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Weihnachten - nur du und ich

Als Buch hier erhältlich:

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Die erste Regel des Fake-Datings? Verliebe dich nicht in seine Schwester ...

Das perfekte Weihnachtsbuch: Happiest Season meets Tatsächlich... Liebe

Haf hatte im vergangenen Jahr einfach Pech: So steht sie nun frisch getrennt vor der Aussicht, die Weihnachtsfeiertage allein in ihrer viel zu kleinen Wohnung zu verbringen. Bis sie auf einer Party Christopher trifft. Nach ein paar Gläschen Sekt verwechselt sie freundschaftliche Nähe mit Anziehung und küsst ihn unter einem Mistelzweig – direkt vor den Augen seiner Exfreundin. Diese verbreitet sogleich das Gerücht, dass sie ein glückliches Paar seien. Was bleibt Haf also anderes übrig, als Christopher den Gefallen zu tun und ihn über Weihnachten zu seiner Familie zu begleiten.
Unverhofft findet sich Haf in einem Herrenhaus in Südengland wieder und es kommt, wie es kommen muss: Sie verliebt sich Hals über Kopf. Nur leider nicht in Christopher, denn da ist noch Kit, seine mysteriöse und unnahbare Schwester ...

Eine warmherzige Geschichte voller queerer Lebensfreude und Akzeptanz, über die Macht der Freundschaft und den Mut, zu sich selbst zu stehen, humorvoll und erfrischend, vor der romantischen Kulisse Südenglands.


  • Erscheinungstag: 26.09.2023
  • Seitenanzahl: 360
  • ISBN/Artikelnummer: 9783749906048
  • E-Book Format: ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Widmung

Für Tim, die Liebe meines Lebens

Kapitel 1

Für Haf Hughes ist in aufsteigender Reihenfolge das Beste an Weihnachten: all-you-can-eat-Mince-Pies, Pullover mit Weihnachtsmotiven, die Tatsache, dass man in dieser Zeit das Recht hat, permanent zu voll und leicht angetrunken zu sein, und das Wichtigste: dass man keine funktionierende Person zu sein braucht.

Weshalb sie, als sie mit ihren Eltern telefoniert, über die Worte stolpert: »Wie meint ihr das – ihr fahrt über Weihnachten in den Urlaub?«

Eigentlich hatte sie ihre Eltern gar nicht anrufen wollen. Die letzten Tage bei der Arbeit waren so hektisch gewesen, dass sie nie das Gefühl hatte, richtig wach zu sein. Sie war erst um die Mittagszeit endlich aus dem Bett gekrochen, was immer öfter passierte, hatte sich auf die Couch gelümmelt und zum zehnten Mal die Gilmore Girls angeschaut. Ihr Zeitgefühl war nur zurückgekehrt, als Netflix sie freundlich fragte, ob sie immer noch schaute. Zweimal. Erst als die Staffel sich der regulären Weihnachtsfolge näherte, hatte Haf daran gedacht, dass sie vielleicht doch ein winziges bisschen Lebensverwaltung unterbringen und ihre Eltern fragen könnte, welchen Zug sie für die Fahrt nach Hause nächste Woche am besten buchen sollte.

Aber in ihrem Dämmerzustand betätigte sie aus Versehen den Knopf für einen Videocall, und ihre Mum war in Rekordzeit am Apparat. Was eigentlich absolut typisch ist, weil Haf gerade nicht die beste Version ihrer selbst verkörpert, und sie ist sich ziemlich sicher, dass ihre Mum erschrocken zurückgezuckt ist, als ihre Tochter mit tiefdunklen Tränensäcken, fahler Haut und einem Hoodie, der ihre ungewaschenen Haare so gut wie gar nicht verbirgt, auf dem Bildschirm erschien.

»Erinnerst du dich nicht, Darling? Ich bin sicher, dass ich es dir gesagt habe.«

Himmel, ein funktionierendes Gedächtnis. Haf kann sich nicht erinnern, dass sie jemals eines hatte.

»Ich weiß nicht«, murmelt sie.

Ihre Mum sonnt sich im goldenen Licht des sogenannten Schlupfwinkels – ein Zimmer, das früher Hafs Schlafzimmer war, jetzt aber ein zugegebenermaßen sehr komfortables Sofabett, einen kleinen Fernseher und jede Menge Strickzubehör beherbergt. Im Gegensatz dazu sitzt Haf praktisch im Dunkeln, mit halbherzig zurückgezogenen Vorhängen im Wohnzimmer, wo nur der winterliche Glanz der Gilmore Girls für etwas Licht sorgt.

»Wir dachten einfach, es wäre eine schöne Abwechslung. Die Frau im Reisebüro hier im Dorf – erinnerst du dich an Emma? – hat ein echt nettes Hotel auf Madeira gefunden, und wir werden Weihnachten am Strand verbringen. An Heiligabend fliegen wir hin. Alles inklusive, zwei Wochen, nur wir zwei und die Sonne. Wir freuen uns wie verrückt!«

»Nur … ihr zwei?«

»Ja, nur wir zwei, Schätzchen. Weihnachten zu zweit hatten wir seit deiner Geburt nicht mehr. Du erinnerst dich doch bestimmt daran, dass wir darüber gesprochen haben, oder nicht?«

In Gedanken geht Haf die letzten Monate durch – ein Nebel von Anstrengungen bei der Arbeit, immer Überstunden, dazu gelegentliche Gespräche mit ihren Eltern, bei denen sie aber nur halb bei der Sache war, weil sie andere wichtige Lebensprozesse zu erledigen hatte – beispielsweise zu essen oder Rechnungen zu bezahlen oder, nur ein einziges Mal, auf der Toilette zu sitzen.

Leider kommt keine Erinnerung zum Vorschein.

»Nicht wirklich, Mum«, gesteht sie. »Hier war alles ein bisschen hektisch.«

»Na ja, das kann man ja nicht anders erwarten mit deiner vielen Arbeit und allem, aber deshalb haben wir auch nicht damit gerechnet, dass du nach Hause kommst. Du warst so beschäftigt, und wir sind natürlich sehr stolz auf dich. Aber wir haben es dir wirklich erzählt. Stimmt’s, David?«

Jetzt erscheint das Gesicht ihres Vaters zur Hälfte auf dem Bildschirm. Ganz egal, wie viele Technikdemonstrationen Haf in der Vergangenheit vorgenommen hat, ihre Eltern haben es nie ganz geschafft, die Kamera so zu positionieren, dass man sie beide sehen kann.

»Ja, klar, Mari«, antwortet er und wendet sich dann an Haf: »Damals im Oktober, als wir dich angerufen haben und du wissen wolltest, was eine Pension ist.«

Mist. Anscheinend hat sie es vergessen oder einfach nicht richtig zugehört. Eigentlich schwer vorstellbar, dass man so etwas Wichtiges wie Weihnachtspläne vergisst, aber Haf ist in den letzten Monaten alles Mögliche entfallen.

Ihre Eltern oder zumindest die Teile ihrer Gesichter, die sie sehen kann, wirken ein bisschen besorgt, also wählt sie die Option, die ihr unter den Umständen am besten erscheint.

»Ach ja! Natürlich«, sagt sie mit einem unechten Lachen. »Wie dumm von mir. Mein Hirn ist heute nicht richtig angeschlossen.«

»Es ist müde vom vielen Denken.« Ihre Mum strahlt übers ganze Gesicht.

»Wir sind wirklich stolz, dass du in den letzten Monaten so hart gearbeitet hast.«

Sie haben ja keine Ahnung.

»Danke.«

»Ich hoffe, du machst auch hin und wieder was Schönes?«, erkundigt sich ihr Dad.

Nicht so schön wie zwei Wochen All-inclusive-Urlaub, denkt Haf bitter.

»York ist zu Weihnachten auch sehr schön, oder nicht?«, sagt ihre Mum – eher eine Feststellung als eine Frage.

»Ja, klar. Viel Schnee. Viele Leute, die ihre großen Weihnachts-Shopping-Trips machen. In allen Pubs gibt’s Glühwein zum Mitnehmen …«

Ein Anflug von Panik steigt in ihr auf, doch Haf ignoriert sie und versucht weiter, so zu tun, als wäre sie keine komplette Versagerin.

Doch diese Panik ist zu einer beinahe ständigen Begleiterin geworden, was bestimmt nicht normal und auch nicht gesund ist, obwohl es leider Gottes zum Erwachsenenleben dazuzugehören scheint … jedenfalls, soweit sie das beurteilen kann.

»Feierst du Weihnachten nicht mit Ambrose?«

»Oh, nein. Ambrose fährt nach Hause zu deren Eltern. Dey ist über Weihnachten nicht hier«, sagt sie in bemüht lockerem, heiterem Ton, als freue sie sich sehr für Ambrose, dass dey Weihnachten mit deren Familie verbringt und nicht mit ihr.

Also, natürlich freut sie sich für Ambrose. Sie wünschte nur, sie hätte auch einen Plan B, ein alternatives Weihnachtsarrangement für einen Fall wie diesen.

Aber sie hat rein gar nichts.

