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Was für immer bleibt

hier erhältlich:

Seit Gracies Unfall ist alles anders. Doch das Schlimmste ist: Gracie hat keine Ahnung, wie es vorher war. Sie hat jedes Detail ihres bisherigen Lebens vergessen und muss sich entscheiden: Will sie ein Leben leben, das aus den Erinnerungen anderer besteht, oder will sie neu beginnen und selbst herausfinden, wer sie wirklich ist? Also flieht Gracie auf die leer stehende Blumenfarm ihrer Mutter. Sie hofft, dass sie dort einige ihrer Erinnerungen wiederfinden und es vielleicht schaffen kann, wieder Gefühle für den Mann zu entwickeln, der sie so bedingungslos liebt, dass er bereit ist, sie gehen zu lassen.

»Eine wunderbare Geschichte über zweite Chancen, wenn man sie am wenigsten erwartet.« Leserstimme auf Netgalley

»Diese Geschichte ist unglaublich bewegend und wunderschön erzählt. ›Was für immer bleibt‹ erinnert uns daran, dass Liebe keine Fehler macht und wie viel Kraft wir daraus schöpfen können, unsere Träume zu verwirklichen.« Kelly Rimmer, Autorin von »So blau wie das funkelnde Meer«


  • Erscheinungstag: 05.08.2019
  • Seitenanzahl: 304
  • ISBN/Artikelnummer: 9783745750249
  • E-Book Format: ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

An meine liebe Freundin Lucy.

Mögen die Erinnerungen an deine Mutter

und die Erinnerungen, die uns formten,

für immer in Ehren gehalten werden.

– Prolog –

Wir streiten uns seit sechs Minuten. Blake macht das Radio aus. Wir fahren nie ohne Radio. Außer natürlich, wenn wir streiten, aber das tun wir so gut wie nie. Er nimmt eine Hand vom Lenkrad, öffnet mit dem Daumen eine Dose Pfefferminzbonbons, legt den Kopf in den Nacken und lässt sich eines in den Mund fallen. Es knirscht und knackt, als er zubeißt. Normalerweise würde Blake mir eins anbieten, aber heute nicht. Ich lasse mich tiefer in den Sitz sinken und starre auf die Dose, die zwischen uns in der Mittelkonsole liegt. Das Auto scheint plötzlich leiser zu fahren.

»Wie gehen wir jetzt damit um, Gracie? Was willst du machen?«, fragt er schließlich. Der scharfe Geruch von Minze erfüllt den Raum zwischen uns. Auf seiner Stirn sind jetzt Falten zu sehen, und am liebsten würde ich meine Hand ausstrecken und sie glätten. Die Dinge in Ordnung bringen. Nur dass jetzt ein ausgesprochen schlechter Zeitpunkt dafür wäre. Ich werfe einen Blick auf meine Uhr. In etwa acht Minuten verlassen wir die Autobahn und erreichen kurz danach das Restaurant. Wir sind jetzt schon zu spät. Sonst kommen wir nie zu spät … Heute schon, denn wir streiten uns, und das Radio ist ausgeschaltet, und ich weiß nicht, wie ich meinem Verlobten die Wahrheit sagen soll.

»Ich weiß es nicht«, presse ich zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. Dabei weiß ich es sehr wohl. Doch es würde unser Leben in totales Chaos stürzen.

»Du weißt es nicht?« Blake wirft mir einen Blick zu. Er wechselt den Gang, lässt das Fenster neben sich runter und öffnet den oberen Knopf an seinem Hemdkragen. Kalte Luft strömt ins Auto.

»Kannst du das Fenster bitte wieder schließen?« Der Ärger in meiner Stimme ist nicht zu überhören, während ich versuche, meine Frisur zu retten.

Er lässt das Fenster wieder hochfahren und sieht mich an. »Wenn du nicht weißt, was du willst, wie soll ich es dann wissen?«

»Schau auf die Straße und lass uns später darüber reden. Ich will Scarletts Geburtstag nicht ruinieren.« Ich drücke den Blumenstrauß, den ich für meine Freundin besorgt habe, fester an mich, ein klassisches Bouquet cremeweißer Claire-Austin-Rosen, die ich jedes Jahr für sie kaufe.

»Wechsel nicht das Thema«, erwidert Blake. »Immerhin hast du es angesprochen, und ich finde, wir sollten jetzt ein für alle Mal klären, was wir tun wollen. Also frage ich dich ein letztes Mal …«

Tief durchatmen, Gracie. Tief durchatmen.

Es wird ohnehin nie den perfekten Zeitpunkt geben, um ihm zu sagen, was ich wirklich fühle. Ich spiele mit dem Verlobungsring an meinem Finger herum und spreche aus, wovor ich so viel Angst habe. »Okay. Wenn du die Wahrheit wissen willst, ich möchte nicht …«

Als Blake plötzlich eine Vollbremsung macht, verschlägt mir das Kreischen der Bremsen den Atem und besiegelt unser Schicksal. Wir schlittern auf den Lastwagen zu, der vor uns auf die Autobahn aufgefahren ist, und rutschen auf eine Spur, auf der wir nicht sein sollten. Blake ruft meinen Namen. Er sieht, was auf mich zukommt. Ich schreie. Zwei Dutzend Blumen fliegen aus meinen Armen in die Luft und landen auf dem Armaturenbrett, noch bevor ich dagegen pralle. Ein Blütenregen prasselt auf uns nieder, und ich werde erst in die eine, dann in die andere Richtung geschleudert.

Dann verstummt die Welt.

Das Erste, was ich sehe, als ich die Augen öffne, sind die tellergroßen Blumen auf dem Tisch am Ende des Bettes. Es sind Café-au-Lait-Dahlien. Sie sind sehr kälteempfindlich, und man sollte die Zwiebeln erst einpflanzen, wenn die Bodentemperatur steigt und es keinen Frost mehr geben wird.

Meine Augen fallen wieder zu. Ich möchte der Frau, die meinen Oberschenkel tätschelt, eine Antwort geben, bekomme aber kein Wort heraus. Nun drückt sie meine Hand und wiederholt immer wieder den Namen Gracie.

»Öffnen Sie die Augen, Gracie. Können Sie mich hören, Gracie?«

Ich will ihr erklären, dass sie im falschen Zimmer ist, dass ich die Falsche bin, doch mir fehlt die Kraft dazu.

Sie drückt noch einmal meine Hand.

Dieses Mal schaffe ich es, ihre Hand ebenfalls zu drücken.

»Gut so. Und jetzt öffnen Sie die Augen, Liebes.«

Ich höre Schritte. Eine männliche Stimme. Gedämpftes Flüstern. Das Rascheln von Papier. Das Klicken eines Kugelschreibers. Da sind ein Piepsen, das mir bisher noch nicht aufgefallen ist, und ein gleichmäßiges Summen. Es riecht nach Desinfektionsmittel. Ich schaffe es, die Augen zu öffnen, und der Raum nimmt langsam Konturen an. Meine Augenlider fühlen sich so schwer an.

Die Frau trägt eine blaue Bluse mit weiß gesäumtem Kragen, und ihr Namensschild verrät mir, dass sie eine Krankenschwester ist. Sie heißt Bea. Dann ist der Mann mit dem Stethoskop um den Hals … ein Arzt. Und das bedeutet, dass ich … in einem Krankenhaus bin.

»Hallo, Gracie, ich bin Dr. Cleave. Wie fühlt sich Ihr Kopf an?«

Mein Arm ist schwer wie Blei, aber es gelingt mir, ihn zu meinem Kopf zu heben und mit den Fingern über den Verband zu fahren. Bin ich gestürzt? Ja, so muss es sein. Aber wann? Wo? Mein Herz beginnt schneller zu schlagen. Bea blickt auf den Monitor neben meinem Bett und rückt das Pulsoximeter an meiner Fingerkuppe zurecht.

»Gracie.« Flüsternd wiederhole ich den Namen, der nicht zu mir zu passen scheint. Ich suche nach einem anderen Namen, aber mir fällt keiner ein.

Dr. Cleave kneift mit einem etwas beunruhigten Gesichtsausdruck die Augen zusammen.

»Können Sie mir Ihren vollen Namen nennen?«

Ich überlege kurz, aber da, wo mein Name sein sollte, ist nur Leere.

»Kein Grund zur Sorge«, beschwichtigt mich Dr. Cleave nach einem ungewöhnlich langen Schweigen, das meine Sorge nur vergrößert.

