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Was früher blüht, ist länger tot

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»Humbleham soll schöner werden!« Der Ort im Herzen von Rutland will unbedingt den begehrten Preis »Rutland in Bloom« für das schönste Dorf im County gewinnen. Doch unmittelbar vor dem Besuch der Jury kommt der Wirt des örtlichen Pubs bei einem schrecklichen Unfall ums Leben. Während Dorfpolizistin Helen Franklin noch klärt, wie es dazu kommen konnte, wird ein Jurymitglied auf offener Straße erschossen.
Das ruft Scotland Yard auf den Plan: Ausgerechnet Ben Baxter, mit dem Helen einmal liiert war, soll den Mord an dem Politiker aufklären. Und es ist nicht der letzte Todesfall inmitten der blühenden Pracht – offenbar will jemand den Sieg Humblehams um jeden Preis verhindern. Erst als sich Helen und Ben zusammenraufen, kommen sie einer perfiden Verschwörung auf die Spur, die sie zurück in die Vergangenheit führt ...


  • Erscheinungstag: 27.05.2025
  • Seitenanzahl: 336
  • ISBN/Artikelnummer: 9783749908530
  • E-Book Format: ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Zum Buch:

Brian Garner lag bäuchlings hingestreckt auf den altersschwarzen Dielen unter der Dartscheibe und regte sich nicht. Erst als sich Helen zu ihm hinunterbeugte, bemerkte sie die mattschwarze Befiederung des Dartpfeils in seinem dunklen Haar, und es dauerte einen weiteren Augenblick, bis sie realisierte, was das bedeutete. Ohne viel Hoffnung ging sie neben ihm in die Hocke und legte den Handrücken an seine Kehle. Die Haut war kalt. Brian musste seit Stunden tot sein.

Zur Autorin:

Karen Finch hat englische Wurzeln und verbringt viel Zeit im beschaulichen Rutland. Nun hat sie der Wettbewerb »Britain in Bloom« zu einer spannenden Geschichte inspiriert, die nur da spielen kann, wo der Cottage Garden erfunden wurde: mitten im Herzen von England. Wenn sie nicht gerade schreibt, kümmert sie sich am liebsten um die Blütenpracht in ihrem eigenen Garten – vielleicht schaut die Jury von »Britain in Bloom« ja auch irgendwann in Deutschland vorbei.

Karen Finch

WAS FRÜHER BLÜHT, IST LÄNGER TOT

Kriminalroman

HarperCollins

Live never to be ashamed if anything you do or say is published around the world – even if what is published is not true.

Richard Bach, Illusions (1977)

Prolog

»Sie haben da was.« Die leise Stimme des letzten Gastes klingt seltsam eindringlich. Fast schon … beschwörend.

Es ist spät, die Sperrstunde längst vorbei. Die Augen des Wirts sind müde. Er runzelt die Stirn. »Wo denn?«

Eine Hand deutet vage die Richtung an. »Unter der Kappe.«

Er zieht die Baseballcap vom Kopf. Ein Andenken an ein denkwürdiges Match der Milton Keynes Bucks und ein persönliches Geschenk von McFarrell, dem besten Pitcher aller Zeiten. Er dreht die blaue Kappe herum. Hat schon bessere Tage erlebt, das alte Ding. Aber sie ersetzen? No way.

Irritiert starrt er auf den verblichenen Stoff. »Da ist doch nichts.«

»Nicht in der Kappe, stupe, im Haar. Kommen Sie schon her. Lassen Sie mich einen Blick drauf werfen.«

Brian zuckt mit den Schultern. Der Gast ist König, und dieser späte Gast erst recht. Gehorsam neigt er sich nach vorn und beugt den Nacken. Fühlt eine Hand schwer auf seinem Kopf. Dann ein Stich. Und nichts mehr.

Kapitel 1

»Iss schneller, Kind! Wir kommen sonst zu spät!«

Helen ließ den Löffel mit dem Porridge wieder sinken. Ihre Mutter Lydia sah sie auffordernd an. Sie stand in der Küchentür, ganz offensichtlich zum Ausgehen gekleidet: lavendelfarbenes Kostüm, ein mit lila Federn verzierter Hut auf dem kurzen eisengrauen Haar und dazu die guten Schuhe. Zwei der allgegenwärtigen Katzen balgten sich zu ihren Füßen.

»Es ist doch noch Zeit.« Helen warf einen Blick auf die altmodische Uhr, die neben dem Küchenschrank hing. Viertel nach acht. Es gab überhaupt keinen Grund zur Eile. Schließlich war sie die einzige Beamtin im Neighbourhood Office von Humbleham, und es war piepegal, ob sie fünf Minuten früher oder später ihren Dienst antrat. Zumindest solange nichts passierte, was die Anwesenheit von Police Constable Helen Franklin erforderte. Was im Dorf so gut wie nie vorkam – hier passierte nie etwas. Zumindest war das bis heute so gewesen.

»Wieso eigentlich wir?« Helen schob sich den Löffel in den Mund. Tatsächlich mochte sie Porridge nicht sonderlich, aber wenn Mum ihn schon extra für sie kochte, war jetzt nicht der richtige Zeitpunkt, sie daran zu erinnern.

»Du musst meinen Rollstuhl schieben.« Lydia Franklin sprach in genau jenem bestimmten Ton, der keine Widerrede duldete.

Überrascht sah Helen sie an. »Hast du nicht gestern gesagt, du willst laufen?« Mum hasste ihren Rollstuhl und rannte trotz ihrer fünfundsiebzig Jahre ständig wie aufgezogen herum, obwohl der Arzt ihr eingeschärft hatte, dass sie sich schonen müsse.

»Ich habe mich eben anders entschieden.« Das klang endgültig. Aber schwang da nicht noch etwas in ihren Worten?

»Du hast wieder Schmerzen, stimmt’s, Mum?« Helen musterte ihre Mutter genauer, nun doch besorgt. Lydia hatte sich nach ihrem Schlaganfall gut erholt, aber sie neigte dazu, sich zu überschätzen. Es war eben nicht alles wieder wie zuvor, auch wenn sie das gern ignorierte.

»Es ist nicht schlimm.« Lydia stieg vorsichtig über die beiden Katzen hinweg und kam in die Küche. »Aber ich kann nicht die ganze Zeit stehen, während Marian ihre blumigen Reden schwingt. Deshalb will ich den Rollstuhl nehmen.«

»Ach so.«

Marian Whalen war seit Kindertagen Helens beste Freundin. Darüber hinaus saß sie als Bezirksvertreterin im County Council von Rutland und war die Vorsitzende des Parish Council von Humbleham und damit so etwas wie die Bürgermeisterin des Sechshundert-Seelen-Dorfs. Kurz nach ihrem Amtsantritt im letzten Jahr hatte sie vorgeschlagen, das Dorf zu »Rutland in Bloom« anzumelden, dem Wettbewerb um das schönste Dorf im County. Und nun lag ein Jahr der gemeinschaftlichen Planung hinter ihnen, ein Jahr der unermüdlichen Bemühungen des Komitees »Blooming Humbleham«, das blühende Gemeinwesen des kleinen Ortes auch nach außen sichtbar zu machen. So hatte Marian es griffig formuliert, als sie den Dorfbewohnern ihren ehrgeizigen Plan präsentierte. Nun prangten die Vorgärten in prächtigen Farben, die alten Straßenlaternen trugen schwer an buntem Blumenschmuck, bienenumsummte Wildkräuter säumten jeden Pfad, und in Hochbeeten vor der Kirche gediehen Erbsen, Gurken und Salat zur freien Entnahme, sorgfältig gepflegt von den Schülern der St. Niclas Primary School. Und heute war der große Tag: Es ging um den Vorentscheid in Rutland County, und Humbleham musste sich den kritischen Augen der Jury stellen.

