaktion einschätzen zu können.

Tamsyn legte den Kopf in den Nacken und starrte an den wolkenlosen Himmel. »Weil sie nie die Unwahrheit sagt. Ich meine, niemals – sie schafft es nicht einmal, aus Höflichkeit zu lügen. Wenn ich sie frage: ›Gefällt es dir, wenn ich mir die Haare hochstecke?‹, gibt sie einfach nur zur Antwort: ›Nein, es sieht hübscher aus, wenn du sie offen trägst.‹ Sie lügt nie. Folglich muss ich ihr auch glauben, wenn sie von Menschen erzählt, die verstorben sind. Meinst du nicht?«

Daisy überzeugte das nicht. »Von wem hat sie denn sonst noch Botschaften bekommen?«

»Richtige Botschaften sind das im Grunde nicht«, gab Tamsyn zur Antwort und richtete ihren Blick wieder auf den Boden. »Sie war vor einigen Monaten im Zeitschriftenladen, und Mrs. Robertson hat von Gartenarbeit gefaselt, wie sie das immer tut, und da hatte meine Mutter plötzlich diesen Gedanken, dass Mrs. Robinsons Dad sich nicht wohlfühlte. Den kennt sie aber gar nicht, und trotzdem fragt sie: ›Wie geht es Ihrem Vater?‹, und Mrs. Robinson gibt zur Antwort: ›Dem geht es gut.‹«

Daisys Gesicht nahm äußerst angespannte Züge an. »Wenn es ihm gut ging, warum –«

»Genau das ist es ja. Mrs. Robinson hat ihn auf dem Heimweg besucht, und ihr Dad saß tot in seinem Sessel.« Tamsyn legte sich rücklings auf die Jacke.

Daisy spitzte die Lippen und atmete langsam aus. Das war nicht gerade der stichhaltige, unumstößliche Beweis, den sie sich erhofft hatte. »Was genau war denn die Botschaft, oder was immer es war, die sie von meiner Mum bekommen hat?«

»Sie war in unserem Garten, als sie plötzlich ins Haus stürzte und sagte, ihr sei kalt. Und ehrlich gesagt ist ihr in letzter Zeit immer heiß. Dad behauptet, sie sei jetzt genau im richtigen Alter für die Wechseljahre. Sie erzählte mir, sie habe spüren können, dass Sandy bei ihr war. Sie konnte sie nicht sehen oder so. Glaubst du auch, dass sie nicht alle Tassen im Schrank hat?« Ruckartig setzte Tamsyn sich auf und starrte Daisy mit großen Augen an.

»Nein, deine Mum ist immer nett gewesen, sie hat mich immer zum Lachen gebracht. Ich glaube nicht, dass sie verrückt ist.« Daisy erinnerte sich an eine liebe Frau mit einem schelmischen Humor. Dass sie so nett gewirkt hatte, machte sie in ihrer Rolle als Vermittlerin zwischen dem Leben und dem Leben nach dem Tod allerdings nicht glaubwürdiger.

»Warum sagt man eigentlich, dass verrückte Menschen nicht alle Tassen im Schrank haben? Was hat das mit Geschirr zu tun?«, fragte Tamsyn und schaute Daisy dabei an, als erwarte sie eine vernünftige Antwort auf diese Frage.

»Äh, das weiß ich nicht, Tams. Unsere Sprache ist merkwürdig.«

»Das stimmt. Manche Ausdrücke verwirren mich auch. Warum sagen die Leute: ›Man kann nicht auf zwei Hochzeiten gleichzeitig tanzen?‹ Es gibt doch Doppelhochzeiten, wieso sollte das also nicht gehen?«

Daisy lachte. »Da sagst du was.« Tamsyn besaß die Gabe, einem die Befangenheit zu nehmen, indem sie einen mit einem unerwarteten Einwurf so ablenkte, dass man die ernsten Dinge darüber vergaß.