»Wie bin ich … hierhergekommen?« Im Moment kann ich mich weder an gestern noch an die letzten Monate oder an das letzte Jahr erinnern.

»Sie sind im Krankenhaus. Sie hatten einen Autounfall und lagen drei Tage auf der Intensivstation. Vermutlich sind Sie etwas müde, das ist ganz normal.«

Ich versuche, mich aufzusetzen, aber es kostet mich zu viel Kraft, und ich sinke zurück in die Kissen. Alles in meinem Körper schmerzt.

»Immer mit der Ruhe, Liebes.« Bea legt mir die Hand auf die Schulter. Sie zupft mein Krankenhaushemd zurecht, sodass es mein Schlüsselbein bedeckt. »Ist Ihnen warm genug?«, fragt sie, während sie meinen Unterarm streichelt. Ich nicke, obwohl mir kalt ist.

Mein Mund fühlt sich trocken an. Ich möchte etwas sagen, bringe jedoch nur ein Krächzen heraus. Ich versuche es noch einmal. »Ein Autounfall?« Unsicher sehe ich den Arzt an.

»Richtig. Ihr Kopf hat etwas abbekommen, und Sie haben ein paar Beulen und blaue Flecken. Aber Sie werden wieder gesund. Haben Sie Schmerzen?«

Ich berühre wieder den Verband.

»Einen Augenblick, lassen Sie mich das machen«, sagt Bea. Sie verlässt das Zimmer, und Dr. Cleave tritt näher heran. Er spielt mit seinem Stethoskop herum.

»Können Sie sich an Einzelheiten des Unfalls erinnern?«, fragt er beiläufig.

Ich runzle die Stirn und versuche, die Vergangenheit heraufzubeschwören, aber es ist, als würde sich ein schwarzer Abgrund vor mir auftun. Da ist gar nichts, woran ich mich erinnern könnte.

»Nein. An nichts.«

»Das ist okay.« Er sagt es mit einem so beschwichtigenden Tonfall, dass ich ihm fast glaube. Er nimmt eine Lampe aus seiner Kitteltasche und leuchtet mir damit in die Augen. Ich wünschte, er würde das lassen. »Sie machen sich sicherlich Sorgen um Blake. Er hatte großes Glück und ist mit ein paar Schnittwunden und Prellungen davongekommen.« Er knipst die Lampe aus und steckt sie weg. Ich blinzle, um wieder scharf sehen zu können.

Es klopft an der Tür, und eine Frau kommt herein. Ich kann sehen, dass sie keine Krankenschwester ist, weil sie einen maßgeschneiderten roten Mantel, eine Baskenmütze aus Filzwolle und einen Regenschirm trägt. Auf ihre geschwungenen Lippen legt sich ein erleichtertes Lächeln, als sie mich sieht.

»Gracie.« Unsicher bleibt sie an der Tür stehen.

»Kommen Sie herein«, sagt Dr. Cleave.

»Ich bin Scarlett«, stellt sie sich vor. »Ist sie gerade erst aufgewacht?« Sie nimmt die Mütze ab und lässt eine Masse aus karamellfarbenen Locken auf ihre Schultern fallen.

Dr. Cleave nickt. »Ich muss ihr ein paar Fragen stellen.«

»Soll ich später wiederkommen?«, fragt sie und dreht sich halb in Richtung Tür.

»Nicht nötig, wir haben es fast geschafft.« Dr. Cleave lässt seinen Blick über meine Akte schweifen.

Ich kann den Blick nicht von der Frau abwenden – von Scarlett, die jetzt neben meinem Bett sitzt und meine Hand hält. Ich habe das Gefühl, als müsste ich sie kennen. Offensichtlich kennt sie mich. Wieso habe ich keine Ahnung, wer sie ist?

Dr. Cleave zieht einen Stift hinter seinem Ohr hervor. »Ich werde Ihnen noch ein paar Fragen stellen, aber bitte machen Sie sich keine Sorgen, wenn Sie nicht alle beantworten können, in Ordnung?«

Ich schlucke nervös und nicke. Die Farbe weicht mir spürbar aus dem Gesicht.

»Können Sie mir sagen, wann Ihr Geburtstag ist?«

Dezember? Nein. März. September? Ich sehe zur Decke, mein Blick wandert unruhig hin und her. Das muss ich doch wissen. Warum weiß ich es nicht?

»Gracie?«, sagt Dr. Cleave, um meine Aufmerksamkeit wieder auf sich zu lenken.

»Ich … ähm, ich weiß es nicht.«

Wie ist es möglich, dass ich nicht weiß, wann ich Geburtstag habe? Welcher Monat ist es überhaupt? Draußen regnet es. Scarlett trägt einen Mantel. Okay, es muss Winter sein. Ich hatte einen Autounfall. Ich habe mir den Kopf gestoßen. Ich bin im Krankenhaus. Ich heiße … Gracie.

»Und Ihre Adresse?«

O Gott, ich weiß auch meine Adresse nicht.

Ausdruckslos starre ich ihn an. Ich möchte es ihm sagen, aber ich kann nicht. Es liegt mir auf der Zunge, aber dann … auch wieder nicht. Ich kann nicht sagen, ob es mir nur entfallen ist oder ob ich es überhaupt je gewusst habe. Ich sehe zu Scarlett, die mit offenem Mund auf dem Stuhl neben meinem Bett sitzt. Als sich unsere Blicke treffen, macht sie ihn zu und spielt wieder nervös mit der Mütze in ihrem Schoß herum.

Dr. Cleave fährt fort. »Lieblingsfarbe?«

Ich zucke mit den Achseln. »Lila?« Meine Stimme ist kaum hörbar.

Er sieht mich über den Rand seiner Brille hinweg an, bevor er sie ein Stück nach oben schiebt. »Sind Sie sich sicher?«

»Rosa?«, versuche ich es noch einmal. Ein Gefühl von Hoffnungslosigkeit breitet sich in mir aus.

Ich schließe fest die Augen und hole tief Luft. Meine Gedanken geraten durcheinander, und ich durchforste mein Gedächtnis nach einer Erinnerung an die Vergangenheit, aber es ist, als wäre mein Leben ein leerer Behälter. Als würde ich diesen Behälter schütteln und drehen, ohne dass etwas herauskommt.

Dr. Cleave tätschelt mein Bein. »Das reicht fürs Erste. Noch einmal: Machen Sie sich bitte keine Sorgen.« Dabei notiert er etwas auf seinem Klemmbrett. »Es ist ganz normal, dass Sie sich etwas orientierungslos fühlen. Wir werden ein paar Tests durchführen.«

»Tests?«

»Ich werde eine neuropsychologische Beurteilung und eventuell auch ein paar MRTs anfordern. Sie haben ein heftiges Schädeltrauma erlitten, und auch wenn ich nicht denke, dass es einen Grund zur Sorge gibt, möchte ich alles genau überprüfen, nur um sicherzugehen.«

»Okay«, antworte ich leise.

»Ich werde mich kurz mit Scarlett unterhalten und sehe später wieder nach Ihnen. Ich möchte, dass Sie sich erst einmal ausruhen. Haben Sie Fragen?«

»Ich glaube nicht.« Ich schließe kurz die Augen, bevor ich sie wieder öffne.

»Ich sollte Blake Bescheid geben, dass sie wach ist«, sagt Scarlett, die immer noch neben mir sitzt. Sie streichelt meine Hand, doch ich ziehe sie weg und balle sie zur Faust.

»Was ist los?« Ihre blauen Augen suchen meinen Blick. Ich weiß nicht, wie ich ihr erklären soll, dass ich keine Ahnung habe, wer sie ist. Ich schaue in die andere Richtung und vermeide es, ihr in die Augen zu sehen.

Dr. Cleave späht über sein Klemmbrett und blickt auf meine Hand, die ich Scarlett entzogen habe. Er lässt den Kugelschreiber klicken, steckt ihn in seine Kitteltasche und dreht sich um, um das Zimmer zu verlassen.

Scarlett steht auf, um ihm zu folgen.

Mit zitternder Stimme richte ich mich an Dr. Cleave. »Eigentlich … habe ich doch eine Frage: Wer ist Blake?«

Scarlett macht ein Geräusch, das wie ein Wimmern klingt, nur lauter.

Dr. Cleave dreht sich wieder zu mir, wobei es ihm nicht gelingt, seinen beunruhigten Gesichtsausdruck zu verbergen.

