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Was mein Herz dir sagen will

Großmutter Lisette hatte ein Geheimnis, dessen ist sich die junge Witwe Camille sicher, als ihr eine Kiste mit vergilbten Aufnahmen in die Hände fällt. Kann es sein, dass ihr Opa gar nicht ihr leiblicher Großvater war? Unterstützt von dem charmanten Historiker Finn, begibt sie sich auf dem malerischen Landgut ihrer Familie in der Provence auf Spurensuche. Dort erfährt Camille nicht nur Unglaubliches über Lisette - in den wogenden Lavendelfeldern von Bellerive entdeckt sie auch, dass Finn der erste Mann sein könnte, den sie seit dem Tod ihres Gatten in ihr Herz lassen möchte.

"Meisterhaft beschreibt Susan Wiggs die Eigenheiten menschlicher Beziehungen." Jodi Picoult

"Wiggs ist eine unübertroffene Geschichtenerzählerin, mit der sich kaum eine andere Autorin messen kann … Ihre Beobachtungsgabe ist bemerkenswert." Romantic Times

"Susan Wiggs schreibt bewegende, unvergessliche Romane über Träume und Hoffnungen, in denen sich jede Leserin wiederfindet." New York Times-Bestsellerautorin Suzan Elisabeth Philipps


  • Erscheinungstag: 05.02.2018
  • Seitenanzahl: 432
  • ISBN/Artikelnummer: 9783955767723
  • E-Book Format: ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Für meinen Ehemann Jerry:

Für all die Reisen, die wir unternommen haben,

für all die Momente der Inspiration,

für das Verfahren auf verlorenen Nebenwegen,

für endloses Umherstreifen und Gedankenreisen,

für das Wissen, dass die größte Reise im Leben

diejenige ist, die einen nach Hause führt.

Du bist das beste Abenteuer, das ich je erlebt habe.

1. TEIL

BETHANY BAY

Danke für all die Strahlen des Lichts, die einen nun

vergangenen Sommer zur Belohnung verschönert haben.

Brief von Emily Dickinson an Mrs. John Howard Sweetser

1. Kapitel

Von den fünf Schritten bei der Entwicklung eines Films müssen vier in vollkommener Dunkelheit stattfinden. Und in der Dunkelkammer ist das Timing alles. Der Unterschied zwischen Überbelichtung und Unterbelichtung beträgt manchmal nur wenige Millisekunden.

Camille Adams mochte die Präzision des Vorgangs. Ihr gefiel die Vorstellung, dass mit der richtigen Mischung aus Chemikalien und Zeit ein gutes Ergebnis vollkommen in ihren Händen lag.

Es durfte kein sichtbares Licht im Raum geben, nicht einmal eine rote oder bernsteinfarbene Sicherheitslampe. Camera obscura war der lateinische Begriff für »dunkler Raum«, und als Camille noch jung und von dem Prozess unglaublich fasziniert gewesen war, hatte sie Stunden damit verbracht, ihr Handwerk zu üben. Ihre erste Dunkelkammer war ein Schrank gewesen, in dem es nach dem Frangipani-Parfüm ihrer Mutter und den Anglerstiefeln ihres Stiefvaters gerochen hatte, die vom Salz der Chesapeake Bay ganz verkrustet waren. Sie hatte die Ritze im Schrank mit Malerkrepp und Gummidichtungen zugestopft, um das Licht draußen zu halten. Selbst ein Haarriss in der Tür konnte dafür sorgen, dass die Negative einen Schleier bekamen.

Gefundene Filme waren eine besondere Leidenschaft von ihr, vor allem jetzt, da die Digitalfotografie das Fotografieren auf Film verdrängt hatte. Sie liebte die geheimnisvolle Anspannung, eine Tür in die Vergangenheit zu öffnen und die Erste zu sein, die hineinschaute. Während sie mit einer alten Rolle Film oder einer Filmspule arbeitete, versuchte sie oft, sich vorzustellen, wie jemand sich die Zeit genommen hatte, die Kamera herauszuholen und ein Foto zu schießen oder einen Film zu drehen, um einen ungestellten Moment oder eine aufwendige Pose einzufangen. Für Camille war die Dunkelkammer der einzige Ort, an dem sie klar sehen konnte, der einzige Ort, an dem sie sich kompetent fühlte und die Kontrolle hatte.

Das heutige Projekt war die Rettung eines Fünfunddreißig-Millimeter-Films, den ein Kunde von ihr gefunden hatte. Sie hatte den Geschichtsprofessor namens Malcom Finnemore allerdings noch nie getroffen. Der Film war per Kurier aus Annapolis geliefert worden, und die dabei liegenden Anweisungen hatten darauf hingedeutet, dass der Mann schnelle Ergebnisse sehen wollte. Ihre Aufgabe war es, den Film zu entwickeln, die Negative mit ihrem Mikrografikscanner zu digitalisieren, sie in Positive zu verwandeln und die Ergebnisse per E-Mail zu verschicken. Der Kurier sollte um drei Uhr am Nachmittag zurückkommen, um die Originalnegative und Kontaktbögen abzuholen.

Camille hatte kein Problem mit Deadlines. Der Druck machte ihr nichts aus. Er zwang sie, einen klaren Kopf zu bewahren und organisiert zu arbeiten. So funktionierte das Leben besser.

Alle Chemikalien standen bereit – präzise kalibriert, sorgfältig in Messbecher gefüllt und in Reichweite. Sie brauchte kein Licht, um zu wissen, wo sie waren. Sie standen aufgereiht wie die Instrumente auf dem Tablett eines Chirurgen – Entwickler, Stoppbad, Fixierung, Wässerungshilfe – und sie wusste sie mit der Finesse eines Chirurgen zu benutzen. Sobald der Film entwickelt und getrocknet wäre, würde sie die Ergebnisse anschauen. Diesen Teil ihrer Arbeit liebte sie – die Enthüllerin von verlorenen und wiedergefundenen Schätzen zu sein, vergessene Zeitkapseln mit einem Lichtstrahl zu öffnen.

Einige – und ihr verstorbener Ehemann Jace hatte dazugehört –, betrachteten ihre Arbeit als Handarbeit oder Hobby. Camille aber wusste es besser. Ein Blick auf einen Druck von Anselm Adams – keine Verwandtschaft mit Jace – war der Beweis, dass in der Dunkelkammer Kunst entstehen konnte. Hinter jedem fertigen monumentalen Druck standen Dutzende von Versuchen, bis Adams die genau richtige Mischung gefunden hatte.

Camille wusste nie, was ein alter Film enthüllen würde, oder ob er von der Zeit und den Elementen zerstört worden war. Vielleicht war der Professor auf einen Film gestoßen, der vergessen in dem Archiv des Smithsonian oder im Lagerraum einer Bibliothek in Annapolis gelegen hatte.

Sie wollte das hier gut machen, denn das Material war möglicherweise bedeutend. Die Filmrolle, die sie sorgfältig auf die rote Filmspirale spulte, könnte eine wichtige Entdeckung sein. Vielleicht zeigte sie Porträts von Menschen, die niemand je zuvor gesehen hatte, Landschaften, die sich inzwischen bis zur Unkenntlichkeit verändert hatten, den seltenen Schuss eines Augenblicks im Leben, der in dieser Welt nicht länger existierte.

Andererseits könnte es auch vollkommen prosaisch sein – ein Familienpicknick, eine typische Straßenszene, ungeschickte Fotos von nicht identifizierbaren Fremden. Oder der Film enthielt Fotos einer längst vergangenen Liebe, eines Mannes, dessen Witwe sich danach sehnte, noch einmal sein Gesicht zu sehen. Camille erinnerte sich an die schmerzerfüllte Freude, mit der sie nach Jaces Tod Fotos von ihm angeschaut hatte. Ihre letzten Bilder von ihm waren im Dunkeln geblieben, tief vergraben im Inneren ihrer Kamera. Die alte Leica war ihre Lieblingskamera gewesen, aber sie hatte sie seit dem Tag, an dem sie ihn verlor, nie wieder angerührt.

Für Camille war es einfacher, mit Filmen von völlig Fremden zu arbeiten. Erst letzte Woche hatte eine andere Kiste eine seltene Sammlung von Nitrozellulosefilmen hergegeben, die sich alle in einem bedenklichen Zustand befanden. Die Bilder klebten nach langer Vernachlässigung aneinander. In mühevollen Stunden hatte sie die Filme voneinander gelöst, Schimmel entfernt und die einzelnen Bildlagen zusammengefügt, um etwas zu enthüllen, das das Auge der Kamera vor beinahe einem Jahrhundert gesehen hatte: Das einzige bekannte Foto einer Pinguinart, die jetzt ausgestorben war.

Ein anderes Mal hatte sie Fotos von einer Porträtsitzung mit Bess Truman entwickelt, einer der kamerascheuesten First Ladys des zwanzigsten Jahrhunderts. Das Projekt, das Camille bisher die größte Aufmerksamkeit eingebracht hatte, war ein Bild von einem gerade begangenen Mord gewesen. Es entlastete posthum einen Mann, der für ein Verbrechen, das er nicht begangen hatte, gehängt worden war. Artikel in der nationalen Presse schrieben ihr den Verdienst zu, ein jahrelanges Rätsel gelöst zu haben. Aber für Camille war dieser Erfolg bittersüß gewesen, denn ein unschuldiger Mann war für ein Verbrechen an den Galgen gekommen, während der wahre Mörder unbehelligt ein langes Leben geführt hatte.

Sie stellte die Digitaluhr und wagte kaum zu atmen. In wenigen Augenblicken würde sie die spezielle Alchemie der Dunkelkammer in Gang setzen.

Der Moment wurde vom Klingeln des Telefons gestört, das direkt vor der Tür lag. In der Dunkelkammer konnte sie kein Telefon gebrauchen, weil die Tastatur aufleuchtete, wenn es klingelte, daher hatte Camille den Ton ganz laut gestellt und konnte so die eingehenden Nachrichten mithören. Seit der Krebsdiagnose ihres Vaters raste ihr Puls jedes Mal, wenn das Telefon klingelte.

Sie wartete ein paar Klingeltöne ab und schalt sich für ihre Panik. Papas Krankheit verschlechterte sich nicht, auch wenn seine Ärzte nicht sagen wollten, wie lange die Atempause wohl anhalten würde.