»Warum wolltest du denn abreisen?«, fragte Tamsyn, pflückte ein Gänseblümchen und steckte es sich hinter das Ohr.

Daisy dachte einen Augenblick nach. »Weil Großonkel Reg versucht, mich zum Bleiben zu zwingen.«

Tamsyn sah sie aufgeregt an. »Hast du eine Botschaft aus dem Jenseits bekommen?«

»So was Ähnliches«, seufzte Daisy. »Er hat mir in seinem Testament einen alten Bahnhof hinterlassen und verfügt, dass ich den nur bekomme, wenn ich ein ganzes Jahr hierbleibe.«

Tamsyn setzte sich kerzengerade hin. »Er hat dir einen Bahnhof hinterlassen? Welchen? Den in Exeter? Oder den in Marylebone?«

Daisy lachte. »Nein, das verfallene Ding in Ottercombe Bay.«

Im nächsten Moment erschrak sie, weil Tamsyn in die Hände klatschte, als parodiere sie einen Seelöwen. »Wow, das ist sensationell. Das ist ein unheimlich hübsches Gebäude.« Skeptisch hob Daisy die Augenbrauen. »Wirklich, das ist wunderschön. Ich meine, es ist mit Brettern zugenagelt, und das schon seit Jahren, aber … das ist wahnsinnig aufregend!« Sie kreischte vor lauter Begeisterung, wenn auch leise, und unwillkürlich musste Daisy darüber lachen. »Und er will, dass du ein ganzes Jahr hierbleibst?« Daisy nickte, als mache das die Sache aussichtslos. »Ich liebe diesen Mann.« Tamsyn strahlte über das ganze Gesicht, schlang die Arme um Daisy und presste sie fest an sich. Dann ließ sie Daisy wieder los, und im nächsten Moment verging ihr das Strahlen. »Sag mir bitte, dass du hierbleibst.«

Kaum merklich schüttelte Daisy den Kopf. »Ich glaube nicht, Tams. Ein ganzes Jahr am selben Ort war ich …« Da musste sie erst nachdenken. »Als ich zur Uni gegangen bin, glaube ich, und da war ich nur während des Semesters.«

»Ein Jahr geht schnell vorbei, und am Ende besitzt du deinen eigenen Bahnhof. Was total sensationell ist.« Tamsyn gab einen Laut von sich, der sich anhörte wie das Pfeifen einer Lokomotive, und Daisy lachte leise vor sich hin. »Du musst bleiben. Das musst du wirklich.« Fest umklammerte Tamsyn Daisys Hand und schaute ihr mit hoffnungsvollem Blick in die Augen. »Das ist, als habe man dir eine Aufgabe gestellt, deine ganz persönliche Gralssuche, und da kannst du nicht Nein sagen.«

»Eine Gralssuche?« Daisy blinzelte heftig mit den Augen. »Wir leben doch nicht mehr im Mittelalter.«

Tamsyn beugte sich nach vorn. »Nein, aber ich lese wahnsinnig gern Fantasy-Romane, und in denen werden die Helden meist vor eine Aufgabe gestellt, und die ist gefährlich, aber am Ende erreichen sie das angestrebte Ziel und leben glücklich bis ans Ende ihrer Tage. Das hier ist deine Aufgabe, und am Ende könnte dich deine glückliche Zukunft erwarten.«

Daisy lachte, bis ihr auffiel, dass Tamsyn das völlig ernst gemeint hatte. Sie glaubte nicht an ›Und wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie noch heute‹, doch sie war kein Mensch, der vor einer Herausforderung zurückschreckte.

Daisy zog ihre Beine an sich, starrte auf die Bucht von Ottercombe Bay und dachte nach. »Bevor ich eine unüberlegte Entscheidung treffe, schauen wir uns das Ganze vielleicht besser mal an«, meinte sie. Sie hatte die Worte kaum ausgesprochen, als Tamsyn sie ohne Umschweife auf die Füße zog.

