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Walliser Totentanz

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Im 16. Jahrhundert ist das Wallis Schauplatz im Kampf um die Vorherrschaft in Europa. Inmitten von Krieg, Pest und der Jagd auf Hexen hat die Kräuterfrau Magdalena Capelani einen riskanten Beruf. Zwar wird ihr Wissen gebraucht, aber man traut ihr nicht: Wer sich mit den Kräften der Natur auskennt, steht mit dem Teufel im Bund. Und tatsächlich verfügt Magdalena über ein zweites Gesicht. Sie sieht den Tod ihres Bruders voraus, der in einer der Schlachten stirbt, in denen sich Kardinal Matthäus Schiner mit dem mächtigen Volkstribun Georg Supersaxo befehdet. Erst durch die Schlacht bei Marignano beginnt der unaufhaltsame Abstieg der Papsttreuen. Ein atemberaubendes Drama über die Geschichte der Schweiz, ein Sittengemälde der Renaissance und ein Epos über Intrige, Macht, Liebe und Überleben.


  • Erscheinungstag: 02.02.2015
  • Seitenanzahl: 592
  • ISBN/Artikelnummer: 9783312006458

Leseprobe

Für Beatrice

Das Marterkreuz

I. Christnacht 1493. Johann Zussen, der Pfarrer von Münster im Goms, stand neben dem Beinhaus und beobachtete die Frauen, die nach der Messe mit geweihten Kerzen die Gräber ihrer Toten aufsuchten. Er sah nur die von den Lichtern erhellten Gesichter und die Hände, die die zarten Flammen vor dem Schneefall zu schützen suchten; der Rest lag im Dunkeln.

Zussen fröstelte. Wie fromm und andächtig sie aussehen, dachte er bitter. Diese Gesichter und Hände hatte er vor sechzehn Jahren schon beobachtet. Das Licht war damals stärker gewesen, der Reisig, den sie eifrig zum Scheiterhaufen auf den Dorfplatz von Ernen geschleppt hatten, stand in hellen Flammen. Durch die Rauchschwaden hatte er auf die Gestalt gestarrt, die sich am Pfosten wand. Wenige Augenblicke später war sie von einer rotgelben Lohe umhüllt. Die Schreie waren leiser geworden und endlich verstummt. Am nächsten Tag hatte man die Asche weggefegt, zum Dorf hinaus, verstreut in alle Winde. Die Knochen, die übrig geblieben waren, hatte der Henker den Hunden und Krähen hingeworfen. Zussens Mutter hatte kein Grab, an das er geweihte Kerzen hätte stellen können.

Schweigend durchschritt er den Friedhof und betrat die Kirche, die von einigen Kerzen und Öllampen spärlich erleuchtet war. Vor dem Erzengel-Michael-Altar blieb er stehen. Ein knochendürrer, geschundener Christus hing dort am Holz, dornengekrönt und leidend. Sein Blut floss in einem dicken Strahl aus einer offenen Wunde unter dem obersten rechten Rippenbogen. Der Schnitzer hatte sich schwergetan mit der Darstellung des Blutes, das aussah wie ein geflochtener roter Strick.

Dieses Marterchristus wegen wallfahrten die Gläubigen nach Münster. Sie spendeten Geld für den Kauf von Kerzen oder Lampenöl, für Sakralgewänder und Messkelche. Sie stifteten Seelenmessen für ihre Vorfahren, die Pfarrer Zussen in seinen Jahrzeitbüchern festhielt, genau wie seine Vorgänger. Man betete vor dem Kruzifix das Vaterunser, das Ave-Maria oder das Ehre-sei-dem-Vater, meistens ohne die Worte zu verstehen und in häufiger Wiederholung, denn damit glaubte man die Wirkung des Gebets zu erhöhen. Um sich nicht zu verzählen, ließ man die Kugeln des Rosenkranzes durch die Finger gleiten.

Zussen war unfähig zur Zwiesprache mit einem Gott, der verehrt wurde von Menschen, die vor dem Scheiterhaufen gelacht und Beifall geklatscht hatten, als seine Mutter qualvoll zugrunde ging. Mit brennenden Augen starrte er den Marterchristus an, ohne sich bewusst zu sein, dass er ihm immer ähnlicher wurde, lang und hager, wie er war. In sein Gesicht hatten sich tiefe Falten gegraben, je zwei zwischen den Augenbrauen und zu beiden Seiten der schmalen Lippen. Das Haar hing ihm unordentlich über die Ohren. Die mehrfach geflickte Soutane schlotterte um seine dürre Gestalt. Es war kalt. Er zog das Wolfsfell, das schon bessere Tage gesehen hatte, enger um die Schultern.

Hinter ihm war ein Räuspern zu hören.

Zussen fuhr herum. Vor ihm stand Martin Uff der Eggen aus Reckingen. Der Mann war gleich groß wie Zussen, aber breiter, und mit seinem pelzverbrämten knielangen Mantel, den modischen Stulpenstiefeln und den Lederhandschuhen weit besser gegen die Kälte geschützt. Außerdem trug er ein Federbarett. Wäre Uff der Eggen nicht reich gewesen, wäre er nicht schon fünfmal zum Zendenmeier gewählt worden. Was ihn wiederum noch reicher gemacht hatte, denn im Goms, so war es Brauch, erhielt der Meier die Hälfte des Besitzes jener armen Teufel, die er am Galgen von Ernen aufknüpfen ließ. Schon Uff der Eggens Vater, Anthelm, war viermal Meier gewesen. Das Amt war zwar nicht erblich, blieb aber über Generationen stets mit denselben Namen verbunden. Herkunft und Besitz spielten eine entscheidende Rolle, wenn am 1. Mai das Volk in Bodmen bei Blitzingen zusammenströmte, um den Meier zu wählen, den höchsten Verwaltungsbeamten und Richter des Zenden Goms. In den ungeraden Jahren ging das Amt an einen aus der Kilchri Ernen, in den geraden war ein Münstiger an der Reihe. Zurzeit war es Johann Schmid aus Ernen, dessen Onkel Thomas anno 1477 Zussens Mutter zum Feuertod verurteilt hatte.

Martin Uff der Eggen war jetzt Kirchenvogt und damit Herr der Pfründe und Opferstöcke der Liebfrauenkirche. Was Zussen zum Leben brauchte, erhielt er von ihm. Vielmehr erhielt er so viel, wie Uff der Eggen fand, dass Zussen brauche.

«Ihr solltet im Wirtshaus sein, Pfarrer», sagte er, «bei Euren Leuten.»

Bei meinen Leuten, dachte Zussen. Ihn ekelte die Vorstellung, in der engen Schankstube inmitten seiner betrunkenen Schäfchen zu sitzen. Der Weindunst über der Gemeinde, der sich mit dem Weihrauch vermengte, war schon während der Messe kaum zu ertragen. Noch schwerer die geröteten Gesichter mit den offenen Mündern, in die er mit Widerwillen den Leib des Herrn gelegt hatte.

«Ihr verzeiht», sagte er. «Ich fühle mich nicht wohl.» Er ließ Uff der Eggen einfach stehen und eilte mit großen Schritten dem Ausgang zu.

Uff der Eggen lachte spöttisch. «Schade», rief er ihm nach, «ich wollte Euch den Lohn zahlen.»

Zussen blieb stehen. Der Kirchenvogt schuldete ihm das Geld, seinen Jahreslohn, seit mehr als einem Monat, genauer: seit Martini.

Uff der Eggen hatte plötzlich einen Beutel in der Hand. «Heuer gibt es weniger. Die Spenden sind spärlich geflossen.»

Zussen schwieg. Er wusste es besser. Seit fast zwei Jahren wütete im Oberwallis die Pest. Kaum eine Familie war verschont geblieben. Scharenweise waren die Gläubigen nach Münster gepilgert, um vor dem Marterchristus für sich und ihre kranken und verstorbenen Angehörigen zu beten. Noch selten hatte man Uff der Eggen so viel Geld für Messen übergeben, die der Pfarrer lesen musste. Der Kirchenvogt betrog ihn.

«Glaubt Ihr mir nicht?», fragte dieser lauernd, als er Zussens Blick wahrnahm. «Glaubt Ihr mir nicht?», wiederholte er lauter.

«Was Ihr mit dem Geld macht», sagte der Pfarrer leise, «müsst Ihr allein vor Gott verantworten.»

Uff der Eggen trat an ihn heran und packte ihn mit seinen riesigen Fäusten am schäbigen Wolfspelz. Die beiden Gesichter waren nur eine Spanne voneinander entfernt. Weindunst schlug Zussen entgegen. Angewidert wandte er den Kopf ab.

«Übernehmt Euch nicht, Pfaffe.» Uff der Eggens Gesicht war rot. «Wir haben schon ganz andere zum Schweigen gebracht.» Und plötzlich schreiend: «Wir können einen Geistlichen nicht richten, wie wir Eure Mutter, die Hure, gerichtet haben, aber wir finden Mittel und Wege, Euch kleinzukriegen.» Er stieß Zussen zurück, der in die Dunkelheit der Kirche taumelte. «Da, nehmt Euer Geld.» Er warf ihm den Beutel vor die Füße. Klirrend rollten die Münzen über den Steinboden.

Und während der Kirchenvogt hohnlachend den Raum verließ, rutschte Zussen auf den Knien herum und sammelte die Pfennige ein, die Viertelgroschen und die Plapparte, deren Vorderseite das Wappen von Bischof Walter Supersaxo zierte, der ihn vor Jahren zum Priester geweiht hatte. Mühsam erhob er sich und starrte die weißgetünchte Kirchenwand an. Im flackernden Licht der Kerzen und Öllampen vollführte sein überlebensgroßer Schatten bizarre Gebärden, ein schwarzes, trauriges Gespenst.