»Hier ist Della McClosky aus dem Henlopen Medical Center. Ich rufe für Camille Adams an. Ihre Tochter Julie ist in die Notaufnahme gebracht worden …«

Julie. Camille riss die Tür der Dunkelkammer auf und schnappte sich den Telefonhörer. Die Filmpatrone fiel zu Boden. Angst schoss durch Camilles Körper. »Hier ist Camille. Was macht Julie in der Notaufnahme?«

»Ma’am, Ihre Tochter ist gerade mit dem Krankenwagen von ihrer Surfrettungsklasse im Bethany Surf Club hierher gebracht worden.«

Eiskalter Terror, der ihr den Atem nahm. »Wie bitte? Ist sie verletzt? Was ist passiert?«

»Sie ist bei Bewusstsein und sitzt und spricht. Coach Swanson hat sie begleitet. Sie ist in eine Rückströmung geraten und hat etwas Wasser eingeatmet. Der Arzt untersucht sie gerade.«

»Ich bin auf dem Weg.« Sie rannte zur Hintertür und schnappte sich auf dem Weg die Schlüssel vom Haken. Dann sprang sie die Verandastufen hinunter zu ihrem Auto. Sie dachte nicht nach. Plante nicht, sondern handelte nur. Wenn man einen Anruf bekam, dass das eigene Kind in der Notaufnahme war, konnte es keinen Raum zum Nachdenken geben. Nur die schlimmstmögliche Angst, die Art Angst, die sich wie ein Stahlband um die Brust legte.

Sie setzte sich in den Wagen, startete den Motor und schoss die Auffahrt hinunter, sodass die zerstoßenen Austernschalen unter den Reifen nur so aufspritzten. Sie raste vorbei am Leuchtturm am Ende ihrer Straße. Die steinigen Sandbänke dort wurden schon seit einem Jahrhundert von dem Wächter beschützt, der die Bucht überragte.

Im Autoradio lief gerade der stündliche Küstenwetterbericht von Crash Daniels, dem Besitzer des Surf Shack. »Wir bekommen einen ersten Vorgeschmack auf den Sommer, Leute. Die gesamte Delmarva-Halbinsel badet heute in Temperaturen um die fünfundzwanzig Grad. Das Meer sieht super aus. Bethany Bay ist vollkommen …«

Sie schaltete das Radio aus. Die Panik um ihre Tochter verlangte ihre volle Aufmerksamkeit. Surfrettungsklasse? Was zum Teufel machte Julie bei der Surfrettung? Sie nahm an dem Kurs der Neuntklässler doch gar nicht teil. Camille hatte es verboten, obwohl Julie sie geradezu angefleht hatte. Nein, das war viel zu gefährlich. Die Strömungen an der Meerseite der Halbinsel konnten tödlich sein. Doch sie empfand jetzt keine Befriedigung darüber, dass sie recht gehabt hatte. Julie war in eine Rückströmung geraten, hatte die Krankenschwester gesagt. Eine neue Welle des Grauens stieg in Camille auf, und sie hatte das Gefühl, sich übergeben zu müssen.

»Ganz ruhig«, sagte sie sich. »Atme tief ein und aus. Die Frau am Telefon hat gesagt, dass Julie bei Bewusstsein ist.«

Jace war auch bei Bewusstsein gewesen – nur Augenblicke, bevor sie ihn verloren hatte. Damals, vor fünf Jahren, als sie auf einer romantischen zweiten Hochzeitsreise waren. Sie konnte nicht aufhören, daran zu denken. Das war der Grund, warum sie die Teilnahmeerlaubnis für den Surfrettungskurs nicht unterschrieben hatte. Einen weiteren Verlust würde sie einfach nicht überleben.

Es hatte eine Zeit gegeben, in der Camilles Leben einfach bezaubernd gewesen war. Sie hatte nicht die geringste Ahnung gehabt, dass es ohne Vorwarnung zerstört werden würde. Während ihrer idyllischen Kindheit in Bethany Bay war sie so wild und sorglos gewesen wie die Vögel, die über der von Wasser umgebenen Enklave am Rande des Atlantiks flogen. Sie hatte den Surfrettungskurs mit Bravour bestanden, ein hartes und körperlich anstrengendes Training, an dem teilzunehmen alle Highschoolschüler ermutigt wurden. In dieser Gemeinde, die auf drei Seiten von Wasser umgeben war, waren Fähigkeiten in der Wasserrettung Pflicht, denn der Strand mit seinen anrollenden Pipeline-Wellen erfreute sich großer Beliebtheit. Die Seerettung war eine altehrwürdige Tradition an der Bethany Bay High, wobei die einheimischen Jugendlichen mit speziellen Paddelboards in der Kunst der Seerettung ausgebildet wurden. Jeden Mai, selbst wenn das Wasser von den Strömungen des Winters noch kalt war, wurde der Kurs angeboten.

Mit vierzehn hatte Camille keine Ahnung von den Gefahren der Welt gehabt. Sie war in ihrer Rettungsgruppe an die Spitze geschossen und hatte schließlich drei Jahre in Folge den jährlichen Wettbewerb gewonnen. Sie erinnerte sich noch daran, wie glücklich und selbstbewusst sie sich nach den Siegen gefühlt hatte. Und sie erinnerte sich daran, wie sie den Triumph genossen hatte, unter der Sonne mit den Wellen zu kämpfen, mit ihren Freunden zu lachen, berauscht von der überwältigenden Genugtuung, die Elemente besiegt zu haben. Am Ende des Kurses gab es immer ein Lagerfeuer mit gerösteten Marshmallows am Strand, eine Tradition, die immer noch von den Kursleitern aufrechterhalten wurde, damit die Kinder sich über die gemeinsamen Erlebnisse austauschen konnten. Sie hatte das für Julie gewollt, aber ihre Tochter war anders, als Camille es gewesen war.

Bis vor fünf Jahren war Camille ein Adrenalinjunkie gewesen – Surfen, Kitesurfen, qualvolle Felsen erklimmen und Bergsteigen –, alles, was einen gefährlichen Rausch bot, war ihr gerade recht gekommen. Jace war der perfekte Partner gewesen, denn er war genauso wild aufs Abenteuer gewesen wie sie.

Diese Tage waren lange vorbei. Camille war von einer Tragödie neu geformt worden und nun vorsichtig, wo sie sonst kühn gewesen war, ängstlich, wo sie sonst alles gewagt hatte, zurückhaltend, wo sie sonst zügellos gewesen war. Sie betrachtete die Welt als einen gefährlichen Ort voller Risiken für die, die dumm genug waren, hinauszugehen und ein Wagnis einzugehen. Sie betrachtete alles, was sie liebte, als zerbrechlich und dachte, es könnte genauso schnell verloren gehen wie Jace.

Julie hatte den Tod ihres Vaters mit der stoischen Unschuld einer Neunjährigen verarbeitet. Sie hatte still getrauert und dann die Tatsache akzeptiert, dass ihre Welt nie wieder dieselbe sein würde. Die Leute hatten ihre Widerstandsfähigkeit gelobt, und Julie hatte ihrer Mutter einen Grund gegeben, ihr Leben zusammenzuraffen und weiterzumachen.

Doch als Julie die Einverständniserklärung mit nach Hause gebracht und verkündet hatte, an dem Rettungskurs teilnehmen zu wollen, hatte Camille sich rundheraus geweigert. Es war zum Streit gekommen. Es hatte Tränen, Gestampfe und wütendes Sich-aufs-Bett-Werfen gegeben. Julie hatte Camille vorgeworfen, ihr Leben sabotieren zu wollen.

Mit einem Anflug von Schuldgefühlen wusste Camille, dass ihre Ängste ihre Tochter zurückhielten, aber sie wusste auch, dass sie so jeglichen Schaden von Julie abhielt. Ihre Tochter sollte genauso viel Spaß haben, wie sie selbst auf der Highschool gehabt hatte und viele Freunde finden. Aber Julie durfte keinen gefährlichen Freizeitaktivitäten nachgehen. Offensichtlich hatte sie einen Weg gefunden, den Rettungskurs doch mitzumachen. Vermutlich durch den uralten Trick, die Unterschrift ihrer Mutter zu fälschen.

Die Entschlossenheit einer Vierzehnjährigen war kaum zu übertreffen. Ein Teenager würde vor nichts haltmachen, um seinen Willen durchzusetzen.

Camille hätte aufmerksamer sein müssen. Anstatt sich so tief in ihre Arbeit zu versenken, hätte sie ihre Tochter besser im Auge behalten müssen. Vielleicht wäre ihr dann aufgefallen, was Julie vorhatte, nämlich heimlich an dem Surfrettungskurs teilzunehmen, anstatt zum Völkerball oder in die Bibliothek zu gehen.

Als Jace noch am Leben gewesen war, hatten sie beide aus Julie eine gute Schwimmerin gemacht. Mit acht Jahren hatte sie bereits gelernt, welche Kräfte in einer Rückströmung wirkten und wie man sich verhielt, wenn man in eine solche geriet: Wasser treten, parallel zum Strand bleiben und nicht dagegen ankämpfen. Camille konnte sich immer noch daran erinnern, wie Jace es ihr erklärt hatte. Die Strömung würde in drei Minuten wieder umkehren, also gab es keinen Grund zur Panik.

Heutzutage war Panik Camilles Spezialität.

Den Blick fest auf die Straße gerichtet, wühlte sie in ihrer Handtasche nach ihrem Handy. Ihre eine Hand stieß auf das Übliche – Brieftasche, Stift, Scheckbuch, Haarspange, Kamm, Pfefferminzbonbons. Kein Handy. Mist. Sie hatte es in ihrer Eile vergessen.

In der Eile in das Krankenhaus zu kommen, in das ihre verletzte Tochter gebracht worden war, während Camille sich in ihrer Dunkelkammer verkrochen und die Welt ignoriert hatte. Mit jedem negativen Gedanken drückte sie ihren Fuß stärker aufs Gaspedal, bis ihr plötzlich bewusst wurde, dass sie fünfzig Meilen in einer Dreißigmeilenzone fuhr. Trotzdem drosselte sie die Geschwindigkeit nicht. Sollte die Polizei sie nur anhalten, dann würde sie einfach um eine Eskorte bitten, dachte Camille.

Das Wort Bitte hallte wieder und wieder in ihrem Kopf nach. Bitte. Bitte nicht das. Bitte nicht Julie.

Vierzehn, klug, lustig, eigen – sie war Camilles ganze Welt. Wenn ihr etwas passierte, würde diese Welt stillstehen. Ich würde einfach stillstehen, überlegte Camille voller Überzeugung. Ich würde aufhören, zu existieren. Mein Leben wäre kaputt. Vorbei. Sans espoir, wie Papa sagen würde.

Die Küstenstraße teilte das Flachland, das von der beeindruckenden Flussmündung und der endlosen Weite des Atlantiks umfangen wurde. Umrahmt von Sanddünen voller einheimischer Vogelkolonien bog sich die Bucht nach innen, rahmte den rauschenden Atlantik ein und bildete einen der besten Surfstrände an der östlichen Meeresküste. Hier, an diesem atemberaubenden, zuckerfeinen Sandstrand, der die Touristen jedes Jahr anzog, war Julies Unfall passiert.

Auf dem letzten Stück des Weges beschleunigte Camille noch einmal. Fünf Minuten später bog sie auf den Parkplatz des Krankenhauses ein. Alte und auch junge Erinnerungen waren für sie mit diesem Ort verbunden. Sie sprang aus dem Wagen und rannte los.