Es war ein sonderbarer Anblick, der sich Daisy auftat. Ein einstöckiges, kunstvoll verziertes Gebäude stand frei hinter einem Bahnsteig und Gleisen. Die Hände in die Hüften gestemmt ließ sie diese Szenerie auf sich wirken, während Tamsyn wie ein kleines Kind in einer Spielwarenhandlung auf dem Bahnsteig auf und ab rannte. Daisy stand auf dem, was früher offenbar der Parkplatz des Bahnhofs gewesen war. Ein Dschungel aus hüfthohem Unkraut wuchs durch den Asphalt, der von einer Vielzahl immer größer werdender Schlaglöcher durchsetzt war. Die Gleise waren ebenfalls überwuchert und insgesamt nur so etwa einhundert Meter lang; auf ihnen stand ein verwahrloster alter Eisenbahnwaggon. Das eigentliche Bahnhofsgebäude war in besserem Zustand. Es sah zwar dreckig aus, aber das goldene viktorianische Mauerwerk war deutlich zu erkennen. Daisy hatte das Gefühl, in der Kulisse eines Hercule-Poirot-Spielfilms zu stehen, und rechnete damit, dass trotz der fehlenden Gleise nun jeden Moment schnaufend ein Dampfzug einfahren würde.

Tamsyn hörte auf, hin und her zu rennen, stellte sich mitten auf den Bahnsteig und streckte die Arme zu den Seiten aus. »Was meinst du?«

»Würde vermutlich ein hübsches Museum abgeben.« Wegen der Sonne musste Daisy die Augen zusammenkneifen.

»Es ist aber wahnsinnig hübsch. Findest du nicht?«, fragte Tamsyn und sprang vom Bahnsteig auf die Gleise. Daisy konnte sehen, warum ihr Großvater Arthur das Land hatte bebauen wollen. Das Grundstück hatte eine erstklassige Lage. Es befand sich etwa anderthalb Kilometer landeinwärts, wo der Boden flacher wurde, war ganz in Nähe der Stadt, von den Hauptstraßen bequem zu erreichen und nur einen Spaziergang vom Strand entfernt. Damit war es hervorragendes Gelände für Ferienwohnungen, aber wenn der Gemeinderat ihnen nicht gestattete, diese zu bauen, wusste sie nicht, wie sie es sonst nutzen sollte – da konnte das Gebäude noch so hübsch sein.

Tamsyn stellte sich neben sie und begutachtete die hohen Aufsätze, die in gleichen Abständen das Dach zierten. »Die drei Schornsteine finde ich wunderschön.«

»Mmh«, erwiderte Daisy. »Ich schätze, dass das Haus von innen in drei Räume aufgeteilt ist.«

»Weiß ich nicht. Sollen wir hineingehen?«

Daisy schaute auf die Fenster und die Tür, die mit Brettern zugenagelt waren, und auf die fehlende Dachpfanne. »Dafür würden wir Werkzeug brauchen. Ehrlich gesagt, Tams, glaube ich nicht, dass das groß Sinn ergeben würde.« Sie schaute Tamsyn an, die mit dem gleichen Gesichtsausdruck auf das Gebäude starrte wie Kinder auf Cinderellas Schloss in Disney World – voller ehrfürchtigem Staunen. Daisys Miene spiegelte etwas ganz anderes wider. Vielleicht war sie einfach nur realistischer als Tamsyn.

»Komm schon. Ich dachte, du wärest eine Abenteurerin – du kannst mir nicht weismachen, dass du nicht erkunden willst, wie es da drinnen aussieht«, meinte Tamsyn und verpasste Daisy einen freundschaftlichen Stoß zwischen die Rippen.