Und es ist schon der dreizehnte Dezember, also bleibt ihr kaum noch Zeit; alle, die keine kompletten Versager sind, haben schon vor Wochen Pläne gemacht.

Der Abgrund eines einsamen Weihnachtsfests klafft vor ihr auf.

»Bist du traurig? O je, David, sie ist traurig.«

Haf verflucht sich innerlich. Ihre Eltern haben einen Radar für negative Emotionen und sind wie Bluthunde, die speziell darauf trainiert sind, Lügen aufzuspüren. Und es hilft nicht, dass Hafs Gesicht jeden Gedanken und jedes Gefühl, die sie je hatte, auf der Stelle verrät.

»Ich hab dir doch gesagt, wir hätten sie noch mal fragen sollen, Mari«, murmelt ihr Dad, dessen Wangen unter seinem Bart rot angelaufen sind.

»Haben wir doch!«, faucht Hafs Mutter und dreht das Handy so, dass Haf nur noch die Decke sehen kann, während ihre Mum ihn ausschimpft. Nach einem Moment erscheint sie wieder und fragt lautstark: »Bist du traurig, Schatz?« Haf ist sich ziemlich sicher, dass sie tröstlich klingen will, nicht wie die Stimme Gottes, die ohrenbetäubend laut durchs Zimmer schallt.

»Ich …«

»Datest du gerade jemanden? Vielleicht könnt ihr ja zusammen was Schönes machen?«

»Ich …«, stammelt Haf, entsetzt, dass dieses Gespräch irgendwie noch schlimmer geworden ist.

Unter diesen Umständen ist es wohl das Beste, wenn auch zugegebenermaßen nicht die erwachsenste Lösung, so schnell wie möglich aufzulegen. Wenn ihre Eltern erfahren, dass sie nichts Besseres zu tun hat, werden sie sich nur Sorgen machen. Sie wird sie später noch mal anrufen, wenn sie weiß, was zur Hölle sie über Weihnachten machen wird, oder zumindest eine bessere Coverstory hat.

Sie mag zwar verzweifelt sein, aber sie ist noch nicht ganz so weit, ihre Eltern anzuflehen, sie zu ihrem romantischen Weihnachtsurlaub mitzunehmen.

»Nein! Nein, mir geht’s gut!«, ruft sie und setzt ein strahlendes Lächeln auf. »Ich habe schon andere Pläne. Ich muss mir nur noch überlegen, was mir am besten gefällt, ha ha. Ambrose und ich wollen auch gleich zu einer Party, also muss ich gleich gehen. Oh, da ist dey ja schon! Okay, ich muss los! Ich ruf euch ganz bald an! Hab euch lieb, bye!«

Als sie auflegt, unterbricht sie ihre Mum beim Verabschieden.

Nur für den Fall, dass ihre Eltern ihr im Anschluss an das Telefonat noch irgendwelche nett gemeinten Nachrichten schicken, legt Haf ihr Handy mit dem Display nach unten auf den Couchtisch und lässt die Gilmore Girls weiterlaufen.

»Schlechte Neuigkeiten?«

Haf springt erschrocken auf, als Ambrose im Wohnzimmer erscheint, eine Tuchmaske im Gesicht. »O Gott, warn mich bitte, bevor du damit reinkommst. Ich dachte, du wärst ein Geist.«

»Aber ein sexy Geist, oder? Einer, von dem du gern heimgesucht würdest.« Ambrose lässt sich auf die Couch sinken und zieht eine perfekt geformte Augenbraue hoch. »Hast du nicht gerade deiner Mum gesagt, dass ich hier bin?«

»Ähm, ja. Aber das war eine Lüge.«

»Normalerweise lügst du deine Eltern nicht an. Darin bist du scheiße«, sagt dey, nimmt die Fernbedienung und pausiert die Gilmore Girls.

»Sie fahren über Weihnachten in den Urlaub«, stöhnt Haf.

»Oh, cool … oder nicht cool? Haben sie dir nichts davon gesagt?«

»Anscheinend schon, aber ich hab es völlig vergessen«, grummelt sie und zieht sich die Decke über den Kopf.

»Uh-oh.«

»Uh-oh, ganz genau. Natürlich endet dieses beschissene Jahr damit, dass ich Weihnachten allein verbringe. Ich schwöre, Baby Jesus hat’s auf mich abgesehen.«

»Angesichts dessen, dass du eine Heidin bist, denke ich eher, das interessiert ihn einen Scheiß«, sagt dey, schlingt einen Arm um die Rückenlehne der Couch und streichelt Hafs mit der Kapuze bedeckten Kopf.

Es war wirklich nicht ihr Jahr.

Zuerst die Trennung. Sie und Freddie waren seit ihrer Studienzeit in Liverpool zusammen gewesen und nach ihrem Abschluss in ein kleines Haus in der Vorstadt gezogen, wo die richtigen Erwachsenen wohnten, weit weg von den mit großen Gebäuden gesäumten Straßen, in denen nur Studierende hausten. Gemeinsam hatten sie sich ein Zuhause geschaffen, und so blieb es eine Zeit lang. Doch dann war Haf für einen Job, der ihren Qualifikationen entsprach, weggezogen, und Freddie hatte beschlossen, dass er doch lieber mit einer Frau zusammen wäre, die ihr Leben im Griff hatte – wie Jennifer, die er zu daten anfing, sobald Haf in den Zug gestiegen war.

Zweitens war der Job, der auf dem Papier so toll geklungen hatte, längst nicht so angenehm und spaßig, wie sie gehofft hatte. Ein Communications-Job für eine Wildlife-Charity mit festen Arbeitszeiten, einem besseren Gehalt und Weihnachtsurlaub war eine schöne Abwechslung von der Arbeit im Einzelhandel, auch wenn ihr die Routine immer gefallen hatte. Obwohl ja Gott und die Welt umweltbewusst leben wollten, gab es so gut wie keine Jobs in diesem Bereich, und als sie die Stelle online entdeckte, zögerte sie keine Sekunde, sich zu bewerben. Und sie bekam den Job, weil sie mit Twitter umgehen konnte und eine ziemlich gute Texterin war. Allerdings musste sie rasch feststellen, dass Wohltätigkeitsorganisationen zwar eine gute Sache, aber eben auch nur Arbeitsplätze sind, und schlechte Jobs und schlechte Manager, die auf Micromanagement abfahren, gibt es überall. Ihr eigener grauenhafter Micromanager bestand darauf, dass sie ihre Arbeitszeit auf die Minute genau nachwies, ohne dass sie je herausfand, wofür genau man sie eigentlich angestellt hatte, was bedeutete, dass ihr immer mehr Verantwortlichkeiten aufgebürdet wurden, weil der Geschäftsführer der Charity verlangte, dass sie auf jeder Plattform präsent waren. Zu guter Letzt wurde von ihr verlangt, »auch mal so ein Click-Clock-Video« zu machen.

Und jetzt, da ein Unglück selten allein kommt, steht ihr ein einsames Weihnachten bevor.

»Das einzig Gute, was mir dieses Jahr passiert ist, bist du«, jammert Haf.

»Natürlich«, erwidert Ambrose mit einem wölfischen Grinsen. »Ich bin ja auch exzellent.«

Durch pures Glück hatten sie sich über Twitter kennengelernt, als Haf über ihren bevorstehenden Umzug nach York gepostet hatte und Ambrose jemanden suchte, der sich dieses wunderschöne Haus mit zwei Schlafzimmern und Terrasse mit demm teilte. Es war eins dieser perfekten Cottages, um die einen jeder beneidet – nahe genug am Fluss, um ästhetisch ansprechend zu sein, ohne bei Hochwasser überflutet zu werden, und nur ein paar Straßen von den guten Brunchlokalen entfernt. Nach nur einem Abend, an dem sie Nachrichten über ihr Lieblingsessen und ihre Restaurantwunschliste ausgetauscht hatten, entschied Ambrose, dass Haf einziehen konnte. Haf ist sich ziemlich sicher, dass ihre Freundschaft mit Ambrose die erfolgreichste Langzeitbeziehung ist, die sie je hatte. Sie haben den Mietvertrag sogar noch um ein Jahr verlängert. Ein Hoch auf queere Leute, die ihre gesamte Freizeit online verbringen.

Haf zieht an der Kordel ihres Hoodies.

»Hast du die Fahrt nach Hause schon gebucht?«, fragt Ambrose. »Soll ich die Leute vom Kundendienst anrufen und ihnen Angst machen, damit du dein Geld zurückkriegst? Das mache ich sehr gern.«

»Nein, zum Glück nicht.« Die Zugtickets nach Nordwales waren immer deprimierend teuer, ganz egal, wie weit im Voraus sie ihre Fahrt buchte.