»Um halb neun sollen wir im Community Centre sein«, erklärte Lydia und setzte sich zu Helen an den Tisch. Der alte Stuhl ächzte. »Marian will uns letzte Anweisungen erteilen, und ich will nicht zu spät kommen.«

Helen schob ihren halb aufgegessenen Porridge zur Seite und trank ihren Kaffee aus – den Kompromisskaffee, wegen dem sie den Porridge in Kauf nahm. Mum trank nur Tee. »Du weißt aber schon, dass mein Dienst um neun beginnt«, erinnerte sie ihre Mutter.

Die machte eine wegwerfende Handbewegung. »Das schaffen wir schon. Die Jury kommt um neun, und nach der Begrüßung durch das Komitee kannst du mich gleich nach Hause bringen.« Sie rümpfte die Nase. »Marian meinte, es wäre besser, wenn wir nicht alle zusammen die Jury durch das Dorf begleiten.« Offensichtlich war ihre Mum mit dieser Entscheidung ganz und gar nicht einverstanden.

»Das hätte auch etwas von einem Schulausflug.« Helen stand auf und stellte ihre Tasse in die Spüle, darauf bedacht, dass ihre Mutter ihr Grinsen nicht sah.

»Nur weil sich der eine oder die andere wieder in den Vordergrund spielen würde.« Lydia verzog das Gesicht. »Jedenfalls sollen wir die Jury in unseren eigenen Gärten erwarten. Es ist alles genau geplant.« Nachdrücklich nickte sie mit dem Kopf. »Du kommst jedenfalls höchstens ein paar Minuten zu spät zum Dienst.«

Helen fügte sich in ihr Schicksal. »Ist schon okay.«

Wenn Lydia Franklin eine Sache einmal beschlossen hatte, brachte es überhaupt nichts, so etwas noch zu diskutieren. Und im Grunde hatte Mum ja recht – es war völlig egal, ob Helen in ihrem kleinen Office am Marktplatz saß, in den Straßen von Humbleham patrouillierte oder mit den Mitgliedern des Blumenschmuckkomitees am Community Centre stand und die Jury in Empfang nahm. Das war einer der Vorteile eines Jobs abseits vom Trubel: Niemand interessierte sich für das, was sie tat. Die eigentliche Police Station befand sich angenehme sieben Meilen entfernt in Oakham, dem Verwaltungssitz des County, und ihre Vorgesetzte zog es sowieso vor, das kleine Police Office in Humbleham nicht zur Kenntnis zu nehmen. Und war es nicht sogar Helens Aufgabe, als Erste vor Ort zu sein, wenn sich etwas ereignete? Den Besuch der Jury konnte man nun wahrlich ein Ereignis nennen.

Sie nahm ihre Weste vom Haken neben der Hintertür, zog sie über die dunkelblaue Uniformbluse und zupfte den steifen Stoff über ihrer Brust zurecht. Mit einer routinierten Bewegung klinkte sie das Funkgerät in die Halterung und setzte die Cap auf.

»Kannst du nicht wenigstens heute den Hut tragen?« Ihre Mutter warf einen missbilligenden Blick auf die Uniformkappe mit dem schwarz-weißen Karomuster. »Marian hat doch gesagt, wir sollen uns dem Anlass entsprechend kleiden.«

Helen hob eine Braue und warf einen vielsagenden Blick auf die lila Federn auf Lydias Kopf. »Die Kappe gehört genauso zur Uniform wie der Hut«, gab sie zurück. Aber sie gehorchte, nahm die Cap wieder ab und stülpte sich stattdessen den steifen Hut auf den Kopf. Der dunkelblonde Zopf im Nacken drückte unangenehm unter dem Hutband, aber es stimmte schon: Der erste Vorsitzende der Jury von »Rutland in Bloom« war Pete Stanford, Parlamentsvertreter für Rutland, Mitglied der Tories und, was man so hörte, ein erzkonservativer Mann. Deswegen war der traditionelle Polizeihut bestimmt die bessere Wahl, wenn Helen ihrer Rolle im dörflichen Schauspiel gerecht werden wollte. Der Rolle als Dorfpolizistin.

Lydia stand auf und marschierte in die Diele. Helen folgte ihr und knöpfte im Gehen die Weste zu. Dann holte sie den Rollstuhl aus seinem Verschlag unter der Treppe, vertrieb eine Katze vom Sitz, vergewisserte sich, dass ihre Mum bequem saß, und schob sie durch die Vordertür aus dem Haus.

Draußen herrschte diesiges Zwielicht. Ein dünner grauer Himmel schluckte die Farben und ließ die bunten Blumen im Vorgarten beinahe pastellig wirken. Helen fröstelte, es war eindeutig zu kühl für Juni. Der Kies knirschte unter den Rädern des Rollstuhls, und nicht zum ersten Mal wünschte sie sich, der Platz vor Lydias Cottage wäre gepflastert anstatt mit Schotter bestreut. Andererseits sah es wirklich hübsch aus mit den wild wuchernden Stockrosen entlang der Auffahrt und dem gelben Mohn, der überall zwischen den Steinen wuchs – Symbol für das grundlegende Problem ihres Heimatdorfs: Es war hübsch. Aber es war eben auch nicht so praktisch, wenn man mit einem Rollstuhl durch den Kies pflügen musste.

Mit einem letzten kleinen Kraftakt überwand sie die Schwelle in der Einfahrt, schloss das Tor hinter sich und legte den Riegel wieder vor. Nicht wegen etwaiger Einbrecher, sondern weil Mum sich einbildete, die Katzen würden es als Zeichen verstehen, besser nicht auf die Main Road hinauszulaufen.

Als Helen sich wieder umwandte, war Lydia schon ein paar Meter vorausgerollt. Mit kritischem Blick musterte sie die Mauer, die ihr Grundstück von der Straße trennte. Der von Purpurglöckchen, Steinbrech und Spanischen Gänseblümchen überwucherte Sandstein war ihr Beitrag zur Show – ein hübscher Blickfang auf dem Weg der Jury zum Garten der Nachbarn, wo eine elektrische Eisenbahn einen der Höhepunkte des Rundgangs darstellen sollte. Offenbar war alles in Ordnung, kein vorwitziges Hälmchen hatte sich über Nacht zwischen die roten und weißen Blüten geschummelt. Mit einer Handbewegung forderte Lydia sie zur Weiterfahrt auf.