Dass sie neugierig war, musste Daisy zugeben. Sie liebte alte Häuser. Daisy zuckte mit den Achseln. »Ich hätte nichts dagegen, ein bisschen herumzuschnüffeln, aber –«

»Dann los, komm. Mein Dad hat Werkzeuge«, sagte Tamsyn und steuerte mit großen Schritten auf das Motorrad zu. Daisy atmete tief durch. Sie wusste, dass es einfacher sein würde, Tamsyns Drängen nachzugeben. Sie schaute auf ihre Armbanduhr. Heute Abend würde sie eh nicht mehr weit kommen. Also konnte sie auch hierbleiben, sich von Tante Carol leckere Hausmannskost kochen lassen und sich erst morgen auf den Weg machen. Sich einfach aus dem Haus geschlichen zu haben, hatte ihr ohnehin nicht behagt. Tante Coral verdiente eine Erklärung, bevor Daisy weiterzog. Das war das Mindeste, was sie tun konnte. Sie hoffte, sie hatte die Nachricht, die sie ihr hinterlassen hatte, nicht schon gefunden.

Als sie das Cottage erreichten, lief Tamsyn zu sich nach Hause, um das Werkzeug zu holen, und Daisy schlich sich in Tante Corals Haus – leise und in der Hoffnung, dass Bugsy nicht losging wie eine Alarmanlage. Ein rascher Blick in die Küche, und sie sah, dass Tante Coral im Garten war. Daisy ließ die Luft heraus, die sie bis zu diesem Moment angehalten hatte, und huschte in ihr Zimmer. Sie stellte den Rucksack ab und wollte den Umschlag mit ihrer Nachricht vom Kopfkissen nehmen, doch er war nicht mehr da. Sie suchte auf, neben und im Bett danach und auf dem Fußboden, doch er war spurlos verschwunden. Ihr wurde ganz elend zumute. Was musste Tante Coral von ihr denken? Für einen kurzen Moment erwog sie, sich doch einfach aus dem Staub zu machen, aber irgendetwas drückte ihr auf die Tränendrüse, und sie gelangte zu dem Schluss, dass sie sich den Tatsachen einfach stellen musste. Sie lief in die Küche und wollte gerade aus der Hintertür nach draußen gehen, als sie aus den Augenwinkeln etwas Schwarz-Weißes sah, das unter den Tisch flitzte. Sie ging in die Hocke. Und erblickte Bugsy – mit dem Umschlag, auf den sie ihre Nachricht geschrieben hatte.

»Guter Junge, Bugsy, gib mir den Umschlag«, bat sie ihn höflich und streckte die Hand danach aus, doch er wich leise knurrend zurück und hielt seinen Schatz fest zwischen den Zähnen. »Fallen lassen«, fauchte sie ihn an. »Loslassen, hergeben. Aushändigen.« Das funktionierte aber alles nicht. Bugsy wich nur noch weiter zurück. Er schaute auf den Schrank, in dem seine Hundekuchen aufbewahrt wurden, und dann schaute er Daisy an. »Willst du mich erpressen?« Dieses Viech war gescheiter, als es aussah – was ihrer Meinung nach allerdings nicht schwierig war.

Als Tante Coral den Knauf der Hintertür drehte, kroch Daisy mit einem Satz unter den Tisch und grapschte einfach nach dem Umschlag. Sie hielt ihn ganz fest, allerdings tat Bugsy das Gleiche. Sie zogen beide daran, und der Umschlag riss in der Mitte entzwei, sodass Daisy nach hinten fiel und mit dem Kopf gegen die Unterseite des Tisches schlug. »Scheiße!«, schimpfte Daisy laut in genau dem Moment, in dem Tante Coral hereinkam.

»Ach du liebe Zeit«, meinte Coral. »Ist alles in Ordnung mit dir?«

»Ja, entschuldige meine Ausdrucksweise.« Daisy krabbelte unter dem Tisch hervor und rieb sich den Kopf an der Stelle, an der sie sich gestoßen hatte. »Ich wollte dir gerade eine Nachricht hinterlassen, dass ich mir den Bahnhof ansehen möchte, und Bugsy hat mir den Zettel gestohlen. Aber den brauchen wir jetzt ja auch nicht mehr«, sagte sie, zerriss rasch ihre Hälfte des Umschlags und stopfte die Schnipsel in ihre Tasche. Sie beäugte den Hund, der jetzt trotzig seine Umschlaghälfte zerfetzte. Perfekt. Sie spürte, wie sich ein Gefühl von Überlegenheit in ihr breitmachte, weil ihr gelungen war, den vierbeinigen Erpresser auszutricksen.