»Na, dann kannst du das Geld ja für edles Weihnachtsessen ausgeben. Zumindest haben wir schon alles dekoriert.«

Um die Deko hatten sie sich schon am ersten Dezember gekümmert. Ambrose war strikt gegen Lametta, und Haf wollte überall Lichterketten aufhängen, doch sie hatten einen guten, wenn auch etwas exzentrischen Kompromiss gefunden. Den winzigen, aber erstaunlich echt wirkenden Baum hatten sie mit Ambroses wunderschönen gold-silbernen Weihnachtskugeln und Hafs Sammlung seltsamer Verzierungen geschmückt, darunter auch ihre neueste Errungenschaft: eine glänzend rosafarbene Garnele, die eine Zuckerstange in den Scheren hält. Außerdem hatten sie all ihre Duftkerzen in ihrem – rein dekorativen – Kamin aufgestellt, aber schnell festgestellt, dass es womöglich lebensgefährlich war, sie alle gleichzeitig anzuzünden, damit es wie ein echtes Feuer wirkte. Außerdem wurde ihnen von den vermischten Düften schwummrig. Seitdem beschränkten sie sich auf eine einzige. Heute fiel die Wahl auf Zimtapfel.

»Ich weiß, aber das will ich nicht. Ich will nur mit Essen versorgt werden und an nichts denken müssen … Wahrscheinlich wollten meine Eltern genau das Gleiche.«

Ambrose lächelt sanft, als hätte dey genau das sagen wollen, aber sich zurückgehalten. »Das wird schon.«

»Du hast leicht reden – deine Pläne ändern sich nicht in letzter Minute.«

»Man kann nie wissen. Vielleicht überrascht mich meine Mum und verkündet, dass sie eine Kreuzfahrt macht. Ehrlich gesagt hätte ich nichts dagegen.«

Haf wirft demm einen grimmigen Blick zu, weil Ambroses Mutter so etwas nie tun würde, und das wissen sie beide. Weihnachten bei den Liews ist immer ein großes Familienfest mit Tanten, Onkeln, Cousins und allen Großeltern. Ambrose hat schon versprochen, Haf zu den Mond-Neujahrs-Feierlichkeiten nach Hause mitzunehmen, und so gern sie demm auch fragen würde, ob sie auch an Weihnachten noch Platz für sie haben, schämt sie sich zu sehr. Es ist nicht das Gleiche, wenn man nicht ausdrücklich eingeladen ist, und außerdem musste Ambrose sie schon das ganze Jahr über ertragen; bestimmt braucht dey eine Pause.

»Du benimmst dich wie ein quengeliges Baby.«

»Tja, du bist in meiner Notlage einfach nicht nett genug zu mir«, erwidert Haf und versucht, ihren weinerlichen Ton zu ignorieren.

Ambrose steht auf, kommt ein paar Minuten später mit einer Tasse Tee und der Keksdose zurück und bedeutet Haf, etwas von dem ekelhaft süßen, starken Tee zu trinken. Nachdem sie sich einen großen Schluck genehmigt hat, gesteht sie ein: »Okay, vielleicht benehme ich mich wirklich wie ein quengeliges Baby.«

»Weil du so damit beschäftigt bist, dich wie ein quengeliges Baby zu benehmen, entgeht dir allerdings, dass du jetzt die Chance hast, ein perfektes Weihnachtsfest zu verbringen. Du kannst tun, was du willst, trinken, was du willst, dir all die guten Filme reinziehen. Du kannst es zu deinem perfekten Tag machen – mit einem schönen warmen Bad, einem einfach zubereiteten Weihnachtsessen und all den widerlichen Rosé-Weinen, die du so sehr liebst. Himmlisch.«

Dieser Austausch zeigt, wie verschieden Ambrose und Haf sind. Ambrose ist nicht direkt unsozial, aber Haf ist die einzige Person, mit der dey problemlos länger als ein paar Monate zusammengewohnt hat. In gewisser Hinsicht ist Ambrose eine Katze. Dey wird gern bewundert, mag Gesellschaft aber nur zu deren eigenen Bedingungen und ist auch gern für sich.

Haf hingegen ist ein Welpe. Ein sehr bedürftiger Welpe, der Menschen um sich herum, Aufmerksamkeit und viel Lob braucht.

»Weihnachten allein ist nicht mein Ding«, murmelt sie.

»Hör zu, ich fahre an Heiligabend. Ich werde nur ein paar Tage weg sein, und zwischen den Jahren können wir unser eigenes Ding machen.«

»Das stimmt …«

»Hat die Situation nicht auch was Gutes? Schließlich hast du dich durch das ganze letzte Jahr gehetzt, hast nur versucht, in deinem grauenhaften Job mit deinem Arschloch von Chef irgendwie durchzuhalten, und durch den ganzen Stress sogar vergessen, dass deine Eltern zu Weihnachten wegfahren. Vielleicht wäre es gar nicht schlecht, mal ein bisschen Ruhe in deinem hübschen Hirn zu haben.«

»Das klingt aber wie das genaue Gegenteil von dem, was ich gern machen würde.«

»Was man braucht, ist nicht immer das, was man will. Aber vergessen wir das erst mal. Ich glaube, du brauchst Ablenkung und ein bisschen Spaß, und ich will heute Abend zu einer Party, also gehen wir hin.«

Haf vergräbt sich noch tiefer in ihrem Deckennest. »Ich weiß nicht, ob ich ausgehen will, Ambrose«, jammert sie.

»Wir haben seit Monaten nichts Spaßiges oder Albernes mehr gemacht. Ich musste zusehen, wie aus der fröhlichen, begeisterungsfähigen, spontanen Haf … das hier geworden ist. Du hast dich von Tabellen und Verwaltungskram unterkriegen lassen, und es ist höchste Zeit, zu einer Party zu gehen, Spaß zu haben und die alte Haf rauszulassen, damit sie ein paar alberne Entscheidungen trifft. Gönn dir einen Abend, an dem du dir keine Sorgen um so wichtiges Zeug wie deinen Job machst oder ob du deinen Scheiß geregelt kriegst.«

»Woher weißt du, dass ich nicht schon Pläne habe?«, fragt Haf und bläst trotzig die Backen auf.

Ambrose sagt nichts, deutet nur stumm auf die Gilmore Girls und Hafs zugegebenermaßen etwas schmuddeligen Hoodie und pikt ihr in die Wangen, sodass die Luft entweicht.

»Und weißt du, was das Beste daran ist?«, fährt dey fort, ohne auf ihren Protest zu achten. »Es ist eine Party für Erwachsene, was bedeutet, dass es gute Snacks gibt.«

»Snacks …«, murmelt Haf und wirft Ambrose einen Seitenblick zu.

»Snacks. Gute Snacks. Leckere Snacks für erwachsene Leute aus der Mittelschicht. Partysnacks von Marks & Spencer.«

»Ich hasse es, dass du mich so gut kennst.«

»Nein, tust du nicht, denn sonst hättest du niemanden, der dich uneingeladen zu Partys von Wildfremden mitnimmt, weil es dort das beste Gratisbuffet gibt.«

Haf hat Essen schon immer geliebt, und dank der brillanten, cleveren fettpositiven Babes online fühlt sie sich jetzt wohl genug in ihrem Körper, dass sie das nicht mehr verstecken muss. In ihrer Welt wird Essen nicht als Laster bezeichnet, und man redet auch nicht darüber, dass man Pfunde sofort wieder abzustrampeln hat. Ambrose ist schlank, aber hat ihr nie das Gefühl gegeben, sich für ihren Körper rechtfertigen zu müssen, wenn sie über ihre geteilte Liebe zum Essen reden.

»Wessen Party ist es?«

Ambrose winkt ab. »Keine Ahnung. Irgendjemand aus der Psychologischen Fakultät, glaube ich. Ich wurde von jemand anderem eingeladen, der auch hingeht.«

»Also sind wir Partycrasher um drei Ecken?«

Dey zuckt die Achseln.

Haf ist sich nicht sicher, ob sie das zugeben will, aber vielleicht hatte Ambrose recht. Die letzten Monate waren wirklich beschissen. Mal aus sich rauszugehen und einen der vielen für die Arbeit zu farbenfrohen Lippenstifte auszuprobieren, die sie an besonders deprimierenden Mittwochnachmittagen im Büro online gekauft, aber noch nie benutzt hat, könnte ihr wirklich guttun. Und wenn nicht, kann sie ihre Handtasche einfach mit Pork Pies vollstopfen und ein Taxi nach Hause nehmen. Unter den gegebenen Umständen ist sie sich für diesen Plan B absolut nicht zu fein.

»Also gut. Ich komme mit.«

»Ausgezeichnet. Ein wahres Weihnachtswunder.«

Kapitel 2

Das Beste daran, uneingeladen auf Partys in mittelgroßen Universitätsstädten aufzutauchen, ist die hohe Wahrscheinlichkeit, dass man, wenn überhaupt, nur wenige Leute kennt. Und das bedeutet, man muss kein mustergültiges Verhalten an den Tag legen oder so tun, als wäre man normal. Die meisten Partygäste werden einen sowieso nur als das komische Mädchen in dem flauschigen schwarzen Mantel in Erinnerung behalten. Zumindest ist das Hafs Hoffnung.