Dann trat Johann Zussen in die Nacht hinaus. Noch immer fiel Schnee. In den Gassen hatte man schmale Pfade freigeräumt, so dass er zum Pfarrhaus gehen konnte, ohne bis zu den Hüften einzusinken. Aus dem Wirtshaus drang Lärm. Er schaute durch das erleuchtete Fenster in die Schankstube. Die Männer tranken, einige stritten sich, andere starrten mit glasigen Augen vor sich hin. Egid Lagger, der Wirt, ging mit einer großen Kanne von Tisch zu Tisch und füllte die Becher nach. Heilige Nacht. Man feierte die Geburt des Erlösers. Zussen wäre gern hineingestürmt, um die Zecher zu vertreiben, so wie der Heiland die Händler aus dem Tempel gejagt hatte. Aber sie hätten ihn nicht ernstgenommen. Auch wenn er Pfarrer war, galt er wenig als Sohn einer Ehebrecherin. So wandte er sich dem Pfarrhaus zu, einem eineinhalbstöckigen Schmalhaus samt Laubengeschoss mit langer Traufseite. Rückwärtig gab es eine angebaute Stallscheune, in der er zwei Kühe und ein paar Schafe hielt.

Er klopfte den Schnee von den Schuhen und ging durch den Wohnraum in die Küche. Über dem offenen Herd hing an einer Kette mit Hakenstange ein Kupferkessel. Er war zu einem Viertel mit Hirsebrei gefüllt. Die alte Josefa Capelani, seine Haushälterin, hatte einen Krug Wein, Roggenbrot und ein Stück Rauchfleisch aufgetischt.

Sie hatten ein seltsames Verhältnis zueinander, der Pfarrer und seine Haushälterin. Sie war die Muhme seiner verstorbenen Mutter und damit seine Großtante. Über zwei Generationen hinweg hatte sie als Hebamme kleinen Gommern auf die Welt geholfen, auch ihm selber, in jenem denkwürdigen August anno 1462. Wie alle in Münster hielt er sie für eine Hexe, weil sie, wie viele der Capelani-Frauen, aus Kräutern einen Brei herzustellen oder einen Sud zu brauen wusste, die bei Menschen und Vieh Krankheiten heilten. Sie war schon über siebzig und seit mehr als drei Jahrzehnten verwitwet. Die Gicht krümmte ihre Glieder; die meisten ihrer Zähne waren ausgefallen. Ob sie unter der Haube noch Haare hatte, war ungewiss. Selbst ihre längst erwachsenen Kinder gingen ihr aus dem Weg. So lebte sie allein in einem alten, windschiefen Haus am Fuß des Galen. Man mied sie, wie man den Pfarrer mied, und dass sie Zussens Haushalt führte, lag weniger am spärlichen Gehalt, das er ihr bezahlte, als am Mitgefühl, das sie für ihren unglücklichen Großneffen empfand.

Zussen setzte sich, und Josefa schöpfte ihm vom Hirsebrei auf den Teller. «Ich gehe jetzt», sagte sie. «Die Totenprozession ist vorbeigezogen.» Die alte Frau besaß nicht viel außer ihren Visionen. Die Toten, die in einer Nacht über neun Grate und neunundneunzig Alpstaffel eilen müssen, um ihre Sünden abzubüßen, waren eine davon.

«Hast du sie gesehen?», fragte Zussen.

Josefa schlug ein Kreuz. «Wo denkst du hin? Als ich sie hörte, habe ich für die Armen Seelen gebetet.»

«Was hast du gehört?»

Die alte Frau schwieg. Sie verhüllte Kopf und Schultern mit einem schwarzen, wollenen Tuch und wandte sich zum Gehen. Unter der Tür blieb sie stehen, kalte Luft drang herein. «Über die Toten spreche ich nicht.» Dann war sie verschwunden.

Zussen setzte sich an den Herd und legte dürres Holz in die Glut. Er starrte in die Flämmchen, die kleinen, schüchternen Irrlichter, die gierig nach den Lärchenprügeln züngelten. Wie alle im Dorf glaubte auch er an die Armen Seelen, die in den Nächten barfuß zum Aletschgletscher zogen. Er versäumte es selten, eine Schale Milch ans Fenster zu stellen, damit sie sehen konnten, dass er an sie dachte. Das heißt: Im Grunde dachte er nur an seine Mutter, den einzigen Menschen, den er geliebt hatte.

II. Bertsch Zussen war bereits über vierzig Jahre alt gewesen, als er Maria Capelani gefreit hatte. Sie wurde seine dritte Frau. Daran war nichts Ungewöhnliches. Frauen starben früh, meist im Kindbett, wenn sie das fünfte, sechste oder siebte Kind zur Welt brachten. Maria wurde nicht gefragt, ob sie ihn wollte. Ihr Vater war froh gewesen, die Sechzehnjährige aus dem Haus zu haben. Auch das war üblich: Hände zum Helfen gab es auf dem elterlichen Hof genug, und dass sie eines Tages woanders für ihr tägliches Brot arbeiten musste, war Maria bewusst.

Nach der Trauung war sie mit ihrem Bündel auf dem Rücken hinter dem düsteren Mann, der nun nach dem Gesetz nicht nur ihr Gatte, sondern auch ihr Vormund war, hinaufgestiegen zu ihrem neuen Zuhause am Schattenhang und hatte sich eingereiht in die Schar der Kinder von Zussens beiden früheren Frauen; mindestens drei der Kinder waren älter als sie selber. Sie teilte deren Schicksal und machte sich im Haus und auf dem Feld nützlich. Bei ihr kam allerdings hinzu, dass der Alte nachts über sie herfiel, kurz und lieblos. Sie war ein Bauernkind und hatte oft beobachtet, wie der Stier die Kühe besprang und der Bock die Geißen. Dass es in einer Ehe nicht anders war, erschreckte sie. Sie fühlte sich gedemütigt. Als ihre Blutungen zweimal hintereinander ausblieben, fragte sie während der Sonntagsmesse flüsternd ihre Mutter um Rat.

«Da gibt es nichts zu raten, Kind», sagte sie. «Du bist guter Hoffnung.»

Guter Hoffnung! Maria freute sich auf das kleine Menschlein, das in ihrem Leib wuchs. Sie erspürte seine Bewegungen, und die jüngeren Zussenkinder durften das Ohr auf ihren Bauch legen, um den geheimnisvollen Tönen zu lauschen. Bertsch hingegen zeigte weder Freude noch Interesse. Alles in allem hatte er bei seinen ersten beiden Frauen fünfzehn Geburten erlebt, vier Kinder waren bereits in den ersten Monaten gestorben, fünf hatten das Erwachsenenalter erreicht und waren ausgeflogen. Es blieben noch sechs auf dem Hof, und nun kam eben ein weiteres dazu. «Ein Balg mehr», sagte er nur und ging in den Stall. Maria begriff, dass sie allein die Verantwortung für das Kind trug und weder jetzt noch in Zukunft auf den Mann zählen durfte, mit dem man sie verheiratet hatte.

Im Erntemonat 1462, als sie niederkam, hatte es zwei Tage lang ununterbrochen geschneit. Die Bäume ächzten unter der nassen Last, und Josefa Capelani, die Hebamme, stapfte schimpfend durch den kniehohen Schnee. Kathrin, eine Zussentochter aus erster oder zweiter Ehe, so richtig wusste das keiner mehr, hatte sie geholt. Ihre Nichte Maria liege seit bald einem Tag in den Wehen. Sie müsse kommen und helfen. Das Mädchen ging voran, während sich Josefa mühte, in ihre Spuren zu treten. Sie kämpften sich durch den Flockenwirbel, in dem sie kaum die Hand vor Augen sahen.

Einmal drehte sich das Mädchen um. «Schnee um diese Jahreszeit – da muss Hexerei im Spiel sein, glaubt Ihr nicht?»

Josefa schlug das Kreuz. «Schweig, du dumme Tampe, und geh weiter.» Es war nicht gut, über Hexen zu sprechen. Fehlte nur noch, dass sie Namen nannte! Ein Verdacht konnte tödlich sein. Sie hatte zu viele erlebt, die auf dem Scheiterhaufen in Ernen endeten. Unschuldig – davon war sie überzeugt, aber auch darüber sollte man nicht sprechen, wenn man sich nicht selber verdächtig machen wollte.

Was sie erst morgen erfahren sollten: Am Blasen ob Ulrichen hatte sich eine Lawine gelöst, welche die Sankt-Anna-Kapelle Zum Loch zerstörte. Vier Jahre später gestand Henslin Heinen aus Gluringen bei der Folter, brüllend vor Schmerz, dass er es gewesen war, der damals den großen Schneefall und die verheerende Lawine herbeigehext hatte.

Endlich erreichten sie den Zussenhof. Maria lag wimmernd auf ihrem Lager; die Laken waren blutdurchtränkt. Josefa schickte die Kinder, die sie ängstlich und neugierig beobachteten, in die Küche.

«Wo ist Bertsch?», wollte sie wissen.

Der Alte sei am Morgen nach Reckingen gegangen und seither nicht mehr aufgetaucht, sagte Kathrin.

«Der Blagg», schimpfte Josefa, «er wird sich wohl im Wirtshaus besaufen.» Und zum Mädchen sagte sie: «Bring mir eine Schüssel heißes Wasser!»

Sie setzte sich an Marias Lager und kramte ein Zettelchen aus den Tiefen ihrer Röcke. Es war mit einem Segensspruch aus dem Johannesevangelium beschrieben. Sie schob es Maria in den Mund. «Iss das, es wird dir helfen!»

Gehorsam würgte Maria den Schluckzettel hinunter.