»Sie wissen nicht, wer Blake ist?« Er neigt den Kopf zur Seite.

»Sollte ich das wissen?«

Dr. Cleave wirft Scarlett einen Blick zu, und sie ergreift das Wort. »Gracie, Blake ist dein Verlobter.«

»Das ist … unmöglich«, antworte ich.

Oder?

»Eure Hochzeit ist in drei Monaten. Ihr kennt euch schon seit …« Sie schaut konzentriert zur Decke, als würde sie nachrechnen. »… vierzehn Jahren«, sagt sie schließlich.

»Das kann nicht … Ich bin nicht …«

Verlobt?

»Schon in Ordnung«, beruhigt mich Dr. Cleave. »Wir lassen Blake herkommen und es wird Ihnen bestimmt helfen …«

»Ich kann nicht … Ich bin nicht … Warten Sie«, stottere ich, während ich versuche, das alles zu verarbeiten. Ich presse meine Hand gegen die Stirn. Denk nach, Gracie. Denk nach. Vielleicht könnte ich mich an alles erinnern, wenn sie mir nur etwas Zeit geben würden.

Scarlett legt ihre Hand auf mein Handgelenk. »Gracie«, sagt sie. »Sieh mich an.«

Ich schlucke den Kloß herunter, der sich in meinem Hals gebildet hat.

»Ich weiß, du hast Angst und bist verwirrt, aber wir werden dir helfen, dich zu erinnern.«

Mein Herzschlag beschleunigt sich.

Aber was, wenn ich mich nie erinnern werde?

Als Scarlett nach ihrem Gespräch mit Dr. Cleave in mein Zimmer zurückkehrt, hat sie einen frischen Blumenstrauß dabei. Es sind nicht irgendwelche Blumen. Es sind Tulpen. Rembrandt-Tulpen. Wie der Maler. Butterfarbene Blütenblätter, durchzogen von leuchtend roten Flammen.

»Die perfekte Art, dein Krankenzimmer aufzuhellen.« Sie lächelt, während sie den Strauß zum runden Tisch in der Ecke trägt. Sie sollte die Blumenstiele anschneiden.

»Es ist zu früh für Tulpen«, flüstere ich. »Tulpen blühen nicht im Winter.«

Scarlett hält mit einer Blume in der Hand inne und kneift die Augen zusammen. »Was hast du gesagt?«

»Dahlien auch nicht. Es müssen importierte Blumen sein«, murmele ich.

Woher weiß ich das? Wie kommt es, dass ich so etwas weiß, aber andere Dinge vergessen habe, etwa meinen Geburtstag? Oder meine Lieblingsfarbe? Oder Blake?

Mein Verlobter. Der Verlobte, den ich, Scarlett zufolge, in drei Monaten heiraten soll. Der Verlobte, mit dem ich den Rest meines Lebens verbringen soll, an den ich mich aber nicht erinnern kann.

»Dr. Cleave meinte, er wird diese zusätzlichen Tests so bald wie möglich machen. Wir warten nur noch auf Blake.« Sie ringt die Hände. »Ich habe ihm gesagt, dass du Schwierigkeiten hast, dich an ein paar Sachen zu erinnern, aber er weiß noch nicht, dass du nicht mehr wusstest, wer er ist.« Sie verzieht das Gesicht. »Ich glaube, es ist besser, wenn Dr. Cleave es ihm sagt, findest du nicht?«

Ich beiße mir auf die Lippe, gebe ihr aber keine Antwort.

»Jedenfalls ist er heute Morgen mit Noah weggefahren, um zu duschen und sich umzuziehen. Wir mussten ihn praktisch dazu zwingen. Er ist tagelang nicht von deiner Seite gewichen, und kaum ist er weg, wachst du auf …«

Scarlett plappert weiter vor sich hin, hauptsächlich vor Nervosität, wie mir scheint. »Noah wird nach der Arbeit vorbeischauen. Oh, ich habe deine Kollegin Ava angerufen, um ihr zu sagen, was passiert ist, aber ich brauche noch die Nummer von …«

»Wo sind meine Eltern?«, unterbreche ich ihren Wortschwall.

Scarlett wirft fast die Blumenvase um. Sie legt den Kopf zur Seite und blinzelt, als hätte sie mich nicht richtig verstanden. Mit gerunzelter Stirn, ja, fast schon wie versteinert steht sie da, während sie krampfhaft die Vase festhält.

»Meine Mum? Mein Dad? Bruder? Schwester?«, dränge ich sie.

Scarletts Augen weiten sich mit jeder Sekunde, bis sie sich wieder gefasst hat, tief Luft holt und an mein Bett tritt. Sie spricht leise und auf eine Art, wie eine Mutter ihrem Kind eine schlechte Nachricht mitteilt, so ehrlich und mitfühlend wie möglich. »Deinen Dad hast du nie gekannt. Du bist ein Einzelkind und deine Mum … na ja …«

Ich suche in ihren Augen nach Antworten und halte die Luft an, während ich darauf warte, dass sie weiterspricht.

»Deine Mum ist vor zwölf Monaten gestorben. Ihr Name war Lainey, und sie … Es war ihr Herz. Es war völlig überraschend, niemand wusste etwas von ihrer Krankheit.«

Das kann nicht wahr sein. Nichts davon kann wahr sein. Wie kann ich all das nicht wissen? Ich erinnere mich noch nicht einmal an meine eigene Mutter? Scarlett will nach meiner Hand greifen, aber ich ziehe sie zurück, bevor sie mich berühren kann.

»Warum machst du das?« Als sie endlich begreift, schlägt sie erschrocken eine Hand vor den Mund. »O mein Gott. An mich erinnerst du dich auch nicht, oder? Du hast keine Ahnung, wer ich bin.« Sie tritt einen Schritt zurück. »Gracie.« Ihre Stimme ist gebrochen, voller Fassungslosigkeit. »Wir kennen uns schon seit Jahren. Kannst du dich an nichts über mich … uns … die Vergangenheit … erinnern?«

Ich habe Angst, ihr zu antworten, Angst vor dem, was all das bedeutet. »Es tut mir leid«, sage ich mit heiserer Stimme.

Scarlett schlägt sich wieder die Hand vor den Mund, und ihre Augen füllen sich mit Tränen. Schockiert sieht sie mich an. »Ich glaub das nicht.« Sie schnieft, nimmt sich ein Taschentuch vom Nachttisch und schnäuzt sich die Nase, wobei sie mir den Rücken zudreht. Sie steht vor dem Fenster und schaut hinaus auf den Parkplatz. Ihre Aufmerksamkeit ist auf die Regentropfen gerichtet, die an der Glasscheibe herunterlaufen, während sie alles verarbeitet. Schließlich blickt sie über die Schulter zu mir. Ihr betroffener Gesichtsausdruck lässt mich zusammenzucken. Ich wollte sie nicht verletzen, aber ich weiß auch nicht, wie ich all das für sie einfacher machen kann.

Scarlett fängt an, das Taschentuch in ihrer Hand in winzige Stücke zu reißen.

»Was, wenn meine Erinnerung nie mehr zurückkommt?«, frage ich leise.

Sie tritt an mein Bett heran. »Du musst dir überhaupt keine Sorgen machen. Wir werden dir alles erzählen, was du vergessen hast. Alles, was dich zu der gemacht hat, die du bist, und alles, was du nie hättest vergessen wollen.« Sie setzt sich und nimmt mein Gesicht in die Hände. »Okay?«, fragt sie und lächelt mich durch Tränen hindurch an.

»Ähm, okay.« Mein Kopf fühlt sich voll an.

Scarlett wischt sich über die Augen und zieht scharf die Luft ein, als würde sie einen inneren Reset-Knopf drücken.

Mit einem Rascheln zerknüllt sie die Taschentuchfetzen in ihrer Hand und wirft sie in den Mülleimer in der Ecke. »Okay, also, wo soll ich anfangen?« Sie setzt sich aufrechter hin. »Weißt du noch, wohin ihr gefahren seid, als ihr den Unfall hattet?«

Ich sehe sie ausdruckslos an. Ich will das eigentlich gar nicht hören. Ich will etwas Zeit für mich allein. Um zu schlafen. Um nachzudenken.