Ambrose hat Hafs Garderobe, die dey für äußerst fragwürdig hält, gründlich durchforstet und darauf bestanden, dass sie ein Kleid trägt, das sie im Sale erstanden haben, weil demm zufolge ihre Titten darin fantastisch aussehen würden. Das schwarze Samtkleid mit tiefem V-Ausschnitt ist einer dieser seltenen, einem Mythos gleichkommenden Funde in Übergröße – kein Blumenmuster, keine Rüschen –, deshalb drängte Ambrose sie, es »nur für den Fall des Falles« zu kaufen.

Mit knallrotem Lippenstift und ein bisschen Goldglitzer auf den Wangen fühlt Haf sich nicht nur festlich, sondern auch sexy. Ganz besonders, nachdem sie sich den Lippenstift von den Zähnen gerubbelt hat.

Ja, sie wird Weihnachten alleine verbringen, was sich wie ihr schlimmster Albtraum anfühlt, aber jetzt, in diesem Moment, sieht sie heiß aus und wird hoffentlich eine Menge Alkohol und Gratisessen konsumieren können.

Ambrose sieht in deren scharlachroten, mit Wolken, grünen Schmetterlingen, Sonnen und Drachenschuppen bestickten Blazer so umwerfend aus wie immer. Dazu trägt dey ein schlichtes, aber elegantes weißes Seidenhemd, eine hoch taillierte schwarze Hose und spitze Schuhe. Haf findet, dass dey immer aussieht wie ein Popstar – ein Kompliment, bei dem Ambrose so tut, als fühle dey sich nicht geschmeichelt.

Als sie kurz nach halb neun ankommen, sind die meisten Gäste schon stark angetrunken, fläzen im Wohnzimmer herum und singen Karaoke. Ambrose scheint ein paar Leute zu kennen und winkt ihnen zur Begrüßung zu, aber niemand kommt Haf bekannt vor. Im letzten Jahr hat sie ein paar derer Kollegen und Freunde kennengelernt – alles Leute von der Uni, eine Mischung aus Verwaltungspersonal wie demm, ein paar Akademikern und Doktoranden, die aussehen, als hätten sie seit Wochen kein Sonnenlicht und auch keine anständige Mahlzeit mehr gesehen. Die meisten Leute hier scheinen wohlgenährt zu sein, haben wahrscheinlich einen Babysitter und wissen, wie man Whiskey trinkt, seinen Spaß hat, aber dennoch bis spätestens um elf im Bett ist. Echte Erwachsene eben.

Zwei Typen in Rentierkostümen grölen zu einem Song mit, der wie eine funky Ode an Mrs. Claus klingt.

»Jemand wird heute Abend auf seine Kosten kommen«, meint Ambrose mit einem schelmischen Grinsen, als ein paar Frauen von der Couch aufspringen und sich ihnen für den Refrain anschließen.

Seltsamerweise kommt niemand, um Ambrose zu begrüßen oder Hallo zu sagen.

»Wer hat dich eigentlich zu dieser Party eingeladen?«, fragt Haf, während sie sich durch Gruppen von Leuten in mehr oder weniger festlicher Kleidung schlängeln.

Ambrose hört sie entweder nicht oder ignoriert sie, vermutlich Letzteres, doch Haf lässt es demm dieses eine Mal durchgehen, weil dey sie direkt in die Küche geführt hat, die reichlich mit Essen ausgestattet ist. Ein gigantisches Buffet erstreckt sich über einen langen Tisch und bis über die meisten Küchenschränke.

»Gern geschehen«, sagt dey.

»Es … Es ist wunderschön.« Haf tut, als würde sie sich eine Träne aus dem Augenwinkel wischen, aber ist so überwältigt, dass sie fast wirklich weinen muss.

Wer immer diese Party gibt, ist nicht nur ein Erwachsener, sondern ein Erwachsener, der einen Großteil seines dürftigen Akademikergehalts ausgegeben hat, um die Massen zu ernähren. Ein richtiger Weihnachtsengel.

Es gibt ein ganzes Tablett voll gerösteter Gnocchi auf Cocktailspießen mit sonnengereiften Tomaten, ein bisschen Spinat und einer winzigen Mozzarella-Kugel an beiden Enden. Kleine Auflaufförmchen mit verschiedenen Dips stehen auf dem Tisch verteilt. Neben einer kunstvoll arrangierten Wurstplatte – genau wie sie auf Pinterest gepostet werden – liegen frisch gebackene (oder zumindest aufgewärmte) Brote mit Essiggurken und mehr Käse, als Haf je außerhalb eines Supermarktes gesehen hat. Es gibt nicht nur einen, sondern gleich zwei gebackene, mit Knoblauch und Rosmarin gewürzte Camemberts, an denen Meersalzkristalle glitzern. Kleine, in Senf und Honig gewälzte Würstchen. Unmengen von Mince Pies – nicht nur die Standardversion mit normalem Teig, jemand hat auch welche mit Blätterteig gemacht, die an Eccles Cakes erinnern.

Ambrose leckt sich die Lippen, während demm sich einen Pappteller mit Rentiermuster von dem Stapel nimmt, stellt ihn jedoch abrupt auf den Tisch zurück, als sei demm plötzlich etwas Wichtiges eingefallen.

»Ähm, ich muss schnell mal jemanden suchen«, sagt dey und verschwindet in der Menge, bevor Haf protestieren kann.

Pass dich immer den lokalen Gepflogenheiten an, denkt sie und nimmt sich den Teller, den Ambrose zurückgelassen hat. Die dünne Pappe biegt sich in ihrer Hand. Sie respektiert die Entscheidung der Gastgeber, viel Geld für teures Essen auszugeben, aber bei den Tellern zu sparen, bis sich einer der Gnocchi von dem Cocktailspieß löst, vom Teller rollt und mit einem hörbaren Klatschen auf den hübsch glänzenden Schuhen eines Partygasts landet.

»Ohhh«, stöhnt Haf, sowohl, weil sie die schönen Schuhe versaut hat, als auch, weil sie den Verlust des köstlichen Kartoffelklößchens betrauert.

Da sie sich an die Fünf-Sekunden-Regel hält, will Haf den Gnocchi vom Schuh ihres Retters klauben, wird jedoch von seinen strahlend blauen Augen abgelenkt. Ein Blau, wie man es eigentlich nur auf den Fotos von Instagram-Influencern am Meer sieht, fast zu blau, um real zu sein. Erstaunlich.

Die Farbe fasziniert sie so sehr, dass sie nicht schnell genug reagiert, als der Blauäugige den Gnocchi in den Müll wirft.

»Möge er in Frieden ruhen«, sagt sie, besorgt, dass sie den Fremden zu auffällig anstarrt, als habe er sie hypnotisiert wie die Schlange aus dem Dschungelbuch.

»Wir ehren sein selbstloses Opfer«, antwortet der Mann mit einem Lächeln.

Er ist objektiv, klassisch schön, auf eine Art, die Haf innehalten lässt, obwohl er – jetzt, da sie nicht mehr nur seine Augen sehen kann – eindeutig überhaupt nicht ihr Typ ist. Ambrose meint, sie stehe auf Typen, die »wie Waschbären leben und auf schmuddelige Art heiß sind«, wie Robert Pattinson oder irgendeiner der Typen aus dieser italienischen Band, die vor ein paar Jahren den Eurovision Song Contest gewonnen hat. Die Frauen, die sie attraktiv findet, sind das krasse Gegenteil: schick gekleidet, in Wahrheit ziemlich dorky und jederzeit zu Schandtaten aufgelegt. Auf diesen Mann trifft nichts davon zu, er sieht so adrett aus wie die Hauptperson in einem Kostümdrama.

»Es gibt nichts Schlimmeres als eine verschwendete Kartoffel«, meint Haf.

»Wirklich? Mir fallen da schon ein paar Sachen ein.«

»Oh, natürlich! Aber auf einer fröhlichen Weihnachtsfeier?«

»Ich hab mal gesehen, wie jemand rohes Hähnchenfleisch servieren wollte.«

»Rohes Hähnchen? Ist das dein Ernst?«

»Die Person meinte, es sei halbgar. Und hat es filetiert wie Sashimi.«

»Wow. Ich dachte eher an leicht verstörende Weihnachtspullis mit einem mordlüsternen Schneemann drauf oder so. Aber das übertrifft alles. Wer hat die Party veranstaltet? Ein Rudel Wildhunde?«

»Nah dran. Mein Mitbewohner im Studium.«

»Mein Gott.«

»Das hab ich auch gesagt.«

»Ich hoffe, du bist es losgeworden.«

»Das Hähnchen oder den Mitbewohner?«

»Beides.«

»Das wäre wahrscheinlich besser gewesen. Er hat auch dreckige Pfannen unter der Spüle stehen lassen.«

»Wie kann es sein, dass es in jeder WG einen Spinner gibt, der so was macht?«

»Brauchst du Hilfe beim Beladen?«, fragt er und deutet mit einer Kopfbewegung auf ihren Teller.

»Oh, wärst du so nett?«

Er legt seine Hände mit den Handflächen nach oben aneinander, und Haf legt den Pappteller vorsichtig, fast ehrfürchtig darauf ab. Seine Finger sind lang und schlank, fast mädchenhaft. Was man Pianistenfinger nennen würde, wenn man die Art Mensch wäre, die diesen Ausdruck verwenden kann, ohne Penisfinger zu denken.