Josefa untersuchte sie. «Seit wann hast du Wehen?»

«Seit gestern Nacht», antwortete Maria gepresst. Dann schrie sie auf. «Oh, das tut weh, das tut so weh – als ob der Teufel mit einem Messer in meinem Leib wühlte. Ich muss sterben!»

«Natürlich tut es weh, was hast denn du geglaubt», brummte Josefa. «Aber deswegen wird es nicht gleich ans Sterben gehen.» Sie wandte sich zu Kathrin, die inzwischen mit heißem Wasser hinter ihr stand, und sagte: «Setz dich in eine Ecke und schau mir genau zu! Wer weiß, vielleicht kannst du etwas lernen.» Aus ihrem Korb nahm sie ein Kissen, das einen wohltuenden Heuduft verströmte, und schob es Maria unters Kreuz. «Unser Frauen-Bettstroh», erklärte sie Kathrin, die sie mit weit aufgerissenen Augen beobachtete. «Da ist Labkraut drin, das lindert die Nachwehen. Das Quendelkraut, der Frauenflachs und der Wohlgemut schützen sie gegen böse Einflüsse. Das Mariengras zieht die guten Energien an. Das Weideröschen, das den Blitzen wehrt, darf nicht fehlen, so wenig wie Kamille, Waldmeister und Gundelrebe.»

Draußen in der Küche standen die übrigen Kinder und lauschten angestrengt. Es gab viel zu hören: Stöhnen, Wimmern, hin und wieder einen Schrei, dazwischen die tiefe Stimme der Hebamme, beruhigend und dann wieder energisch. Und endlich – nach Ewigkeiten, so schien es – das Plärren eines neuen Menschleins.

Eine halbe Stunde später kam Josefa in die Küche. Sie sah erschöpft aus und verschwitzt. «Ihr könnt jetzt hineingehen und euer Brüderlein begrüßen, aber seid leise!»

Als sich die Kinderschar an ihr vorbei in die Schlafstube gedrängt hatte, trat sie vors Haus. Es hatte aufgehört zu schneien. Schwerfällig flog ein Krähenschwarm gegen den Südwestwind an, der schwere Wolkengebilde talaufwärts vor sich hertrieb. Manchmal riss es die Wolken auseinander, und man sah durch große Fenster in die leuchtende Unendlichkeit. Im Westen verloren sich die hohen Berge in sanften Grautönen. Josefa war müde. Wie vielen Kindern hatte sie schon in die Welt geholfen? Was würde aus diesem werden?

Die hohe Birke neben dem Haus hatte sie schon bemerkt, als sie gekommen war. Nun ging sie zum Baum und scharrte mit den Füßen den Schnee weg. Mit einer Hacke, die sie sich von Kathrin hatte geben lassen, grub sie ein Loch in die feuchte Erde. Sie vergewisserte sich, dass sie von niemandem beobachtet wurde. Was sie vorhatte, würde der Dorfpfarrer als heidnischen Brauch bezeichnen. Sie zog ein Bündel, das sie unter ihrem Umschlagtuch verborgen hatte, hervor und nahm vorsichtig die Nachgeburt samt Nabelschnur heraus, legte sie ins Loch und bedeckte beides hastig mit Erde.

Drinnen hatten sich die Zussenkinder am Neugeborenen sattgesehen. Sie saßen eng aneinandergedrängt in der Küche, wo die Älteste für sie Milch aufwärmte und jedem ein Stück Roggenbrot abschnitt. Den Jüngsten lief Rotz aus der Nase, und jedes suchte mit dem klarzukommen, was passiert war.

Maria lag in der Kammer. Sie fühlte sich schwach. Sie weinte, vielleicht aus Erleichterung, vielleicht auch, weil sie, selbst noch ein Kind, auf einmal Mutter war. Der Säugling, frisch gebadet und eng in weißes Halbleinen gewickelt, lag an ihrer Brust. Mit dem Zeigefinger streichelte sie vorsichtig das hochrote, runzelige Köpfchen. «Wir werden dich Johannes taufen», flüsterte sie ihm ins Ohr, «denn der heilige Johannes hat mir geholfen, dich auf die Welt zu bringen.»

Als Bartholomäus Zussen Stunden später angetrunken nach Hause kam, ließ Maria es nicht zu, dass er sich zu ihr legte. «Rühr mich nicht an!», fauchte sie. «Geh fort!» Ihre Stimme klang wild, und ihre Augen blitzten derart zornig, dass er den Raum verließ und sich auf dem Heuboden schlafen legte.

«Rühr mich nicht an», hatte sie gesagt, und dabei blieb es. Im Verlauf der Schwangerschaft hatte sich Maria gegen ihren Mann verhärtet. Sie verzieh ihm die Gleichgültigkeit nicht, mit der er auf das neue Leben in ihrem Bauch reagiert hatte. Sie lernte, ihn sich vom Leib zu halten. Manchmal schlug er sie. Das nahm sie hin; jeder Mann im Dorf schlug seine Frau. Wenn er sie aber nehmen wollte, selbst mit Gewalt, wurde sie zur Furie. Sie wehrte sich schweigend und verbissen, und schließlich ließ er sie in Ruhe. Ihr half dabei, dass Bartholomäus’ Manneskraft ohnehin nachließ.

Dem Herbst folgte der Winter, schneereich wie immer. Die Menschen verkrochen sich in ihren Häusern. Die Frauen saßen am Spinnrad oder am Webstuhl. Die Männer schlugen Holz im Wald oder besserten zu Hause die Gerätschaften aus. Man besorgte das Vieh, das in engen Ställen von wärmeren Tagen auf der Weide träumen mochte. Im Februar und März kamen die Lämmlein zur Welt. Die Tage wurden länger, die grünbraunen Wiesenflecken auf der Südseite des Tals wuchsen, während man am Schattenhang, wo der Zussenhof lag, noch immer tief im Schnee versank. Im April hielt der Frühling im Talboden Einzug, und im Weidemonat endlich auch schattenhalb, an der Raifte.

Im Brachmonat stand das Gras hoch genug für den ersten Schnitt. Bartholomäus Zussen stieg hinauf in den Merezenbach Chäller, um die Sennerei bewohnbar zu machen. Zusammen mit einem Zusenn, einem Hirten und einem Hirtenbuben sömmerte er bis in den Holzmonat hinein das Vieh aus dem ganzen Dorf. Er molk Kühe und bereitete aus der Milch im großen Kessel Käse und Butter, die er in einem kühlen Keller lagerte, den man in den Hang gegraben hatte. Täglich mussten die goldgelben Laibe gewaschen, gesalzen und gewendet werden. Täglich musste man den Mist aus den Unterständen schaufeln, und daneben galt es, Zäune auszubessern und versprengtes Vieh zu suchen, bevor es von Wolf oder Bär gerissen wurde.

In diesen Monaten besorgte Maria den Hof und die Felder. Die Zussenkinder gingen ihr dabei zur Hand, jedes Jahr eins oder zwei weniger. Man stand mit der Sonne auf und ging mit ihr zu Bett, todmüde, und dennoch hätte man sich die Tage länger gewünscht, denn man wusste: Wer im Sommer keine Vorräte anlegte, würde im Winter hungern müssen.

Im Spätsommer wurde das Getreide geschnitten und ein zweites Mal das Gras, das man in große Tücher band und schwankend zu den Ställen trug. Im Herbst kehrte Bartholomäus von der Alp zurück. Maultiere trugen schwere Käselaibe ins Tal, die der Alpvogt, je nach Größe des Viehbestandes, unter den Familien aufteilte. Lämmer, die einen Sommer auf der Hochweide verbracht hatten, wurden geschlachtet. Man behielt nur ein paar Mutterschafe. Der Lärchenwald flammte golden, und die Mücken tanzten wie Flocken im weichen, herbstlichen Licht. Die schroffen, frisch verschneiten Wände der Merezenbach Schije warfen lange Schatten, und irgendeinmal im Herbstmonat, manchmal sogar früher, trieb ein kalter Nordwestwind schwere Wolken vor sich her, aus denen es während Tagen schneite.

So folgte ein Jahr dem nächsten. Die Söhne und Töchter aus den ersten beiden Ehen verließen den Zussenhof, einer Zukunft entgegen, die sich für Maria bereits erfüllt hatte. Die Burschen verdingten sich als Knechte auf größeren Höfen oder nahmen Handgeld als Söldner, um auf italienischen Schlachtfeldern zu töten und zu sterben. Die Mädchen wurden Mägde oder Ehefrauen, was im Grunde auf dasselbe herauslief.

Um Maria Zussen wurde es einsam. Sie und der kleine Johannes waren oft allein auf dem Hof am Waldrand. Der Alte, der im Sommer nichts von sich hören ließ, saß im Winter, wenn er vom Holzen heimkehrte, am Feuer und wärmte die gichtigen Hände. War er früher wortkarg, so wurde er nun verschroben und schweigsam.

Zwischen Mutter und Sohn blieb eine enge Bindung. Auch als er längst dem Kleinkindalter entwachsen war, zog sie ihn an sich, drückte ihn an ihre Brust und flüsterte ihm Koseworte ins dichte Haar; denn er war es, der ihr Leben an der Seite des alten Griesgrams erträglich machte und mit Sinn erfüllte.

Die Schule in Münster wurde von den Kaplänen der Liebfrauenkirche betrieben. In den Wintermonaten lehrten sie die Knaben aus dem Tal schreiben und lesen. Die Schule war im Haus Grymsla Unserer Lieben Frau untergebracht, wo sich außerdem die Wohnung des Matrikulars befand, des Mesmers, der ebenfalls dem Priesterstand angehörte.