Die Katzen waren heute nicht in Gefahr, dachte Helen, denn die Main Road lag wie ausgestorben vor ihnen. Das war ungewöhnlich – üblicherweise war das Dorf am Vormittag durchaus belebt. Zwar pendelten viele Bewohner zu ihren Arbeitsplätzen nach Oakham oder Leicester oder Peterborough, aber dass überhaupt niemand auf der Straße zu sehen war … Entweder waren alle Nachbarn noch in ihren Gärten und legten letzte Hand an Blumenbeete und Hecken. Oder aber sie waren tatsächlich Marians Aufruf gefolgt, noch vor Eintreffen der Jury am Community Centre zusammenzukommen. Nicht dass alle sechshundert Einwohner von Humbleham wirklich Teil von Marians Planung waren, aber auf die ein oder andere Weise hatte doch so gut wie jeder etwas dazu beigetragen. Und sei es nur, dass Fred, der Inhaber des Secondhandshops gegenüber, seine Schaufenster geputzt und die Auslagen neu dekoriert hatte – thematisch passend mit Tontöpfen und ausrangiertem Gartengerät.

Noch mehr als sonst wirkte Humbleham heute wie ein Postkartenmotiv, fand Helen, und das lag nicht nur an diesem weichgespülten Licht. Irgendwie pittoresk sah es natürlich immer aus mit den geduckten Cottages unter reetgedeckten Dächern, den gusseisernen Laternen und den kopfsteingepflasterten Straßen. Aber heute lag über allem ein besonderer Glanz, als ob der üppige Blumenschmuck den alten Gebäuden einen neuen Anstrich verpasst hätte. Keine Spur mehr von dem etwas schäbigen Eindruck, den die Häuser entlang des Marktplatzes normalerweise boten – heute sah Helens Heimatdorf so schick aus, als wäre es direkt einem Katalog für stilvolles Wohnen auf dem Land entsprungen. Als wäre der altmodische Charme Absicht und rührte nicht in Wahrheit daher, dass der Gemeinde das Geld für längst überfällige Erneuerungen fehlte.

Etwas, das sich in der Vorstellung von Marian Whalen am einfachsten durch einen Sieg beim Wettbewerb um das schönste Dorf im County ändern ließe. Dann würde das Dorf über die Gemeindegrenzen hinaus bekannt werden, es kämen mehr Touristen nach Humbleham, und wenn Marians Plan aufging, könnte man mit dem Geld endlich die dringend nötigen Renovierungen durchführen. Mit der gebotenen Achtsamkeit natürlich, um nicht das, was den Charme des Dorfs ausmachte, damit endgültig zu zerstören. Das war nämlich die größte Sorge der Gegner dieser Aktion, die viel lieber alles beim Alten lassen würden. Doch altmodisches Flair hin oder her: Wenn es den Schulkindern während des Unterrichts auf den Kopf regnete, war auch niemandem geholfen – damit hatte Marian recht.

»Brian hat das wirklich nett gemacht«, ließ sich Lydia vernehmen. »Aber natürlich war das alles Eileens Idee. Männer haben doch kein Gefühl für so was.«

Helen lachte auf. Was Mum von Männern hielt, war hinlänglich bekannt, doch in diesem Fall teilte sie ihre Einschätzung – auf den Inhaber des örtlichen Pubs traf sie durchaus zu. Brian gehörte das »Boxing Hares«, Eileen war seine Tochter und das Wirtshaus mit den kämpfenden Hasen am Dachfirst an diesem Tag wirklich kaum wiederzuerkennen: Ein niedriger Flechtzaun, der über und über mit Kapuzinerkresse bewachsen war, säumte neuerdings den kleinen Gastgarten. Bunte Sonnenschirme beschatteten die Tische, eine mit wildem Wein berankte Pergola bot Sichtschutz zur Straße hin, und Holztröge mit Begonien verbargen den bröckelnden Verputz – das alte Backsteinhaus wirkte wie einem Werbeprospekt für Rutland County entsprungen. Es war mehr als nur nett: »Es ist wunderschön geworden«, sagte Helen. »Ich hoffe, sie lassen das auch nach dem Jurybesuch so.«

»Das will ich Brian geraten haben.« Lydia nickte nachdrücklich. »Enyd hat übrigens gesagt, wir werden ganz sicher gewinnen. Sie hat gestern ein Huhn geschlachtet.«

Helens Augenbrauen gingen in die Höhe. Enyd war die Frau des Pfarrers und hatte einen guten Draht zu höheren Mächten, aber dass sie sich neuerdings in Wahrsagerei versuchte, war ihr neu. »Trägst du deshalb die Reste dieses Orakels auf dem Kopf?«

»Sie hat es doch nicht deswegen geschlachtet.« Ihre Mum schnaufte empört. »Am Sonntag gibt es Chicken Pie.«

»Da bin ich aber beruhigt.«

Helen warf einen Blick nach rechts und links, bevor sie den Rollstuhl über die Straße schob. Noch immer kein Auto. Das war wirklich seltsam. Immerhin hatte der Village Shop auf der gegenüberliegenden Seite des Marktplatzes geöffnet. Anders als sonst waren Steigen und Schütten mit Obst und Gemüse am Straßenrand aufgestellt, der riesige rot-weiß gestreifte Schirm am Straßenrand ließ Helen eher an einen Marktstand in Südfrankreich denken als an einen Gemischtwarenladen in Mittelengland. Aber es sah … gut aus. Es passte zu dem frischen Look des Dorfs, den Marian mithilfe ihres Komitees mit ebenso viel Umsicht wie Engagement geschaffen hatte. Sogar die Bank an der Bushaltestelle war neu lackiert – als Helen mit dem Rollstuhl in die Great Lane einbog, roch es so deutlich nach feuchter Farbe, dass sie hoffte, es würde heute niemand auf die Idee kommen, darauf Platz zu nehmen.

Die ersten Häuser in der Great Lane waren niedriger und duckten sich gegen eine sanft geneigte Böschung, die unmittelbar in Wiesen und Felder überging. Die Reihe aus fünf identischen Cottages mit den spiegelgleichen Vorgärten gehörte zum Retirement Home am anderen Ende der Main Road und wurde von Senioren bewohnt, die sich noch weitgehend selbst versorgen konnten. Ein gutes Konzept, wie Helen fand, und eine Zeit lang hatte sie versucht, Lydia einen dieser Bungalows schmackhaft zu machen. Doch ihre Mutter hatte diese Idee rundweg abgelehnt. Sie wolle ihr Haus nicht verlassen, wie solle das denn mit den Katzen gehen? Und überhaupt sei ja genug Platz, sodass Helen bei ihr wohnen und sich um sie kümmern könne, dann käme sie prima zurecht. Natürlich. Helen ärgerte sich noch immer bei der Erinnerung an dieses Gespräch. Weniger über Mum, die einfach immer schon so gewesen war, sondern über sich selbst, weil sie sich mal wieder nicht gegen Lydia hatte durchsetzen können – nicht einmal, als es doch um ihr eigenes selbstbestimmtes Leben gegangen war. Aber damals war sie einfach nur froh gewesen, möglichst schnell aus London wegzukommen. Ihr altes Kinderzimmer in Mums Haus erschien auch ihr als die naheliegendste Lösung, bis absehbar war, wie ihre Mutter nach ihrem Schlaganfall zurechtkommen würde. Nur dass Lydia bei jeder Andeutung, sie könne sich irgendwann eine eigene Bleibe suchen, prompt einen Rückfall erlitten hatte, sodass Helen nun nach über einem Jahr noch immer bei ihr wohnte. Sie seufzte resigniert, doch der Rollstuhl rumpelte so laut über das Kopfsteinpflaster, dass Mum es bestimmt nicht hören konnte.