»Normalerweise würde ich nicht so etwas Ketzerisches vorschlagen, wie sich einen Teller zu teilen, aber da du die ganze Arbeit machst, soll ich auch ein bisschen was für dich drauftun?«

»Bitte«, sagt er mit einem sanften, etwas schiefen Lächeln.

Auf strukturelle Integrität und das Maximum an Snacks bedacht, nimmt sich Haf etwas von allem, das lecker aussieht. Aus ein paar Oliven und einem Würstchen formt sie ein eindeutiges Bild, und der Teller wackelt, als der Blauäugige ein Kichern zu unterdrücken versucht.

Gut, denkt Haf. Jemand, der keine Kalorien zählt und über ihre schrecklich schlechten Witze lacht, ist genau die Art Mensch, mit der sie in Abwesenheit von Ambrose, demm immer noch nicht zurückgekommen ist, abhängen möchte.

»Vorsicht«, sagt sie. »Du solltest der Standfestere von uns sein.«

Er erstarrt wie ein Gardist des Königs, während sie die letzten Köstlichkeiten hinzufügt. Der Teller ist ein bisschen überfüllt.

Als sie fertig ist, strömt eine Gruppe von Leuten herein. Die eine Hälfte steuert direkt auf den Buffettisch zu, während die anderen jede verfügbare Fläche mit Cocktailzutaten zustellen und ein YouTube-Tutorial befolgen, das sie immer wieder pausieren und zurückspulen. Hier drin gibt es nirgends genug Platz, um gemütlich herumzustehen und sich zu unterhalten, und Haf möchte wirklich gern mit diesem netten Mann plaudern.

Zwei Leute kommen durch die Hintertür herein, schieben sich an ihr vorbei und lassen einen Schwall eisiger Yorkshire-Abendluft herein. In der winzigen, stickigen Küche ist das eine Wohltat. Haf späht durch die Tür und erblickt ein paar Stühle, ein kleines Lagerfeuer und Lichter, die Outdoor-Heizstrahler, die sie aus guten Pubs kennt, sein könnten.

Ihr Retter gesellt sich zu ihr. »Wollen wir uns nach draußen setzen?«

»Ja, hier drin ist es furchtbar heiß. Wir können uns unter den Lampen sonnen wie Eidechsen.«

»Ich bringe das Essen mit, wenn du meinen Mantel holst.«

Mit einer Kopfbewegung deutet er auf die Garderobe, und sie geben sich Zeichen, damit Haf errät, welcher sein Mantel ist. Wie sich herausstellt, ist es ein langer, schwarzer Mantel mit geradem Schnitt und feinen Details. Er hat etwas vage Architektonisches an sich.

Haf wirft sich seinen Mantel über die Schulter, nimmt sich ein paar Dosen Gin Tonic, die auf der Theke bereitstehen, und stopft sie in die tiefen Taschen seines Mantels. Doch bevor sie ihm nach draußen folgen kann, platzt Ambrose mit zwei leeren Gläsern herein.

»Wer ist dein neuer Freund?«, fragt dey und schiebt sich an den Cocktailmachern vorbei zur Spüle.

»Wie hast du das vom anderen Ende des Raumes gesehen?«

»Ich sehe alles. Ich weiß jederzeit genau, welche Missetaten du im Schilde führst«, sagt Ambrose und spült die Gläser mit Leitungswasser ab. »Gute Arbeit übrigens. Er ist ein echt guter Fang, auch wenn er für deinen Geschmack ein bisschen zu sauber ist. Wie heißt er?«

»Weiß ich noch nicht«, antwortet Haf und versucht, lässig und mysteriös zu klingen.

Ambrose legt ihr die Hand auf die Schulter und dreht sie zu sich um. »Du kleines Luder.«

»So ist es nicht. Es ist nur eine Gelegenheit, ein bisschen Spaß zu haben und zu flirten, weiter nichts.«

»Ach nein? Du nimmst ihn nicht mit nach Hause?«

»Nein, ich denke nicht.«

»Zu sauber.« Ambrose nickt weise. Dey weiß, was Sache ist.

»Aber du machst ihm keine falschen Hoffnungen, oder?«

»Nein, ich bin mir ziemlich sicher, dass wir der gleichen Ansicht sind – es sei denn, seine Vorstellung von Flirten besteht darin, dass er mir dabei zusieht, wie ich so viel mit Knoblauch übersäten Camembert wie möglich mampfe.«

»Man kann nie wissen. Es gibt für alles und jeden einen Fetisch.«

»Außerdem habe ich einen großen Slip an.«

»Genau das meine ich. Unterschätz nicht, wie sexy große Hosen sein können«, sagt Ambrose todernst. »Jedenfalls wollte ich dir sagen, dass ich gehe.«

»Ich hab dich so gut wie gar nicht gesehen, seit wir hier sind, und wir sind erst vor zehn Minuten angekommen. Was hast du getrieben?«

Stille.

»Mit wem hast du es getrieben?«

Ambrose verdreht die Augen. »Nur mit Paco.«

Kreischend vor Freude und Aufregung knufft Haf demm gleich mehrmals in den Arm. Ambrose ist schon seit Monaten heimlich in Paco, den schönen brasilianischen Postdoktoranden im Fachbereich Erziehungswissenschaften, verliebt. Haf hat geahnt, dass es etwas Ernstes ist, weil dey seinen Namen zu drei verschiedenen Gelegenheiten in ganz und gar positivem Kontext erwähnt hat, was für demm ein sehr hohes Lob ist.

»War er es, der uns eingeladen hat?«

»Vielleicht«, sagt Ambrose und verschränkt die Arme vor der Brust.

»Aww, du hast mich als emotionale Unterstützung mitgenommen, oder?«

»Nein, hab ich nicht. Halt die Klappe, ich hasse dich«, erwidert dey schmollend.

Haf zieht demm in eine feste Umarmung.

»Kommst du allein zurecht?«

»Na klar. Ich hab meinen neuen großen Freund, und wenn mir langweilig wird, nehme ich einfach ein Taxi nach Hause.«

Ambrose grübelt einen Moment darüber nach und beschließt dann offenbar, dass dey sich lange genug zerknirscht gezeigt hat, greift an Haf vorbei in einen Beutel, der an einer Stuhllehne hängt, und holt eine Flasche Prosecco hervor, die ein paar Preisklassen über dem Alkohol liegt, den Haf für gewöhnlich trinkt. Dey bietet sie ihr an.

»Wow, danke. Willst du den nicht?«

»Nein, damit will ich wiedergutmachen, dass ich mich einfach weggeschlichen habe.«

»Okay, ist akzeptiert. Dann geh und hab Spaß. Pass auf dich auf. Schreib mir, wenn du zu Hause bist«, sagt Haf und küsst demm auf die Wange. »Hab dich lieb.«

»Ich dich auch.« Ambrose huscht davon.

Mit der Flasche Prosecco und mehreren Gin-Tonic-Dosen in jeder Tasche beschließt Haf, die Gläser mitzunehmen, die Ambrose abgewaschen hat, falls sie sich zu vornehm fühlen, um direkt aus der Flasche zu trinken.

Auf dem Weg nach draußen fällt ihr Blick auf den Beutel, der immer noch an der Stuhllehne hängt. Darauf ist ein Uni-Logo zu sehen, und ihr wird auf einmal etwas klar: Ambrose würde niemals Uni-Merchandise benutzen, also gehört der Beutel nicht demm, und das bedeutet, dey hat ihr eine Flasche überlassen, die dey eigentlich für sich selbst stehlen wollte. Wie rührend.

Die kalte Luft ist erfrischend nach der stickigen Hitze im Haus, doch Haf hofft, dass die Lampen und ihre Jacke sie warm genug halten, dass ihre Titten nicht abfrieren. Es riecht nach Schnee, denkt sie und stellt dann infrage, ob Weihnachten allein mit noch mehr Fernsehserien aus den Nullerjahren wirklich gut für sie wäre.

Ihr neuer Freund steht am Lagerfeuer und wärmt sich die Hände. Der mit allerlei Köstlichkeiten beladene Teller steht auf einem Gartentisch zwischen zwei Stühlen.

»Sorry, dass ich so lange weg war. Ich hab mich von jemandem verabschiedet«, erklärt sie und reicht ihm seinen Mantel.

»Heilige Scheiße«, sagt er, als er merkt, wie schwer sie plötzlich ist. »Meine Taschen sind voller Dosen.«

»Ja, das stimmt wohl. Ich hab auch noch was Besseres für nachher. Falls wir die Kälte aushalten.«

Haf stellt die Gläser und den Prosecco auf dem Boden ab, gerade weit genug weg, dass sie sie nicht umkicken können.

Sie setzen sich und genießen einen Moment einfach nur die Wärme des Feuers, dann holt er zwei Dosen Gin Tonic heraus und reicht ihr eine. Beim Öffnen laufen sie fast über, und er trinkt schnell einen Schluck.