»Natürlich weißt du das nicht«, sagt sie, bevor ich antworten kann. »Es war mein Geburtstag, und wir wollten zusammen zu Abend essen. Wir waren ungefähr zwanzig Leute. Du hast mir einen Kuchen gebacken.« Sie lächelt. Ich kann erkennen, dass sie versucht, etwas Leichtigkeit in unser Gespräch zu bringen, um den Ernst der Lage herunterzuspielen, aber es funktioniert nicht. Sie hält inne, und ich bin mir fast sicher, dass sie darauf wartet, dass ich nicke oder ihr irgendwie zu verstehen gebe, dass mir das, was sie erzählt, bekannt vorkommt. Aber ich starre einfach nur zurück.

»Du und Blake, ihr wart spät dran, was komisch ist, denn ihr kommt sonst nie zu spät.« Sie kräuselt die Nase. »Aber egal. Chrissie und Tom waren da, Mel und Jack, Erin, Maddie …« Ihre Worte verlieren sich, als sie meinen Blick bemerkt. »Du erinnerst dich an niemanden davon, oder?«, fragt sie schließlich.

»Ähm, nein.«

»Okay, na ja … Was, wenn ich dir etwas über …«

»Meine Mutter«, falle ich ihr ins Wort.

»Gracie«, sagt Scarlett mit leiser Stimme. »Willst du damit sagen, dass du auch nichts mehr über deine Mum weißt?«

Mein Gesichtsausdruck ist Antwort genug. »O Liebes.« Sie schließt kurz die Augen, und als sie sie wieder öffnet, holt sie tief Luft. »Ihr standet euch sehr nahe, ihr wart mehr wie Schwestern als Mutter und Tochter. Ihr habt ständig miteinander telefoniert, mindestens einmal am Tag. Und du hast sie jedes Wochenende besucht. Das weißt du doch noch, oder?«, fragt sie hoffnungsvoll.

»Nein, tue ich nicht. Ich … Vermisse ich sie?« Sofort wird mir klar, was für eine dumme Frage das ist. Bestimmt vermisse ich sie. Nur scheine ich keine Gefühle in mir finden zu können, die dieser Art von Schmerz entsprechen.

»Natürlich tust du das. Es war ein hartes Jahr für dich, aber du bist stark und kommst klar – du schließt langsam damit ab. Ich meine, es kam so plötzlich, so unerwartet, nichts hätte dich darauf vorbereiten können. Immerhin war sie erst sechsundfünfzig … nein, achtundfünfzig Jahre alt …« Sie legt einen Finger auf die Lippen. »Tut mir leid, ich weiß es nicht mehr genau.«

»Was habe ich am meisten an ihr geliebt?«, flüstere ich.

Sie lächelt. »Na ja, ich würde sagen, du hast so ziemlich alles an ihr geliebt. Sie war freundlich und großzügig und liebevoll, und sie wusste, wie sie dich aufmuntern konnte, wenn du traurig warst.«

Irgendetwas an ihrer Beschreibung gefällt mir nicht. Es klingt nicht besonders … ich weiß nicht … konkret? So eine Beschreibung könnte auf so ziemlich jede Mutter zutreffen. Ich möchte etwas Einzigartiges über meine Mutter hören, etwas, womit ich eine Verbindung zu ihr herstellen kann. »Ähm, aber was habe ich am allermeisten an ihr geliebt?«

Scarlett runzelt die Stirn. »Ich habe es dir gerade gesagt.«

Ich schlucke. Wie soll ich es Scarlett erklären? »Ich … ich möchte wissen, warum genau sie besonders für mich war.«

»Sie war deine Mutter. Deshalb war sie für dich besonders«, sagt Scarlett leise.

Ich reibe mir den Kopf, der angefangen hat wehzutun. Ich muss unglücklich aussehen, denn Scarlett fährt fort.

»Also, ich weiß, dass ihr gern Zeit draußen verbracht habt. Und ihr habt gern gebacken. An Weihnachten habt ihr immer zusammen gebacken.«

»Was haben wir gebacken?«

Sie zuckt mit den Schultern. »Ähm, Butterplätzchen, glaube ich.«

Ich reibe mir wieder den Kopf. Sie klingt, als wäre sie sich nicht sehr sicher, und das ist auch nicht die Art von Detail, auf die ich gehofft hatte.

»Das war an Weihnachten.« Sie scheint mir noch mehr erzählen zu wollen. Aber jetzt gerade will ich einfach nur meine Augen schließen.

»Ähm, ich bin wirklich müde. Ich glaube, ich sollte etwas schlafen.« Ich weiche ihrem Blick aus und vergrabe mich unter der Decke. Meine Augen fallen zu, und ich lasse die Welt langsam entschwinden, in der Hoffnung, dass sie sich, wenn ich die Augen wieder öffne, vielleicht ein bisschen vertrauter anfühlt.

Als ich aufwache, sitzt Scarlett immer noch neben mir. Sie bemerkt, dass ich sie ansehe, und legt das Buch weg, in dem sie gelesen hat.

»Hast du Durst?« Bevor ich nicken kann, hat sie schon den Krug mit Wasser in der Hand. Sie reicht mir ein Glas und führt den Strohhalm an meinen Mund.

»Gute Neuigkeiten: Blake wird jeden Moment hier sein.«

Ich verschlucke mich fast an dem Wasser. Mein Körper verkrampft sich.

»Was hast du?«

»Ich fühle mich nicht wohl dabei.«

Sie schüttelt verwirrt den Kopf.

»Ich meine damit, ihn zu sehen. Ich erinnere mich nicht an ihn. Ich weiß nichts über ihn – oder über uns – wie unsere Beziehung war.« Ich wünsche mir verzweifelt, dass sie mich versteht.

»Warum sagst du mir nicht einfach, was du wissen willst, und ich erzähle dir alles?«

»Ähm, ich glaube, ich würde lieber …«

Unser Gespräch wird durch ein Klopfen an der Tür unterbrochen.

»Das muss er sein. Komm rein«, sagt sie. »Siehst du, jetzt kann dir Blake alles selbst erzählen.«

Meine Brust zieht sich zusammen. »Nein.«

Scarlett sieht mich verwirrt an. »Nein, was?«

»Ich will keine Besucher«, flüstere ich. Eine Welle von Adrenalin schießt durch meinen Körper. Ich möchte meine Ruhe haben.

»Aber es ist doch Blake.«

»Nein«, wiederhole ich, den Tränen nahe.

»Warum nicht, Gracie?«

»Bitte, ich weiß nicht, wer er ist. Ich weiß nicht, wie ich mich ihm gegenüber verhalten oder was ich zu ihm sagen soll.« Ich sehe sie flehend an. »Scarlett, ich kann ihn jetzt nicht sehen.«

»Aber …« Scarlett kann ihr Entsetzen nicht verbergen. »Er ist dein Verlobter.«

Die Tür öffnet sich quietschend.

»Gracie?«, sagt eine Stimme – eine Stimme, die mir völlig fremd ist.

»Es ist mein Ernst. Ich möchte jetzt niemanden sehen.« Ich ziehe mir die Knie an die Brust und schließe fest die Augen, um alles auszublenden.

»Blake, warte.« Scarlett geht in Richtung Tür und drückt ihre Hand dagegen.

Mit dem nächsten Atemzug sehe ich meine Zukunft vor meinem inneren Auge vorbeiziehen – die unzähligen Fragen, die unendlichen Geschichten, die Fotos. Die Menschen, die Fremde für mich geworden sind, werden mir unbedingt dabei helfen wollen, die Lücken zu schließen und zu der Person zu werden, die sie kannten. Blake wird mir sagen, dass ich ihn geliebt habe, und mir wird nichts anderes übrig bleiben, als ihm zu glauben. Und wenn ich dieses Krankenhaus verlasse, werde ich mich ganz bewusst neu in ihn verlieben müssen.

Bei dieser Erkenntnis fühlt es sich auf einmal so an, als würde sich alles um mich herum drehen. Ich bekomme keine Luft mehr und presse eine Hand auf meine Brust, mein Herz scheint viel heftiger zu klopfen, als es sollte. Eine Flut an Gedanken bricht wie eine Welle über mich herein. Wenn Blake dieses Zimmer betritt, werde ich gezwungen sein, einem Mann in die Augen zu sehen, den ich heiraten soll. Und ich werde ihm sagen müssen, dass ich nichts für ihn empfinde.

»Gracie«, ruft Blake von der anderen Seite der Tür.