Auf der anderen Straßenseite erhob sich ein hoher schmiedeeiserner Zaun. Dahinter lag die St. Niclas Primary School, deren Schulgarten einen weiteren Meilenstein in Marians Bemühungen um eine Verschönerung des Dorfs markierte. Sie hatte bei der Schulverwaltung des County Geld lockergemacht, und ein Teil des Sportplatzes war in ein Biotop verwandelt worden – zum Entsetzen von Mr. Gilmore, dem Sportlehrer. Aber Frösche und Libellen in ihrer natürlichen Umgebung zu beobachten, war zeitgemäßer als Rasenhockey, hatte Marian beschlossen und mit dieser Auffassung eine Mehrheit im Dorfrat gefunden. Was auch daran liegen mochte, dass Ms. Marshall, die Biologielehrerin, ebenfalls im Dorfrat saß und auf Mr. Gilmore nicht sonderlich gut zu sprechen war. Und schließlich konnte Mr. Gilmore seine Hockeymannschaft auch auf dem Rasen hinter dem Community Centre trainieren, während sich die Frösche an dem kleinen Bach, der das Schulgelände durchquerte, viel wohler fühlen würden.

Helen schmunzelte beim Gedanken an ihre Freundin. Wenn Marian sich etwas in den Kopf gesetzt hatte, war es praktisch unmöglich, sie davon abzubringen. Das hatte sich seit ihren Kindertagen nicht geändert – schon vor zwanzig Jahren war es Marian gewesen, die ständig große Pläne geschmiedet hatte, und nur selten war es Helen gelungen, den Überschwang ihrer Freundin zu bremsen. Deshalb leitete Marian heute auch eine erfolgreiche Werbeagentur, saß im County Council von Rutland und war Ortsvorsteherin in Humbleham, während sie selbst nach dem Schulabschluss nach London zur Polizei gegangen war. Dass es sie nun wieder in ihr Heimatdorf verschlagen hatte, wo ihre spannendste Aufgabe im Verteilen von Strafzetteln fürs Falschparken bestand, war eine andere Geschichte.

Endlich kam das Community Centre in Sicht. Das flache Backsteingebäude hatte ebenfalls einen neuen Anstrich erhalten und leuchtete sonnengelb zwischen den Bäumen am Straßenrand. Als ob es der Sonne Konkurrenz machen wollte, die sich noch immer hinter der dunstigen Wolkendecke verbarg. Petunien und Zauberglöckchen wuchsen in Blumenkübeln rechts und links vom Eingang, in den Ästen der alten Eichen baumelten bunte Lampions, Fenster und Glastüren glänzten frisch geputzt. Der Parkplatz neben dem Gebäude war ziemlich voll, stellte Helen mit einem raschen Seitenblick fest. Offenbar waren wirklich alle gekommen. Sogar Sir Anthony Cooper schien persönlich anwesend zu sein, der pensionierte Richter und Hauptsponsor der Initiative »Blooming Humbleham«. Zumindest nahm Helen an, dass er hier war, denn sein Land Rover parkte genau vor der Tür des Community Centre, und Foster Drake, der Chauffeur und Butler von Sir Anthony, saß in Hemdsärmeln in der geöffneten Heckklappe. Er rauchte eine Zigarette und hob lässig die Hand zum Gruß. »Ganz schön kühl für Juni, nicht wahr?«

Lydia warf ihm einen verdrießlichen Blick zu. »Hat der Mann denn nichts Besseres zu tun?«, schimpfte sie. Laut genug, dass er es hören musste. »Wieso lungert der hier draußen herum?«

»Vermutlich hat er keine Lust, Marians Ansprache zu lauschen.« Helen drehte den Rollstuhl zu der Rampe, die zur Eingangstür führte, und nahm ein paar Schritte Anlauf. Lydia quiekte und hielt sich fest. Mit Schwung schob Helen den Rollstuhl die schiefe Ebene hinauf und durch die offen stehende Eingangstür.

Sie waren die Letzten, wie es schien. Eine beachtliche Menge von Menschen drängte sich im Gemeinschaftssaal vor dem niedrigen Podium, auf dem Marian Whalen in ein Mikrofon sprach. Ihre Stimme klang ein wenig verzerrt durch die alte Tonanlage – noch ein Punkt auf Marians Liste der zu ersetzenden Dinge. Sie unterbrach ihre Rede und nickte ihnen zu, ihre Augen leuchteten grün unter der Fülle ihrer roten Locken. Trotz der scheppernden Lautsprecher war Marian ganz offensichtlich in ihrem Element.

An ihrer Seite stand Ms. Kinkaid, pensionierte Lehrerin und erste Vorsitzende des Blumenschmuckkomitees: klein und rund, in flauschige rosa Wolle gehüllt und mit vor Aufregung geröteten Wangen. Ihre weißen Löckchen schienen ein Eigenleben zu führen und wippten, als sie den Zuspätkommenden kopfschüttelnd einen strafenden Blick zuwarf.

Die dritte Person auf der Bühne war tatsächlich Sir Anthony Cooper. Kerzengerade saß der alte Mann in seinem Rollstuhl, er trug ein Tweedsakko und hatte die zitternden Hände im Schoß gefaltet. Er überragte sogar im Sitzen noch die winzige Ms. Kinkaid neben ihm.

Marian unterbrach ihre Rede, während Helen Lydias Rollstuhl nach vorne schob, nach links und rechts grüßend und Entschuldigungen murmelnd, bis sie ihre Mutter in der ersten Reihe parken konnte. Dann trat sie ein paar Schritte zur Seite und lehnte sich neben den Glastüren des Eingangs gegen die Wand.

Am liebsten hätte sie sich auch nach draußen verdrückt so wie Sir Anthonys Butler, denn mit dem Ablauf der Führung durch das Dorf hatte sie gar nichts zu tun. Nach Marians Wunsch sollte sie einfach nur sichtbar sein zum Zeichen einer funktionierenden Nachbarschaftspolizei. Einer besonders hübschen und sympathischen Vertreterin der Polizei, wie Marian betont hatte. Helen musste unwillkürlich lachen bei der Erinnerung daran. Als ob es darauf ankäme. Sie sah jedenfalls aus wie immer mit dem dunkelblonden Zopf, der unter dem ungeliebten Hut über ihren Rücken baumelte, ihren runden graublauen Augen und der Stupsnase – trotz ihrer vierunddreißig Jahre ein Kindergesicht, wie sie fand. Eigentlich trug sie deshalb auch ganz gern ihre Uniform: Sie fühlte sich damit ein klein wenig erwachsener, den Grübchen in ihren Wangen zum Trotz. Auch wenn Mum sie selbst in Uniform manchmal noch wie ein Kind behandelte. Die ihr im Übrigen niemals verzeihen würde, wenn sie nicht bis zur Jurybegrüßung bliebe.