»Du darfst dir zuerst was aussuchen«, sagt sie und deutet auf den Teller. »Da du so hart dafür gearbeitet hast.«

»Unterschätze nicht deinen eigenen Beitrag. Die richtige Zusammenstellung war sehr wichtig, ganz besonders das Kunstwerk, das du spontan eingebaut hast. Wunderschön«, meint er und wirft sich ein ganzes Mini-Scotch-Egg in den Mund.

Haf nimmt sich eine Scheibe Brot und tunkt sie in den geschmolzenen Camembert. An der Oberseite schaut eine ganze geröstete Knoblauchzehe hervor, die sie mit dem Finger auf ihr Brot befördert. So schmeckt es gleichzeitig süß und sehr kräftig.

»Also, mein mysteriöser Freund, was führt dich her?«, fragt Haf und leckt sich einen Käsefaden vom Daumen.

»Nach York oder in diesen Garten?«

»Beides.«

»Ich bin mit Sally zur Schule gegangen.«

»Sally?«

»Sally.«

»Wer ist Sally?«

»Sally ist die Person, der dieses Haus gehört. Es ist ihre Party«, sagt er langsam, als sollte Haf das wissen.

»Oh.«

»Du hast keine Ahnung, von wem ich rede.«

»Nicht wirklich, nein. Du hast mich erwischt. Ich bin nicht nur ein ungebetener Gast, ich bin ein ungebetener Gast zweiten Grades. Vielleicht auch dritten Grades. Da hab ich leider den Überblick verloren.«

»Du meinst, du bist ein schlechter Gast?«

»Nein, ich wurde von jemand anderem eingeladen, der von jemandem eingeladen wurde, der tatsächlich eingeladen wurde.«

»Wie das Kleine-Welt-Phänomen auf eine Party bezogen?«

»So in etwa. Also ja, ich fürchte, ich kenne Sally nicht, aber sie ist mein neuer Lieblingsmensch, weil sie uns mit all diesen Köstlichkeiten versorgt hat.«

Zum Glück lächelt er. »Sie ist eine Postdoktorandin in der Psychologischen Fakultät. Schlafwissenschaft, falls dir das weiterhilft.«

»Nein, nicht im Geringsten.«

Er lacht.

»O Gott, ist sie deine Mrs.?«

»Meine … Mrs.? Nein, ist sie nicht. Sally ist nur eine Freundin. Aber ich würde sie auch nicht so nennen, selbst wenn sie es wäre.«

»Oh, er ist Feminist, Mädels!« Haf lacht, und er stimmt mit ein. Sein warmes, herzhaftes Lachen kommt tief aus seiner Brust.

»Und um deine Frage zu beantworten, ich bin geschäftlich in York, und Sally hat mich eingeladen, weil sie wusste, dass ich in der Stadt bin. Angeblich bin ich hier, damit wir endlich mal wieder quatschen können, aber ich hab sie seit einer halben Stunde nicht mehr gesehen.«

»Da drin geht es ganz schön wild zu, oder?«, sagt Haf, als lauter Jubel aus der Küche ertönt, prostet den Feiernden zu und trinkt die Dose in einem Zug aus. »Wohnst du in London?«

»Wie hast du das erraten?«, fragt er und lehnt sich auf seinem Gartenstuhl zurück.

»Du hast so einen London-Vibe.«

»Kann schon sein«, lacht er. »Ja, ich wohne in London. Und du? Arbeitest du auch an der Uni?«

»O Gott, nein, aber ich lebe hier«, erklärt Haf und nascht noch ein paar geröstete Gnocchi. »Ich arbeite für eine Wohltätigkeitsorganisation in der Stadt. Tierartenschutz, aber ich bin nur für die Kommunikation zuständig, also ich schreibe über die interessanten Sachen, die andere Leute machen.«

»Wie sie die Dachse retten und all so was?«

»Ja, wir haben uns auch um ein paar Dachse gekümmert. Motten, bodenbrütende Vögel, hin und wieder kleine Säugetiere. In letzter Zeit ging es hauptsächlich um Fischereizonen und um Bienen. Es muss so viel getan werden.«

»Klingt interessant.«

»Na ja … ja, schon. Vielleicht.« Genau das dachte sie anfangs ja auch. »Was wir machen, ist wichtig, aber ich wünschte, ich könnte aktiver mithelfen. Ich will wirklich etwas tun. Was ist mit dir? Kannst du mit Gesprächshöhepunkten wie Fischerwirtschaft mithalten?«

Als sie sich ihm zuwendet, sieht sie, wie er das Gesicht verzieht.

»So schlimm?«

»Ich fürchte, es ist noch viel schlimmer.«

»Dann erzähl, jetzt bin ich neugierig.«

»Ich arbeite im Finanzwesen.«

»Ach du lieber Himmel.« Haf hält sich die Seite, als hätte sie furchtbare Schmerzen, und schreit auf. »Du musst ein Mädchen doch warnen, bevor du anfängst, über Finanzen zu plaudern. Das ist harter Tobak.«

Er lacht. »Kannst du laut sagen.«

»Dann bist du also ein vornehmer Junge, der in London wohnt und im Finanzwesen arbeitet.«

»Ich weiß, ich bin ein wandelndes Klischee.«

»Du erfüllst jedenfalls sämtliche Klischees von Leuten aus dem Süden, das ich je gehört habe. Nicht böse gemeint.«

»Schon gut«, sagt er lachend. »Ich weiß, wie das klingt.«

»Gefällt es dir?«, fragt Haf und knabbert eine Möhre mit einem nicht näher spezifizierten, aber sehr leckeren Dip.

»Es bezahlt die Rechnungen.«

»Das ist schon mal mehr, als ich behaupten kann.«

Die Bezahlung ist besser als in ihrem letzten Job, aber trotzdem reicht es kaum zum Leben, selbst wenn sie überallhin mit dem Rad fährt. Wenn es kalt wird, schickt ihr Dad ihr immer einen Zwanziger und ermuntert sie per Textnachricht, den Bus zu nehmen.

»Du meinst, Wohltätigkeitsarbeit wird nicht gut bezahlt? Schockierend.«

»Ja, oder? Vielleicht mache ich irgendwas falsch. Ich sollte die Herrschaft an mich reißen, damit ich ein sechsstelliges Gehalt bekomme und zur Abwechslung mal andere Leute jammern müssen. Bist du noch eine Weile in York?«

»Nur die eine Nacht.«

»Schade.«

Eigentlich wollte sie das nicht laut sagen, aber es kommt einfach so heraus.

»Schade?« Seine Augenbraue hebt sich ganz leicht, und ein kleines Lächeln umspielt seine Lippen. Er holt noch zwei Dosen Gin Tonic aus seinen Manteltaschen und reicht ihr eine. »Sei ehrlich, meine Tellertragefähigkeiten haben dich verzaubert, oder?«

»Es ist immer schön, Freunde aus der Gegend zu haben. Denk nur an all die Partys, auf denen wir zusammen Essen stibitzen könnten.« Haf bemüht sich um einen lässigen Ton. »Wie Bonnie und Clyde, nur für Pastetchen. Außerdem scheinst du nichts dagegen zu haben, dass ich mich darüber lustig mache, wie vornehm du bist, und das ist eine Eigenschaft, die ich an vornehmen Leuten sehr schätze.«

In Wahrheit will Haf nicht zugeben, dass er seit Ambrose der Erste ist, mit dem sie sich richtig gut versteht, weil sie dadurch traurig, vielleicht sogar verzweifelt wirken würde.

Doch sie denkt es. Die Chemie zwischen ihnen erinnert sie an ihren ersten Nachrichtenaustausch mit Ambrose; wie sie sofort wusste, dass sie auf derselben Wellenlänge waren und etwas Gutes dabei herauskommen würde.

»Nun, es ist mir eine Ehre, dein Gefährte in dieser schönen, minus vier Grad kalten Winternacht zu sein.«

Sie öffnen ihre Dosen beide gleichzeitig und stoßen an.

»Iechyd da

»Gesundheit.«

»Das ist Walisisch, du englischer Volltrottel.« Sie lacht und versetzt ihm einen Fußtritt.

»Ich weiß, einer meiner Mitbewohner an der Uni war aus Wales.«

»Mein Gott, ich hoffe, es war nicht der mit dem Hähnchen-Sushi.«

»Nein, war es nicht.«

»Oh, okay. Dann sei dir verziehen.«

Eine Zeit lang sitzen sie schweigend beisammen, trinken ihren Gin Tonic und beobachten die tanzenden Flammen. Das Essen geht zur Neige, die Dosen leeren sich, und der Alkohol lässt die Welt an den Rändern verschwimmen.