Tamsyns Dad fuhr sie und den Werkzeugkasten mit dem Wagen zu dem alten Bahnhof, und Daisy hievte die riesige Kiste aus dem Kofferraum. »So, wo sollen wir anfangen?«, erkundigte Daisy sich bei Tamsyn, die mit einem Fuß immer noch im Wagen ihres Vaters stand und auf ihr Handy schaute.

»Oh, SOS. Das Café ruft, ich muss zur Arbeit. Solltest du einen Schatz finden, musst du mir das heute Abend erzählen. Viel Glück«, rief sie, und dann kletterte sie wieder in den Wagen und wurde davonchauffiert.

»Na, bravo«, sagte Daisy. Sie steckte ihr Medaillon in ihr T-Shirt und lief auf den Bahnsteig. Vor der mit Brettern verrammelten Tür blieb sie stehen und öffnete den Werkzeugkasten. Sie fand ein kleines Brecheisen, das aussah, als könne es sich als nützlich erweisen, und machte sich daran, die Bretter aufzustemmen. Das war körperlich anstrengend, und sie wurde schnell müde. Ihre Armmuskeln fingen an zu brennen, aber sie machte trotzdem weiter. Sie brauchte zwar eine ganze Weile, aber irgendwann spürte sie, dass das untere Brett etwas nachgab, und das spornte sie an. Sie versuchte es noch einmal mit aller Kraft. Im nächsten Moment lösten sich die Nägel, und sie konnte das Brett herunternehmen.

Daisy hatte das Gefühl, etwas vollbracht zu haben, ließ das Brecheisen fallen und steckte den Kopf durch die Öffnung. Sie rümpfte die Nase. »Hier stinkt es«, entfuhr es ihr – was etwas heißen wollte, denn sie kannte die Toiletten in den entlegensten Winkeln Goas. Dieser hier war aber ein völlig anderer, eher modriger Geruch. Sie lugte in den Innenraum. Da alles mit Brettern zugenagelt war und auf dem Dach nur die eine Dachpfanne fehlte, war es allerdings zu dunkel. Hineinzugehen ergab wenig Sinn.

Eigentlich wollte Daisy das Brecheisen nur wieder in den Werkzeugkasten legen. Sie fing jedoch an, in der Kiste herumzukramen. Eh sie sichs versah, fand sie genau das, was sie brauchte: eine Stirnlampe. Sie legte sich das Stirnband um den Kopf, zog es fest und kroch in das kalte Gebäude. Drinnen richtete sie sich auf, klopfte sich den Staub von den Sachen und schaute sich um. Sie stand in einem perfekt quadratischen Raum. Er verfügte über zwei ebenfalls verbarrikadierte Fenster. Das eine war gleich neben der Tür, das andere an der gegenüberliegenden Wand – und wie sich herausstellte, als sie mit ihrer Stirnlampe kurz darüber leuchtete, waren beide intakt. Zu ihrer Rechten entdeckte sie etwas, das sie fast genauso strahlen ließ wie die Lampe: einen altmodischen Fahrkartenschalter. Sie war hier im Schalterraum.

Ebenfalls zu ihrer Rechten war eine offen stehende Tür, die in einen weiteren quadratischen Raum führte, in dem ein großer Schrank stand. Sie schaute hinein. Seine vielen Regale waren abgenutzt, und sie nahm an, dass das hier früher die Gepäckaufbewahrung gewesen war. Sie hockte sich auf den Boden und fand auf dem untersten Regal ein verstaubtes Schild. Als sie danach griff, konnte sie kaum fassen, wie schwer es war, obwohl es gerade mal die Größe einer halben DIN-A4-Seite hatte. Bestimmt Gusseisen, dachte sie. Es hatte einen roten Hintergrund, und darauf stand in goldenen Lettern: ›Vorsicht! Einfahrende Züge!‹ Dass man damit an einem Bahnhof rechnen musste, war ihrer Ansicht nach zwar logisch, aber man durfte die Dummheit mancher Leute eben nie unterschätzen.