»Und ich will bei niemandem ein Mobiltelefon sehen oder hören!« Marian hatte ihre Rede fortgesetzt und blickte jetzt streng von ihrem Podium herab. Die alte Ms. Kinkaid neben ihr nickte zustimmend, die Löckchen tanzten. Demonstrativ zog sie das Seniorentelefon aus der Tasche ihrer rosaroten Strickjacke und drückte für alle sichtbar auf den Ausschaltknopf. Sir Anthony dagegen reagierte nicht auf Marians Ansage – wahrscheinlich besaß er gar kein Telefon. Oder er war der Meinung, dass ihn die Anweisungen der Ortsvorsteherin nicht betrafen. Schließlich lief sein Garten außer Konkurrenz: Um den Park von Humble Manor kümmerte er sich nicht selbst, sondern ein Gartenbaubetrieb, der zweimal im Monat ein Team von professionellen Gärtnern zur Pflege der weitläufigen Anlage schickte.

Es war ein Wunder, dass der pensionierte Richter überhaupt anwesend war, dachte Helen. Mum behauptete, Sir Anthony habe die Mauern von Humble Manor seit Jahren nicht mehr verlassen. Dass er nun inmitten des einfachen Volks auf der Bühne saß, war vermutlich ebenfalls ihrer Freundin Marian zu verdanken: Sie hatte es tatsächlich geschafft, praktisch die komplette Dorfgemeinschaft für dieses Projekt zu begeistern. Sogar den unnahbaren Bewohner des Herrenhauses.

In diesem Augenblick vibrierte es in Helens Brusttasche.

»Brrrrr … Sugar – oh, honey, honey!«

Mit einem Schlag wandten sich ihr alle Gesichter zu, aus der ersten Reihe war ein unterdrücktes Kichern zu hören. Ihre Mutter fuhr herum und starrte sie erbost an. Und Marians vorwurfsvoller Blick traf sie mit voller Wucht. »Das gilt selbstverständlich auch für dich, Helen Franklin.«

»You are my candy girl …«

Hastig fingerte Helen das Telefon heraus, doch bis sie es endlich in der Hand hielt, war es schon wieder verstummt. Himmel, sie war im Dienst! Doch dann besann sie sich. Das Funkgerät baumelte von ihrer Schulter. Sollte in der nächsten halben Stunde wirklich etwas passieren, das noch wichtiger war als der bevorstehende Jurybesuch, würde man sie ohnehin per Funk verständigen. Ein Blick aufs Display bestätigte das – der Anruf war von Rose gekommen, der Putzhilfe ihrer Mutter. Das konnte wirklich warten. Abgesehen davon würde Marian ohnehin keinen Widerspruch akzeptieren. Mit einer übertriebenen Geste schaltete Helen das Telefon stumm. »Erledigt.«

Marian nickte zufrieden. Ihr prüfender Blick glitt weiter, Telefone wurden gezückt, auch Lydia Franklin gehorchte und schaltete ihr Klapphandy aus. Nichts durfte das beschauliche Bild stören, das Humbleham heute präsentieren sollte, so hatte es Marian befohlen. Keine nachlässig gekleideten Teenager, schon gar keine sichtbar getragenen Piercings oder Tattoos, stattdessen traditionelle Kleidung ohne irgendwelche modischen Accessoires. Deshalb wirkte die heutige Versammlung im Community Centre ein bisschen wie aus der Zeit gefallen: gediegene, praktische Kleidung, wie sie die englische Landbevölkerung schon vor hundert Jahren getragen haben mochte. Stücke, die bei dem ein oder anderen Komiteemitglied vermutlich auch schon genauso lang im Schrank hingen. Nur Lydia mit den lila Federn auf dem Kopf fiel mal wieder aus der Rolle.

Mit halbem Ohr verfolgte Helen Marians letzte Anweisungen, die noch einmal die Choreografie des Jurybesuchs im Einzelnen durchging: erst die Begrüßung am Community Centre, dann die Great Lane hinunter zur St. Niclas Primary School, vorbei am Pub und die Main Road entlang, anschließend hoch zur Kirche und danach … Helen blendete Marians Stimme aus und warf einen Blick auf die Uhr. Kurz vor neun. Wenn die Jury pünktlich war, schaffte sie vielleicht noch einen kurzen Abstecher in ihr Office, bevor sie ihren Rundgang durchs Dorf begann. Konnte herausfinden, was während der Nacht in den anderen Districts los gewesen war, die der Dienststelle in Oakham unterstanden. Wo sich vermutlich auch nicht mehr getan hatte als in Humbleham. Dem Dorf, in dem nie etwas geschah.

Zumindest dachte sie das bis zu dem Augenblick, als eine kleine Gestalt mit hennarotem Haar keuchend und schluchzend in den Glastüren des Community Centre auftauchte. Es war niemand anderer als Rose. Rose Brentwood, die immer dienstags bei Mum putzte, in einer bunt gemusterten Kittelschürze und offensichtlich völlig durch den Wind.

»For heaven’s sake, Helen, wieso gehst du denn nicht an dein Telefon?« Atemlos hervorgestoßene Worte, kaum dass Rose vor ihr stand.

Helen wurde siedend heiß. »Was ist denn passiert, Rose?«

»Du musst sofort kommen.« Die ältere Frau stand jetzt schnaufend vor ihr, die dunklen Augen so weit aufgerissen, dass Helen die roten Äderchen sehen konnte. »Brian …«

»Was ist mit Brian?«

Rose rang um Atem, während Helen sich ein wenig entspannte. Der Wirt des »Boxing Hares« trank gern einen über den Durst. Manchmal auch mehr als einen, sodass er sich den Heimweg sparte und lieber gleich in der Gaststube schlief, mit dem Kopf auf einem gepolsterten Fußschemel vor dem Kamin. Aber was hatte sie, Helen, damit zu tun, wenn Brian mal wieder seinen Rausch ausschlief?

Marian hatte ihre Rede erneut unterbrochen und sah stirnrunzelnd herüber. Einige Dorfbewohner drehten sich zu ihnen um, die Mienen je nach Gemüt amüsiert, missbilligend oder mit offener Neugier.

Rose beugte sich zu Helens Ohr. »Ich glaub, er ist tot.«

Helen entfuhr ein Keuchen. »Was sagst du da?«

Rose schnaubte. »Komm einfach mit und sieh es dir selber an.« Sie drehte sich um, die Schürzenbänder flatterten, und schon war sie durch die Tür hinaus, noch bevor Helen antworten konnte.