Das Haus Grymsla war aus Stein gebaut. Es schloss sich an die Ostseite des Kirchturms an und bildete mit ihm und der Liebfrauenkirche möglicherweise die letzten Überbleibsel eines Klösterleins, das sich an dieser Stelle befunden und dem Dorf – Monasterio, Münster – den Namen gegeben hatte.

Maria Zussen konnte weder lesen noch schreiben. Sie kannte einige Geschichten aus der Bibel, welche ihr die Nonnen erzählt hatten, die in bescheidenen Verhältnissen im Moos am Rotten lebten. Dort hatte sie auch ein wenig Handarbeitsunterricht erhalten. Das war ihre ganze Ausbildung. Ihr Johann sollte nicht nur Knecht werden und auch nicht als Söldner enden. Sie träumte davon, dass er Priester würde, hochgeachtet von allen im Dorf. Der Weg dazu führte durch das Haus Grymsla und von dort, bei entsprechender Begabung, an die Domschule von Sitten.

Im Herbst 1469, nach dem Erntedankfest, begleitete sie Johannes in die Schule. Ein großer Tag für sie und den Buben. Bartholomäus hatte gegrollt, es wäre besser, das Kind würde ihm im Stall zur Hand gehen, als zu lernen, Krähenfüße auf Papier zu klecksen. Aber wieder hatte sie unnachgiebig und zäh gekämpft. Sie hatte sich nicht einschüchtern lassen und dem Alten ins Gesicht gelacht, als er mit Schlägen drohte. Am Ende hatte sie sich durchgesetzt.

Längst kannte Johannes den Weg, den Hang hinunter zum Rotten und dann dem Wildbach entlang, der sich seinen Weg über Felsbrocken und durch Bergmatten vom Münstigertal durchs Dorf hinunter zum großen Fluss bahnte.

«Du wirst den Weg bald allein machen müssen», sagte Maria und packte ihn fest an der Hand. «Pass mir ja auf, du Pütz, dass dich nicht das Bachmangji holt!» Das Bachmännlein war ein Wassergeist, eng verwandt mit dem Rottenmännlein, das im Hauptfluss hauste und kleine Kinder, die zu nahe ans Ufer kamen, zu sich in die wilden Fluten riss.

Johannes drängte sich an sie. Die kleine Welt im Tal war voller Gefahren. In den Bergen, in den Wäldern und auch unten im Tal gab es Bozen, böse Geister und Zwerge, die man Godwärggi nannte. Manche dieser Wesen aus der Anderswelt waren gut gesinnt, andere waren abgrundtief schlecht. Manchmal konnte man sie sehen, etwa die Elfen, die bei Vollmond im Erlengrund tanzten, oder die Verstorbenen, die in Totenprozessionen auf Wegen durchs Tal zogen, die ihnen gehörten und die nachts für sie geräumt werden mussten. Am gefährlichsten aber waren die Hexen und Hexenmeister. Johann kannte die Geschichte von Henslin Heinen, den man in Ernen verbrannt hatte, weil er Schneefall und Lawinen herbeigezaubert hatte. Vor ihm brauchte er sich nicht mehr zu fürchten.

In der Grymsla empfing sie Pfarrer Johann Stäli, der es sich nicht nehmen ließ, am ersten Schultag die neuen Schüler persönlich zu begrüßen und sie dann der Obhut von Magister Hildebrand In superiori villa zu übergeben. Stäli war schon mehr als zwanzig Jahre im Amt und kannte Maria von Kindsbeinen an. Er hatte sie getauft, sie hatte die Erstkommunion von ihm empfangen; dann hatte er sie getraut und später ihren Sohn getauft, der, wie er selber, den Namen des Evangelisten trug. Als ihr Beichtvater wusste er um die zerrütteten ehelichen Verhältnisse auf dem Zussenhof und um ihren brennenden Ehrgeiz, aus dem Kind einmal einen Priester werden zu lassen.

Etwas unsicher und stolz zugleich stand Maria auf der Schwelle der Schulstube, den kleinen Johannes fest an der Hand. Sie war schön. Wie bei allen Capelani-Frauen ließ sich das dunkelgelockte Haar nicht bändigen und drängte unter der Haube hervor. Dunkel waren auch ihre großen Augen, die das von der Sonne gebräunte Gesicht noch schmaler erscheinen ließen. Sie hielt sich sehr gerade. Groß und schlank war sie, und nur ihren Händen sah man an, dass sie harte Arbeit gewohnt war.

Sie kramte eine Münze aus ihrer Schürze. «Das Schulgeld», sagte sie und reichte es dem Pfarrherrn. Es entsprach dem Wert von zwei gesömmerten Lämmern, die sie auf dem Markt in Brig verkauft hatte. Sechs Stunden talabwärts, sechs Stunden zurück, und danach der Streit mit dem Ehemann, der das Geld für sich behalten wollte.

«Vergelt’s Gott», sagte Johann Stäli.

Inzwischen hatte sich die Schulstube mit einer lärmenden Bubenbande gefüllt. Die Größten mochten zwölf oder dreizehn Jahre alt sein. Der Schulmeister, Magister Hildebrand, ein junger Mensch im Priesterrock, klopfte ungeduldig mit einem Stock auf den Tisch. Johannes riss sich von seiner Mutter los und setzte sich neben seinen Vetter Peter Am Sand, für den bereits das zweite Schuljahr begann.

Maria lächelte ihrem Sohn zu. Er bemerkte es nicht. Sie hätte ihn gerne noch einmal an sich gedrückt, aber der Pfarrherr schob sie sanft zur Tür hinaus. «Wenn etwas aus ihm werden soll, musst du ihn loslassen, Maria.»

III. Draußen schneite es unvermindert. Einzelne Flocken fielen durch die Rauchöffnung ins Haus auf seinen Kopf, wo sie schmolzen und in der Wärme des Raums verschwanden. Das Feuer glühte nur noch schwach. Johann Zussen, der sich in dieser Christnacht den Erinnerungen an seine Kindheit hingegeben hatte, schob Holz nach. Zu viele Nächte hatte er schon so im Halbschlaf verbracht, versunken in der Tiefe seiner Vergangenheit – ein Wanderer zwischen zwei Welten. Wo war er stehengeblieben? Bei Hildebrand In superiori villa. Über sein hageres Gesicht huschte ein Lächeln. Die Familie galt als vornehm und war seit langem in Münster ansässig, länger als die Zussens. Die Imoberdorfs, wie sie ursprünglich hießen, lebten im Dorfteil ob dem Bach. Irgendeinmal hatten sie beschlossen, ihren Namen in das lateinische «In superiori villa» zu verändern. Die kleinen Eitelkeiten alter Familien. Ein Vorfahre hatte zwei Altäre für die Liebfrauenkirche gestiftet und die dazugehörenden Pfründe, zwei Häuser, die unterhalb des Gottesackers standen. Magister Hildebrand, nun bald fünfzig, tat immer noch seinen Dienst am Familienaltar der heiligen Katharina und unterrichtete an der Pfarrschule die Buben aus dem Tal. Als Pfarrer war Zussen heute Vorgesetzter dieses Mannes, dessen Rute ihn damals im Haus Grymsla schreiben und lesen und außerdem Zucht und Ordnung gelehrt hatte.

Wenn Zussen der Sohn einer Ehebrecherin war, dann war Magister Hildebrand ein Kind der Sünde. Sein Vater, Thomas In superiori villa, war über ein halbes Jahrhundert Pfarrer in Münster gewesen, bis er 1445 aufgab, als ruchbar wurde, dass der fünfundsiebzigjährige Kilchherr der Vater der Zwillinge Hildebrand und Johann war, die seine blutjunge Haushälterin geboren hatte. Obwohl es nicht so ungewöhnlich war, dass ein Geistlicher das Keuschheitsgelübde brach, hatte man im ganzen Tal über das späte Vaterglück des alten Herrn Thomas gefrotzelt, der sich während seiner Amtszeit als Anhänger des Hauses Raron im Goms unbeliebt gemacht hatte.

Die Rarner waren 1416 von den Zenden aus dem Land vertrieben worden. Witschard von Raron und die Seinen mussten nach Bern flüchten, wo sie als Bürger Schutz und Hilfe fordern konnten. Drei Jahre später kehrten sie mit einem Heer zurück.

Johann Zussen stocherte mit einem Schüreisen im Feuer, dass die Funken flogen. Vor ihm entstand das Bild von Kriegsknechten, die wie die apokalyptischen Reiter brüllend vor Mordlust den Saumpfad hinunterstürmten. Oberwald, Unterwasser und Obergestelen wurden zu einem brennenden Inferno. Rauchwolken verdüsterten den Himmel. Die Glocken schlugen wild, in den engen Gassen taten die Hellebarden und Morgensterne ihr blutiges Werk. Verwundete, stumm vor Schmerz, versuchten mit bloßen Händen, klaffende Wunden zu schließen, bevor ihr Blick brach. Die Zahl der Toten stieg stetig. Frauen rannten mit hochgerafften Röcken vor einer geilen Soldateska um Leben und Ehre, an der Hand schreiende Kinder.

Zussen waren die alten Geschichten vertraut. Alte Männer und Weiber webten in niedrigen Stuben an langen Winterabenden aus den Kriegserlebnissen ihrer Väter den Stoff, aus dem Sagen entstehen. Mit jeder neuen Erzählung wuchs das Heer der Berner an. Zahlreich wie die Heuschrecken seien sie gewesen, die gottlosen Mordbuben. Am Ende war von dreizehntausend Mann die Rede, denen nur siebenhundert Gommer gegenüberstanden.