Als sie die Regale weiter absuchte, fand sie eine Bürste, auf die die Buchstaben GWR aufgemalt waren, die aber nicht mehr viele Borsten hatte, und eine Kiste mit Papieren, die, wenn man von der wunderschönen Handschrift absah, ziemlich langweilig aussahen; dass sie etwas wert waren, bezweifelte sie. Sie warf das schwere Schild und die alte Bürste in die Kiste und trug sie durch den Schalterraum in den nächsten Raum, an dessen Eingang immer noch ein Schild hing, auf dem ›Wartesäle‹ stand. Die Tür war schwer und kunstvoll verziert, und die Scharniere ächzten, als Daisy sie öffnete. In dem Raum sah es aus, als sei die Zeit zurückgedreht worden. Es gingen zwei weitere Räume davon ab, die mit ›Wartesaal für Frauen‹ und ›Wartesaal für Männer‹ gekennzeichnet waren, doch wie sich herausstellte, handelte es sich dabei lediglich um einzelne Toilettenräume.

In diesem Raum war die Decke niedriger und hatte eine Luke, die auf den Speicher führte. Um einen Blick hineinzuwerfen, würde sie eine Leiter brauchen. Der eigentliche Wartesaal war mit einem großen Kamin ausgestattet, der schon lange keine Einfassung mehr hatte, aber die lange Holzbank und das große hölzerne Bahnhofsschild mit der Aufschrift ›Ottercombe Bay‹ gab es noch. Daisy grinste über das ganze Gesicht, als sie die Kiste auf die Bank fallen ließ, was eine Staubwolke aufwirbelte, die ihr die Kehle zusammenschnürte. Prompt bekam sie einen Hustenanfall.

»Ist da jemand?« Eine zornig klingende Männerstimme schallte von draußen herein. »Komm auf der Stelle da heraus!« Daisy konnte nichts darauf erwidern, weil sie immer noch hustete. »Dass ich dich an den Haaren herauszerren muss, willst du nicht erleben!«, brüllte die Stimme. Daisy gefiel der Ton nicht, und als sie endlich wieder atmen konnte, ohne dabei zu husten, bewaffnete sie sich mit dem kleinen gusseisernen Schild, das vor einfahrenden Zügen warnte. Es war inzwischen sicher dunkel draußen, und sie wusste nicht, ob sie dieses brauchen würde, um sich zu verteidigen.

In dem Moment, in dem Daisy gegen die Tür drückte, die in den Schalterraum führte, zog auf der anderen Seite jemand daran, und sie taumelte nach vorn, fuchtelte dabei mit dem Schild herum.

»Verflixt!«, schrie die andere Person und hob den Arm, als wolle sie ausholen, und Daisy reagierte sofort, indem sie mit dem Schild daraufschlug.

»Sie begehen Hausfriedensbruch«, brüllte sie und hob das Schild, um notfalls erneut zuschlagen zu können.

»Verdammt. Daisy?«

Daisy trat einen Schritt zurück und versuchte festzustellen, wen sie da mit der Stirnlampe blendete. »Max? Was zum Teufel tust du hier?«

»Ich versuche, zu ergründen, wer in das Bahnhofsgebäude eingebrochen ist. Und der Lohn für meine Mühe ist ein gebrochener Arm!« Er wiegte seinen verletzten Arm und fluchte dabei leise vor sich hin.

»Ich habe mich nur zur Wehr gesetzt, weil du ausgeholt hast und mich schlagen wolltest.«

»Ich habe den Arm gehoben, um meine Augen vor dem grellen Licht deiner verfluchten Lampe zu schützen.« Er zeigte mit seinem guten Arm darauf.