Marian hob die Brauen und blickte sie fragend an. Helen deutete nach draußen, wo Rose hinter der Glastür verschwunden war, dann auf ihre Mutter. Marian nickte knapp. Sie würde dafür sorgen, dass jemand Lydia nach Hause brachte. Nicht dass Mum das nicht allein geschafft hätte, sie kam ja sonst auch ohne Rollstuhl zurecht. Doch egal was im »Boxing Hares« geschehen war – jemand musste sich um sie kümmern.

Helen schickte ein erleichtertes Lächeln in Marians Richtung, winkte Lydia zu und wandte sich rasch ab, ohne auf die Antwort ihrer Mutter zu warten. Sie würde es ihr später erklären. Sie verließ das Community Centre und eilte im Laufschritt hinter Rose her die Straße hinunter. In diesem Augenblick brach die Sonne durch die Wolken und tauchte die Great Lane in gleißendes Licht.

Kapitel 2

Brian Garner schnarchte nicht wie sonst auf dem Teppich vor dem Kamin, sondern lag bäuchlings auf den altersschwarzen Dielen unter der Dartscheibe, lang hingestreckt und völlig regungslos. Als ob er nur einen heruntergefallenen Pfeil aufheben wollte und gestolpert war, dachte Helen. Erst als sie sich zu ihm hinunterbeugte, bemerkte sie die mattschwarze Befiederung des Dartpfeils in seinem dunklen Haar, und es dauerte einen weiteren Augenblick, bis sie realisierte, was das bedeutete: Brian war nicht einfach gestolpert, sondern es wirkte, als ob er regelrecht niedergestreckt worden war von diesem winzigen Ding. Ohne viel Hoffnung ging sie neben ihm in die Hocke und legte den Handrücken an seine Kehle. Keine Bewegung, nur kalte tote Haut. Brian musste seit Stunden tot sein.

Und es gab erstaunlich wenig Blut. Die Spitze des Pfeils steckte bis zum Anschlag in der Schädelbasis des Toten, ziemlich genau da, wo sich die rückwärtige Öffnung der alten Baseballcap befunden hätte, die Brian normalerweise wie festgewachsen auf dem Kopf trug. Nun lag die blaue Kappe auf dem Tresen, was für sich genommen schon ungewöhnlich war. Im Zusammenhang mit der Tatsache, dass Brian tot war, war das sogar höchst verdächtig. Helen richtete sich wieder auf und sah sich im Raum um. Die Stühle standen ordentlich an den Tischen, nichts wies auf einen Streit unter den Gästen hin, nichts ließ an einen überstürzten Aufbruch denken. Was hier passiert war …

Mit einer bewussten Anstrengung drängte sie beiseite, was ihr Kopf nicht begreifen wollte: dass da Brian lag, den sie am Abend zuvor noch bei bester Gesundheit gesehen hatte. Schwankend kam sie auf die Beine. Es war nicht die erste Leiche in ihrer Karriere. Auch nicht der erste gewaltsame Todesfall, natürlich nicht. Aber es war etwas völlig anderes, wenn man den Toten von Kindesbeinen an kannte. Sie atmete tief durch. Ganz ruhig jetzt. Die nächsten Schritte. Sie wandte sich an Rose.

»Hast du schon die 999 verständigt?«

Rose blinzelte wie eine Eule. »Nope. Wollte zuerst dir Bescheid sagen. Das war doch richtig, oder nicht?« Ihr faltiges Gesicht hatte einen vage beigefarbenen Ton angenommen, ganz ähnlich den ehemals weißen Wänden der Wirtsstube, die seit der Einführung des Rauchverbots in den Pubs vermutlich nie neu gestrichen worden waren. Eierschalenfarben würde Mum die Farbe nennen und dabei an Kostüme mit dazu passendem Hut denken, wie die Queen sie getragen hatte. Rose Brentwood stand sie deutlich weniger gut zu Gesicht.

»Klar war das richtig.« Helen schenkte Rose ein beruhigendes Lächeln, ohne dass ihr danach zumute war, und tätschelte der Älteren den Arm. Dann zog sie das Telefon aus der Brusttasche ihrer Uniformjacke und tippte auf die Kurzwahl der Police Station in Oakham. Es tutete in der Leitung, dann meldete sich Inspector Jennifer Sharning. »Helen, was gibt’s?« Die Stimme ihrer Vorgesetzten wurde zuckersüß. »Benötigt die Dienststelle in Humbleham womöglich Unterstützung beim Jurybesuch?«

Helen biss die Zähne zusammen und atmete tief durch. Ihre Vorgesetzte war manchmal … »Nein, Jen«, sagte sie in bemüht ruhigem Tonfall. »Ich hab hier einen Toten mit einem Dartpfeil im Kopf. Brian Garner, den Wirt des ›Boxing Hares‹. Ich brauche die Kollegen vom C. I. D. und die Kriminaltechnik.«

Aus dem Telefon drangen unverständliche Geräusche. War das ein Fluch? Helen schloss die Augen und zählte im Geiste bis zehn. Dann öffnete sie sie wieder. »Jennifer?«

»Schon gut, ich wollte nur gerade zum Training. Da kannst du wohl nichts dafür.« Sie hörte, wie Jen im Hintergrund mit jemandem sprach. »Ich gebe der Coroner Bescheid. Willst du wirklich gleich das volle Programm?«

Es klang, als ob sie Helens Einschätzung nicht traute, die Kriminalpolizei samt einem Team der Spurensicherung anzufordern. Aber das war natürlich blanker Unsinn. Natürlich brauchten sie alles, was das Criminal Investigation Department in Leicester zu bieten hatte, wenn der Verdacht auf ein Tötungsdelikt bestand. Und natürlich wusste ihre Vorgesetzte, dass Helen die Kompetenz und Erfahrung besaß, so etwas zu entscheiden. Aber sie würde den Teufel tun, Jennifer das auch noch unter die Nase zu reiben. »Ja, das volle Programm bitte«, bestätigte sie deshalb nur knapp. »Ich halte hier so lange die Stellung.«

PI Jennifer Sharning beendete das Gespräch, ohne sich zu verabschieden. Helen steckte das Telefon zurück in die Tasche und biss die Zähne zusammen. In Augenblicken wie diesem war sie froh über ihr kleines Office in Humbleham, wo sie ihrer Vorgesetzten nicht ständig über den Weg lief. Wobei genau das natürlich Teil des Problems war, das Jennifer mit ihr hatte.