»Julie Adams«, rief sie der Frau am Empfang zu. »Sie ist von der Surfrettung hergebracht worden.«

Die Schwester warf einen Blick in den Computer. »Bereich sieben. Gleich rechts den Gang hinunter.«

Camille wusste, wo das war. Sie lief an dem Bild von Jace vorbei – einem Bild, das zur Erinnerung an Dr. Jace Adams aufgehängt worden war. Jedes Mal, wenn sie es sah, schien sich ihr Herz wieder zu verkrampfen.

Sie vermisste Julies Vater jeden einzelnen Tag, aber am meisten, wenn sie Angst hatte. Andere Frauen hatten einen Ehemann, der ihnen in schweren Zeiten zur Seite stand, aber Camille nicht – nicht mehr. Sie hatte nichts außer ihren Erinnerungen. Innerhalb so kurzer Zeit hatte sie die Liebe ihres Lebens gefunden und verloren. Jace würde für immer in ihrer Erinnerung leben, zu weit weg, um sie zu trösten, wenn sie sich fürchtete.

Was so ziemlich immer der Fall war.

Voller Verzweiflung hastete sie zu dem mit Vorhängen abgetrennten Bereich, in den sie ihre Tochter gebracht hatten. Sie erblickte zuerst nur dunkle, lockige Haare und eine schlaff daliegende Hand. »Julie«, rief sie und eilte an das Bett.

Die anderen Anwesenden machten ihr Platz. Es war ein Albtraum, ihre Tochter an Monitore angeschlossen und von medizinischem Personal umgeben zu sehen. Julie saß im Bett und hatte eine Halskrause um, verschiedene bedruckte Bänder um ihr Handgelenk, eine Infusion im Arm und einen genervten Ausdruck im Gesicht. »Mom«, sagte sie. »Mir geht es gut.«

Das war alles, was Camille hören wollte – die Stimme ihrer Tochter, die diese Worte sagte. Ein ganz wunderbares Gefühl der Erleichterung stellte sich ein.

»Süße, wie geht es dir? Erzähl mir alles.« Camille verschlang Julie förmlich mit den Augen. Sah sie blasser aus als sonst? Hatte sie Schmerzen? Nein, nicht wirklich. Die genervte Miene eines Teenagers blickte ihr entgegen.

»Wie gesagt, mir geht es gut.« Julie unterstrich die Aussage mit einem klassischen Augenrollen.

»Mrs. Adams.« Ein Arzt in meergrüner OP-Kleidung und einem weißen Laborkittel kam auf sie zu. »Ich bin Dr. Solvang. Ich habe mich um Julie gekümmert.«

Er erklärte Camille ruhig und methodisch, was passiert war. Er sah ihr in die Augen und sprach in kurzen, klaren Sätzen. »Julie hat erzählt, dass sie von ihrem Rettungsboard gefallen ist, als sie versuchte, während einer Geschwindigkeitsübung um eine Boje zu paddeln. Sie ist in eine Unterströmung gezogen worden. War es nicht so, Julie?«

»Ja«, murmelte sie.

»Sie meinen, eine Brandungsrückströmung?« Camille funkelte den Coach an, der in der Nähe stand. Hatte er denn nicht aufgepasst? Lernte man in dem Rettungskurs nicht zuerst, einer solchen Strömung auszuweichen?

»Offensichtlich ja«, sagte der Arzt. »Coach Swanson konnte Julie ans Ufer bringen. Zu dem Zeitpunkt war sie nicht ansprechbar.«

»Oh mein Gott.« Nicht ansprechbar. Camille ertrug das Bild in ihrem Kopf nicht. »Julie … Ich verstehe nicht. Wie konnte das passieren? Du solltest doch gar nicht in dem Kurs sein.« Sie atmete tief ein. »Worüber wir später noch reden werden.«

»Coach Swanson hat sie an Land geholt und eine Mund-zu-Mund-Beatmung durchgeführt. Julie hat das geschluckte Wasser ausgespuckt. Sie war sofort wieder da und ist zur gründlichen Untersuchung hierhergebracht worden.«

»Sie sagen also, dass meine Tochter beinahe ertrunken ist.«

»Ich bin vom Brett geschubst worden, mehr nicht.«

»Wie bitte? Geschubst? Mein Gott …«

»Ich meine, ich bin gefallen …« Julies Blick ging unruhig hin und her.

»Die Prellung sollte von alleine gut heilen«, erklärte Dr. Solvang weiter.

»Welche Prellung?« Camille hätte den Mann am liebsten bei seinen gestärkten Aufschlägen gepackt und geschüttelt. »Hat sie sich am Kopf verletzt?« Sie berührte Julies Kinn und suchte in den salzverkrusteten Locken ihrer Tochter nach der Verletzung. Über dem einen Auge sah sie am Haaransatz eine Beule. »Wie hast du dir den Kopf gestoßen?«

Julie wandte den Blick ab. Vorsichtig berührte sie die feuchten, mit Salzkristallen bedeckten Haare über ihrer Schläfe.

»Wir haben sie alle zehn Minuten einer neurologischen Untersuchung unterzogen«, versuchte die Krankenschwester Camille zu beruhigen. »Es ist alles normal.«

»Hast du keine Sicherheitskappe getragen? Wie hast du dir die Prellung zugezogen?«

»Mom, ich weiß es nicht, okay? Das ist alles so schnell gegangen. Tu mir den Gefallen und flipp nicht aus.«

Seit Neuestem war Julie ständig genervt. Camille war das schon zu Beginn des Schuljahrs aufgefallen. Im Moment war es hoffentlich ein gutes Zeichen. Es war alles ganz normal. »Und was nun?«, wollte Camille vom Arzt wissen. »Muss sie hierbleiben?«

Er schüttelte lächelnd den Kopf. »Das ist nicht nötig. Die Entlassungspapiere werden gerade vorbereitet.«

Erleichtert atmete sie auf. »Ich brauche ein Telefon. Ich bin ohne mein Handy aus dem Haus geeilt und muss meine Mutter anrufen.«

Julie zeigte auf ihre Teamtasche von den Bethany Bay Barracudas. »Du kannst meins benutzen.«

Camille fand es und rief ihre Mutter an.

»Hey du«, sagte Cherisse Vandermeer. »War die Schule heute früher aus?«

»Mom, ich bin’s. Ich benutze nur Julies Telefon.«

»Ich dachte, du würdest dich den ganzen Tag in deiner Dunkelkammer verkriechen.«

Die Dunkelkammer. Camille hatte einen »Oh Scheiße«-Moment, schob ihn aber zugunsten dringlicherer Angelegenheiten beiseite.

»Ich bin im Krankenhaus«, erklärte sie ihrer Mutter. »Julie ist in die Notaufnahme eingeliefert worden.«

»Guter Gott. Geht es ihr gut? Was ist passiert?«

»Ihr geht es gut. Sie hatte einen Unfall im Surfrettungskurs. Ich bin selber gerade erst hier eingetroffen.«

Ein hörbares Keuchen drang durch die Leitung. »Ich bin sofort da.«

»Mir geht es gut, Gram«, rief Julie laut. »Mom flippt allerdings aus.«

Jetzt war ein tiefer, ruhiger Atemzug durch den Hörer zu vernehmen. »Ich bin sicher, dass alles gut wird. Wir sehen uns dort in zehn Minuten. Haben sie gesagt, was …«

Der Anruf wurde unterbrochen. Der Handyempfang war so weit unten auf der Halbinsel ziemlich schwach.

Erst jetzt schaute Camille sich in dem kleinen, durch einen Vorhang abgetrennten Bereich um. Schuldirektor Drake Larson war da. Drake – ihr Exfreund – sah in seinem karierten Hemd, Krawatte und Hose mit Bügelfalten äußerst professionell aus. Sein verschwitztes Äußeres verriet jedoch, dass er alles andere als ruhig war.

Drake wäre eigentlich der perfekte Partner gewesen, aber vor nicht allzu langer Zeit musste sie – erst sich, dann ihm gegenüber – eingestehen, dass ihre Beziehung keine Zukunft hatte. Er meldete sich jedoch immer noch bei ihr und deutete oft an, dass er sich wieder mit ihr treffen wollte. Und sie wollte seine Gefühle nicht verletzen, indem sie ihn abwies.

Sie hatte wirklich versucht, Drake zu lieben. Er war ein guter Kerl, ein Gentleman, nett, gut aussehend, ernst. Doch trotz ihrer Bemühungen fehlte der Funken. Es gab kein aus tiefstem Herzen kommendes Gefühl der Zusammengehörigkeit. Niedergeschlagen hatte Camille sich eingestehen müssen, dass sich ein solches Gefühl auch nicht entwickeln würde. Sie war bereit, dieses kurze und vorhersehbare Kapitel ihres äußerst uninteressanten Liebeslebens zu schließen. Mit ihm Schluss zu machen war eine diplomatische Hochleistung gewesen, immerhin war er der Direktor der Highschool, die Julie besuchte.

»Als meine Tochter von einer Rückströmung aufs Meer hinausgezogen wurde, wo warst du da?«, wollte sie jetzt von Coach Swanson wissen und sah ihn eindringlich an.

»Ich war am Strand und habe Übungen geleitet.«

»Wie hat sie sich den Kopf gestoßen? Hast du gesehen, wie es passiert ist?«

Er trat verlegen von einem Bein aufs andere. »Camille …«

»Das heißt nein.«

»Mom«, schaltete Julie sich ein. »Ich habe dir doch schon gesagt, es war ein dummer Unfall.«

»Sie hatte nicht meine Erlaubnis, an diesem Programm teilzunehmen.« Camille blickte den Coach böse an. Dann wandte sie sich an Drake. »Wer hat die Einwilligungen der Eltern kontrolliert?«

»Willst du damit sagen, sie habe keine eingereicht?« Drake blickte den Coach fragend an.

»Ich habe es in den Akten stehen«, antwortete Swanson.

Camille schaute Julie an, deren Wangen über der Halskrause jetzt ganz rot waren. Sie wirkte peinlich berührt, aber Camille fiel auch noch etwas anderes in ihren Augen auf – ein trotziges Funkeln.

»Wie lange geht das schon?«, fragte sie.