»Oh, richtig«, erwiderte Daisy in etwas versöhnlicherem Ton. Sie nahm ihre Stirnlampe ab, sodass das Licht den Raum in einer angenehmeren Höhe erhellte. »Zeig mir deinen Arm.« Sie wartete nicht, bis er das auch wirklich tat, sondern griff einfach danach, was ihn zusammenzucken ließ. Vorsichtig tastete sie seinen angespannten Unterarm ab, wobei ihr nicht entging, wie wunderschön definiert seine Muskeln waren. »Er ist nicht gebrochen.«

»Bist du sicher?« Max unterzog seinen Arm einer gründlichen Untersuchung.

»Ziemlich sicher.«

»Bist du Ärztin oder Krankenschwester?«

»Nein, aber ich habe mal in einer Spezialklinik gearbeitet und …«

»Spezialklinik?«

»Also, eigentlich habe ich in der Nähe von Nizza in einer Tierarztpraxis die Käfige sauber gemacht.«

»Verflucht«, sagte Max erneut, aber dieses Mal lachte er dabei, und auch Daisy fing an, sich etwas zu entspannen. »Wenn die Polizei dich hier erwischt, bist du das Verbrechen des Jahrhunderts. Du machst dich besser aus dem Staub.«

Fragend sah Daisy ihn an. »Du glaubst, dass ich stehle?«

»Äh, ja. Warum wärest du sonst mit einem Brecheisen hier eingebrochen?«

»Das ist ein Argument«, gab Daisy zu. Sie wäre vermutlich zu derselben Schlussfolgerung gelangt. »Ich begutachte lediglich meine Erbschaft. Wie sich herausstellt, gibt es da nicht viel zu sehen.«

»Erbschaft?«

»Jawohl. Das gehört alles mir«, erwiderte sie in sarkastischem Ton. Sie holte die Kiste, und Max schaute hinein.

»Heißt das, dass der Bahnhof Reg gehört hat?«

»Mein Großvater hat ihn offenbar gekauft und ihn dann seinem Bruder, Reg, hinterlassen, und der hat ihn jetzt mir vererbt. Das mustergültige Beispiel eines Familienbesitzes, der keinerlei Nutzen bringt. Sie haben viermal versucht, die Genehmigung zu bekommen, auf dem Grundstück zu bauen, und das Gesuch ist jedes Mal abgelehnt worden.«

In der Ferne hörten sie eine Polizeisirene, und Max wurde ganz unbehaglich zumute. »Los, wir sehen besser zu, dass wir hier wegkommen. Ich will das der örtlichen Polizei nicht alles erklären müssen«, sagte er und steuerte bereits auf die Tür zu.

Kaum dass sie draußen waren, stellte Daisy die Kiste ab und hob das Brett vom Boden, das vor einem Teil der Tür gewesen war.

»Lass mich das machen«, sagte Max und nahm es ihr aus der Hand. Sie reichte ihm den größten Hammer, der in dem Werkzeugkasten war. Mit flinken Schlägen brachte er das Brett wieder an, während sie versuchte, nur ja nicht auf seinen muskulösen Unterarm zu starren.

»Der Arm ist also wieder in Ordnung?«, erkundigte Daisy sich mit einem spöttischen Grinsen, da ihr auffiel, mit welcher Leichtigkeit er das Brett festhämmerte.

»Es war der andere Arm«, erwiderte Max mit einem ähnlich höhnischen Grinsen.

»Vielen Dank für deine Hilfe …« Daisy zögerte einen Moment. Ihr erster Eindruck hatte sie getrogen, Max hatte sich zu einem recht anständigen Menschen gemausert. »Ich lade dich zu einem Bier ein.«

»Damit ich mir keinen Anwalt nehme und dich auf Körperverletzung verklage?«, fragte Max mit ernster Miene.