Rose hatte sich während des Telefonats auf einen Stuhl gesetzt, mit krummem Rücken, die Hände im Schoß verschränkt. Nun stand sie auf und kam näher. »Was soll ich jetzt machen? Soll ich überhaupt putzen?«

»Bloß nicht.« Helen schluckte ihren Ärger über Jennifer Sharning hinunter und wandte sich zu ihr um. Rose konnte wirklich nichts dafür. »Die Kollegen aus Leicester kommen gleich mit einem Team der Spurensicherung. Vorher darf hier nichts angefasst werden.«

»Das ist so schrecklich.« Rose brachte ein Taschentuch aus den Tiefen ihrer Kittelschürze zum Vorschein und schnäuzte sich geräuschvoll. »Gestern Morgen war er noch so lebendig wie immer, und heute …« Sie warf einen Blick in die Ecke, in der Brian lag, und wandte sich schaudernd ab. »Dabei kam mir das gleich so komisch vor, weil die Tür nicht verschlossen war. Normalerweise sperrt Brian ja nachts immer ab, selbst wenn er hier pennt.« Sie tupfte sich die Augen. »Was für ein Unglück! Was soll jetzt nur werden?«

Helen legte der älteren Frau die Hand auf die Schulter. »Am besten wartest du hinten in der Küche. Sie wollen bestimmt mit dir reden.«

»Kann ich nicht so lange nach Hause gehen?« Rose sah sie hoffnungsvoll an.

Helen schüttelte den Kopf. »Nein.« Sie sah noch einmal auf die Uhr. Punkt neun. Die Jury von »Rutland in Bloom« musste jeden Augenblick eintreffen, doch das war nicht zu ändern. Noch konnte sie hier nicht weg – und wollte es auch nicht. »Sie werden nicht lange brauchen.«

Helen wartete, bis Rose durch die Schwingtür neben der Bar verschwunden war, dann nahm sie ihren Hut ab und setzte sich auf den Stuhl, von dem die ältere Frau soeben aufgestanden war. Sie war dankbar für den Augenblick der Ruhe, froh über diesen Moment für sich, um ihre Gefühle zu sortieren. Den Schock, die Trauer und, ja, die Wut über den Tod des Mannes, den sie schon so lange kannte. Wenn sie die Augen schloss, glaubte sie seine Stimme zu hören: »Last orders, please!« Und nun … das. Brian war tot, und irgendjemand war für seinen Tod verantwortlich. Sie drängte die Tränen zurück, die hinter ihren Lidern brannten, und atmete tief durch.

Brian Garner musste um die fünfzig gewesen sein. Das abgewetzte Leinensakko mit den Flicken auf den Ärmeln, die dunkle Hose, von denen Brian ein Dutzend besitzen musste. Der rötliche Teint seines Gesichts, das schüttere dunkle Haar, die anschwellende Leibesmitte. All das war ihr seit vielen Jahren vertraut, seit sie während ihrer Schulzeit manchmal im »Boxing Hares« ausgeholfen hatte. Brian hatte immer penibel darauf geachtet, dass sie abends pünktlich um neun nach Hause ging. Zu späterer Stunde sei von seinen Gästen nicht mehr zu verlangen, dass sie sich in der Gegenwart eines jungen Mädchens anständig benahmen, hatte er immer gesagt. Was die vierzehnjährige Helen zu der kopfschüttelnden Frage veranlasst hatte, wieso sich seine Gäste nicht immer anständig benehmen konnten. Die Antwort war Brian ihr schuldig geblieben.

Gestern Abend hatte sie ihn noch gesehen, als sie kurz auf ein Bier im »Boxing Hares« gewesen war. Allerdings hatte sie die rappelvolle Gaststube gar nicht betreten: Donnerstags fand das wöchentliche Treffen der Dartfreunde statt, und das Getöse war nur auszuhalten, wenn man selbst am Spiel teilnahm. Stattdessen hatte sie draußen unter einem der neuen bunten Schirme gesessen und nur mit Eileen gesprochen. Brians Tochter war nur wenige Jahre jünger als sie und auf dem besten Wege, als Pubwirtin in die Fußstapfen ihres Vaters zu treten. Sie hatten sich über den bevorstehenden Besuch der Jury unterhalten und darüber, wie gut die Umgestaltung des Gastgartens dem Marktplatz zu Gesicht stand. Eileen hatte angedeutet, dass Brian den aufwendigen Blumenschmuck als eine einmalige Aktion anlässlich des Wettbewerbs betrachtete, während sie das gern so beibehalten würde. Diese Diskussion zwischen Vater und Tochter hatte sich nun wohl erledigt, dachte Helen, während sie noch immer die Gestalt auf dem Fußboden betrachtete. »Last orders, please.« Ruhe in Frieden, Brian.

Mit einer bewussten Anstrengung zwang sie sich in die Gegenwart zurück. Jemand musste Eileen Bescheid sagen, ging ihr durch den Kopf. Später. Sobald die Beamten aus Leicester eintrafen, konnte man ohnehin nicht mehr geheim halten, was hier geschehen war. Dann würde auch jemand seine Familie verständigen – und sie hoffte sehr, dass nicht sie diejenige war. Das war immer eine unangenehme Aufgabe und doppelt schlimm, wenn man die Leute kannte.

Erneut ein Blick auf die Uhr. Kurz vor halb zehn. Jetzt würde es nicht mehr lange dauern, bis die Kollegen eintrafen. Sie ließ ihre Blicke schweifen und stellte sich vor, sie würde die niedrige Gaststube zum ersten Mal sehen: die altersdunklen Balken an der Decke, die fein gedrechselten Sprossen der Stühle, die speckig glänzenden Tischplatten, auf denen noch die matten Abdrücke der Gläser zu sehen waren, die gestern niemand mehr weggewischt hatte. Es wollte ihr nicht recht gelingen, doch das spielte heute auch keine Rolle. Für den Fall waren die Detectives aus Leicester zuständig und nicht die kleine Dorfpolizistin vor Ort. Ihre Zeit in London und die Arbeit bei der Kriminalpolizei waren Teil eines anderen Lebens. Eines Lebens, das sich Jahre entfernt anfühlte und inzwischen gar nicht mehr zu ihr zu gehören schien.

In der Küche pfiff ein Kessel, Rose kochte offenbar Tee. Der grelle Ton riss Helen aus ihren schwermütigen Gedanken. Immerhin war das einmal ihr Job gewesen, und sie war gut darin gewesen. »Schau genau hin, Helen. Was siehst du?« Im Kopf hörte sie die Stimme ihres Partners beim Londoner C. I. D.

Da war ein toter Mann mit einem Dartpfeil im Nacken. Konnte so ein kleines Ding überhaupt den Schädel eines Menschen durchschlagen und ihn töten? Technisch wäre solch ein Wurf kein Problem – ein geübter Spieler konnte auch drei Darts hintereinander ins Bull’s Eye werfen. Aber auf ein bewegliches Ziel und mit Todesfolge? Eigentlich unmöglich. Also doch ein schrecklicher Unfall? Und anstatt Hilfe zu holen – Flucht. Helen nickte langsam. So könnte es vielleicht gewesen sein. Dann hatte der Täter bestimmt Spuren hinterlassen, die ihn überführen würden, und alles Weitere würde sich nach der Untersuchung des Tatorts ergeben. Doch all das herauszufinden, war nicht ihre Aufgabe. Die Frage, wer Brian auf dem Gewissen hatte, würden andere beantworten müssen.

Ein Wagen hielt draußen, der Motor erstarb. Helen horchte auf. Dumpfes Schlagen von Autotüren und zuletzt ein blechernes »Rums«. Die Kollegen aus Leicester waren da. Dann ein Rütteln am Eingang. Offenbar hatte Rose den Riegel vorgelegt, als sie die Tür hinter Helen schloss.