Ich werfe Scarlett einen flehenden Blick zu. »Ich will ihn nicht sehen. Bitte sag ihm einfach, dass ich etwas Zeit brauche.« Ich presse meine Lippen zusammen und schließe wieder die Augen.

»Okay, okay.«

Ich drehe mich auf die Seite, sodass ich die Tür nicht sehen muss, kauere mich zusammen und ziehe mir die Bettdecke bis zum Kinn. Das Gefühl, überhaupt keine Kontrolle mehr zu haben, erfüllt mich. Trotz meiner Bitte öffnet sich die Tür.

»Gracie? Was ist los?« Seine Stimme ist jetzt direkt hinter mir. Ich drücke die Augen fester zu. Ich kann ihm nicht antworten. Mein Atem geht immer noch schnell und unregelmäßig.

»Was ist los mit ihr?«

»Vielleicht sollte ich eine Krankenschwester rufen«, sagt Scarlett besorgt.

»Gracie, ich bin’s«, sagt er leise und legt eine Hand auf meinen Arm. Er fährt mir durch das Haar, streicht die losen Strähnen aus meinem Gesicht und gibt mir einen Kuss auf die Wange, wobei seine Bartstoppeln meine Haut streifen. Der Geruch seines Aftershaves dringt mir in die Nase, gefolgt von der niederschmetternden Erkenntnis, dass es mir nicht bekannt vorkommt. Das Aftershave könnte jedem Mann gehören. Unwillkürlich muss ich stöhnen.

Ich kann hören, wie Scarlett Blake zuflüstert: »Vielleicht solltest du draußen warten. Gib ihr ein paar Minuten, und ich erkläre dir alles.«

Es sind Schritte zu hören, und einen Moment später fällt die Tür ins Schloss. Als Scarlett nach etwa einer Minute wieder hereinkommt, setzt sie sich auf den Rand des Bettes. »Atme, Gracie. Hol tief Luft.« Beruhigend streichelt sie mir über den Rücken. Ich kann nicht aufhören zu zittern. Sie drückt den Rufknopf für die Krankenschwester. »Mach die Augen auf. Ich will, dass du mich ansiehst.«

Ich tue, was sie sagt. »Ich glaube, mir wird schlecht. Ich weiß nicht, was mit mir los ist.« Mein Gesicht erstarrt zu einer Grimasse. »Ich habe Angst«, sage ich heiser. »Ich habe wirklich, wirklich Angst.«

Bea kommt herein. »Gracie? Was ist los, Schätzchen? Ist alles in Ordnung?«

»Ich weiß nicht, was mit mir los ist … aber ich kann nicht … Ich will ihn nicht sehen … Ich will niemanden sehen.«

»Ich glaube, sie hat eine Panikattacke«, sagt Scarlett.

Bea nickt und befiehlt mir zu atmen, doch egal, wie sehr ich es versuche, es fühlt sich so an, als würde ich nicht genug Luft bekommen.

Die Tür geht wieder auf. »Gracie!«, ruft Blake. »Ich bin’s, ich verspreche dir, es wird alles gut, wenn du mich reinlässt.«

»Nein.« Ich sehe Bea flehend an.

»Schon okay, Schätzchen«, beruhigt sie mich und drückt mir eine Hand auf die Schulter.

Sie verlässt das Zimmer, und ein paar Sekunden später hallt Blakes aufgebrachte Stimme durch den Gang.

»Sie müssen mich zu ihr lassen!«

»Das möchte sie nicht, sie ist auch so schon verstört genug, und wir müssen ihre Wünsche respektieren.«

»Das ist lächerlich, ich bin ihr Verlobter.«

»Sie hat eine Panikattacke«, sagt Bea bestimmt. »Das ist nicht der richtige Zeitpunkt.«

»Lassen Sie mich mit ihr reden. Ich werde helfen, sie zu beruhigen.«

»Es tut mir leid, aber sie ist nicht in der Verfassung, um Sie jetzt zu sehen. Das alles ist ein riesiger Schock für sie. Es ist sehr viel auf einmal. Sie braucht Zeit, um sich zu sammeln und zu verdauen, was passiert ist. Sie hat Angst und ist sehr labil und noch dazu erschöpft, und ich glaube, es ist das Beste, wenn Sie ihr erst mal Zeit geben, alles zu verarbeiten, und dann …«

»Bitte, lassen Sie mich zu ihr. Fünf Minuten, das ist alles, worum ich bitte.«

Ich halte mir die Ohren zu. Scarlett reibt mir noch stärker den Rücken. »Jemand muss ihm sagen, dass ich mich nicht an ihn erinnere«, murmele ich, aber es klingt wie ein lang gezogenes Stöhnen.

»Schon okay. Es wird alles wieder gut«, sagt Scarlett und atmet hörbar aus.

Egal, wie überzeugend sie klingt, ich glaube ihr nicht.

Die nächsten Tage verschwimmen ineinander. MRTs, Schlafen, neuropsychologische Beurteilungen mit lauter Fragen, die ich nicht beantworten kann. Das ständige Surren von Kontrollgeräten und die Schritte von Krankenschwestern, die rein und raus huschen, um nach mir zu sehen. Scarlett, die im Sessel in der Ecke des Zimmers vor sich hin summt und die Seiten eines Buches umblättert und mir immer wieder sagt, dass alles wieder gut wird, auch wenn niemand weiß, ob das stimmt.

Nach einer ganzen Reihe von Untersuchungen hatte mir Dr. Cleave (wenig überzeugend) erklärt, dass es sehr gut sein könnte, dass mein Gedächtnisverlust nur temporär sei. »Retrograde Amnesie«, verkündete er und bestätigte damit die erste Diagnose. »Sie werden viel Geduld brauchen. Ihr Leben wird in etwas anderen Bahnen laufen, wenn Sie wieder nach Hause kommen. Auch Ihr prozedurales Gedächtnis könnte unter Umständen betroffen sein – im Moment ist es schwer zu sagen, in welchem Ausmaß. Möglicherweise werden Sie merken, dass bestimmte alltägliche Aufgaben eine Herausforderung für Sie darstellen. Sie werden Unterstützung brauchen, und ich rate Ihnen, die Dinge langsam anzugehen. Lassen Sie sich von denen helfen, die Sie lieben, lassen Sie sich helfen, all das durchzustehen. Ich weiß, dass Ihnen das in Ihrer derzeitigen Lage schwerfallen wird, aber es ist wichtig, dass Sie nicht versuchen, es ganz allein zu schaffen.«

Ich wusste, worauf er anspielte – sowohl er als auch Scarlett hatten deutlich gemacht, dass sie es für eine schlechte Idee hielten, wenn ich mich weiterhin weigerte, Blake oder sonst jemanden zu sehen. Während es kein Problem darstellt, Familie und Freunde fernzuhalten, stellt sich heraus, dass Blake abzuweisen weitaus schwieriger ist.

»Er ist total außer sich«, sagt Scarlett. »Ihn zu sehen könnte dir helfen, dich zu erinnern. Er könnte dir deine Fragen beantworten und dir von den Dingen erzählen, die ihr gemeinsam unternommen habt …«

»Aber das will ich nicht«, antworte ich mit ausdrucksloser Stimme. Lustlos stochere ich mit meinem Löffel in einem Marmeladenglas herum. Nichts von dem Essen auf meinem Teller schmeckt mir, und schon gar nicht die Snacks, die Scarlett mir mitgebracht hat: Grünkohl-Chips, Goji-Beeren, eine Art Körnermischung in einem Druckverschlussbeutel.

Blake kommt jeden Tag ins Krankenhaus und versucht, mich zu sehen. Heute ist keine Ausnahme. Um Punkt sechs Uhr abends klopft es an der Tür.

Seine Stimme dringt durch den Türspalt. »Gracie, ich bin’s. Darf ich reinkommen? Ich habe deine Lieblingszeitschriften mitgebracht und ein paar Fotos von unserem Urlaub auf Fidschi.«

Ich erstarre und schiebe das Tablett weg. Ich wünschte, die Leute würden verstehen, dass ich mich nicht durch irgendwelche Hilfsmittel an mein – oder unser – Leben erinnern will. Ich möchte mich selbst erinnern können.

»Was soll ich denn tun, Gracie? Ich kann ihn doch nicht ewig abweisen.«

»Frag ihn, was ich am meisten an meiner Mutter geliebt habe.«

»Was spielt das jetzt für eine Rolle?« Scarlett runzelt die Stirn.