Um einer solchen Übermacht zu trotzen, braucht man Helden: einen Mann wie Thomas Riedi, der in der Bine lebte, im Blasenwald ob Ulrichen. Die Weiber senkten die Stimme, wenn sie erzählten, wie Thomas, als die Sturmglocken läuteten und Rauchwolken den Talgrund verhüllten, ein Bärenfell über seine Schulter warf und zu seiner furchtbaren Waffe griff, die er sich aus sechs Reisteisen geschmiedet hatte. Ein Riese war er, acht französische Fuß groß. Auch er wurde mit jeder Erzählung größer. Zornig wie ein rachedurstiger Kriegsgott eilte er den Bergwald hinunter nach Ulrichen, wo er zweihundert Mann hinter sich scharte. Die Gommer legten sich in der Arzerschlucht in einen Hinterhalt und stürzten wie die Adler auf die siegestrunkenen Horden, die sich von Obergestelen her näherten.

Jedes Kind im Tal wusste, wie Thomas Riedi an der Spitze seiner Schar über die Berner hergefallen war: furchtbar wie Gevatter Tod persönlich. Die Feinde sanken vor seinen weit ausholenden Streichen zu Dutzenden ins Gras. Waren es ursprünglich vierzig, die er vernichtete, wurden es über die Jahrzehnte hinweg Hunderte. Niemand vermochte ihm zu widerstehen – bis ihm ein Berner, der sich zu den Toten und Verwundeten gelegt hatte, das Schwert von unten in den Bauch stieß, als Thomas über ihn hinwegstieg. Der todwunde Held warf die hervorquellenden Gedärme über seine Schulter und flehte Gott an, ihn ein letztes Mal zu stärken, und siehe da: Vor seinen Füßen öffnete sich die Erde, und frisches, klares Wasser sprudelte aus einer Quelle. Thomas trank und erschlug nochmals drei Dutzend Feinde. Dann sank er ermattet zu Boden. Sterbend nahm er noch wahr, wie der Diakon Jakob Minichove aus Münster und mit ihm fünfhundert weitere Krieger, die aus den unteren Dörfern zu Hilfe eilten, das Schlachtfeld erreichten. Vor ihrem Kriegsgeschrei flüchteten die Berner über die Grimsel zurück, verfolgt von den Wallisern, die bis zur Passhöhe die Nachzügler massakrierten, um ihre Leichen in den See zu werfen, der seither Totensee heißt.

«So war es und nicht anders», pflegten die Weiber am Ende der Erzählung zu bekräftigen, und die alten Männer nickten. Dieser oder jener mochte hinzufügen: «Und solange der Riedi-Brunnen in den Tuetschen fließt, wird die Walliser Freiheit bestehen.»

So und nicht anders hatte es auch der kleine Johann Zussen von seiner Mutter gehört, wenn sie am Spinnrad oder am Webstuhl saß und von den alten Zeiten erzählte. Und der Vater, der drei Jahre nach der Schlacht von Ulrichen geboren war, hatte von Großvater Georg Zussen berichtet, der auch gegen die Berner gekämpft und sie mit blutigen Köpfen zurück über die Grimsel nach Hause geschickt hatte. Ein Held sei er gewesen, Georg Zussen, ein Held wie Thomas Riedi, und deshalb habe man ihn auch anno 1429 zum Zendenmeier gewählt. Zendenmeier war auch Bertschs Bruder gewesen, Peter Zussen, dieser sogar zweimal.

Die Dorfbuben spielten in ihrer Freizeit Walliser gegen Berner, wobei die Rolle der Sieger den Kindern aus den angesehenen Familien im Dorf vorbehalten blieb, jenen, die seit Generationen in Münster lebten und in den vergangenen Jahrzehnten einen Zendenmeier gestellt hatten. Dank Großvater Georg und Onkel Peter gehörte Johannes zu ihnen. Mit Gebrüll jagten sie Tagelöhner- und Taunerkinder, denen der Part der Berner blieb, durch die engen Gassen und verprügelten sie, wenn sie eins erwischten.

Magister Hildebrand verbot das grausame Spiel. Wenn sie schon die Schlacht von Ulrichen nachstellen wollten, dann doch bitte im richtigen Verhältnis. Wie viele Berner seien mordend und sengend ins Tal eingefallen? Aha, dreizehntausend. Und von wie vielen Gommern seien sie geschlagen worden? So, siebenhundert. Also seien auf einen Gommer wie viele Berner gekommen? Die Buben schwiegen betreten. Magister Hildebrand wusste aus allem eine Schulstunde zu machen. Jetzt ging es offenbar ums Rechnen.

Schließlich nannte einer die richtige Antwort. Achtzehn oder neunzehn.

«Genau.» Der Magister schaute streng über die erhitzten Bubenköpfe. «Ein Gommer verprügelt achtzehn oder neunzehn Berner.» Und spöttisch: «Beeindruckend, wirklich sehr beeindruckend.»

Thomas Riedi allein habe Hunderte von Bernern niedergestreckt, sagte Egid Lagger, der Sohn des Dorfwirts. Egid war der größte und stärkste Junge in der Dorfschule, allerdings nicht der hellste. «So, so, Thomas Riedi», sagte der Lehrer nachdenklich. Er war den Buben etwas unheimlich, der schmächtige Priester, den man kaum je einmal lächeln sah. «Ich habe das richtig gesehen, Egid, dass du vorhin den Helden von Ulrichen gespielt hast?»

«Gewiss!» Der junge Lagger zeigte stolz seinen Knüppel, der die aus sechs Reisteisen geschmiedete Waffe darstellte. «Ich bin immer Thomas Riedi.»

«Dann machen wir doch die Probe aufs Exempel. Kommt!» Magister Hildebrand führte die Schar auf die Wiese hinter dem Haus Grymsla. Er zählte achtzehn Buben ab und stellte sie Egid gegenüber. «Und jetzt spielen wir die Schlacht von Ulrichen.» Er zog eine Münze aus seinem Priesterrock. «Wenn es dir gelingt, Egid, diese achtzehn Berner in die Flucht zu schlagen, darfst du sie behalten.»

Egid Lagger hatte Mut. Immerhin. Er warf sich auf die Kameraden und begann auf sie einzuprügeln. Zuerst lachten sie, aber dann wurden sie zornig und schlugen zurück, und bald lag der Held von Ulrichen auf dem Boden und musste froh sein, dass ihn der Schulmeister rettete.

«Was zu beweisen war», sagte Magister Hildebrand und steckte die Münze wieder ein.

Johann Zussen füllte sich einen Becher mit Wein. Er wusste, dass er in dieser Nacht keinen Schlaf mehr finden würde. Die Lektion, die Hildebrand In superiori villa den Buben im Frühjahr 1476 erteilt hatte, stand am Beginn jener Ereignisse, die sein Leben bis heute prägten. Vierzehnjährig war er damals gewesen, ein aufgeweckter Junge, gewiss kein Rauhbein, und er stand immer etwas abseits, was auch damit zusammenhängen mochte, dass er mit seinen Eltern außerhalb des Dorfes lebte. Manchmal hielt ihn der Magister nach der Schule zurück, um mit ihm lateinische Vokabeln zu üben. Dies und der Umstand, dass er schon früh zum Priester bestimmt war, schützte ihn vor den derben Scherzen seiner Kameraden.

«Ihr glaubt also nicht, dass Thomas Riedi Hunderte erschlug?», fragte er schüchtern, als er sich an diesem Abend von Magister Hildebrand verabschiedete.

«Nein, mein Junge, das glaube ich nicht. Das habe ich nie geglaubt. So wenig, wie ich glauben kann, dass er ein Riese war.»

«Aber die Gommer haben die Berner doch geschlagen», wandte Johannes ein.

«So erzählt man.» Der Priester hatte die Hände auf den Rücken gelegt und schaute den Knaben an. «Aber du weißt, dass die Walliser ein Jahr nach der Schlacht in Evian verpflichtet wurden, Herrn Witschard von Raron wieder in seine Güter einzusetzen und den Schaden, den sie ihm zugefügt hatten, zu ersetzen? Da darf man sich schon fragen, wie groß der Sieg war. Du musst lernen, zu unterscheiden zwischen den Ereignissen und den Geschichten, die dazu erfunden werden. Aus ihnen lernst du die Menschen kennen, denn sie zeugen von ihrem Besten und Schlechtesten.»

Nachdenklich war er nach der Schule heimgegangen, zum Dorf hinaus und dem Münstigerbach entlang. Er empfand ein Gefühl von Freiheit und neuem Leben. Wie Sternchen leuchteten die weißen und lila Krokusse in den Matten unterhalb des Dorfes. Sonnenhalb trugen Haselstrauch, Birke und Vogelbeerbaum bereits zartgrünes Laub. Auch der Auenwald am Rotten war aus dem Winterschlaf erwacht. Er war erfüllt vom Zwitschern und Flöten der Vögel, die balzten und ihre Reviere verteidigten. In den Grauerlen nisteten Meise, Gartenrotschwanz, Star, Buntspecht und Wendehals ebenso wie Wacholderdrossel, Distelfink und Girlitz. Hoch oben hatte die Schneeschmelze begonnen, und Bäche und Rinnsale suchten glucksend und gurgelnd ihren Weg in Weiher und Tümpel, an deren Rand sich noch eine hauchdünne Eisschicht hielt, die im Licht der tiefen Abendsonne funkelte, als sei sie aus lauterem Kristall. Hier rasteten Wasserläufer, Enten und Schafstelzen. Die Hirsche, die unterhalb des Deischbergs überwintert hatten, waren zurückgekehrt, um in der Abenddämmerung am Fluss zu äsen.