Sie rutschte vom Stuhl, setzte den Hut wieder auf, rückte die Weste zurecht und öffnete. Vor der Tür standen zwei Männer mit schweren Koffern und eine Frau mit einer Fototasche und einem Stativ in der Hand: das CSI-Team. Sie kannte die Leute von der kriminaltechnischen Abteilung nicht, hatte mit der Kriminalpolizei der Constabulary bisher kaum zu tun gehabt. Wie auch, wenn in Humbleham nie etwas passierte. Die drei nickten ihr flüchtig zu, als sie an ihr vorbeischritten, nicht unfreundlich, aber doch deutlich mit Wichtigerem beschäftigt als mit der Dorfpolizistin, die vierzig Minuten bei der Leiche ausgeharrt hatte. Bei Brians Leiche. Es schmerzte immer noch. Doch sie straffte die Schultern und atmete tief durch. Bleib professionell, Franklin, befahl sie sich. Wenn du sonst schon nichts mehr hast: Deine Professionalität wirst du nicht auch noch verlieren.

Es polterte, als die Männer ihre Koffer auf einen Tisch wuchteten. Die Frau stellte das Stativ ab, ließ die Tasche zu Boden gleiten und blickte sich aufmerksam um. Genau wie Helen nur wenige Minuten zuvor. Nichts war wichtiger als dieser erste Eindruck. Ein Gefühl für den Ort, für die Gegebenheiten zu entwickeln, die dazu geführt hatten, dass ein Mann nun tot in seiner Gaststube lag. Helen hoffte, dass die Kollegin mehr Erfolg hatte – ihr war es nicht wirklich gelungen.

Hinter ihr wurde mit Nachdruck die Tür geschlossen. Sie fuhr herum, rechnete eigentlich mit PI Sharning und einer weiteren spitzen Bemerkung, doch es war ein Mann in Zivil, einer der Detectives aus Leicester: DS Jeremy Barnes, den sie von der Polizeischule kannte. Hochgewachsen, unverschämt gut aussehend in Designerjeans und heller Lederjacke – und zum Glück für die weibliche Belegschaft offen schwul. Seine blendend weißen Zähne waren zu einem filmreifen Lächeln gebleckt. »PC Helen Franklin.« Er blieb vor ihr stehen, musterte sie von Kopf bis Fuß. »Meine geschätzte Kollegin aus London hat den Fall bestimmt schon gelöst.«

Helen sah ihn empört an. »Die Londoner Kollegin kommt von hier, wie du sehr wohl weißt.« Mit Mühe rang sie sich ein Lächeln ab. Jeremys Humor war manchmal schwer zu ertragen. »Und es ist euer Fall.«

Jeremy grinste, unbeeindruckt von ihrem Ärger. »Du hast also deine Augen und Ohren gegen die Uniform eingetauscht?« Er klopfte gegen ihren steifen Hut. »Oder ist noch jemand zu Hause?«

Nun musste Helen doch lachen. »Immerhin weiß ich, wo mein Platz ist«, antwortete sie leichthin. Sie machte eine einladende Geste. »Komm rein. Das ist möglicherweise der erste Fall, in dem jemand durch einen Dartpfeil zu Tode gekommen ist.«

Die Flügel der Schwingtür zur Küche knarrten hölzern, Helen wandte sich um. Rose kam herein, ein Tablett mit dampfenden Tassen in den Händen. »Ich habe uns Tee gemacht.«

Das Rascheln der Papieranzüge verstummte, die Leute von der Spurensicherung erstarrten mitten in der Bewegung. Was vor allem im Fall der Frau komisch aussah, die auf einem Bein balancierte, das andere erhoben auf halbem Weg, in den weißen Overall zu steigen.

Jeremy Barnes stieß ein ungläubiges Schnauben aus. »Tee? Im Ernst?« Ein Seitenblick zu Helen, dann wieder zu Rose. »Und was machen Sie überhaupt hier?«

»Das ist Rose«, beeilte sich Helen zu erklären. »Rose Brentwood. Sie arbeitet hier als Putzhilfe und hat den Toten gefunden.«

»Verstehe.« Jeremy sah verdrießlich drein. Helen glaubte, seine Gedanken zu erraten: Jemand, der vielleicht zum Kreis der Verdächtigen gehörte, könnte Spuren verwischt oder neue gelegt haben, ob aus Versehen oder mit Absicht. Auch wenn die alte Rose nur schwer als Verdächtige infrage kam – sie hatte einfach kein Motiv.

Der Ältere der beiden CSI-Männer fasste sich als Erster. »Ich glaube, eine Tasse Tee wird nicht schaden«, brummte er. »Ist heute ziemlich kühl für Juni, oder nicht?«

»Tee schadet nie«, gab Rose lakonisch zurück, warf einen unbestimmten Blick in die Runde und stellte das Tablett auf den Tresen. Offenbar hatte sie sich wieder gefangen. »Und toter als tot kann Brian nicht mehr werden.«

»Da haben Sie auch wieder recht.« Der jüngere Beamte trat zu ihr und nahm sich eine Tasse. Er spreizte geziert einen Finger ab und schnupperte genießerisch am aufsteigenden Dampf. »Assam?«, fragte er.

»Yorkshire«, antwortete Helen, und Rose nickte. Yorkshire und Earl Grey, andere Teesorten gab es nicht im »Boxing Hares«, und Earl Grey hätte Helen am Geruch erkannt. Allerdings glaubte sie, einen schwachen Duft von Brandy wahrzunehmen, der aus Roses Richtung kam.

»Wenn Sie Assam wollen, müssen Sie nach London«, setzte Rose schnippisch hinzu. »Das hier ist ein Pub und keine Teestube.« Sie reckte kämpferisch das Kinn und verschwand wieder in der Küche.

Jeremy grinste und reichte der CSI-Beamtin eine Tasse, bevor er sich selbst bediente. Helen winkte dankend ab. Offenbar bemerkte außer ihr niemand die Absurdität der Situation: Am anderen Ende des Raums lag ein Toter, während die ermittelnden Beamten in aller Ruhe ihren Tee schlürften. Andererseits hatte Rose unzweifelhaft recht: Brian war tot, und eine Tasse Tee, bevor sie sich ihm zuwandten, würde an der Spurenlage auch nichts mehr ändern. Wenn sie ehrlich war, hätte sie eine Tasse Kaffee auch nicht abgelehnt.

Erneut erklang Motorengeräusch von draußen. Bremsen quietschten, eine Autotür fiel ins Schloss, und einen Moment später flog die Eingangstür auf. Eine überschlanke Frau in Jeans und weißem Kittel stürmte herein, die riesige Tasche in ihrer Hand schien nichts zu wiegen. »Wo ist er?«, fragte sie und sah sich um. Jetzt erst bemerkte sie die Teegesellschaft am Tresen. Ihre Augenbrauen wanderten nach oben, bis sie unter dem dichten Pony verschwanden, der ihre Stirn bedeckte. »Holy shit, was treibt ihr da?«

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