Ich gebe ihr keine Antwort.

Sie will etwas sagen, überlegt es sich jedoch anders. »Na schön«, murmelt sie und schüttelt den Kopf.

»Scarlett, was ist los?«, fragt Blake von draußen. »Was sagt sie?«

Scarlett wirft mir einen unbehaglichen Blick zu, bevor sie das Zimmer verlässt.

»Die Art, wie sie immer einen Grund gefunden hat zu lächeln«, verkündet sie, als sie eine Minute später zurückkehrt. »Also, kann ich ihn jetzt reinlassen?«

Ich beiße die Zähne zusammen, atme tief ein und stütze den Kopf auf den Knien ab. Das, was Scarlett über meine Mum gesagt hat, ist nicht das, was Blake gesagt hat, und beides muss nicht unbedingt das sein, woran ich mich erinnern würde. Wenn ich also zulasse, dass die Menschen, die mich kennen, mir davon erzählen, wer ich war und was ich gern gemacht habe, wer ich sein und was ich fühlen und wie ich es fühlen sollte, werde ich niemals wissen, ob das für mich auch wirklich der Wahrheit entspricht.

»Wir können ihn nicht einfach auf dem Gang stehen lassen«, versucht es Scarlett erneut.

Ich reiße eine Chipstüte auf und schnuppere am Inhalt. Ein nicht sonderlich ansprechender Gemüsegeruch steigt mir in die Nase.

Sie seufzt. »Also gut. Ich kümmere mich darum.« Sie geht aus dem Zimmer, lässt die Tür jedoch leicht geöffnet. Ich kann immer noch ihre Stimme hören – gerade so.

»Ich kümmere mich um sie, überlass das mir. Wenn du nicht willst, dass sie dich immer wieder zurückweist, musst du ihren Wunsch respektieren. Wenn du da nämlich jetzt reingehst, stößt sie dich vielleicht ganz weg. Sie ist verwirrt und steht immer noch unter Schock. Mit der Zeit wird sie schon wieder zu sich kommen.«

»Aber was, wenn sie mich nicht mehr in ihr Leben lässt? Ich will sie nicht verlieren.«

»Das wirst du nicht. Sie liebt dich«, antwortet sie, aber sogar ich höre die leichte Spur von Unsicherheit in ihrer Stimme.

Ich drücke die Chipstüte zwischen den Händen und zermahle ihren Inhalt in winzige Stücke. Vielleicht ist das Einzige, was sich mit Sicherheit sagen lässt, dass ich bereits verloren bin.

Ich kann mich nicht daran erinnern, das pastellblaue Duo aus Toaster und Wasserkocher in meiner Küche gekauft zu haben. Oder die Sojakerzen mit Pfirsich-Vanille-Duft, die auf dem Couchtisch in meinem Wohnzimmer stehen. Oder die weiße Teekanne mit goldenen Punkten und die dazu passenden Teetassen im Wandschrank. Meine Dreizimmerwohnung im South-Yarra-Viertel in Melbourne, zehn Gehminuten von den Royal Botanic Gardens und drei Blocks vom Yarra River entfernt, sollte sich eigentlich wie ein behagliches Zuhause anfühlen, doch ich fühle mich darin wie ein ungebetener Gast.

Die Papiertüte aus dem Krankenhaus immer noch in der Hand, bleibe ich neben einem Beistelltisch mit Bilderrahmen stehen. Ein Teil von mir will der Neugier nachgeben und wissen, wie Blake aussieht und was für einen Eindruck wir zusammen gemacht haben. Ich nehme einen Bilderrahmen in die Hand und werfe einen flüchtigen Blick auf ein Schwarz-Weiß-Bild von uns beiden. Auf dem Foto lehne ich mich zu ihm hinüber und strecke frech meine Zunge raus. Blakes Gesicht ist im Profil zu sehen, er ist glatt rasiert und hat kurzes dunkles Haar. Sein Blick ist auf mich gerichtet, er lächelt.

Wir sehen glücklich aus, aber waren wir es auch? Wie kann ich mir dessen sicher sein?

Nacheinander drehe ich alle Bilder um. Ich kann mich nicht dazu durchringen, sie mir anzusehen.

Scarletts Blick folgt mir, während sie am Spülbecken steht, aus dem sich ein Berg aus Seifenwasser emporhebt.

»Bin noch nicht so weit.« Ich habe das Gefühl, mich rechtfertigen zu müssen.

»Vielleicht solltest du dich hinsetzen. Ich bringe dir etwas Tee.« Sie dreht den Wasserhahn zu und will auf mich zugehen.

Ich hebe eine Hand, um sie aufzuhalten. Meine linke Hand, auf die ich heute Morgen meinen Verlobungsring gesteckt habe – hauptsächlich, um zu sehen, ob er irgendeine Erinnerung an mein Leben mit Blake in mir wachruft. Die eingefassten Edelsteine fangen das Licht ein und geben es glitzernd wieder, als würden sie mich anflehen, mich daran zu erinnern, wie es war, als ich sie zum ersten Mal gesehen habe. Ich bin alle möglichen Szenarien für den Heiratsantrag durchgegangen, aber jedes davon fühlt sich fremd an. Genauso wie alles in dieser Wohnung.

Eine Vase mit verwelkten Rosen steht auf der Küchentheke. Eine Vase, von der ich mich nicht erinnern kann, sie gefüllt zu haben. Aber ich erkenne die Blumen. Windermere-Rosen. Cremefarbene, mehrfach gefüllte, schalenförmige Blüten, die an den Rändern in Weiß übergehen. Sie blühen bis spät in das Jahr hinein, und ihr Duft ist fruchtig – mit einem Hauch von Zitrus.

Während ich einen Stiel zwischen meinen Fingern wende, fallen die Blüten auf den Boden. Wie kann ich so etwas wissen, mich aber nicht an den Tag erinnern, an dem meine Mutter gestorben ist? Ich seufze und nehme die restlichen Blumen aus der Vase. Eine Spur aus abgestandenem Wasser tropft hinter mir her, als ich auf den Balkon gehe und sie über das Geländer werfe. Frustriert stöhne ich auf, als die Blüten verstreut auf dem asphaltierten Gehweg auf der Straße landen.

Scarlett zuckt zusammen. Für sie ist das bestimmt auch nicht leicht.

»Du solltest dich hinlegen. Du weißt, was die Ärzte gesagt haben. Du sollst es ruhig angehen lassen.«

»Nur eine Minute«, flüstere ich.

Sie seufzt verstohlen, und während ich ins Wohnzimmer gehe, spüre ich wieder ihren Blick auf mir. Ich bin mir sicher, dass ihr Gesichtsausdruck genauso betroffen ist wie in dem Moment im Krankenhaus, als ihr klar wurde, dass ich mich auch an sie nicht erinnern kann.

Unmut beschleicht mich, während ich mir ansehe, auf welche Weise der Plüschüberwurf auf der Couch ausgebreitet ist und die Fernbedienungen perfekt nebeneinander aufgereiht sind. Mir fällt auf, wie das Licht von draußen ins Zimmer strömt: Es fällt durch die weißen Plantagen-Fensterläden in Antik-Optik und wird von den dekorativen Wandspiegeln reflektiert. Nichts davon bewegt mich.

Rechts vom Wohnzimmer führt eine Tür in ein weiteres Zimmer, doch sie ist geschlossen. Scarlett wischt sich die Hände an ihrer Jeans ab, als ich sie zaghaft öffne. »Gracie, warte. Vielleicht solltest du noch nicht …« Ihre Stimme verliert sich. Mein Puls hämmert mir in den Ohren. Mit der freien Hand fasse ich mir an die Schläfe. Neben einem Gästebett sind Brautmagazine aufgestapelt, und an der Vorhangstange vor dem Fenster hängt eine elfenbeinfarbene Kleiderhülle. Während ich langsam darauf zugehe, überkommt mich eine Welle der Übelkeit. Ich ziehe den Reißverschluss herunter und erhasche einen Blick auf den darunter liegenden zarten Stoff. Was sich persönlich und bedeutungsvoll anfühlen sollte, lässt mich kalt. Was mir bekannt sein sollte, ist mir fremd.

Ich kann mich nicht daran erinnern, dieses Kleid gekauft zu haben.

Ich kann mich an nichts von alldem erinnern.

Ich lebe ein Leben, das mir nicht gehört.