Johannes begann zu laufen. Die Aue war ihm unheimlich. Früher, das wusste er von Magister Hildebrand, hatten die Heiden ihre Toten im Erlengrund begraben, und ihre unerlösten Seelen fanden keine Ruhe. In den tiefen Weihern lebten Wasserfrauen, die ihre Arme sehnsüchtig nach Kindern ausstreckten, um sie in ihr Reich hinunterzuziehen. Im Rennen bekreuzigte er sich und murmelte ein Vaterunser. Erst jenseits der Rottenbrücke, als er den Zussenhof sehen konnte, blieb er stehen und atmete auf.

Schon von weitem hörte er das Lied, das ihn seither begleitete: «Bumperlibum, unruow das kumpt, was tuot uns, was tuot uns donner blix hagel, heiahan aberdran!»

Johannes beschleunigte seine Schritte. Kaspar Gon, der Zusenn des Vaters, saß in der Küche und sang die Verse, die er im vergangenen Herbst gelernt hatte, als der Bischof von Sitten, Walter Supersaxo, und die Oberwalliser Landleute zusammen mit den Bernern, den Freiburgern und Solothurnern über das savoyische Waadtland hergefallen waren wie Wölfe über die Schafe. Der Feldzug hatte nicht einmal drei Wochen gedauert, ein erbarmungsloses Abschlachten der wehrlosen Bevölkerung, die dafür büßen musste, dass sich die Herzogin Iolanthe mit Karl dem Kühnen verbündet hatte, dem Feind der Eidgenossen. Neben der reichen Waadt hatte man das ganze Unterwallis erobert, bis Sankt Moritz.

Oberwalliser Herren und Unterwalliser Untertanen. Und Kaspar Gon aus Münster war dabei gewesen. Er hatte ein Lied mitgebracht, «Bumperlibum, unruow das kumpt», und einen Fuß dort gelassen, samt Unterschenkel – Folge einer Stichwunde aus einem Gerangel mit einer Frau, die er vergewaltigen wollte. Sie hatte sich ihn mit einer Mistgabel vom Leibe gehalten und schließlich zugestochen. Er hatte das Weibsbild mit der Hellebarde erschlagen. Anderntags begann die Wunde zu eitern, und als er sich beim Feldscher meldete, war es bereits zu spät. Man hatte ihm Branntwein gegeben, bis er nicht mehr wusste, was vorn und hinten war, und dann hielten ihn vier Kerle fest, während der Feldscher ihm das Bein absägte und den blutigen Stumpf mit heißem Pech verschloss. Kaspar Gon hatte überlebt. Das war mehr, als er erwarten durfte. Maultier und Krücken ersetzten ihm das Bein. Dass er auch diesen Sommer mit Bartholomäus Zussen auf die Alp gehen würde, war für ihn keine Frage.

Bertsch Zussen musste froh sein, dass überhaupt jemand mit ihm auf die Alp ging, und wenn es ein Krüppel war. Die Männer im Tal, so weit sie marschieren, hauen und stechen konnten, waren in den Krieg gezogen. Herzog Karl von Burgund stellte in Lausanne ein Heer zusammen, um sich für die Niederlage zu rächen, die ihm die Eidgenossen am zweiten Lenzmonat dieses Jahres bei Grandson zugefügt hatten. Die Nachricht von den sagenhaften Schätzen, die den Eidgenossen dabei in die Hände gefallen waren, hatte auch den Weg ins Goms gefunden. Reichtum, Ruhm und Ehre. Und als nun Bern Unterstützung forderte, waren die Oberwalliser nur zu gern dem Ruf gefolgt, siegestrunken, denn sie hatten in einigen Scharmützeln marodierende burgundisch-savoyische Truppen am oberen Genfersee ohne große Mühe geschlagen.

Singend waren sie ausgezogen, über die Grimsel, aareabwärts nach Bern. An der Spitze ein paar Buben mit Pfeifen und Trommeln, darunter der Sohn von Kaspar Gon, der auch Johann hieß, wie der kleine Zussen. «Wir zunden das Schloss inwendig an, dass es in Grund und Boden verbrann! Bumperlipum! Aberdran! Heiahan!»

Der Zusenn grölte in der Küche. Vor ihm auf dem Tisch stand ein Krug Wein. Er war betrunken. Aus kleinen Augen starrte er Johannes an, der in der Tür stehen geblieben war.

«Und warum bist du nicht im Feld?», fragte er.

Johannes schaute hilflos zu seiner Mutter, die in einem Kessel über dem Feuer rührte. Wie immer, wenn sie verärgert war, bildeten Marias Lippen einen Strich. «Lass den Buben in Ruhe!», fuhr sie Gon an. «Er hat Gescheiteres zu tun, als jenseits der Berge zu plündern und herumzuhuren.»

«Da wird nicht geplündert und gehurt», sagte der Zusenn mit schwerer Zunge. «Bei den Eidgenossen herrschen Zucht und Ordnung. Jawohl, Zucht und Ordnung!» Er schlug mit der Faust auf den Tisch. «Wir werden den Herzog lehren – wir werden ihn lehren … » Er zögerte. Offensichtlich war ihm entfallen, was man Karl dem Kühnen beibringen wollte. «Jedenfalls gehört der da ins Feld!» Er zeigte auf Johannes.

«Damit ihn fremde Frauen auf die Mistgabel nehmen», stichelte Maria.

«Sei still, Frau!», sagte jetzt Bartholomäus, der bisher schweigend am Feuer gesessen und die Szene beobachtet hatte.

Maria fuhr herum. «Ich werde nicht still sein, solange ein Trunkenbold und Frauenschänder mein Kind in den Krieg schicken will!»

Sie hatte Kaspar Gon, der wohlgefällig ihren runden Hintern betrachtete, den Rücken zugewandt. Er zog sich am Tisch hoch und näherte sich ihr hüpfend auf seinem unversehrten Bein. «Ich will dir zeigen, wozu ein Krüppel wie ich noch fähig ist!», sagte er und ließ sich schwer auf sie fallen, so dass Maria zu Boden stürzte und er über ihr lag. Mit der linken Hand würgte er sie, während er mit seiner rechten unter ihre Röcke griff.

Johannes erstarrte. Er schaute hilfesuchend zum Vater. Aber Bartholomäus Zussen verfolgte die Szene interessiert. Interessiert und schadenfroh. Der Anblick seiner Frau, die sich unter dem schweren Körper Gons wand, bereitete ihm Vergnügen. Seine hageren Gesichtszüge verzogen sich zu einem hämischen Grinsen.

Maria rang nach Atem. Ihr Gesicht lief bläulich an. Verzweifelt versuchte sie, Gons Hand von ihrem Hals wegzureißen. Johannes erfasste eine rasende Wut. Er griff zum Bratspieß am Feuer und schlug ihn mit aller Kraft gegen die Nieren des Zusenns, der mit einem Schrei von seinem Opfer abließ und sich mit schmerzverzerrtem Gesicht am Boden wand.

Maria rappelte sich hoch. In ihren Augen glitzerte Mordlust. Sie riss ihrem Sohn den Spieß aus den Händen und richtete die Spitze gegen Gons Hals. «Ich sollte dich abstechen wie eine Sau», sagte sie. Ihre Stimme klang kalt und fremd. «Du wirst jetzt aus meinem Haus kriechen wie ein Wurm, und wenn du es wagst, den Kopf zu heben, mache ich dich hin.»

Stöhnend, wimmernd und totenbleich kroch Kaspar Gon davon, denn Johannes’ Schlag hatte ihn übel verletzt. Aber er wusste wohl, dass man ihn in diesem Haus eher verrecken lassen als einen Finger für ihn rühren würde. «Bertsch», ächzte er, «Bertsch», aber Maria drückte ihm den Spieß an den Hals, bis ein paar Blutstropfen hervorquollen. «Kriech!» Und mit einem Mal schreiend: «Kriech, und mein ja nicht, der Kuhficker da hinten würde dir helfen!»

Gon erreichte die Tür. Sie stand offen. Johannes und seine Mutter schauten zu, wie sich der Zusenn an seinem Maultier hochzog und irgendwie auf den Rücken kletterte. Maria schlug mit der flachen Hand auf den Hintern des Tiers, das sich in langsamem Trott Richtung Münster in Bewegung setzte. «Dass du nie mehr hierherkommst!», rief sie ihm hinterher. «Das nächste Mal schlage ich dich tot.» Noch immer hielt sie den Spieß in der Hand. Mit ihren wilden, schwarzen Locken und den funkelnden, dunklen Augen sah sie aus wie eine Rachegöttin.

Maria ging ins Haus, wo Bartholomäus noch immer am Feuer saß und in die Flammen starrte. Er sah jetzt alt aus, alt und kraftlos, wie ein welkes Blatt. Sie trat vor ihn hin. «Schau mich an!», herrschte sie ihn an. Langsam und ängstlich hob er den Kopf. «Palüder!» Sie spuckte ihm das Schimpfwort förmlich ins Gesicht. Dann gab sie ihm zwei Maulschellen. Bertsch Zussen erhob sich. Schweigend verließ er den Raum. Als er an seinem Sohn vorbeiging, senkte er die Augen.

Maria rief Johannes zu sich und schloss ihn in ihre Arme. Sie legte ihr Gesicht auf seinen Schopf. «Mein kleiner Held», flüsterte sie, «mein kleiner Thomas Riedi.»

Johannes spürte, dass seine Mutter weinte. Sein Haar wurde feucht. Er machte sich los. «Ach, der Thomas Riedi», sagte er, «der war gar nicht so ein Held, wie ihr alle tut.»