»Hier sieht man den Himmel so gut«, sagt er nach einer Weile. »Das vermisse ich am Leben auf dem Land. In London ist es durch die Lichtverschmutzung immer so trüb. Keine Sterne.«

Haf legt den Kopf in den Nacken und blickt hoch. Es ist eine kalte, klare Nacht, und am tiefschwarzen Nachthimmel glitzern die Sterne. »Damit würde ich nicht klarkommen«, sagt sie wahrheitsgemäß. »Ich bin dafür bekannt, dass ich mithilfe des Polarsterns nach Hause finde, wenn ich betrunken bin.«

»Zum Glück gibt es bei uns U-Bahnen, die auch nachts fahren, sodass das nicht unbedingt nötig ist.«

»Ja, ja.«

Plötzlich fällt ihr etwas ins Auge. Über ihr, mit einer dünnen Schnur an den Pfosten der Wärmelampe gebunden, hängt ein mickriger, mitleiderregender Mistelzweig. Die Blätter hängen schlaff herunter, und die Beeren sind angekokelt, weil sie der Lampe zu nah sind.

»O Mann«, lacht Haf und steht auf, um ihn genauer zu betrachten. »Sieh dir das an! Er wirkt ein bisschen elend, oder?«

Ihr neuer Freund erhebt sich ebenfalls, etwas wacklig auf den Beinen.

»Ganz ruhig, Bambi«, sagt sie lachend und nimmt seinen Arm, um ihn zu stützen.

»Ach je, ich glaube, er ist dem Tode nah.«

»Das ist traurig! Er ist so allein«, sagt sie. »Stell dir vor, du würdest langsam von einer schicken Outdoor-Lampe verbrannt. Hoffentlich haben sich wenigstens Leute darunter geküsst. Stell dir vor, du opferst dich für deinen Job auf, und dann machst du ihn nicht mal gut.« Hafs Worte gehen in einem nervösen Lachen unter, als ihr klar wird, dass sie seit Monaten niemanden mehr geküsst hat. Moment, war ihr letzter Kuss etwa mit Freddie? Denn das wäre unglaublich deprimierend.

»Kann ich mir vorstellen«, murmelt er. »Leider.«

Es muss am Alkohol liegen, dass sie beide in hysterisches Gelächter ausbrechen.

»Wie viel Gin ist da drin?«, fragt er und liest die Aufschrift auf der Dose. Oder er versucht es zumindest, aber eigentlich starrt er nur angestrengt darauf.

»Hör zu, ich hab eine Idee«, sagt Haf und fasst ihn am Arm. Plötzlich ist sie ihm näher, als ihr bewusst war, aber das ist in Ordnung, denn sie hat einen Arm, an dem sie sich festhalten kann. »Anscheinend kommen wir beide nicht mit unseren Jobs klar. Der Mistelzweig«, sie deutet darauf, »ist offensichtlich auch nicht gut in seinem Job. Also sollten wir ihn gebührend verabschieden, sicherstellen, dass wenigstens einer von uns einen guten Arbeitstag hat.«

»Schlägst du vor, dass wir ihm Frieden schenken und es ihm ermöglichen, seine Pflicht zu erfüllen, bevor er das Zeitliche segnet, indem wir … uns küssen?«, fragt er mit einem leisen Lachen. Die zarte Röte, die seine Wangen überzieht, breitet sich bis über seine Ohren aus, und sie sieht, wie seine Selbstsicherheit ins Wanken gerät.

»Ja!«, ruft sie lachend. »Das tu ich!«

In der Ferne bellt ein Hund, und sie prusten wieder los und bedeuten einander, still zu sein.

»Dann sind wir uns einig?«, fragt Haf, sobald sie sich wieder gefasst haben.

»Worüber? Dass wir beide betrunken sind?«

»Das hab ich nie gesagt.«

»Aber so ist es. Eindeutig. Es ist eine unbestreitbare Tatsache.«

Anscheinend wird er wortreicher, je betrunkener er ist. Entzückend.

»Ich habe gemeint, dass wir rumknutschen sollten, um den Mistelzweig aufzumuntern!«

Bei dem albernen Gedanken fangen sie wieder an zu kichern, aber Haf denkt: Was soll’s? Schließlich hat Ambrose mir gesagt, ich soll Spaß haben. Ich kann auch gute Entscheidungen für mich selbst treffen. Wahrscheinlich.

Und bevor sie noch irgendetwas sagen können, stellt sich Haf auf die Zehenspitzen und küsst ihn.

Wenn der Mistelzweig einen romantischen Kuss brauchte, um aufzublühen, tja, dann ist er jetzt wohl bitter enttäuscht.

Sie krachen mit den Zähnen zusammen, und ihre Nasen stoßen aneinander. Haf lacht in seinen Mund, sie kriegen beide schon wieder einen Kicheranfall und klammern sich im Feuerschein ungeschickt aneinander. Es ist ein wirklich beschissener Kuss.

»Wow, tut mir echt leid, aber das war wahrscheinlich der schlechteste Kuss, den ich je erlebt habe«, prustet Haf und hält sich weiter an ihm fest, um nicht ins Lagerfeuer zu taumeln.

»Echt grauenhaft«, stimmt er zu, sieht ihr ins Gesicht und berührt sachte mit dem Daumen ihre Unterlippe. »Hab ich dich gebissen? Ich mach mir Sorgen, dass ich dich gebissen habe.«

»Isch schon okay«, lallt sie, während er immer noch ihre Lippe inspiziert.

Gerade will sie sagen, wie lustig es ist, dass sie sich einfach aufeinander gestürzt haben und dass sie nicht mal seinen Namen kennt und wie albern das alles ist, als sie unterbrochen werden.

»O mein Gott, Toph?!«, ruft eine schrille, etwas nasale Stimme. »Bist du das?«

Kapitel 3

Sie halten sich immer noch in den Armen, als zwei Leute auf sie zukommen, und Haf kann sich gerade noch davon abhalten, hastig zurückzuspringen, sonst wäre sie womöglich ins Lagerfeuer gefallen.

Die Frau, der die Stimme gehört, ist alarmierend groß und gertenschlank. Sie trägt einen dicken Wollmantel – die Sorte, die wie ein Bademantel aussieht, es sei denn, man ist schick genug, dass sie einem trotzdem steht – und braune Reitstiefel. Ihre dunklen Haare sind so gestylt, dass sie sich sanft um ihre Schultern legen wie eine Pelzstola. Ihr Stil ist eine Kombination aus Luxus-Influencerin und dem klassischen »Ich trage Perlenketten ohne jegliche Ironie«-Look, was an ihr fantastisch aussieht.

Haf ist so fasziniert von dieser wunderschönen Riesin, dass sie gar nicht merkt, dass der Typ, den sie gerade noch geküsst hat, sie losgelassen hat und auf die Unbekannte zusteuert, um sie zu begrüßen.

»Laurel? Hi. Was machst du denn hier?«

»Jetzt knutschst du also unter einem Mistelzweig rum«, stellt sie mit hochgezogenen Augenbrauen fest, ohne auf seine Frage einzugehen, und verschränkt die Arme vor der Brust.

»Hör zu, es ist nicht, was du denkst«, erwidert der Typ, mit dem Haf unter einem Mistelzweig rumgeknutscht hat, reibt sich den Nacken und kaut nervös auf seiner Unterlippe.

Oh fuck, denkt Haf, habe ich gerade den Freund dieser wunderschönen Riesin geküsst?

Wenn sie es sich recht überlegt, hat er nicht gesagt, dass er Single ist, sondern nur, dass er nicht Sallys Freund ist. Aber es wäre eine seltsame Masche, auf einer Party so zu tun, als kenne man niemanden, nur um unter einem angekokelten Mistelzweig eine Wildfremde zu küssen.

Vor allem angesichts dessen, wie hundsmiserabel das gelaufen ist. Hoffentlich hat sich keiner von ihnen einen Zahn abgebrochen.

Dass er mit einer anderen Frau erwischt wurde, scheint ihn eher in Verlegenheit zu bringen, als zu alarmieren.

»Ach komm, Toph, mir kannst du nichts vormachen«, sagt Laurel schmollend.

Eindeutig nicht die Reaktion einer betrogenen Liebhaberin. Sie wirkt eher verärgert, dass ihr der neueste Tratsch vorenthalten wurde.

Ist sein Name wirklich Toph? Vor Hafs geistigem Auge erscheint Ambrose, um ihr mitzuteilen, dass das eher nach dem Niesen einer vornehmen Person klingt als nach einem Namen.

Hinter der riesigen Frau steht ein Mann, der direkt aus der Flasche trinkt. Seine Haare sind so blassblond, dass sie sich kaum von seiner Hautfarbe abheben. Er strahlt beträchtliches Selbstbewusstsein aus. Ein muskelbepackter Typ, eher wie ein Klotz als wie ein Mensch geformt. Wahrscheinlich ein Rugbyspieler.

»Du hast uns nicht mal gesagt, dass du zu Sals Party kommst, Chrissy«, sagt der quadratische Mann, der Spitznamen ebenfalls zu lieben scheint. »Ich wusste, dass du beruflich in der Stadt bist, aber ich dachte nicht, dass du hier rumlungerst.«

Chrissy passt noch weniger zu ihm, und er zuckt zusammen, als er so genannt wird.

Christopher.

Bestimmt heißt er Christopher. Die ganze Fülle dieses Namens passt viel besser zu ihm als die Spitznamen, die ihm die Neuankömmlinge verpasst haben.