»Das war unsere vierte Stunde«, antwortete der Coach. »Camille, es tut mir so leid. Du weißt, dass Julie mir viel bedeutet.«

»Sie ist meine Welt, und sie wäre beinahe ertrunken«, erwiderte Camille. Dann musterte sie Drake. »Ich rufe dich wegen der Einwilligung noch an. Jetzt will ich nur meine Tochter nach Hause bringen, okay?«

»Wie kann ich helfen?«, fragte Drake. »Julie hat uns allen einen gehörigen Schrecken eingejagt.«

Wahrscheinlich schossen gerade Worte wie Haftung und Anzeige durch Drakes Kopf, überlegte Camille. »Hör mal«, sagte sie deshalb. »Ich bin nicht sauer, okay? Ich bin nur zu Tode erschrocken. Julie und ich werden uns besser fühlen, sobald wir zu Hause sind.«

Die beiden Männer verließen das Krankenhaus, nachdem Camille versprochen hatte, ihnen später noch ein Update zu geben. Die Krankenschwester erklärte ihr gerade die Vorsichtsmaßnahmen und Verhaltensregeln für Julie nach der Entlassung, als Camilles Mutter auftauchte. »Auf den Röntgenaufnahmen sind ihre Lungen vollkommen frei«, erklärte die Schwester. »Zur Vorsicht wollen wir in ein paar Tagen noch einmal eine Untersuchung durchführen, um sicherzugehen, dass sich keine Lungenentzündung entwickelt.«

»Lungenentzündung!« Camilles Mutter war Mitte fünfzig, sah aber wesentlich jünger aus. Die Leute sagten ständig, dass Camille und Cherisse wie Schwestern wirkten. Camille war nicht sicher, ob das für sie ein Kompliment war. Entweder sah sie mit sechsunddreißig wie über fünfzig aus oder ihre über fünfzigjährige Mutter wie sechsunddreißig. »Meine Enkeltochter wird keine Lungenentzündung bekommen. Das lasse ich einfach nicht zu.« Cherisse eilte ans Bett und umarmte Julie. »Süße, ich bin so froh, dass es dir gut geht.«

»Danke, Gram.« Julie schenkte ihr ein kleines Lächeln. »Mach dir keine Sorgen. Ich kann jetzt nach Hause gehen, oder?«, wandte sie sich an die Krankenschwester.

»Auf jeden Fall.« Die Schwester drückte einen Wattebausch auf die Stelle in ihrer Ellbogenbeuge, wo die Nadel für den Tropf gesteckt hatte.

»Okay, Liebes«, sagte Camilles Mom. »Bringen wir dich nach Hause.«

Sie halfen beide, die runden Klebepads zu lösen, die mit den Monitoren verbunden waren. Man hatte Julie einen Krankenhauskittel gegeben, um ihn über ihren Badeanzug zu ziehen. Ihre Bewegungen waren verstohlen, beinahe verschämt, als sie sich ihre Straßenkleidung aus der Tasche nahm und sich anzog. Teenager waren berühmt für ihre Schamhaftigkeit, das wusste Camille. Julie war allerdings extrem. Das kleine elfenhafte Mädchen, das frei und nackt durch die Gegend gelaufen war, hatte sich in einen missmutigen, verschlossenen Teenager verwandelt. »Ihr müsst nicht auf mich warten«, verkündete Julie. »Ich kann mich allein anziehen.«

Camille machte ihrer Mutter ein Zeichen, dann gingen die beiden Frauen in den Wartebereich.

»Ich bin so weit«, erklärte Julie ein paar Minuten später und trat hinter dem Vorhang hervor. Sie trug ein übergroßes »Surf Bethany«-T-Shirt und Jeans, die schon bessere Tage gesehen hatten. In der Hand hielt sie eine Plastiktüte mit der Aufschrift »Patienteneigentum«, in der sich ein Handtuch, der Gesichtsbogen ihrer Zahnspange, eine Schwimmbrille und ein Schwimmshirt befanden. »Und nur damit ihr es wisst, ich werde heute nicht mehr in die Schule gehen«, fügte sie an, und ihre eng zusammengekniffenen Augen forderten einen Widerspruch geradezu heraus.

»Okay«, sagte Camille. »Müssen wir noch dort vorbeifahren, um deine Sachen zu holen?«

»Nein«, sagte Julie schnell. »Ich meine, kann ich einfach nach Hause und mich ausruhen?«

»Sicher, Baby.«

»Soll ich mitkommen?«, fragte Camilles Mutter.

»Ist schon okay, Gram. Ist heute nicht der geschäftigste Tag in deinem Laden?«

»Jeder Tag in dem Laden ist geschäftig. Wir bereiten uns für den Kunstmarkt vor, der an jedem ersten Donnerstag im Monat stattfindet. Aber für dich habe ich immer Zeit.«

»Es ist wirklich okay. Ich schwöre.«

»Soll ich später vorbeikommen und helfen?«, bot Camille an. Sie und ihre Mutter waren Partner im Ooh-La-la, einer viel besuchten Boutique für Einrichtungsgegenstände im Dorfzentrum. Dank der Einheimischen, die es sich gut gehen lassen wollten, und der wohlhabenden Touristen aus der Gegend um Washington, D. C., liefen die Geschäfte gut.

»Die Mitarbeiter kommen mit den Vorbereitungen alleine klar. Wir drei sollten uns einen schönen gemütlichen Abend zu Hause machen. Wie klingt das? Wir können uns einen Mädchenfilm anschauen und uns gegenseitig die Nägel lackieren.«

»Gram. Wirklich. Ich bin fit.« Julie wandte sich zum Ausgang.

Cherisse seufzte. »Wenn du meinst.«

»Meine ich.«

Camille legte einen Arm um Julie. »Ich rufe dich später an, Mom. Grüß Bart von uns.«

»Das kannst du persönlich tun«, ertönte eine tiefe, männliche Stimme. Camilles Stiefvater – groß, blond und gut aussehend – kam auf sie zu. »Ich bin sofort gekommen, als ich deine Nachricht erhalten habe.«

»Julie geht es gut.« Cherisse umarmte ihn fest. »Danke, dass du gekommen bist.«

Camille fragte sich, wie es wohl wäre, einen Menschen zu haben, den man automatisch anrief, jemanden, der alles fallen ließ, um an deine Seite zu eilen.

Er nahm Julie in den Arm und drückte sie an sich. Die Salzluft und Spritzer vom Meerwasser hatten sich in seiner Kleidung verfangen. Er war ein altmodischer Fischer mit einer Flotte von Skipjackbooten, den Fischerbooten der Chesapeake Bay, mit denen er in den Gewässern rund um die Halbinsel nach den schmackhaftesten Austern der Welt suchte. Die beiden waren schon ein Vierteljahrhundert verheiratet. Er war ein paar Jahre jünger als Camilles Mom, und auch wenn Camille ihn sehr liebte, gehörte ihr Herz doch ihrem Papa.

Nach der Umarmung hielt er Julie auf Armeslänge von sich. »Okay. In was für einen Schlamassel hast du dich hineingeritten?«

Gemeinsam gingen sie zum Ausgang. »Mir geht es gut«, wiederholte Julie erneut.

»Sie ist in eine Rückströmung geraten«, erklärte Camille.

»Meine Enkelin?« Bart kratzte sich am Kopf. »Nein. Du weißt, was das ist. Du weißt, wie man sie vermeidet. Ich habe dich im Wasser gesehen. Seitdem du eine Kaulquappe bist, schwimmst du wie ein blauer Merlin. Man sagt, Kinder, die hier geboren werden, haben Schwimmhäute an den Füßen.«

»Ich schätze, meine Schwimmhäute haben mich heute im Stich gelassen«, murmelte Julie. »Danke, dass du gekommen bist.«

Auf dem Parkplatz trennten sich ihre Wege. Als Julie ins Auto einstieg, beobachtete Camille ein wenig neidisch, wie ihre Mutter sich an Bart schmiegte und alle ihre Sorgen sich in seiner festen Umarmung aufzulösen schienen. Sie freute sich für ihre Mutter, die mit diesem guten Mann eine so stabile Liebe gefunden hatte, doch gleichzeitig schien dieses Glück ihre eigene Einsamkeit nur zu verstärken.

»Fahren wir, Kleine«, sagte sie dann und legte einen Gang ein.

Julie starrte schweigend aus dem Fenster.

Camille atmete tief ein, weil sie nicht wusste, wie sie mit all dem umgehen sollte. »Julie, ich will dich ehrlich nicht erdrücken.«

»Und ich will ehrlich nicht deine Unterschrift auf einer Erlaubnis fälschen«, sagte Julie leise. »Aber ich wollte das so sehr.«

Ich bin den Wünschen meiner Tochter gegenüber blind gewesen, dachte Camille mit einem Anflug von Schuldgefühlen. Selbst als Julie sie angefleht hatte, an dem Kurs teilnehmen zu dürfen, hatte sie sich geweigert, ihr zuzuhören.

»Ich dachte, es wäre lustig. Ich bin eine gute Schwimmerin. Dad hätte gewollt, dass ich den Rettungskurs mitmache.«

»Ja, das hätte er«, stimmte Camille zu. »Aber er wäre wütend gewesen, dass du es hinter meinem Rücken getan hast. Hör mal, wenn du willst, kann ich mit dir an der Seerettung arbeiten. Ich war zu meiner Zeit ziemlich gut.«

»Oh ja. Unterrichten wir mich zu Hause, damit die Leute mich noch mehr für einen Freak halten.«

»Niemand hält dich für einen Freak«, sagte Camille.

Julie blickte ihre Mutter trotzig an. »Ja klar.«

»Okay, wer denkt, dass du ein Freak bist?«

»Wie wäre es mit jedem, den ich kenne?«

»Julie …«

»Ich will diesen Kurs einfach machen, Mom. Genau wie jeder andere. Ich will nicht von dir unterrichtet werden. Es ist nett, dass du das anbietest, aber es ist nicht das, was ich will. Selbst wenn du damals der Champion warst. Gram hat mir die Bilder in der Zeitung gezeigt.«

Camille erinnerte sich an das Siegerfoto aus dem Bethany Bay Beacon. Sie hatte damals eine wilde Mähne, eine feste Zahnspange und ein Grinsen, das einfach nicht enden wollte. Sie wusste, bei dem Kurs ging es nicht nur um die Fähigkeiten, die man lernte. Die Surfrettung war eine tief verankerte Tradition auf der Halbinsel und das Gruppenerlebnis war Teil ihrer Anziehung. Sie erinnerte sich an den Abschluss der Kurse, wie sie am Lagerfeuer gesessen und mit ihren Freundinnen Geschichten erzählt hatte. Sie erinnerte sich daran, sich im Licht des Feuers umgeschaut und all die vertrauten Gesichter gesehen zu haben und von einem Gefühl der Zufriedenheit und Zugehörigkeit erfüllt gewesen zu sein. In dem Moment hatte sie gedacht, solche Freunde werde ich nie wieder haben. Ich werde nie wieder einen Moment wie diesen erleben.

War es unfair, Julie einer so wunderbaren Erfahrung zu berauben? dachte Camille beklommen.