Scarletts Blick voller Mitgefühl trifft meinen. Mit Tränen in den Augen stürze ich zur Tür und an Scarlett vorbei in das Hauptschlafzimmer. Die Tür schlage ich hinter mir zu. Ich werfe die Papiertüte auf den Boden und lasse mich auf das Bett fallen. Welche Bettseite ist meine?

Ich liege auf der linken Seite und ignoriere Scarletts Klopfen, ein Geräusch, das ich nur noch gedämpft wahrnehme, als ein Buch, das aufgeschlagen auf der anderen Seite des Bettes liegt, meine Aufmerksamkeit erregt.

»Ich brauche … etwas Zeit«, rufe ich mit zitternder Stimme. Dabei weiß sogar ich, dass Zeit keine Garantie dafür ist, dass ich mich wieder an irgendetwas erinnern kann. Was, wenn mein Gedächtnis nie mehr zurückkehrt?

Das Klopfen hört auf. »Ich bin hier, falls du mich brauchst.«

Das Gesicht immer noch im Kissen vergraben, strecke ich meine freie Hand aus und klappe das Buch zu, um seinen Titel zu lesen: Jedes Zimmer erzählt eine Geschichte: Praktische Ideen für Ihre Innenraumgestaltung.

Gedanklich fasse ich alle Informationen zusammen, die ich bisher gesammelt habe; die vereinzelten Details, die das riesige Puzzle bilden, zu dem mein Leben seit dem Unfall geworden ist.

Ich bin organisiert.

Ich habe ein Gespür für Innenausstattung.

Ich soll einen Mann namens Blake heiraten, einen Mann, über den ich absolut nichts weiß.

Bedeutungsschwere Minuten verstreichen, und allmählich schieben sich draußen schiefergraue Wolken vor den blauen Himmel und bringen einen Regenschauer mit sich.

»Wie geht es dir?«, ruft Scarlett durch die Tür hindurch.

»Gut«, lüge ich. »Ich bin nur müde.« Ich wische mir mit dem Ärmel über die Augen. Ich kaue auf meiner Lippe herum, und meine Augen fangen wieder an zu brennen. Ich will, dass es mir gut geht. Ich will so sehr, dass es mir gut geht.

»Ich mache bald Mittagessen.« Dann verstummt sie. Da ist ein Schmerz in ihrer Stimme, für den ich mich verantwortlich fühle. Vor zehn Tagen hat sie mich verloren. Vor zehn Tagen habe ich alles und jeden verloren.

Ich fahre mit den Fingern über die Beule auf meinem Kopf. Als ich leicht dagegen drücke, zucke ich vor Schmerz zusammen. Noch immer kann ich mich nicht an den Unfall erinnern oder daran, dass ich im Auto saß. Ich kann mich nicht daran erinnern, wohin wir gefahren sind, welches Lied im Radio lief oder ob wir uns während der Fahrt unterhalten haben. Mein Leben teilt sich in ein Davor und ein Danach auf, und ich sitze in der Mitte fest, ohne zu wissen, was davor war, und außerstande, mir vorzustellen, was danach kommen soll.

Egal, wie sehr ich versuche einzuschlafen, mein Geist weigert sich und ist unfähig, zur Ruhe zu kommen. Er kreist immer wieder um die eine Frage, die auf mir lastet, seitdem Dr. Cleave die Diagnose verkündet hat.

Wer bin ich?

Vom Fenster aus beobachte ich, wie ein Briefträger von seinem Motorrad absteigt und die Straße überquert. Er bleibt vor meinem Wohnkomplex stehen. Dann höre ich, wie Scarletts Schritte durch den schmalen Gang hallen und sich die Wohnungstür öffnet. Eine Minute später schiebt sie einen Umschlag unter der Tür durch. Unberührt bleibt er dort auf dem Dielenboden liegen, bis der Duft von Gemüsesuppe durch die Wohnung weht und Scarlett einen erneuten Versuch startet und an meine Tür klopft.

Diesmal streckt sie den Kopf herein und macht einen Schritt auf mich zu. Dabei tritt sie auf den Brief. Sie bückt sich und hebt ihn auf.

»Ich glaube, du solltest ihn lesen.« Sie legt ihn auf meinen Nachttisch. »Er hat vorhin angerufen, weißt du? Um zu sehen, ob du deine Meinung geändert hast und ihn doch sehen willst.«

Ich verschränke die Hände im Schoß und drehe den Ring an meinem Finger, bis er eine Umdrehung gemacht hat. Es ist, als würde er mich anstarren, und das reicht aus, dass meine Lippe zu zittern beginnt. Ich beiße darauf, um das Zittern zu verhindern. Ich will nicht, dass Scarlett mich weinen sieht. Hat sie mich schon mal weinen gesehen? Wir sind seit Jahren befreundet. Natürlich hat sie das.

»Ja, das dachte ich mir schon. Er hat gesagt, ich soll dir sagen, dass …« Ich hebe meine Hand, damit sie aufhört, aber sie tut es nicht. »… er dich liebt und du dir die Zeit nehmen sollst, die du brauchst.«

Nichts, was ich sage, kann die Situation für die beiden leichter machen, also nicke ich lediglich, als Zeichen, dass ich verstanden habe, auch wenn ich in Wahrheit überhaupt nichts verstehe.

Obwohl ich nichts darauf erwidere, bringt Scarlett trotzdem ein Lächeln zustande. »Komm essen, wenn du so weit bist.« Damit schließt sie die Tür hinter sich.

Auf der Rückseite des Umschlags steht keine Absenderadresse, nur ein Name. Mit zitternden Händen betrachte ich Blakes Handschrift. Sie ist – für einen Mann – recht ordentlich und zieht sich quer über das Blatt, bleibt jedoch innerhalb der Ränder.

Liebe Gracie,

ich weiß, es muss ein Schock sein, wenn alles, was du je gekannt hast, dir so plötzlich entrissen wird. Es gibt nichts, was ich mir mehr wünsche, als dich wiederzusehen oder deine Stimme zu hören oder dich in den Arm zu nehmen. Aber wenn das, was Scarlett und die Ärzte sagen, wahr ist – dass du Zeit brauchst, um deine Gedanken zu sammeln und dich zu orientieren –, dann werde ich dich wohl noch etwas länger vermissen müssen.

Die Ärzte haben mir gesagt, dass es durchaus wahrscheinlich ist, dass dein Gedächtnis wiederkommt, aber ich habe mir gedacht, du könntest dabei etwas Hilfe gebrauchen. Vielleicht könntest du mir mitteilen, woran du dich erinnerst, und ich erzähle dir, woran ich mich erinnere; vielleicht werden sich unsere Erinnerungen irgendwo in der Mitte treffen.

Ich erinnere mich an das erste Mal, als ich dich getroffen habe. Wir waren zwölf. Du hast ein weißes Baumwollkleid mit Zitronen und eine Kette aus Gänseblümchen auf dem Kopf getragen. Du warst voller Schmutzflecken, aber ich weiß noch, wie ich mir gedacht habe, dass du das schönste Mädchen auf der ganzen Welt bist. Du hast versucht, Marienkäfer zu fangen, weil Schädlinge die Rosen angegriffen hatten. Du hattest zehn Marienkäfer in einem Einweckglas, und als ich dich nach ihnen gefragt habe, hast du den Deckel abgemacht, einen Käfer herausgenommen und ihn mir in deiner offenen Handfläche angeboten. Du hast mich angelächelt, und es war ein Lächeln, bei dem mir sofort klar wurde, dass wir Freunde fürs Leben werden würden. Dann hast du gesagt: »Sie bringen Glück.«

Manchmal, wenn du gerade dabei bist, einzuschlafen, flüstere ich dir das Wort »Marienkäfer« ins Ohr, und du lächelst. Dann bin ich mir sicher, der glücklichste Mann der Welt zu sein.

Mach dir keine Sorgen um mich. Mach dir keine Sorgen um dich. Irgendwie, wenn du dich wieder erinnern kannst, wird alles wieder gut.

In Liebe

Blake

Nachdem ich den Brief wieder in den Umschlag gesteckt habe, lasse ich mich tiefer in das Kissen sinken, meine Augenlider schwer vor Tränen. Ich sehne mich danach, diesen Teil meines Lebens, das sich nicht wie meins anfühlt, wachzurufen, und frage mich: Wenn ich mich einmal in ihn verliebt habe, kann ich mich dann wieder in ihn verlieben?