Wer auch immer sie sind.

Haf sieht zu Christopher in der Hoffnung, dass er ihr die beiden vorstellt. Das unbekannte fünfte Rad am Wagen zu sein, ist selbst im besten Fall ihre persönliche Hölle, aber dass sie zudem noch beim schlechtesten Kuss der Welt ertappt wurden, ist wirklich zu viel des Guten.

»Na ja, ich hab mich ganz kurzfristig dazu entschieden«, erklärt er. »Ich bin beruflich in der Stadt, und Sally hat mich eingeladen. Ich hatte keine Ahnung, dass ihr auch hier sein würdet.«

»Das will ich doch hoffen, sonst wäre ich empört, dass du nicht mit uns hergefahren bist«, schnaubt die Riesin und wirft die Haare zurück. »Jetzt komm, mach uns mit deiner neuen Freundin bekannt.«

Oh-oh.

Laurel denkt, sie wären zusammen.

Wie zur Hölle hat sie das aus einem Kuss geschlossen, der sie beide zum Lachen brachte? Hat sie das womöglich gar nicht gesehen, sondern nur das Nachspiel, wie sie eng umschlungen vor dem Lagerfeuer standen und Christopher zärtlich ihre Unterlippe berührte? Oh … O je. Das ist ein ganz anderer Vibe.

Christopher ist erstarrt, und sein rötlich blasses Gesicht nimmt eine kränklich grünliche Farbe an. »Ich …«

Doch er wird von der Riesin unterbrochen, die Hafs Hand nimmt und sie näher an sich heranzieht, um sie besser sehen zu können. Ein gekonnter Move – anscheinend weiß sie, dass jeder sie kennenlernen will. Und dass sie immer bekommt, was sie will.

»Dann muss sie uns ihren Namen wohl selbst verraten«, sagt sie. »Hallo, Darling. Ich bin Laurel, und das ist Mark.«

Laurel sieht auf Haf herunter, als wäre sie das interessanteste Wesen, das ihr je begegnet ist. So müssen sich Hunde bei einer Hundeausstellung fühlen, überlegt Haf. Oder denkt sie das nur, weil Laurel auf eine Art vornehm wirkt, als könnte sie als Jurorin bei einer Hundeausstellung arbeiten? Vielleicht gewinnt Haf ja einen Preis.

Haf schluckt schwer. »Heya. Ich bin Haf.«

»Half?« Laurel fügt ein überbetontes L ein, das bei dem Wort »half« eigentlich nicht ausgesprochen wird.

»Nah dran!«, sagt Haf und lächelt ein bisschen zu breit. »Haf. Hafff. Das ist Walisisch.«

»Entzückend. Hat der Name eine Bedeutung?«

»Sommer?« Vor lauter Nervosität klingt ihre Antwort wie eine Frage, und sie sieht hilfesuchend zu Christopher, der jedoch zu beschäftigt damit ist, auszusehen, als wolle er vor Scham im Boden versinken.

»Mark, ist sie nicht entzückend? So reizend und walisisch«, sagt Laurel zu Mark, der ihnen kaum Beachtung schenkt, vermutlich, weil sie nicht über ihn reden.

Es sagt viel über Engländer aus, in welchem Teil von Wales sie schon waren. Die meisten Leute aus dem Norden, die Haf an der Uni getroffen hat, redeten nur über den inzwischen stillgelegten gefährlichen Wasserpark in der Nähe von Hafs Geburtsort. Dort gab es eine Indoor-Licht-Show und ein Wellenbad, in dem einer örtlichen Legende nach schon mehrere Kinder spurlos verschwunden waren. Allerdings gab es auch eine Krakenrutsche, die wirklich gefährlich werden konnte, wenn man sie im falschen Moment mit Höchstgeschwindigkeit herunterrutschte, weshalb einigen Kindern in ihrem Jahrgang die Frontzähne fehlten.

Stattdessen erzählt ihr Laurel voller Begeisterung von dem Wellness-Urlaub, den Mark und sie in Portmeirion gemacht haben; ein pastellfarbenes, italienisch anmutendes Küstendorf und der frühere Drehort der Kultserie The Prisoner, das früher, als Haf noch klein war, an einen verlassenen Themenpark erinnerte, aber inzwischen zu einem Luxusresort umgebaut wurde.

Haf nickt höflich, aber sie ist zu bemüht, Christopher auf sich aufmerksam zu machen, um den Anekdoten reicher Leute zuzuhören. Was will er von ihr? Je länger diese Unterhaltung andauert, desto schwieriger wird es, das Missverständnis aufzuklären, und obwohl sie normalerweise einfach reinen Tisch machen würde, zögert sie, weil sie das sichere Gefühl hat, dass hier noch etwas anderes vor sich geht, was sie nicht begreift.

»Toph, deine Eltern werden sich sehr freuen, dass du jemand Neues kennengelernt hast. Weiß Kit es schon? Ich wette, sie hat keine Ahnung, du kleiner Heimlichtuer. Ich muss ihr unbedingt davon erzählen!«

»Laurel, bitte …«

»Ich bin so froh, dass er eine neue Freundin hat«, wendet sich Laurel in verschwörerischem Ton an Haf, aber sie spricht bewusst laut genug, dass alle sie hören können. »Ich hab mir schon Sorgen gemacht. Ich dachte nicht, dass er datet, obwohl wir uns schon vor Ewigkeiten getrennt haben, aber ich bin echt erleichtert, dass er mit dir zusammen ist, denn du bist total nett und umwerfend.«

Oh fuck. Sie ist seine Ex.

Eine Erinnerung steigt in Haf auf. Nachdem Freddie mit ihr Schluss gemacht hatte, fuhr sie mit dem Zug nach Liverpool, um ihre restlichen Sachen abzuholen, hegte aber immer noch die Hoffnung, ihm die Trennung ausreden zu können. Doch während sie gerade eine leidenschaftliche Rede darüber schwang, warum sie zusammenbleiben sollten, kam Jennifer – die Frau, die sie ersetzt hatte – mit dem Schlüssel in der Hand herein.

Das steht ziemlich weit oben auf der Liste der schlimmsten Arten, wie man die neue Partnerin seines Ex kennenlernen kann. Idealerweise würde man sie doch treffen, wenn gerade alles richtig gut läuft – zum Beispiel bei einem Event, bei dem sie eine humanitäre Auszeichnung dafür erhält, dass sie so gut mit Twitter umgehen kann. Aber nein – stattdessen ist sie ihr begegnet, nachdem sie so viel geheult hat, dass sich Tränen und Rotz zu einem nassen Fleck auf ihrem Top gesammelt und es durchsichtig gemacht haben. Typisch – da trägst du einmal in deinem Leben ein weißes Top, um etwas Neues auszuprobieren, und präsentierst deinem Ersatz deinen durchnässten BH. Ein heißer Anwärter auf den peinlichsten Moment ihres Lebens, was beeindruckend ist, wenn man bedenkt, wie viele sie schon hatte.

Und jetzt sieht sie in Christophers Gesicht genau den Ausdruck schierer »Bitte erschieß mich einfach«-Demütigung, den sie so gut kennt. Er sieht aus, als hätte er einen Geist gesehen. Jetzt ist er derjenige in dem durchsichtigen Top, und Haf ist die Einzige, die ihm helfen kann.

Wenn sie es schafft, jemanden vor dieser grauenhaften Blamage zu bewahren, wird das vielleicht ihren eigenen Schmerz lindern …

Was kann eine kleine Lüge schon schaden?

»Haha, na ja, jetzt muss sich keiner mehr Sorgen um uns machen. Wir sind sehr glücklich miteinander, nicht wahr, Christopher?«

Die Worte sind aus ihrem Mund, bevor sie richtig darüber nachdenken kann.

Christopher blinzelt sie an. Ist er verwirrt? Erleichtert? Haf ist sich nicht sicher, aber sie geht zu ihm und schlingt den Arm um seine Taille, als hätte sie das schon unzählige Male gemacht. Einen Moment erstarrt er, entspannt sich aber schnell wieder, legt den Arm um ihre Schultern und drückt sie an sich.

Es gibt gute Lügen, und es gibt schlechte Lügen, und es gibt Lügen, die einfach nur … die Wahrheit ein bisschen ausschmücken. Klar, sie daten nicht wirklich, aber sie hatten eine schöne Zeit zusammen, und er wirkt ziemlich ausgeglichen, zumindest soweit man das von einem Mann behaupten kann, der sich Sorgen um einen Mistelzweig macht. Vielleicht sind die Sorgen seiner Familie wirklich unbegründet. Sie flunkert nur ein bisschen, um ihm aus einer heiklen Lage herauszuhelfen.

Laurel drückt die Hand ans Herz. »Ihr zwei seid so süß. Wie lange seid ihr schon zusammen?«

»Oh, noch nicht lange …«, sagt Haf und sieht mit großen Bambi-Augen zu Christopher auf, in der Hoffnung, dass er den Wink mit dem Zaunpfahl versteht und die Geschichte mit Details untermauert, die in seine Welt passen.<...

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