IV. Das Feuer flackerte nur noch schwach; bald würde es ausgehen. Das Holz, das Josefa Capelani am frühen Abend in die Küche geschafft hatte, war verbrannt. Johann Zussen fröstelte. Er hob das Wolfsfell auf, das ihm von den Schultern geglitten war. Mit müden Schritten trat er vors Haus. Es hatte aufgehört zu schneien. Zwischen den Wolken waren einzelne Sterne zu sehen, das Dorf schlief. Die dunklen Häuser mit ihren schwarzen Fenstern erschienen ihm seltsam fremd. Er fühlte sich verlassen – von Gott und den Menschen. Zussen schmiegte seine Wange an den Pelz, der im Lauf der Jahre schäbig geworden war. Er hatte ihn damals an sich genommen, als die Knechte des Zendenmeiers seine Mutter in Ketten nach Ernen führten. Eine Flut von Erinnerungen überschwemmte ihn. Thomlin Im Hof hatte das Wolfsfell seinerzeit Maria Zussen geschenkt. Sie hatte es um sich geschlungen und Johannes an sich gezogen. Eng an sie gekuschelt, hatte er ihre Wärme gespürt. Sie hatte nach frischem Heu gerochen.

Er nahm einen Armvoll Lärchenscheiter, die er im Herbst selbst gespalten und an der Ostwand des Hauses gestapelt hatte und ging zurück ins Haus.

Noch immer sah er das schadenfrohe Lächeln des Vaters, als Kaspar Gon über seine Mutter hergefallen war. Er hatte es ihm nie verziehen. Heute, siebzehn Jahre später, konnte sich Zussen vorstellen, dass der Alte Genugtuung empfunden haben musste, eine böse, hässliche Genugtuung, weil endlich jemand das Weib, das sich ihm seit Jahr und Tag verweigerte, so behandelte, wie es ihr zustand: wehrlos männlicher Begierde ausgeliefert. Möglicherweise hatte er den Zusenn sogar ermuntert, seiner Frau Gewalt anzutun. Er konnte die Gefühle Bertsch Zussens nachvollziehen; verzeihen würde er ihm nie. Damals hatte er aufgehört, ihn als seinen Vater zu betrachten.

Bartholomäus Zussen war nicht mehr zurückgekehrt, als er das Haus verlassen hatte. Nicht in der darauffolgenden Nacht, auch nicht am nächsten Tag. Wahrscheinlich war er bei Kaspar Gon untergekommen, der im Guferli lebte, im westlichen Teil des Dorfes, jenseits des Münstigerbachs.

Auch ohne ihn hatte das Leben auf dem Hof seinen gewohnten Gang genommen. Mutter und Sohn hatten wie jedes Jahr den Schnee ums Haus mit Asche bestreut, um die Schmelze zu beschleunigen. Im Ostermonat hatten sie Sommerroggen, Sommergerste und Hafer gepflanzt. Um Pfingsten war Flachs und Hanf gesät worden. In großen Körben hatten sie den Stallmist auf die von Holz und Steinen geräumten Matten getragen, und auf eine reichliche Heuernte gehofft. Die Tage waren länger, die Nächte kürzer geworden. Maria und Johannes arbeiteten von früh bis spät, und noch immer hatten sie nichts vom Vater gehört. Sie hatten es vermieden, über ihn zu sprechen. Vermutlich waren er und Kaspar Gon mit dem Vieh auf der Alp, oben am Merezenbach. Die Rückkehr des Alten im Winter hatte wie eine Drohung vor ihren Augen gestanden: die Vorstellung, wie Bartholomäus am Herdfeuer sitzen würde, schweigend, hasserfüllt.

Jetzt, als Pfarrer Zussen in dieser Christnacht seine Hände an der Glut wärmte, wie es in seiner Erinnerung der Vater häufig getan hatte, gestand er sich ein, dass er ihm damals den Tod gewünscht hatte. Von ganzem Herzen und mit aller Kraft. Nie mehr sollte er zurückkommen. Nie mehr. Die Mutter hatte seine Gefühle wohl geteilt. Aber sie hatten nicht darüber gesprochen.

Die Wochen waren vergangen, dem Frühjahr der Sommer gefolgt. Wenn Johann Zussen die Augen schloss, sah er das Münstigerfeld im Sonnenglast vor sich liegen. Der sanft nach Süden abfallende Hang sah aus wie ein Flickenteppich aus zahlreichen Äckerchen und Matten, die mit Grenzsteinen markiert waren. Das Walliser Erbrecht bescherte hier jeder Familie aus dem Dorf ein kleines Stück Land. Wie jedes Jahr hatte am Frauentag die Heuernte begonnen. Mit langen Rechen wendeten Johannes und seine Mutter das Gras, das sie tags zuvor geschnitten hatten. Wenn er sich aufrichtete, um seinen müden Rücken zu strecken, sah er ringsum Frauen und Kinder bei derselben Tätigkeit. Kaum Männer, denn die waren in den Krieg gezogen oder sömmerten auf den Alpen das Vieh. Obwohl die Sonne im Westen nur noch eine Handbreit über der sanft abfallenden Flanke des Weisshorns stand, war es heiß. Er schlenderte zur Bisse am Rand des Feldes und kniete ins Gras, um zu trinken. Nachdem sein Durst gelöscht war, ließ er das Wasser aus der hohlen Hand über den Nacken rinnen.

Als er sich umwandte, sah er, dass Magdalena Eschiler neben seiner Mutter stand. Beide waren in Münster aufgewachsen und kannten sich von Kindsbeinen an. Jetzt starrten die zwei Frauen angestrengt talaufwärts zur Sankt-Nikolaus-Kapelle.

«Was ist?», rief er.

«Hörst du nichts?»

Johannes lauschte. Jenseits der Kuppe des Münstigerfeldes waren Pfeifentöne zu vernehmen, die näher kamen. Jetzt setzte auch ein Trommelwirbel ein.

«Sie kommen zurück, guter Herr Jesus, gib, dass mein Mann dabei ist!», rief Magdalena Eschiler und umklammerte Marias Arm.

Wie Stacheln tauchten Langspieße aus dem Buschwerk hinter der Kuppe hervor, dazwischen schwankend die Zendenfahne: ein weißes Tatzenkreuz im oberen roten, ein rotes Kreuz im unteren weißen Feld. Dann Köpfe, teils barhäuptig, teils behelmt. Schließlich ganze Gestalten, ein Trupp Männer, Landsknechte, es mochten fünfzig oder sechzig sein. Sie trugen bunte, enganliegende Hosen, darüber Wämser mit weiten Puffärmeln. Hellebarden, Schweizerdegen und Dolche blitzten in der Abendsonne. An der Spitze der Pfeifer Johann Gon, der Sohn des Zusenns. Neben ihm German Im Gufer, der Trommler.

«Bumperlibum, unruow das kumpt», sangen sie. Als ob die rauhen Stimmen einen Bann gebrochen hätten, begannen Frauen und Kinder ihren Söhnen, Brüdern, Vätern und Männern entgegenzulaufen.

«Donner blix hagel, heiahan aberdran!»

Und dann waren die Ersten bei ihnen. Das Lied verstummte, der Trupp löste sich auf. Kinder wurden hochgehoben, Frauen umarmt, und mitten in der großen Freude hörte man einzelne Namen. Dringlich waren die Rufe, dann angstvoll und schrill, und endlich klagend. Die schwangere Anna Rufiner schrie gellend und raufte sich die Haare. Im vergangenen Winter hatte sie geheiratet. Antoni, ihr Mann, würde sein Kind nie sehen. Man hatte ihn in Murten auf dem Schlachtfeld gelassen, wie Severin Tzilion und Jakob Kannengiesser. Um die drei weinenden Witwen bildete sich ein Kreis. Die Wiedersehensfreude wich einer betroffenen Stille. Magdalena Eschiler löste sich von ihrem Peter und nahm Anna Rufiner in die Arme. Sie wiegte sie hin und her und strich ihr immer wieder über den Kopf, bis sie still wurde.

Die Männer, die in den Dörfern talabwärts wohnten, zogen weiter und ließen die Münstiger zurück. Die Frauen sammelten ihr Arbeitsgerät ein. Dann machte man sich auf den Heimweg, um mit seiner Freude oder Verzweiflung allein zu sein.

Maria Zussen und ihr Sohn blieben zurück.

«Es trifft immer die Falschen», sagte Maria, der Tränen über die Wangen liefen. Sie schaute Anna Rufiner nach, die sich schwer auf Magdalena Eschilers Arm stützte. Es trifft immer die Falschen, hatte sie gesagt, ohne zu erklären, wer denn der Richtige gewesen wäre.

«Ja», meinte Johannes, dessen Gedanken in eine ähnliche Richtung gingen, «aber deshalb musst du nicht gleich weinen.»

Die Mutter wischte sich mit dem Ärmel über die Augen. Sie vermied es, Johannes anzuschauen.

Ein einzelner Krieger, ein Nachzügler, tauchte hinter der Kuppe auf. Als er näher kam, erkannten sie Thomas Im Hof.

Thomlin, wie man ihn nannte, war ein Nachbar von Magister Hildebrand. Er lebte allein in einem der Häuser im Kropfviertel unterhalb der Kirche. Obwohl bereits fünfundzwanzig Jahre alt, war er noch immer ledig. Die Mütter im Dorf fanden, dass er heiraten und nicht länger den jungen Mädchen den Kopf verdrehen sollte. Thomlin Im Hof war ein gutaussehender Mann, großgewachsen, muskulös und schlank. Sein markantes Gesicht, aus dem zwei helle Augen schauten, war umrahmt von blondem, dichtem Haar, das ihm fast bis auf die Schultern fiel.