»Deine Mom hat erlaubt, dass du den Kurs besuchst. Sie hat alles erlaubt. Ich habe Bilder von dir gesehen, wo du surfst und mit dem Mountainbike fährst und kletterst. So etwas machst du jetzt nicht mehr. Du machst gar nichts mehr.«

Camille erwiderte nichts. Das war ein anderes Leben gewesen. Davor. Die frühere Camille hatte das Leben mit beiden Händen gepackt und die Welt als eine einzige wilde Achterbahnfahrt gesehen. Sie hatte sich in alle möglichen Sportarten gestürzt, in Reisen, Abenteuer, das Unbekannte – und das größte Abenteuer von allen war Jace gewesen. Als sie ihn verlor, hatte das Danach begonnen. Danach bedeutete Vorsicht und Zaghaftigkeit, Angst und Misstrauen. Es bedeutete, eine Mauer, die sie um sich herum errichtet hatte, damit nichts und niemand ihr schwer erarbeitetes Gleichgewicht störte.

»Was die Erlaubnis angeht …«

Julie zuckte entschuldigend mit einer Schulter. »Es tut mir leid.«

»Wenn ich von dem Unfall nicht so erschrocken wäre, wäre ich jetzt sehr sauer auf dich.«

»Danke, dass du nicht sauer bist.«

»Vermutlich werde ich das später sein. Mein Gott, Julie. Es gibt einen Grund, warum ich dir nicht erlaubt habe, an dem Kurs teilzunehmen. Und wahrscheinlich hast du den heute herausgefunden – es ist zu gefährlich. Ganz zu schweigen davon, dass du nichts hinter meinem Rücken tun, meine Unterschrift fälschen …«

»Ich hätte es nicht getan, wenn du mich einfach an dem Kurs hättest teilnehmen lassen wie jedes normale Kind. Du lässt mich nie was machen.«

»Komm schon, Julie.«

»Ich habe dich immer wieder gefragt, und du hast mir nicht einmal zugehört, Mom. Ich wollte diesen Kurs wirklich machen, so wie du, als du in meinem Alter warst. Ich wollte einfach nur die Chance bekommen …«

»Du hast diese Chance heute ergriffen und nun sieh selber, was dabei herausgekommen ist.«

»Für den Fall, dass du dich fragst – was du vermutlich nicht tust –, ich war in den ersten drei Stunden super. Ich war wirklich gut, laut Coach Swanson sogar eine der Besten in der Klasse.«

Camille wurde erneut von Schuldgefühlen gepackt. Wie sollte sie ihrer Tochter nur erklären, dass sie etwas nicht tun durfte, obwohl Camille selbst so gut darin gewesen war?

Nach ein paar Momenten des Schweigens sagte Julie: »Ich will weitermachen.«

»Was?«

»Na, die Surfrettung. Ich will den Kurs weiter besuchen.«

»Das kommt überhaupt nicht infrage. Du hast hinter meinem Rücken …«

»Und das tut mir wirklich leid, Mom. Aber jetzt, wo du es weißt, bitte ich dich inständig, mich den Kurs beenden zu lassen.«

»Nach dem, was heute passiert ist? Du solltest für den Rest deines Lebens Zimmerarrest bekommen.«

»Ich habe bereits für den Rest meines Lebens Zimmerarrest«, murmelte Julie. »Seitdem Dad gestorben ist, habe ich den.«

Camille fuhr neben einer Salzwiese an den Straßenrand und schaltete auf Parken. »Was hast du gerade gesagt?«

Julie reckte das Kinn. »Du hast es genau gehört. Deshalb hast du angehalten. Ich meine nur, nachdem Dad gestorben ist, hast du mich daran gehindert, ein normales Leben zu führen, weil du ständig denkst, es könnte wieder etwas Fürchterliches passieren. Ich darf nie irgendwo hingehen oder irgendetwas unternehmen. Ich war seit fünf Jahren nicht mehr in einem Flugzeug. Und jetzt will ich einfach nur diesen Kurs besuchen wie alle anderen auch. Ich will in einer Sache gut sein.« Ihr Kinn zitterte, und sie schaute aus dem Beifahrerfenster auf das sich in der Brise wiegende Gras und die nachmittäglichen Wolken am Himmel.

»Du bist in so vielem gut.«

»Ich bin eine fette Versagerin«, gab Julie zurück. »Und sag nicht, dass ich nicht fett bin, denn das bin ich.«

Camille fühlte sich elend. Sie war gegenüber Julies Wünschen blind gewesen. War sie eine schreckliche Mutter, weil sie sie zu sehr beschützen wollte? Ließ sie zu, dass ihre eigenen Ängste ihre Tochter erstickten? Indem sie ihr die Erlaubnis für den Besuch des Rettungskurses verweigert hatte, war Julie förmlich gezwungen gewesen, sich hinter ihrem Rücken anzumelden.

»Ich will nicht, dass du so über dich redest«, sagte sie sanft und strich Julie eine dunkle, lockige Strähne hinter das Ohr.

»Stimmt, das willst du nicht«, erwiderte Julie sauer. »Deshalb arbeitest du ständig im Laden oder in der Dunkelkammer. Du beschäftigst dich die ganze Zeit, damit du nichts über mein ekelhaftes Leben hören musst.«

»Julie, das meinte ich nicht.«

»Natürlich nicht. Ist auch egal. Ich meine es auch nicht so. Können wir jetzt nach Hause fahren?«

Camille atmete tief durch. Julies Worte hatten sie verletzt. Stimmte es? Stürzte sie sich in ihre Arbeit, damit sie nicht darüber nachdenken musste, warum sie nach all diesen Jahren immer noch Single war oder warum sie panische Angst hatte, dass denen, die sie liebte, etwas Fürchterliches zustoßen könnte? »Hey, Süße, tun wir uns gegenseitig einen Gefallen und reden von etwas anderem.«

»Mein Gott, das machst du immer. Du wechselst jedes Mal das Thema, weil du nicht darüber reden willst, dass jeder mich für eine fette, hässliche Versagerin hält.«

Camille keuchte auf. »Das denkt niemand.«

Julie verdrehte die Augen. »Ja klar.«

»Ich sage dir was. Du hast das mit deiner festen Klammer sehr gut ertragen und deine Zähne sehen toll aus. Wir fragen den Kieferorthopäden, ob du sie ab jetzt nur nachts tragen kannst. Und noch etwas – ich wollte eigentlich bis zu deinem Geburtstag warten und dir dann Kontaktlinsen anfertigen lassen, aber wie wäre es, wenn du die Kontaktlinsen am Schuljahresende bekommst? Ich mache gleich einen Termin …«

Julie wirbelte auf dem Sitz zu ihr herum. »Ich bin fett, okay? Meine Klammer und die Brille loszuwerden, wird daran nichts ändern.«

»Hör auf«, rief Camille. Guter Gott, warum waren Teenager so schwierig? War sie auch so schwierig gewesen? »Sprich doch bitte nicht so über dich.«

»Wieso nicht? Alle anderen tun es doch auch.«

»Was meinst du damit, alle anderen?«

Julie zuckte mürrisch mit den Schultern. »Nur … egal.«

Camille streckte die Hand aus und strich ihrer Tochter sehr sanft eine Locke aus dem Gesicht. Julie war der Inbegriff einer Spätentwicklerin. Alle ihre Freunde waren der Pubertät schon entwachsen, doch bei Julie hatte sie gerade erst begonnen. Im letzten Jahr hatte sie zugenommen und war wegen ihres Körpers so unsicher, dass sie nur noch weite Jeans und zu großen T-Shirts trug.

»Vielleicht muss ich loslassen«, sagte Camille. »Aber nicht alles auf einmal und ganz sicher nicht, indem ich dich unnötige Risiken eingehen lasse.«

»Es wird nicht ohne Grund Surfrettung genannt. Wir lernen, uns im Wasser sicher zu verhalten. Mein Gott, das weißt du doch, Mom.«

Camille atmete tief ein und langsam wieder aus, legte einen Gang ein und fuhr wieder auf die Straße. »Wenn du mir Dinge verheimlichst, gewinnst du damit sicher nicht mein Vertrauen.«

»Fein. Sag mir, wie ich dein Vertrauen gewinne, damit ich den richtigen Kurs einschlagen kann.«

Camille hielt den Blick auf die Straße gerichtet und die vertraute Gegend glitt an ihr vorbei. Da war der Teich, an dem sie und ihre Freunde einst ein Seil zum Schaukeln angebracht hatten. Auf der Wasserseite befand sich Sutton Cove – ein Ort zum Kitesurfen für die, die mutig genug waren, sich dem Wind und den Strömungen zu stellen. Nach einem Tag Kitesurfen mit Jace vor beinahe sechzehn Jahren hatte er auf einmal vor ihr gekniet und ihr einen Verlobungsring hingehalten. So viele Abenteuer an jeder Ecke.

»Wir werden darüber reden«, sagte sie schließlich.

»Was heißt, wir tun es nicht.«

»Was heißt, wir beide werden uns bemühen, uns zu bessern. Es tut mir leid, dass ich mich in meiner Arbeit vergraben habe, und …« Voller Schrecken fiel ihr die Filmrolle von Malcom Finnemore ein.

»Was?«, fragte Julie.

»Etwas mit der Arbeit.« Sie warf ihrer Tochter einen Blick zu. »Mach dir keine Sorgen. Ich kümmere mich darum.« Bei dem Gedanken an das abgebrochene Projekt wurde ihr übel. Nach dem Anruf aus der Notaufnahme hatte Camille alles fallen gelassen und war aus der Dunkelkammer gestürmt – und hatte damit den Film ihres Kunden für immer zerstört.

Na super. Die einzigartigen Negative, die womöglich noch nie zuvor gesehene, ein halbes Jahrhundert alte Bilder enthüllt hätten, waren komplett ruiniert.

Professor Finnemore würde nicht glücklich sein.

2. Kapitel

Jedes Mal, wenn er von seinem Lehrauftrag in Übersee zurück in die USA kam, legte Finn einen Halt am Friedhof in Arlington ein. Er ging zwischen den endlosen Reihen aus weißen Alabastersteinen mit ihren schwarz eingeätzten Buchstaben entlang, von denen beinahe eine halbe Million mit makelloser Präzision ausgerichtet waren und die Wellenbewegung des mit Rasen bewachsenen Terrains nachzeichneten. Irgendwo in der Ferne erklangen mehrere Pfeifen – eines der ungefähr dreißig Begräbnisse, die hier jede Woche stattfanden.

Er blieb an einem Grabstein stehen, auf dem eine kleine Quietscheente lag. Auf die Rückseite des Spielzeugs hatte jemand in kindlicher Schrift Hi, Grandpa geschrieben.

Finn hielt einen Moment inne, bevor er seine Kamera herausholte. Die Botschaften von kleinen Kindern berührten ihn jedes Mal. Er schloss die Augen und murmelte dem Soldaten einen Dank zu. Dann fotografierte er den Grabstein und legte das Andenken in seine Tasche. Als Freiwilliger für das Military History Center, die Stiftung, die sich um Militärgeschichte kümmerte, besuchte er Arlington, wann immer er in der Stadt war, und sammelte die Gegenstände ein, die auf den Grabsteinen zurückgelassen wurden. Gemeinsam mit anderen Freiwilligen katalogisierte er sie für eine Datenbank, um jedes Andenken, egal, wie klein es war, zu erhalten.