In diesem meinem wildfremden Bett wache ich in einem Durcheinander aus verknäuelten Bettlaken auf. Mein Arm ist um ein Kissen gelegt, auf dem eigentlich Blake liegen sollte. Flüchtig kommt mir der tröstende Gedanke, dass mein Körper sich vielleicht daran erinnert, wie es sich angefühlt hat, sich ihm nahe zu fühlen, während mein Geist angestrengt versucht, diesen Rückstand aufzuholen.

Ich trete die Steppdecke weg und versuche mich zu orientieren. Vor dem Fenster drängen sich die Häuser mit ihren Terrassen dicht um die Straße, die von Platanen gesäumt wird. Die Bäume halten immer noch an ihren vergilbten Blättern fest, obwohl der Winter schon zur Hälfte vorbei ist. Ein einzelnes Blatt weht auf den Bürgersteig und tanzt über die Straße, auf der gelegentlich Fußgänger zur nächsten Tramstation eilen.

Ich schlüpfe in ein Paar Hausschuhe und schlurfe in die Küche. Dort finde ich eine Nachricht von Scarlett, in der sie mir mitteilt, dass sie ein paar Besorgungen macht und bald zurück sein wird, um nach mir zu sehen. Ich öffne die Speisekammer und fange an, meine Frühstücksoptionen vor mir auszubreiten: eine Schachtel Eier, ein Laib Brot, eine Packung Müsli. Nichts spricht mich an, bis mir eine Büchse mit gemahlenem Kaffee auffällt. Ich stecke das Kabel der Kaffeemaschine in die Steckdose und starre das Gerät mit leerem Blick an, bevor ich eine der Kammern mit Kaffeepulver fülle. Ich drücke auf einen Knopf und warte darauf, dass die Flüssigkeit in die Glaskanne tropft. Das Einzige, was passiert, ist ein mahlendes Geräusch. Ich packe die leere Kanne fester und versuche es noch einmal, indem ich immer wieder auf den Knopf drücke, aber ohne Erfolg. Ich gieße ein Glas Wasser in die Maschine und probiere es noch einmal. Die Digitalanzeige vermeldet irgendeinen Fehler.

»Nein, nein, nein«, sage ich, und meine Stimme wird mit jedem Betätigen des Knopfes lauter. Ich drücke ein letztes Mal und gebe mich schließlich geschlagen. Frustriert zerre ich das Kabel aus der Steckdose, wobei ich die Schachtel mit den Kaffeefiltern umstoße, die hinter der Kaffeemaschine verstaut ist. Ich ziehe sie nacheinander aus der Schachtel, bis die Theke komplett mit ihnen bedeckt ist. Mit einer schwungvollen Armbewegung fege ich sie zu Boden, zusammen mit der offenen Kaffeebüchse und meiner Tasse, die in unzählige Stücke zerspringt. Stücke, die man nicht mehr zusammenfügen kann und wird. Ich sinke auf den Küchenboden, bin im Handumdrehen bis zu den Knien mit Kaffeepulver bedeckt und versuche, die zersplitterten Stücke meiner Tasse wie ein Puzzle wieder zusammenzufügen, obwohl ich weiß, dass sie nie wieder so zusammenpassen werden wie zuvor. Sie setzen sich zu einem zerbrochenen Schriftzug zusammen: Vergiss nicht zu leben. Ich lege den Kopf in den Nacken, schließe die Augen und werde von einem tonlosen Schluchzen geschüttelt, während ich mit den Fäusten gegen den Schrank hinter mir schlage.

Minuten verstreichen, bis ich mich endlich vom Boden hochziehe und mit Kehrschaufel und Besen das Chaos um mich herum beseitige. Ich starte einen neuen Versuch, Kaffee zu machen, aber dieses Mal entscheide ich mich für die Instant-Variante. Anschließend durchwühle ich die Küchenschränke nach einer Bratpfanne und einer Rührschüssel. Nachdem ich alles, was ich brauche, gefunden habe, schließe ich die Schränke, streiche mir die Haare aus den Augen und nehme die Eier aus der Schachtel. Mein Körper versteift sich. Ich weiß, was ich tun will, aber ich weiß nicht, wie. Ich starre die Eier mit offenem Mund an. Wie ist das möglich? Ich stehe da, halte unbewusst die Luft an, während ich mir eingestehen muss, dass ich keine Ahnung habe, wie man Omelett macht. Wut brodelt in mir auf. Ich kann und werde das nicht akzeptieren. Also schnappe ich mir das Kochbuch, das auf einem schmiedeeisernen Wandregal steht. Grimmig überfliege ich das Inhaltsverzeichnis. Wieso kann ich meine Aufmerksamkeit nicht auf diese Worte richten?

Konzentrier dich, Gracie!

Ich gehe die Einträge ganz langsam durch, zielgerichtet. O für Omelett. Da ist es. Ich blättere zu Seite sechsundzwanzig und lese die Anleitung laut vor – sicherheitshalber zweimal –, und irgendwie gelingt es mir, während meine Aufmerksamkeit zwischen Rezept, Rührschüssel und Bratpfanne hin und her wandert, mein Frühstück nicht anbrennen zu lassen.

Ich bin gerade dabei, zwei Soufflé-Omeletts mit Käse und Kräutern, Spinat als Beilage und zwei Gläser Orangensaft anzurichten, als Scarlett durch die Wohnungstür hereingestolpert kommt. Sie tritt sich die Stiefel an der inneren Fußmatte ab.

»Meine Güte, da draußen gießt es wie aus Eimern.« Sie zieht sich mit einer Hand die Beanie-Mütze vom Kopf, schüttelt ihr Haar aus und lässt die Lockenpracht federnd auf ihre Schultern fallen. Sie kommt in die Küche, den linken Arm voller Einkaufstüten. Sie ist kaum geschminkt; mit ihrer samtigen Haut mit einem Hauch von Farbe an genau den richtigen Stellen hat sie das Glück, kein Make-up zu brauchen. Als sie mich sieht, fällt ihr die Kinnlade herunter. Ich nehme einen Bissen von dem Omelett und sehe sie fragend an.

»Was ist das?« Sie starrt auf die Teller, ihr Mund immer noch halb offen.

»Ein Omelett.« Ich habe keine Ahnung, was ich falsch gemacht habe.

Sie stellt ihre Tüten auf der Küchentheke ab, richtet sich auf und stemmt die Hände in die Hüfte. »Aber du isst keine Eier.«

»Tue ich nicht?« Ich sehe auf meinen halb leeren Teller. »Aber sie schmecken so gut. Probier mal«, füge ich hinzu und reiche ihr eine Gabel. »Ich habe auch eins für dich gemacht.«

Sie sieht mich mit ihren Puppenaugen erstaunt an und blinzelt.

»Was?« Ich merke, dass etwas nicht stimmt. »Alles in Ordnung?«

»Mir geht’s gut. Es ist nur seltsam, das ist alles. Unerwartet.«

»Warum hast du Eier gekauft, wenn du weißt, dass ich sie nicht mag?«

»Habe ich nicht. Sie waren schon da.« Sie wirft mir einen Blick zu, und ich begreife.

Natürlich. Blake.

»Oh.« Ich seufze.

Scarlett geht zum Kühlschrank und fängt an, die Lebensmittel auszupacken und einzusortieren. »Du hast ihm immer damit in den Ohren gelegen, dass er sich gesund ernähren soll. Ich glaube, er hat nur deshalb gern Junkfood nach Hause gebracht, um dich zu ärgern.« Sie hält einen Becher Kokosnuss-Joghurt hoch. »Ich hab dir deinen Lieblingsjoghurt mitgebracht«, sagt sie und streckt ihren Kopf hinter der Kühlschranktür hervor. »Aus dem Bioladen am Ende der Straße. Sie haben nach dir gefragt.«

Der Joghurt kommt mir nicht bekannt vor. Er ist mir völlig gleichgültig. Ich denke immer noch über die Eier nach. Und über Blake. Und darüber, wie viele andere Dinge Blake und ich sonst noch nicht gemeinsam haben. Ich schenke Scarlett ein dankbares Lächeln und ziehe scharf die Luft ein.

»Du gehst jeden Dienstag dort einkaufen, und morgens holst du dir immer einen Chai-Tee. Du trinkst nämlich keinen …« Scarlett macht den Kühlschrank zu und starrt auf meine dampfende Tasse.

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