Jetzt allerdings bot er ein Bild des Jammers. Er war bleich, und jeder Schritt schien ihn zu schmerzen. Durch seine zerrissene Hose war eine schlechtverheilte Wunde zu sehen, verkrustetes Blut und Eiter. «Endlich», sagte er und schaute hinunter auf die Liebfrauenkirche, deren blendend weißer Turm über die dunkeln Häuser in den lichtdurchfluteten Abendhimmel ragte, mahnend wie der Zeigefinger des lieben Gottes. «Endlich. Ich habe nicht mehr daran geglaubt, das Dorf wiederzusehen.» Er ließ sich ins Gras sinken.

Maria beugte sich über ihn und untersuchte die Wunde. «Das sieht böse aus, Thomlin. Du brauchst Pflege.» Und dann, nach einer kurzen Pause: «Das kommt davon, wenn man in den Krieg zieht.» Fast zärtlich strich sie ihm das blonde Haar aus der Stirn.

Johannes betrachtete seine Mutter verwundert. Gerade noch hatte sie geweint, und jetzt strahlte sie. Auch der Ton, in dem sie zu Thomlin sprach, war ihm fremd. Das Kopftuch war ihr auf die Schulter geglitten, und es schien sie nicht zu stören, dass der Mann die Fülle ihrer schwarzen Locken sah. Er drängte sich zwischen die beiden. «Woher stammt die Wunde?»

«Von einem Landsknecht im Dienste Herzog Karls, dem verfluchten Hund, den wir in Murten geschlagen haben. Das Schwein war noch nicht ganz tot, als ich Beute machen wollte. Er hat mir das Schwert in die Wade gerammt.» Thomlin brauchte nicht zu sagen, wie es anschließend dem Söldner ergangen war. Seine Augen sahen hart aus. Hart und böse.

«Wie bist du nur von Murten bis hierher gekommen?», wunderte sich Johannes.

«Bis Meiringen hat mich eine Marketenderin auf ihrem Wagen mitfahren lassen. Über die Grimsel konnte ich von Säumern, die nach Domodossola zogen, ein Maultier mieten. Von Obergestelen bis hierher zu Fuß.» Er zog einen Beutel aus seinem Wams und öffnete ihn. «Schaut!»

«Jesus Maria», die Stimme der Mutter wurde hoch vor Aufregung. «Ist das alles Gold?»

«Es wäre mehr, wenn mir diese Halsabschneider für den Transport nicht so viel abgenommen hätten.»

«Du bist ein reicher Mann, Thomlin», sagte Maria. Ihre Augen glänzten.

«Das nützt mir nichts, wenn ich nicht bald Hilfe für mein Bein bekomme. Seit zwei Tagen klopft es da drinnen.»

Maria Zussen wurde sachlich: «Spring voraus, Johannes, zur Muhme Josefa. Sag ihr, Thomlin Im Hof sei verwundet und brauche Hilfe. Wir kommen nach.»

Der Knabe zögerte. Es schien ihm nicht schicklich, die Mutter mit dem Mann allein zurückzulassen. «Geh schon», wiederholte sie. Er rannte los. Nach hundert Metern blieb er stehen und drehte sich um. Thomlin und seine Mutter folgten ihm langsam. Der Mann hatte seinen Arm um Marias Schultern gelegt und stützte sich schwer auf sie. Johannes lief weiter. Noch Jahre später würde das Bild des großen, verwundeten Kriegers und der zierlichen Frau in ihrer seltsamen Vertrautheit in ihm lebendig bleiben.

Josefa Capelani lebte in einem windschiefen Häuschen am Dorfrand unmittelbar beim Münstiger Feld. Es war ein sogenanntes Heidenhaus, das unter dem Dachstock ein rund zwei Meter langes, mit Rosettenschnitzereien geschmücktes Firstholz hatte. Es gab einen Koch- und einen Wohnraum sowie zwei Schlafkammern. An der Rückseite des Hauses befand sich ein Stall.

An die von der Sonne verbrannte Hauswand aus rohbehauenen Lärchenstämmen schmiegte sich ein Hollerbusch, aus dessen Blüten sie einen harn- und schweißtreibenden Tee braute, den man bei Grippe, Erkältung und Masern trank, aber auch wenn die Gicht an den Gliedern zerrte. In den langen und schneereichen Wintern stärkte eine süße Suppe, die sie aus den getrockneten Beeren des Holunders kochte, und die im Sommer gesammelten Blätter verarbeitete sie mit Schweineschmalz zu einer Salbe, die bei Prellungen, Geschwulsten und Frostbeulen half. Selbst die Rinde des Busches fand noch Verwendung als Brech- und Abführmittel. Er war eine richtige Hausapotheke, dieser Holunder. Mehr noch: Weil er Unglück anzog und es in die Unterwelt ableitete, ging sie, wenn sie selber einmal Fieber hatte, nachts hinaus zum Busch, band einen Bindfaden in die Zweige und murmelte: «Guten Tag, Flieder, ich bring dir mein Fieber, ich binde es an, nun geh ich in Gottes Namen davon.»

An der Front des Hauses, die nach Süden gerichtet war, rankten rote Heckenröschen, die lieblichen Blumen der Muttergottes. Im Garten, wo eine Hecke aus Haselsträuchern vor Blitzschlag und Feuer, Schlangen und wilden Tieren, Krankheit und Zauber schützte, wuchsen geheimnisvolle Kräuter und Pflanzen. Da gab es die Alraune, die, als Wein zubereitet, gegen Schlaflosigkeit verabreicht wurde, in einer Ecke stand der tödliche Eisenhut, dessen Wurzeln gegen Vergiftung half, schleimlösend wirkte und Würmer abtötete. Den knolligen Hahnenfuß und den Kreuzenzian konnte man gegen das Antoniusfeuer einsetzen, und dass der Same des Hanfs Heilkraft enthielt, wusste jedes Kind.

Seit zwei Jahren verließ Josefa Capelani ihr Haus nur noch, um zur Messe zu gehen oder bei einer besonders schweren Geburt einem kleinen Menschlein auf die Welt zu helfen. Mit über sechzig Jahren galt sie als alt. Sie war zu der Überzeugung gelangt, es sei nun an der Zeit, eine Nachfolgerin in die Geheimnisse der Kräuterheilkunde einzuweihen. Ihre Wahl war auf Maria Zussen, die Tochter ihres Schwagers, gefallen. Seither verkehrte Maria regelmäßig im Heidenhaus am Münstigerfeld, wo jetzt auch Thomlin Im Hof verarztet wurde.

Josefa schaute sich die Wunde des Mannes an, roch an ihr, betastete sie und nickte befriedigt, als er unter dem Druck ihrer Finger aufstöhnte. Sie wandte sich zum Fensterbrett, wo eine Reihe von Töpfen, Tiegeln und Fläschchen stand. Sie hatte sie selbst aus Tonerde gefertigt und mit seltsamen Zeichen, halb Runen, halb Buchstaben, versehen, um die Tinkturen, Öle und Salben zu kennzeichnen. Josefa, die weder lesen noch schreiben konnte, hatte dieses System von ihren Vorgängerinnen übernommen und weiterentwickelt. Nur sie und neuerdings ihre Nichte, Maria Zussen, kannten ihre Bedeutung.

Sie nahm ein Fläschchen in die Hand und träufelte vorsichtig eine rötliche Flüssigkeit auf ein Stück Tuch, mit dem sie Thomlins Wunde betupfte. «Sie reinigt das Fleisch mit einem Kamillenextrakt», flüsterte Maria ihrem Sohn zu, «und dann wird sie ihn mit Bergwohl behandeln.» Tatsächlich schabte die Alte mit einem Holzlöffel eine Salbe aus einem Tiegel, die sie auf einem Stück sauberes Leinen verteilte und auf die Wunde legte. Schließlich verband sie den verletzten Unterschenkel mit einem aus Hanf gewobenen Tuch.

«Das ist alles, was ich für ihn tun kann», sagte sie. «Er braucht jetzt viel Ruhe, und sein Bein muss jeden Tag neu gesalbt und verbunden werden. Hat er jemanden, der für ihn sorgt?» Josefa vermied es, Thomlin anzusprechen. Der Mann, das wusste sie, hatte in Münster keine Verwandten mehr, die sich um ihn hätten kümmern können. Seine Eltern waren längst tot, und die Geschwister in alle Winde zerstreut.

«Ich werde das übernehmen», sagte Maria. «Ich gehe täglich bei ihm vorbei, wechsle den Verband und koche ihm eine Suppe.»

Es war nicht ungewöhnlich, dass Maria, die man im Dorf als Josefas Gehilfin anerkannte, Krankenbesuche machte. Johannes allerdings fühlte sich bei der Vorstellung unbehaglich. Es schien ihm nicht recht, dass seine Mutter einen unverheirateten Mann pflegte. Dann fiel ihm wieder ein, dass der Vater sie verlassen hatte.

Im Verlauf der nächsten zwei Wochen begleitete Johannes seine Mutter täglich zu Thomlin Im Hof. Ohne dass er es in Worte zu fassen vermocht hätte, versuchte er, ihren guten Ruf zu schützen, denn ein Dorf hat tausend Augen und Ohren. Und tausend Zungen, die tödlich sein können. Das wusste er. So achtete er auch stets darauf, dass die Haustür offen blieb, wenn sie den Kranken aufsuchten. Alle sollten sehen können, dass nichts Unrechtes geschah.

Es hätte in diesen vierzehn Tagen auch nichts Unrechtes geschehen können. Thomlin lag fiebernd auf seinem Lager und phantasierte. Sein starker, junger Körper wehrte sich gegen das Gift, das durch die Schwertwunde in sein Blut gekommen war. Und während Maria Zussen ihm den Verband wechselte und löffelweise heiße Suppe einträufelte, war für ihn wieder Zehntausendrittertag, 22. Brachmonat 1476. Bruchstückweise brachen die Geschehnisse aus ihm hervor...

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