Er ging weiter, machte dann aber noch einen kleinen Umweg zu Grabsteinen, die eine besondere Bedeutung für ihn hatten. Mit einigen Dorfbewohnern hatte er im Hochland von Vietnam die Absturzstelle von vier US-Soldaten gefunden, die fünfzig Jahre zuvor als vermisst gemeldet worden waren. Die Soldaten – ein Flugzeugkommandant, ein Pilot, ein Bordschütze und ein Kanonier – waren unter feindlichen Beschuss geraten, und ihr Helikopter war an einem Berg zerschellt. Jahrzehntelang waren die Männer verschollen gewesen. Finn hatte mit ihren Familien gesprochen und dabei seine eigene Familiengeschichte gehört. Ohne zu wissen, was aus ihren Lieben geworden war, gab es keinen Abschluss, keinen Raum für die Trauer. Sie schwebte wie ein Nebel über ihnen, undurchdringlich an einigen Tagen, etwas leichter an anderen, aber immer präsent.

Die sterblichen Überreste der vier Soldaten waren in einem Gruppenbegräbnis beigesetzt worden, mit von Pferden gezogenen Munitionswagen und einer weiß behandschuhten Ehrengarde, während die Familien sich aneinanderklammerten wie Überlebende nach einem Sturm. Eine der Töchter hatte Finn einen Dankesbrief geschrieben und ihm berichtet, dass sie trotz der Trauer eine gewisse Erleichterung empfand, weil sie ihren Vater nun endlich zur letzten Ruhe hatte betten können.

Mehr als tausend Veteranen wurden noch vermisst, und Finns Vater, Richard Arthur Finnemore, war einer von ihnen. Jahrelang hatte Finn in den Gesichtern von Bettlern vor den Veteranenheimen nach einer Ähnlichkeit mit seinem Vater gesucht und sich gefragt, ob er vielleicht so schwer gefoltert worden war, dass er nicht mehr nach Hause gefunden hatte.

Finn nahm ein kleines Stück Papier von einem Grabstein in Sektion 60, wo die kürzlich Gefallenen ihre letzte Ruhe gefunden hatten. Die handschriftliche Notiz lautete: Ich muss dich hierlassen. Du solltest zu Hause sein, mit unseren Kindern spielen und mit uns lachen. Aber hier wirst du bleiben. Für immer. So gesehen werde ich dich nie verlieren. Trotz der sommerlichen Hitze überlief Finn ein kalter Schauer, als er den Grabstein pflichtbewusst fotografierte und die Nachricht seiner Sammlung zufügte.

Zum Schluss lud er eine App auf seinem Handy hoch und lokalisierte damit den Grabstein von einem sehr alten Todesopfer – Air Force First Lieutenant Robert McClintock. Finn hatte die Landschaft rund um Aix-en-Provence durchstreift, wo er wohnte und arbeitete. Seine Recherchen hatten ihn zu der Absturzstelle einer einsitzigen P-38 geführt, die 1944 von McClintock während eines Tiefflugangriffs auf einen feindlichen Flughafen geflogen worden war. Bei Durchsicht der Archive war Finn klar geworden, dass die schlechten Wetterbedingungen an jenem Tag die Sichtverhältnisse stark beeinträchtigt hatten. Ein kleiner Kommentar auf einem Mikrofiche hatte offenbart, dass McClintocks Flugzeug durch die Wolken getaucht und dann scheinbar verschwunden war.

Mit einigen Freiwilligen hatte Finn ein Bergungsteam zusammengestellt und Zähne und Knochenfragmente gefunden – das Einzige, was von dem einundzwanzigjährigen Piloten übrig geblieben war. Das DNA-Identifizierungslabor der Streitkräfte hatte eine Übereinstimmung mit drei Schwestern in Bethesda festgestellt, und letztes Jahr war Lieutenant McClintock hierher nach Arlington verlegt worden. Finn hatte dem Begräbnis nicht beigewohnt, aber nun stand er an dem neuen Grabstein. Wie so oft hatte er Dankesbriefe von der Familie erhalten.

Er wusste die freundlichen Worte zu schätzen, doch sie waren nicht der Grund, warum er tat, was er tat. Sollten die Leute ruhig denken, er wäre auf Auszeichnungen und Anerkennung in der akademischen Welt aus. Das war allemal einfacher zu erklären, als zuzugeben, dass er in Wahrheit nach seinem Vater suchte.

Inmitten dieses Meeres aus Alabastersteinen spürte Finn eine leichte Brise im Nacken und roch frisch gemähtes Gras und umgegrabene Erde. Wo bist du hingegangen, Dad? fragte er sich. Das würden wir alle gerne wissen.

Die Filmrolle, die seine Schwester gefunden hatte und auf deren kleiner gelber Patrone die Initialen seines Vaters standen, war seine Hoffnung, das herauszufinden. Die Expertin Camille Adams würde endlich die letzten Bilder seines Vaters entwickeln, die vor Jahrzehnten irgendwo in Kambodscha aufgenommen worden waren.

Der Gedanke beschleunigte seine Schritte, als er zu seinem Mietwagen zurückging. Vielleicht war der Kurier, der ihm die entwickelten Bilder zurückbringen sollte, schon da gewesen. Finn stieg ein und nahm erneut sein Handy in die Hand. Er hatte mehrere Nachrichten von dem Kurierdienst. Als er auf das Display tippte, um die Nachrichten abzuhören, dachte er: Bitte, Camille Adams, lass mich nicht im Stich.

»Du klingst nicht sonderlich glücklich«, sagte Margaret Ann Finnemore, deren Stimme durch die Freisprechanlage des Mietwagens drang.

Finn starrte auf die Straße vor sich, während er über die Chesapeake Bay Bridge in Richtung der Delmarva-Halbinsel fuhr. Delaware-Maryland-Virginia. Er musste drei Staatsgrenzen überfahren, nur um Camille Adams zu finden.

»Das liegt daran, dass ich nicht glücklich bin«, sagte er zu seiner Schwester. »Der Film sollte heute fertig sein, und die Entwicklerin ist nicht erreichbar. Sie hat uns total im Stich gelassen. Sie geht nicht mehr ans Telefon und reagiert auch nicht auf SMS oder E-Mails.«

»Vielleicht ist etwas dazwischengekommen«, gab Margaret Ann zu bedenken. In der Finnemore-Familie war sie die vernünftige Schwester.

»Ja, sie hat mich sitzen lassen. Das ist dazwischengekommen.«

»Sie hatte so ausgezeichnete Empfehlungen. Billy Church – der vom Nationalarchiv – hat sie mir wärmstens ans Herz gelegt. Hat er nicht gesagt, dass sie auch schon für das Smithsonian und das FBI gearbeitet hat?«

»Das hat er. Aber er hat nicht gesagt, dass wir das FBI benötigen, um sie zu finden. Ich hätte ihre Referenzen überprüfen sollen, anstatt nur ihre Webseite anzuschauen.« Die Internetseite von Adams Photographic Services zeigte Fotos, die Camille Adams gerettet oder wiederhergestellt hatte. Außerdem gab es ein Bild von ihr, das seine Aufmerksamkeit erregt hatte. Sie war eine Schönheit mit dunklen, lockigen Haaren und sehnsüchtigen Augen – aber offensichtlich ohne jegliches Verantwortungsgefühl.

»Ich bin sicher, es gibt eine Erklärung.«

»Ich brauche keine Erklärung. Ich muss sehen, was sich auf dem Film befindet, und zwar noch vor der Zeremonie.«

»Hättest du nicht jemand anderen da rausschicken können?«

»Der Kurier ist weggefahren, nachdem er über eine Stunde gewartet hat. Alle anderen in der Familie haben einen Job, also hab ich beschlossen, sie selber aufzuspüren.«

»Wäre es nicht großartig, wenn es Bilder von Dad gäbe?« Margaret Ann klang sehnsüchtig. Als Älteste der Finnemore-Geschwister hatte sie die lebhaftesten Erinnerungen an ihren Vater. Finn selbst hatte gar keine eigenen, und gerade deshalb bedeutete ihm jedes erhaltene Foto so viel. »Wenn es irgendwelche Fotos von ihm gibt, werden es die letzten sein, die er je gemacht hat. Wir könnten sie mit im Weißen Haus ausstellen.«

Finn zügelte seine Erwartungen. »Er hat die Fotos gemacht, lange bevor das Selfie überhaupt erfunden wurde.«

»Vielleicht hat einer seiner Kameraden ein Foto von ihm gemacht.«

Es gab Dutzende Dinge, die Finn jetzt tun könnte, anstatt hier in der Gegend rumzufahren, aber er wollte diese Bilder in den Händen halten. Er hasste die Vorstellung, seine Familie zu enttäuschen. Der enge Familienverband bestand aus Stief- und Halbgeschwistern in jeder nur denkbaren Kombination, und irgendwie funktionierte es. Und dieses Irgendwie war seine Mom. Sie alle kreisten um ihre Quelle aus Stärke und Liebe.

Morgen wäre der siebzigste Geburtstag seines Vaters gewesen. Am Abend bevor Richard Arthur Finnemore zu seiner Mission nach Kambodscha entsendet worden war, hatte er seinen Kindern einen Gutenachtkuss gegeben und dann ein letztes Mal Liebe mit seiner Frau gemacht. Neun Monate später war Finn von einer Frau geboren worden, die man bald darauf informiert hatte, dass ihr Ehemann vermisst wurde. Sergeant Major Richard Arthur Finnemore hatte eine Heldentat begangen und seine Position dem Feind verraten, um eine Gruppe von Männern zu beschützen, die eine Undercoveroperation durchführten.

Seitdem gab es kein Lebenszeichen mehr von ihm.

Tavia Finnemore hatte es geschafft, ihr Leben wieder in die Hand zu nehmen. Nach einiger Zeit hatte sie sich in einen Mann verliebt, dem es nichts ausmachte, dass sie drei Kinder hatte. Er hatte sogar selber zwei. Gemeinsam bekamen sie noch zwei weitere Jungen. Es war ein turbulentes Familienleben gewesen, erfüllt von Lärm und Chaos, Pathos und Gelächter und vor allem Liebe. Und doch hatte Finn sein ganzes Leben lang die Abwesenheit seines Vaters gespürt, eines Mannes, der gestorben war, bevor Finn seinen ersten Atemzug getan hatte. Es war durchaus möglich, jemanden zu vermissen, den man nie kennengelernt hatte. Er war der lebende Beweis dafür.