Daisy runzelte die Stirn. »Ich hoffe, das soll ein Witz sein.«

»Das ist ein Witz. Komm, jetzt habe ich Durst auf ein Bier.« Max bückte sich, klemmte sich die Kiste mit den Bahnhofssachen unter den Arm, hob den Werkzeugkasten vom Boden und überquerte den Bahnsteig. Daisy schätzte es gar nicht, Vorschriften gemacht zu bekommen. Sie interessierte sich aber für Max, und da er in diesem Moment mit ihren Sachen abschwirrte, riss sie sich zusammen und folgte ihm.

Kapitel 4

Das Mariner’s Arms war ein typischer Kleinstadt-Pub, und als Max auf die Theke zusteuerte, wurde er von fast jedem namentlich begrüßt.

»Du kehrst also nur ganz selten mal hier ein«, bemerkte Daisy.

»Nein, so gut wie nie«, entgegnete er. Der Barkeeper rückte an, und Max stellte die Kisten ab.

»Das Übliche, Max? Du bist heute Abend früh dran«, meinte der Barkeeper und nickte flüchtig in Daisys Richtung.

»Ja, bitte, Monty, und dazu einen Whisky, weil die Dame mich nämlich einlädt.«

Daisy griff mit beiden Händen in die Vordertaschen ihrer Jeans und war dankbar, zwei Scheine und ein paar Münzen darin zu finden – mehr Geld hatte sie nicht.

»Alle nennen mich Monty, weil ich mit Nachnamen Python heiße.« Monty streckte ihr über dem Tresen die Hand entgegen, und Daisy schüttelte sie artig. »Und was darf ich Ihnen bringen?«, wollte er wissen.

Sie hätte liebend gern einen großen Gin Tonic getrunken, musste sich ihr Geld aber einteilen. Außerdem sah es so aus, als gäbe es hier eh nur die Fertigcocktail-Version in der grünen Flasche. »Eine kleine Cola light, bitte.«

Daisy bezahlte die Drinks, und sie begaben sich in den hinteren Teil der Bar, wobei Max die Kisten mit dem Fuß vor sich her schob, weil er die Gläser in den Händen hielt.

»Dass der alte Reg auf Züge stand, wusste ich – natürlich nicht so sehr wie Jason. Dass ihm der Bahnhof gehörte, hat er allerdings nie erwähnt, das hat er für sich behalten.«

»Das Ding ist ja auch nicht gerade aufregend. Du hast doch gesehen, wie es darin aussieht. Das ist eine Schutthalde.«

Max legte den Kopf leicht zur Seite. »Na ja, der Bau ist vernachlässigt worden, aber eine Ruine ist er nicht. Da müssen im Grunde nur ein paar Reparaturen vorgenommen und dann muss das Ganze sauber gemacht und eingerichtet werden. Das ist alles, wenn du vorhast, darin zu wohnen.«

»Darin zu wohnen?« Daisy verschluckte sich fast an ihrer Cola. »Das ja nun wirklich nicht.«

»Wieso nicht?« Max schien ernsthaft verblüfft zu sein, was Daisy veranlasste, sich ihre Antwort gut zu überlegen.

»Im Prinzip sind das drei Räume und zwei Toiletten, die auf einem von Schutt übersäten Parkplatz stehen. Der einzige Pluspunkt ist die gute Lage.«

»Schlafzimmer, Wohnküche und Bad. Was braucht man mehr?«

Damit hatte er recht, so ärgerlich es auch war. »Das stimmt schon«, gab Daisy zu. »Ich weiß nur nicht, ob der Gemeinderat davon begeistert wäre.«

»Da musst du fragen. Das kostet dich nur einen Anruf beim Planungsamt. Die werden dir ganz schnell sagen, womit sie einverstanden sind und womit nicht. Steht der Bau unter Denkmalschutz?«

Daisy zuckte mit den Achseln. Der Gedanke war ihr noch gar nicht gekommen. »Das weiß ich nicht.«

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