»Wir werden es bald herausfinden«, sagte er jetzt. »Vorausgesetzt, die Filmexpertin ist nicht mit der Ware durchgebrannt.«

»Das ist sie nicht. Warum um alles in der Welt sollte sie mit einer alten Filmrolle durchbrennen? Und außerdem, wer sagt heutzutage noch ›durchbrennen‹, außer vielleicht mein übergenauer Bruder, der Geschichtsprofessor?«

»Ich hoffe bei Gott, dass sie es nicht getan hat.« Finn hatte keine Geduld mit Leuten, die ihren Verpflichtungen nicht nachkamen. Für den Fall, dass er die Frau fand – und er hatte vor, das zu tun, auch wenn das von Annapolis aus eine zweistündige Fahrt bedeutete –, hatte er ein paar sorgfältig ausgewählte Worte für sie parat.

»Versprich mir, dass du mich sofort anrufst, wenn du weißt, ob sie die Fotos hat retten können. Oh mein Gott, Finn, ich kann nicht glauben, was gerade passiert. Eine Zeremonie zur Verleihung der Ehrenmedaille des Präsidenten im Weißen Haus. Für unseren Dad.« Margaret Anns Aufregung sprudelte förmlich durch den Lautsprecher.

»Ja, das ist ziemlich surreal.« Der gesamte Finnemore-Stephens-Clan würde daran teilnehmen – die Familie, die sein Vater gehabt hatte, bevor er verschollen war, und die Familie, die seine Mutter gegründet hatte, als sie Rudy Stephens heiratete. Mehr als vier Jahrzehnte, nachdem das schockierende Telegramm eine junge Mutter mit zwei kleinen Mädchen und einem Baby erreicht hatte, konnte seine Mom endlich einen Abschluss finden.

Dann kam ihm ein Gedanke. »Mist. Ich sollte heute Nachmittag meine Ausgehuniform bei der Reinigung abholen, und nun sitze ich hier und fahre über den Chesapeake.«

»Du hättest wieder heiraten sollen, dann hättest du jetzt eine Frau, die dir bei solchen Sachen unter die Arme greifen würde.«

Er lachte laut auf. »Ernsthaft? Das ist deine Begründung dafür, warum ich wieder heiraten soll? Du hast die Frauenbewegung gerade fünfzig Jahre zurückversetzt.«

»Jeder braucht einen Partner. Mehr sage ich gar nicht. Du warst mit Emily so glücklich.«

»Bis ich es nicht mehr war.«

»Finn …«

»Du bist immer noch sauer, weil ich die Letzte, mit der du mich verkuppeln wolltest, nicht mochte.«

»Angie Latella war perfekt für dich.«

Als er sich an das schmerzhaft unbehagliche Date erinnerte, das seine Schwester arrangiert hatte, schauderte ihn noch jetzt. »Ich verstehe nicht, warum du und Shannon Rose – und Mom, wo wir schon dabei sind – euch in den Kopf gesetzt habt, mich wieder zu verheiraten. Weil es das letzte Mal für mich so toll gelaufen ist?«

Die Frauen in seiner Familie waren wie besessen von seinem Liebesleben. Sie waren überzeugt, dass sein Leben ohne die wahre Liebe nicht komplett wäre. Er sollte endlich sesshaft werden und eine Familie gründen, versuchten sie ihm ständig einzureden. Er hatte keine Angst, darüber zu reden. Er hatte Angst, weil er fürchtete, sie könnten recht haben.

Er wollte die Liebe, die auch seine Schwestern gefunden hatten. Er wollte Kinder. Auszuprobieren, ob er beim zweiten Mal mehr Glück hätte, danach hatte er allerdings kein Verlangen. Mittlerweile wusste er nicht einmal mehr, wie Liebe geschah und wie sie sich anfühlte.

»Es ist drei Jahre her. Du bist bereit. Und Angie …«

»Sie kam eine halbe Stunde zu spät und hatte eine nervtötende Lache.«

»Das war die pure Verlegenheit, weil sie weder große Brüste hat noch Extremsportlerin ist.«

»Komm schon. So seicht bin ich nun auch nicht.« Das hoffte er zumindest. Seine Schwester liebte ihn, aber wenn sie versuchte, ihn herumzukommandieren, leistete er immer Widerstand.

»Was ist mit Carla? Ich meine, sie hat große Brüste und ist eine Weltklasse-Mountainbikerin.«

»Vaterprobleme. Und du warst es doch, die mir gesagt hat, dass eine Frau mit Vaterproblemen eine Katastrophe ist, die nur darauf wartet, über mich hereinzubrechen. Außerdem lebe ich in Übersee, weißt du noch? Ich habe kein Interesse an einer Fernbeziehung.«

»Das ist nur vorübergehend. Du wirst bald wieder in die Staaten zurückkehren.«

Nein, jetzt war nicht der richtige Zeitpunkt, um ihr zu sagen, dass seine Gastprofessur in Aix-en-Provence verlängert worden war, beschloss Finn. »Kann eines deiner Kinder meine Sachen aus der Reinigung holen? Es ist die an der Annapolis Road.«

»Ich bitte Rory, sie auf dem Weg von der Arbeit nach Hause abzuholen. Sie kommt direkt daran vorbei.«

»Danke. Sag ihr, dass ich eine gute Flasche Wein dafür springen lasse.«

»Du wirst deine Nichte noch in einen Weinliebhaber wie dich verwandeln. Sag mal, wann musst du noch mal zurück?«, fragte Margret Ann.

»Samstag in einer Woche. Das Sommersemester fängt am Montag an.«

»Den Sommer über in der Provence unterrichten. Du Glücklicher.«

»Ja, ich lebe meinen Traum«, sagte er mit einem Hauch Ironie. Er hatte einst geglaubt, er könnte das Glück finden, das seine Mutter und seine Schwestern gefunden hatten. Dazu müsste er sich aber einer neuen Beziehung öffnen, und er war nicht sicher, ob er dazu bereit war. Unverbindlicher Sex und keine Verpflichtungen machten das Leben leichter. Auch leerer, ja, aber leichter.

»Was unterrichtest du für Themen?«, erkundigte sich seine Schwester.

»Einen Fortgeschrittenenkurs in historischer Recherche – und ja, das ist super und überhaupt nicht langweilig.«

»Und dabei arbeitest du an deinem neuen Buch?«

»Immer.« Er forschte für ein Werk über die Widerstandskämpfer im Zweiten Weltkrieg. Und er suchte immer nach schon lange vermissten Soldaten, inspizierte Absturzstellen und Schlachtfelder. Er wollte Familien helfen, die sich nach einem Abschluss sehnten.

Sie seufzte. »So ein schweres Leben.«

»Du solltest mich mal besuchen kommen, um zu sehen, wie schwer es wirklich ist.«

»Klar. Ich schleppe meine drei widerwilligen Teenager und den arbeitssüchtigen Ehemann mit. Ich bin sicher, dass deine Archivistenfreundin – wie heißt sie noch mal?«

»Vivi. Und sie ist nicht meine Freundin. Hey, da kommt eine Mautstelle«, erklärte Finn, weil er der Unterhaltung mit einem Mal müde war. »Ich muss auflegen. Ich rufe dich wegen der Bilder an, sobald es etwas zu berichten gibt.« Er unterbrach die Verbindung und fuhr an der nicht existierenden Mautstelle vorbei.

Die Brücke führte ihn in eine ganz neue Welt. Während er seine Gedanken wieder auf Camille Adams konzentrierte, lenkte er den Wagen über die tränenförmige Halbinsel. Er war noch nie hier gewesen, obwohl er so viel Zeit seines Lebens in und um Annapolis verbracht hatte. Finn war auf die U. S. Naval Academy gegangen, hatte nach fünf Jahren im Dienst seinen Doktortitel gemacht und war dann Professor geworden. Doch diese Gegend war ihm immer ein Rätsel geblieben.

Die abgelegenen Tiefebenen zogen sich über einen vom Wasser isolierten Ort, und es schien hier ganz anders zu sein, als in den hochpreisigen Vorstädten, die sich an die westliche Seite des Chesapeake klammerten. Die Straßen und die Namen der Dörfer spiegelten das vielfältige koloniale Erbe der Region wider – indianische Ureinwohner, Amerikaner, Holländer und Engländer: Choptank, Accomack, Swanniken, Claverack, Newcastle, Sussex.

Eine Reihe von gewundenen, immer enger werdenden Straßen führte ihn an Gerichtsgebäuden, Fischerdörfern und langen Marschen vorbei, die vor Seevögeln nur so wimmelten. Schließlich überquerte er eine schmale Landzunge, die das Meer und die Bucht voneinander trennte, und erreichte die Gemeinde Bethany Bay.

Das Kolonialstädtchen mit den bunt gestrichenen Häusern und altmodischen Gebäuden wirkte wie ein Seeort, dessen Landschaft und Gebäude Wind und Wetter trotzten. Beinahe in jedem Vorgarten stand ein Boot, ein Stapel Krebstöpfe, hing ein Fischernetz zum Trocknen oder Reparieren. Die Hauptstraße wurde von charmanten Läden und Cafés gesäumt. Er kam an dem Easterly Canal vorbei und an einem Hafen voller Vergnügungsboote und einer Fischerflotte. Dann folgte er drei Meilen der Strandstraße, die sich an einem Abgrund am Atlantik entlangzog.

Wäre er nicht so genervt gewesen, weil er den ganzen Weg hier hinausfahren musste, hätte er den goldfarbenen Sand und die heranrollenden Wellen, die glatte Weite des Strandes und die auf ihm herumstolzierenden Schnepfen durchaus gewürdigt. Ein paar Surfer waren draußen und dümpelten am Horizont auf dem Wasser, um auf die nächste Welle zu warten. Ein einsamer Kitesurfer schoss unter dem bunten Segel seines Kites über die flache Brandung. Ein hoch aufragender roter Leuchtturm markierte das Ende des Strandes wie ein Ausrufezeichen.

Er war nicht in der Stimmung, den Kleinstadtcharme dieses abgelegenen Fleckens zu genießen. Er hatte andere Dinge im Kopf. Nachdem er noch einmal die Adresse auf seinem Handy nachgeschaut hatte, hielt er nach kurzer Fahrt ungefähr einen Block vom Leuchtturm entfernt vor einem Holzhäuschen. Das gemütlich wirkende graue Haus mit weißen Zierleisten um die Butzenscheiben hatte eine vordere und eine hintere Veranda und am einen Ende des Daches einen Schornstein. Ein weißer Lattenzaun umgrenzte das Grundstück, das Haus war von Kletterrosen umgeben und auf einem hohen Pfahl stand ein Vogelhäuschen.

Er stieg aus dem Wagen, trat durch die Pforte und stieß sich prompt den großen Zeh an einem flachen Stein, in den die Worte J. A. Für immer in meinem Herzen eingraviert waren. Er umfasste seinen Fuß und fluchte vor sich hin. Nichts drückte einen verdammt schlechten Tag besser aus als ein angestoßener Zeh.

Er nahm sich einen Moment, um sich zu sammeln, bevor er sich dem Haus näherte. Unter dem Messingbriefkasten hing ein Logo, das zu dem auf der Webseite passte – eine Zeichnung von einer alten Kamera mit dem Namen ihrer Firma darauf: Adams Photographic Service.

In der Einfahrt stand kein Auto. Vielleicht war es in der Garage, einem älteren Gebäude mit einer Schiebetür auf Eisenrollen. Er ging zur Haustür und klopfte energisch. Die Luft roch nach Meer und blühenden Rosen und war erfüllt vom Rauschen der Wellen und dem Kreischen der Möwen. Auf der Fußmatte standen zwei Paar Gartenschuhe.

Er klingelte. Klopfte noch einmal. Rief zum bestimmt vierten Mal die Handynummer an, ohne dass jemand ranging. Als er sich gegen die Tür lehnte, glaubte er, aus dem Inneren des Hauses ein Klingeln zu hören.

»Tun Sie mir das nicht an«, sprach er auf den Anrufbeantworter. »Hier ist Finn – Malcom Finnemore. Rufen Sie mich an, sobald Sie diese Nachricht hören.«

Er strich sich mit der Hand durch die Haare, als würde ihn das davon abhalten, gleich in die Luft zu gehen. Vielleicht fand er einen Nachbarn, der wusste, wie man sie erreichen konnte.

Verdammt.

Als sie auf die Strandstraße zu ihrem Haus einbog, war Camille erschöpft, und ihre Nerven lagen nach der Aufregung in der Notaufnahme blank. Julie starrte mit ausdrucksloser Miene geradeaus.

»Mom«, sagte sie dann. »Du kannst aufhören, mich ständig aus dem Augenwinkel abzuchecken. Sie haben gesagt, dass mit mir alles in Ordnung ist.«

»Stimmt, aber das hält mich nicht davon ab, mir Sorgen zu machen. Du hast eine Prellung. Das hattest du noch nie.«

»Das ist nur ein schicker Name für eine Beule am Kopf. Mein Gott.« Julie zeigte aufs Haus. »Wer ist der Kerl?«

»Welcher Kerl? Oh.« Camille fuhr in die Einfahrt und schaltete den Motor aus. Der Kerl, auf den Julie sich bezogen hatte, tigerte mit dem Handy am Ohr auf ihrer Veranda auf und ab. Er war groß, hatte einen Pferdeschwanz und trug eine Pilotensonnenbrille. Seine verlebten Shorts und das dunkle T-Shirt betonten einen gebräunten sehnigen Körper. War das der Kurier, den Professor Finnemore geschickt hatte?

Sie stieg aus und schlug die Autotür hinter sich zu. Er drehte sich zu ihr um und nahm die Sonnenbrille ab. Und dann passierte etwas völlig Unerwartetes – ihr Herz schlug plötzlich ein paar Takte schneller, und sie war für einen Augenblick ganz verwirrt. Der Mann war ein vollkommener Fremder. Doch sie konnte den Blick nicht von ihm abwenden. Da war etwas an seiner Haltung und der Art, wie er dastand. Er ist nur ein gut aussehender Mann, dachte sie. Ein Fremder auf ihrer Veranda. An seinen Schläfen schimmerten ein paar blonde Haare und rahmten wasserblaue Augen und ein Gesicht ein, das in eine Marvel-Comic-Verfilmung gehörte – er sah toll aus.

Hallo, Mister Kurierfahrer.

Als sie den Weg hinaufkam, verengte er die Augen zu einem feindseligen Blinzeln. Ganz eindeutig hatte er nicht den gleichen Funken der Anziehung verspürt.

»Kann ich Ihnen helfen?«, fragte sie und betrat die Veranda.

Er steckte sein Handy weg. »Camille Adams?«

»Das bin ich.«

»Ich bin Finn.« Er zögerte. Seine Augen wirkten jetzt kalt und hart. »Malcom Finnemore.«

Wow. Sie brauchte eine Sekunde, um sich zu sammeln. So hatte sie sich den Geschichtsprofessor nicht vorgestellt. »Oh, äh, Professor Finnemore.«

»Nennen Sie mich Finn.«

Sofort wusste sie den Grund für seine Anwesenheit und warum er so gereizt aussah. »Ich habe den Kurier verpasst«, stotterte sie. »Es gab einen persönlichen Notfall und …«

»Und da hätten Sie nicht anrufen oder eine Nachricht schicken können?«

Julie kam die Stufen hinauf und stellte sich mit mürrischer Miene neben Camille. »Hey«, murmelte sie.

»Meine Tochter Julie.« Camilles Gesicht färbte sich knallrot. »Julie, das ist Professor Finnemore.«

»Es freut mich, Sie kennenzulernen.« Julie wirkte alles andere als erfreut. »Entschuldigen Sie mich bitte.« Sie zwängte sich an ihnen vorbei, gab den Code für das Türschloss ein und ging ins Haus.

»Mein persönlicher Notfall«, erklärte Camille. Ihr Magen zog sich unangenehm zusammen. Sie hatte einiges zu erklären. »Bitte kommen Sie doch rein.«

Er musterte sie von ihren ungekämmten Haaren bis zu ihren nackten Füßen – ein fleckiges Hemd, abgeschnittene Jeans, Flip-Flops. Auf einem Knöchel hatte sie einen Fleck von der Entwicklerflüssigkeit. Sie hielt die Tür auf und fühlte sich so unsicher wie selten. Nicht nur, weil sie seinen Film ruiniert hatte, sondern auch, weil sie vollkommen unvorbereitet war. In ihren alten Klamotten, die sie immer in der Dunkelkammer trug, und mit den unordentlich zusammengebundenen Haaren hätte sie normalerweise keinen Kunden empfangen. Sie war weder geschminkt, noch hatte sie morgens geduscht.

Er nickte und kam ihr sehr nahe, als er durch die Tür trat. Guter Gott, dachte sie, er riecht sogar fantastisch. Nach Meeresluft und frisch gewaschener Wäsche. Und er strahlte diese lockere Eleganz aus, die sie von den reichen Touristen und dem Jetset aus D. C. kannte, die hierherkamen, um den Strand und das Meer zu genießen. Sie fuhren mit ihren fremden Autos über die Halbinsel, brachten ihre Freunde aus der Stadt zu Segeltörns und Dinners am Strand mit oder cruisten mit den Fischern und deren Skipjackbooten über das Meer, um Austern zu fischen.

Camille kannte diesen Typ – arrogant, anspruchsvoll und ein wenig herablassend. Wahrscheinlich war er einer von ihnen, vermutete sie.

Ihr Haus war auch nicht auf Besuch eingerichtet. Vor allem nicht für einen Kunden, dessen Film sie ruiniert hatte.

Alles war noch genau so, wie sie es verlassen hatte, als das Telefon klingelte. Ihr morgendliches Chaos herrschte überall – die Post vom Vortag lag herum, Bücher aus der Bücherei, Handtücher, die noch zusammengelegt werden mussten, an einem Türknauf hing ihr Bikini zum Trocknen, in einer Ecke lagen sandverkrustete Flip-Flops, das Geschirr wartete darauf, in die Maschine geladen zu werden. Ihre schäbigen Kaffeebecher standen verlassen auf dem Tresen neben ihrem Handy, dessen Display mehrere verpasste Anrufe zeigte.

»Äh … kann ich Ihnen etwas zu trinken anbieten?«, fragte sie. Wie lahm. In Gegenwart von gut aussehenden Männern brachte sie die Zähne kaum auseinander. Was dumm war. Sie mochte gut aussehende Männer nicht einmal. Vermutlich, weil sie sich mit ihnen unbehaglich fühlte. Vor allem, wenn sie kurz davor stand, schlechte Nachrichten zu übermitteln.

»Danke, aber ich bin in Eile. Ich würde gerne wissen, wie der Film geworden ist.«

Natürlich war er deswegen hergekommen.

Camille hängte die Schlüssel an den Haken bei der Tür. Sie hörte Julie oben in ihrem Zimmer. Die Dielenbretter knarrten. Julie verbrachte neuerdings so viel Zeit allein – beziehungsweise allein mit ihrem Handy und ihrem Laptop. Als Strafe für ihre gefälschte Unterschrift würde sie Julies Handy- und Laptopnutzung stark einschränken, nahm Camille sich vor.

»Es tut mir leid. Ich fühle mich schrecklich, weil Sie den ganzen Weg hierher fahren mussten.«

»Der Kurier sagte, dass zur vereinbarten Zeit niemand hier gewesen wäre.«

»Ich bin weggerufen worden.« Sie fühlte sich immer schlechter. »Der Film ist ruiniert. Und es tut mir leid, dass ich mein Handy nicht dabei hatte und mich nicht bei Ihnen gemeldet habe.«

Er wurde sehr ruhig. Sein Gesicht war wie versteinert, wie eine umwerfend schöne Skulptur. »Sie meinen, der Film war nicht mehr zu retten. Hat er zu lange in der Dose gelegen?«

Ihr Mund wurde trocken. Er bot ihr einen Ausweg, und für den Bruchteil einer Sekunde überlegte sie, ihn einfach anzulügen. Es wäre so leicht – sie könnte erklären, dass der Film durch die Zeit und die Umwelteinflüsse beschädigt worden war und nicht entwickelt werden konnte. Aber das war eine Lüge. Sie hatte schon wesentlich ältere Filme als den hier gerettet. Camille war keine Lügnerin. Selbst dann nicht, wenn eine Lüge bequemer war.

Sie entschuldigte sich, ging den Flur hinunter in ihr Arbeitszimmer und fand die Filmpatrone, die sie beim Anruf des Krankenhauses hatte fallen lassen. Der Film war jetzt ein dunkles Band mit nichts als der Lochung an der Seite. Sie hielt inne und schaute den Flur hinunter, betrachtete ihren wütenden Besucher. Wie er so im Profil dastand und aus dem Fenster auf den Strand in der Ferne schaute, spürte sie wieder diese ungeheure Anziehungskraft. Es war ein so einzigartiges Gefühl, das sie völlig verwirrte. Das ist nichts, sagte sie sich. Nichts als eine momentane Begierde. Ein Mann, der so aussah, konnte selbst die inspirieren, deren Herzen unwiederbringlich gebrochen waren.

Zu schade, dass sie ihm den Tag versaut hatte. Mit grimmiger Unabwendbarkeit brachte sie die lange schwarze Filmrolle in die Küche.

»Ich habe es vermasselt.« Camille hasste es, das zugeben zu müssen, während sie ihm das dunkle Band zeigte. »Das war alleine meine Schuld.«

»Ernsthaft?« In seinem Kiefer zuckte ein Muskel, als er den Film betrachtete. »Das verstehe ich nicht. War der Film …?«

»Ich hätte ihn vermutlich retten können. Aber ich habe aus Versehen in einem wichtigen Moment Licht in die Dunkelkammer gelassen, und das hat den Film ruiniert.« Sie hätte diesem Fremden erklären können, was in den letzten Stunden passiert war, doch ihr war nicht danach.

»Verdammt. Verdammt, verdammt, verdammt.«

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